Fate of Whisky - Joachim Koller - E-Book

Fate of Whisky E-Book

Joachim Koller

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Beschreibung

Schottland: Ein vermeintlich leichter Auftrag bringt Niko in das Land der Mythen, Legenden und Burgen. Aber noch nicht einmal gelandet steckt er mitten in einer Fehde zweier verfeindeter Clans. Zusätzlich weckt Schottland alte Erinnerungen an seine Jugendliebe. Somit wird die Reise von Rückblenden in die 90er-Jahre begleitet, zu einer Lovestory, die unerwartet und rätselhaft endete. Unterwegs lernt er das Land von seiner schönsten Seite kennen und erfährt mehr über eine alte Legende, die für den Clan seiner Begleitung äußerst wichtig ist. Doch diese Sage lässt ihn - zumindest vorerst - kalt. Denn es wartet noch eine Überraschung auf ihn, die nicht nur sein Leben völlig auf den Kopf stellen wird.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1: Vergangenheitsbewältigung

Kapitel 2: Geister der Gegenwart

Kapitel 3: Neue Zeitrechnung

Prolog

Nie wieder, schwor sich Niko, ich bin zu alt für diese Scheiße.

Sein Kopf brummte, die letzte Nacht war zu lang und sehr feuchtfröhlich gewesen. Erschöpft lehnte er auf der Couch, massierte seine Schläfen und genoss die Ruhe und den Geruch des Kaffees auf dem Tisch vor ihm. Noch immer dröhnte die Bassmusik des Vorabends in seinem Kopf, außerdem hatte er eindeutig zu viel Alkohol getrunken.

Die Stille hielt nur kurz an. Keine fünf Minuten später wurde die Schlafzimmertür aufgerissen und eine junge Frau kam heraus, weitaus munterer und frischer als er. Ihre blonden Haare mit feuerroten Strähnen waren wild durcheinander, aber im Gegensatz zu Niko wirkte sie ausgeschlafen.

»Morgen! Du bist also auch schon auf«, bemerkte Kira fröhlich.

»Leise... bitte«, jammerte Niko.

Sie grinste ihn an.

»War es dir zu viel gestern?«

»Kleine, ich bin keine zwanzig Jahre, so wie du, sondern doppelt so alt. Da spürt man auch die Nächte doppelt.«

»Keine Sorge. Es war ja mein letzter Abend in Wien. Heute darfst du zeitig ins Bett gehen, nachdem ich zurück nach Kreta fliege. Ich hoffe, mit vierzig bin ich noch so aktiv wie du.«

Niko war vor einigen Wochen in eine neue Wohnung gezogen, als Kira, eine gute Freundin von Kreta, überraschend ihren Besuch angekündigt hatte. Nun, nach einem ergiebigen Frühstück, half sie ihm, die letzten Kisten zu verstauen. Die letzten Tage hatte er damit verbracht, ihr die Stadt zu zeigen. Tagsüber besuchten sie Museen, Kirchen und Parks, in der Nacht lernte Kira die unterschiedlichsten Bars und Diskotheken kennen.

»Manos wird es bereuen, nicht mitgekommen zu sein.«

»Wenn dein Freund lieber eine Schiffstour macht«, meinte Niko und verstaute eine Schachtel voller Bücher in einem Regal.

»Die ist aber sinnvoll! Wir arbeiten bei einer Organisation, die sich darum kümmert, Plastik aus dem Meer zu fischen.

Und da der Umweltschutz auf Kreta gerade erst im Aufbau ist, haben wir jede Menge Arbeit.«

»Das glaube ich dir.«

»Was ist denn da drinnen?«, fragte Kira und deutete auf einen Schuhkarton mit der Aufschrift ›1993/94‹.

Niko hielt kurz inne und nahm ihr die Schachtel behutsam ab.

»Erinnerungen.«

»Was genau? Ein spezieller Urlaub, dein erstes krummes Ding, oder...?«

»Eine lange Geschichte aus meiner Schulzeit.«

»Deine erste Liebesgeschichte!«, meinte Kira neugierig und wollte nach der Schachtel greifen.

»Lass sie lieber zu. Da sind zu viele Dinge drinnen, an die ich nicht sonderlich gern zurückdenke.«

Kira grinste breit.

»Ach wie süß. Der alte Mann und seine erste Liebe. Wie war sie, stürmisch und wild, oder eher zwei schüchterne Kinder, Händchen halten und zarte Küsschen im Mondschein?«

»Sie war wild, verrückt und mit einem abrupten Ende«, antwortete Niko und stellte die Schachtel auf den Tisch.

Kira gab keine Ruhe, bis er ihr erlaubte, einen Blick hineinzuwerfen.

»Klar, auch hier findet man ein Messer.«

»Ein sogenanntes Sgian dubh. Es gehörte früher zur Kleidung eines schottischen Clanmitglieds.«

»Schottland, okay. Und hier haben wir eine fast vergilbte Kinokarte... Kolosseum?«

»So hieß das Kino, heute ist dort ein Supermarkt.«

»Bodyguard?«, las Kira vor, »Klingt nach einem Actionfilm.«

»Eher eine Schnulze.«

Als Nächstes zog sie eine kleine Dinosaurierfigur heraus.

»Du kennst doch Jurassic Park? Damals kam der erste Teil ins Kino«, erklärte Niko.

»Und dieses Armband, selbstgeknüpft und aus deinem so geliebten Paracord.«

»Es war mein erstes Paracord-Armband. Ein Weihnachtsgeschenk«, sagte Niko und starrte auf das Band.

Erinnerungen an den Abend, an dem er das Armband erhalten hatte, aber auch wie seine Jugendliebe von einem Tag auf den anderen vorbei war, kamen hoch.

»Konzertkarten!« Kira zog zwei Karten hervor und wedelte damit vor Nikos Gesicht.

»Bon Jovi und Roxette. Das waren Bands, die in meiner Jugend ihren Höhepunkt hatten.«

»Und die man heute auch noch kennt. Vom welchem Film ist dieses Bild?«

Sie hielt ein Bild in der Hand, wie es früher in den Auslagen der Kinos neben dem Filmplakat hing. Auf dem Bild war eine Gestalt mit weiß angemaltem Gesicht zu sehen, die mit ausgebreiteten Händen in einer dunklen Gasse stand.

»The Crow, die Krähe. Das Original mit Brandon Lee.«

»Nie davon gehört. Sieht aber düster aus.«

Als sie auch noch ein kleines Buch mit Fotos herausnahm, reichte es Niko.

»Gib die Sachen wieder hinein und mach sie zu«, bat er mit ernster Stimme. Er wollte nicht über dieses Kapitel nachdenken. Kira kannte ihn gut genug, um nicht weiter nachzufragen. Sie steckte sich einen Kopfhörer ins Ohr und griff nach dem Korb voll mit dunklem Gewand. Dabei summte sie eine Melodie, die Niko nicht erkennen konnte.

»Was hörst du?«

»Den bekanntesten österreichischen Schlager- oder Volksmusiksänger zurzeit.«

Niko sah sie fragend an. Die von ihr erwähnte Musikrichtung war ihm alles andere als geläufig und überhaupt nicht sein Musikgeschmack.

Kira schaltete den Lautsprecher ein:

Es is' verdammt lang her, wuoh-oh

Verdammt lang her

Und so wie's früher woar mit sechzehn Joahr

Wird's nie mehr

Obwohl Niko wenig für diese Musik übrig hatte, den Sänger erkannte er.

»Andreas Gabalier und seine Musik sind nicht mein Metier.«

»Aber es passt zu der Schachtel voller Erinnerungen. Wie alt warst...«

»Fünfzehn, sechszehn. Können wir das Thema jetzt lassen?

Dein Flug geht heute Nachmittag, lass uns vorher etwas essen gehen.«

Später an dem Tag, nachdem sie gemeinsam zu Mittag gegessen hatten, fuhr Niko Kira zum Flughafen. Kira saß neben ihm auf dem Beifahrersitz, sah aus dem Fenster und summte unentwegt eine Melodie.

»Ein Ohrwurm?«

»Ja, dieses ›Verdammt lang her‹ geht mir nicht mehr aus dem Kopf.«

Niko schüttelte nur verständnislos den Kopf, widersprach aber nicht, als sie das Lied erneut auf ihrem Handy vorspielte.

»Solang es nicht das Einzige ist, was dir von deinem Wienurlaub in Erinnerung bleibt.«

»Nein, keine Sorge. Es war eine tolle Woche. Danke nochmal für die Ausflüge, Besichtigungen und die langen Nächte.«

»Von denen ich mich jetzt erst einmal erholen muss.«

Mit dem Versprechen, Kira, ihre Familie und Freunde demnächst in Kreta zu besuchen, verabschiedete sich Niko von ihr und fuhr wieder zurück nach Wien. Kiras Entdeckung der alten Schachtel hatte bei ihm Erinnerungen ausgelöst, über die er lange nicht mehr nachgedacht hatte.

Während er Bilder aus seiner Jugendzeit im Kopf hatte, begann er unwillkürlich zu summen. Erst nach einigen Minuten bemerkte Niko, dass Kira ihn angesteckt hatte.

»Verdammter Ohrwurm!«, fluchte er mit einem Lächeln im Gesicht.

Kiras Entdeckung ließ ihn nicht los. Am Abend, nachdem er alleine daheim sein Abendessen beendet hatte, setzte sich Niko mit einem Glas Whisky auf den Balkon und blickte in den Sternenhimmel. Über seine Kopfhörer ließ er ein Lied in Dauerschleife laufen, in der Hand hatte er das Fotoalbum mit Bildern aus seiner Schulzeit. Eines der Bilder wurde bei seinem Schulfest aufgenommen. Er blickte in die Kamera, im Arm ein etwa gleichgroßes Mädchen im selben Alter. Ihre langen roten Haare wehten zur Seite, beide lächelten verliebt und unbekümmert.

Rund um das Paar waren Getränkestände und Jugendliche mit ihren Eltern und Lehrern zu sehen.

Still every night I burn

Every night I scream your name

Every night I burn

Every night the dream's the same

Der Song ›Burn‹ von The Cure in seinen Ohren erinnerte ihn nicht nur an den Film ›The Crow - Die Krähe‹, sondern auch an die schönen Momente mit seiner damaligen Freundin.

»Auf dich, Julia. Wo immer du auch bist«, sagte er zu sich selbst und leerte ein Glas Whisky - ein schottischer Single Malt, den er schon in seiner Jugendzeit probiert hatte - in einem Zug.

Kapitel 1

Vergangenheitsbewältigung

Niko saß im Wartezimmer der Kanzlei seines besten Freundes Martin Leitner. Der Anwalt, für den er immer wieder diverse Botengänge übernahm und als Chauffeur zu Diensten war, hatte ihn für einen neuen Auftrag zu sich gebeten.

Wahrscheinlich wieder eine Fahrt quer durch Österreich, um bei einer Firma einen Vertrag auf Punkt und Komma zu kontrollieren.

Während er wartete, sah er auf seinem Handy die neuen Fotos durch, die Kira ihm geschickt hatte. Vor zwei Wochen war sie zurückgeflogen, nun erhielt Niko laufend Bilder von ihr und ihrem Freund Manos, sowie ihrem Bruder, der mit Martins Tochter dabei war, ein Haus zu bauen.

»Komm rein Niko«, holte ihn Martin aus seinen Gedanken.

Auf dem großen Arbeitstisch in Martins Büro stand eine geöffnete Flasche Whisky.

»Alkohol am Vormittag?«, wunderte sich Niko, der wusste, dass Martin höchstens ein Glas Wein oder Bier am Abend trank.

»Der ist für dich, ein schottischer Single Malt. Er soll einer der Besten sein.«

Niko stutzte.

Schottland, schon wieder. Ich hasse solche Zufälle, dachte er, während er das Etikett der Flasche las.

»Edradour, zwölf Jahre alt. Klingt und riecht nach einer teuren Sorte. Warum?«

»Weil ich einen besonderen, wenn auch ganz einfachen Auftrag für dich habe.«

In Nikos Kopf läuteten die Alarmglocken.

»Ganz einfach?«

»Ja, verbunden mit einem Ausflug und etwas Urlaub...«

»Stopp!«, unterbrach Niko energisch, »Wir wissen beide, was das letzte Mal passiert ist, als du mich auf Urlaub geschickt hast.«

Martin lächelte zustimmend.

»Ja, du hast auf meine Tochter aufgepasst und nebenbei eine alte Schatzkammer entdeckt. Aber dieser Urlaub geht nach Schottland.«

Schottland, ernsthaft?

»Du sollst nur eine Dame auf ihrem Privatflug nach Edinburgh begleiten und sie zum Schloss ihrer Familie bringen, mehr nicht.«

Niko schenkte sich etwas Whisky in das bereitstehende Glas.

»Etwas genauer bitte.«

»Ein Klient von mir hat mit einer Firma hier in Wien einen Vertrag abgeschlossen. Es geht um Triebwerke und Elektronik für ein Gezeitenkraftwerk im Norden Schottlands. Die Familie hat aber auch ihre Finger im Edelsteinhandel und da kommt seine Tochter ins Spiel.

Sie war auf Kundenbesuch in Wien und soll morgen mit dem Privatjet der Familie heimfliegen. Bei sich trägt sie einen Koffer mit einer Sammlung von Edelsteinen, die sie zur Präsentation mitgenommen hatte. Da dieser Koffer äußerst wertvoll ist, bittet mein Klient um Begleitschutz. Da habe ich an dich gedacht. Ich bin nächste Woche auf Urlaub, also gibt es nichts zu tun. Das wäre doch ideal. Einfach hinüberfliegen, ein kleiner Ausflug zu einem Schloss und dann ein paar Tage frei. Es wird ein Spaziergang für dich, inklusive etwas Urlaub. Was soll da schon schiefgehen?«

Niko leerte das Glas und verdrehte dabei die Augen.

»Diesen Satz hast du vor einem Jahr auch gesagt. Du weißt, was dann alles passiert ist.«

»Keine Sorge, dieses Mal wird es sicherlich ganz anders.«

Garantiert, dachte Niko skeptisch, ich habe ja auch überhaupt keinen Bezug zu Schottland.

Zwei Tage später fand sich Niko erneut auf dem Flughafen ein, dieses Mal vor der Abflughalle für Charter- und Privatflüge. Sein Plan war, die junge Frau zu ihrem Familienschloss zu fahren und danach mit dem Mietwagen die Insel zu erkunden. Martin hatte ihm eine Auszeit von mindestens zwei Wochen in Aussicht gestellt. Nachdem er herausgefunden hatte, dass es in Schottland erlaubt war, wild zu campen, hatte er seine Survivalausrüstung mitgenommen.

Neben einem Taschenmesser hatte er auch das Sgian dubh, das letzte Geschenk seiner damaligen Freundin eingesteckt.

Da er auf einem Privatflug nicht an die üblichen Sicherheitsbestimmungen gebunden war, konnte er alles im Rucksack verstauen. Kira hatte ihn an seine Jugendliebe erinnert, die möglicherweise immer noch in Schottland lebte.

Egal, Schottland ist ein großes Land. Ich werde sicherlich nicht wie ein Verrückter versuchen, sie ausfindig zu machen. Das ist über zwanzig Jahre her, die Wunden von damals sind inzwischen verheilt.

Martin hatte ihm ein Bild von der Dame mitgegeben, welches er herausnahm und erneut studierte.

Es zeigte die Frau an einem See, wobei der Hintergrund verschwommen war. Ihr grünes Shirt war nass und lag am schlanken Körper an. Er wusste, dass sie fünfundzwanzig Jahre alt war, wobei sie auf dem Bild jünger aussah. Ihre tiefblauen Augen fielen besonders auf, auch wegen ihrer sehr hellen Hautfarbe. Die Haare, die wellig über die Schultern reichten, waren blond gefärbt, den dunkelbraunen Haarnachwuchs konnte man auf dem Bild deutlich erkennen.

Du siehst ja süß aus. Aber ich habe mit so jungen Dingern nicht die besten Erfahrungen, dachte er und sah sich um. Es dauerte nur einige Minuten, bis vor ihm ein Taxi hielt und eine Frau mit einem kleinen, silbernen Koffer ausstieg.

»Alison MacHart?«

»Aye, that's me.« Niko bemerkte sofort den schottischen Dialekt. Er stellte sich vor und betrachtete sie dabei von Kopf bis Fuß.

Ich hatte Recht mit meiner Vermutung, stellte er fest, als er ihr Outfit sah. Sie trug einen maßgeschneiderten Hosenanzug, gestylt, als würde sie zu einem weiteren Termin mit ihren wertvollen Steinen erscheinen. Niko hatte vermutet, dass die Tochter reicher Eltern so erscheinen würde und sich in einen schwarzen Anzug gequält.

»Du bist also mein Aufpasser«, stellte Alison zu Nikos Überraschung auf Deutsch fest.

»Es war der Wunsch ihres Vaters, deshalb...«

»Naw!«, unterbrach sie ihn, wobei ihr Schottisches Nein wie ein lang gezogenes »Nah« klang.

»Keine übertriebenen Höflichkeitsfloskeln, sonst komme ich mir blöd vor. Ich heiße Alison und fertig.«

Vielleicht ist sie nicht ganz so überheblich, wie befürchtet.

»In Ordnung. Dein Vater hat darauf bestanden und ich führe den Auftrag seines Anwalts aus.«

Niko folgte der jungen Frau an einem unbesetzten Schalter vorbei ins Freie, wo bereits eine Limousine auf sie wartete.

Sie fuhren über das Rollfeld, vorbei an den Linienmaschinen.

Die blassblaue Maschine, auf die sie zusteuerten, wirkte im Vergleich zu den Passagierflugzeugen unscheinbar, wobei sie von außen mehrere Räume erahnen ließ.

Auch das Innere war alles andere als eng. Ledermöbel, breite Sitze, Holzvertäfelungen, der Boden mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt. Niko sah sich um und versuchte dabei, sich sein Staunen nicht anmerken zu lassen. Seine Vermutung mit den Räumen traf ebenfalls zu. Vom großzügigen Raum, in dem er sich nach dem Einsteigen befand, führte ein Gang zu den Räumlichkeiten der Crew und der Pilotenkanzel. Das andere Ende des Raumes hatte zwei Türen, die verschlossen waren.

»Nimm Platz, mach es dir bequem. Wir starten in zehn Minuten«, meinte Alison und warf ihre Reisetasche auf einen der Sitze.

Nikos Blick auf den silbernen Koffer quittierte sie mit einem freundlichen Lächeln.

»Willst du sehen, wieso mein Vater sich Sorgen um den Inhalt macht?«

»Es sollten Edelsteine darin sein.«

Alison winkte Niko zu sich an einen Tisch und deutete ihm Platz zu nehmen. Nachdem sie die Kombination am Zahlenschloss eingegeben hatte, drehte sie den Koffer zu Niko und öffnete den Deckel.

Nikos Augen wurden groß, als er den Inhalt sah. Vor ihm leuchteten unterschiedliche Edelsteine in verschiedensten Farben, sorgfältig in weichen, schwarzen Samt eingebettet.

Sie waren in Formen geschliffen, von kugelrund, oval, quadratisch bis zur Form eines Tropfen. Außerdem lag ein unbearbeitetes Goldnugget im Koffer, welches mindestens fünf Zentimeter lang und bis zu zwei Zentimeter breit war.

Daneben glänzte eine Silberplatte in Form eine Scheckkarte, die knapp einen Zentimeter dick war.

Ich habe wenig Ahnung von den Steinen, aber alleine das Gold und Silber sind schon eine ordentliche Summe wert, staunte Niko.

»Meine Familie ist seit Jahrhunderten im Abbau und Handel von Edelmetallen und Edelsteinen tätig. Gold gibt es in Schottland nicht sehr viel, bei Silber sieht es noch schlechter aus. Aber Edelsteine wie diese hier kann man auch heutzutage noch in Schottland finden. Wir handeln auch mit den bekannten Edelsteinen wie Diamanten, Rubinen und so weiter. Aber diese hier sind schottischen Ursprungs.«

Zuerst zeigte sie ihm zwei zu Kugeln geschliffene violette Edelsteine.

»Diese Edelsteine kennst du vielleicht. Amethysten findet man in Europa relativ häufig. Selbst in Österreich gibt es eine besonders große Ader.«

Sie deutete auf einen dunkelblauen Stein in ovaler Form und erklärte Niko, dass es sich um einen Azurit handelte.

»Dem Azurit wird nachgesagt, er soll die Konzentrationsfähigkeit und die geistige Aufnahmebereitschaft fördern. Er gilt als Stein der Erkenntnis und des geistigen Wachstums.«

Als Nächstes hob sie einen ovalen, grün glänzenden Edelstein heraus. Er war perfekt geschliffen, die unzähligen kleinen Flächen spiegelten das Licht und gaben ihm den Anschein, zu leuchten.

»Ein Demantoid, ursprünglich aus Russland. Der berühmte Juwelier Peter Carl Fabergé hat diese Steine gerne für seine weltbekannten Fabergé-Eier benutzt.«

Fabergé-Eier? Dann sind diese Edelsteine sicherlich ebenfalls ziemlich teuer. Der Wert dieses Koffers steigt und steigt.

»Besonders schön finde ich diese zwei Steine.« Sie nahm zwei gelbliche Edelsteine hervor und reichte einen Niko. Beide hatten die Form eines Quadrats mit abgerundeten Ecken, die Unterseite lief zu einer abgerundeten Spitze zusammen.

»Dieser Citrin wurde mit achtundfünfzig Facetten geschliffen, was eine hohe Lichtstreuung bietet und das Gelb deutlich zur Geltung bringt. Diese außergewöhnlich dunklen Edelsteine haben zwanzig Karat, der Wert liegt bei ungefähr dreihundert Euro.«

»Und dein Job ist was genau?«, warf Niko ein.

»Ich suche Abnehmer, Juweliere, die selbst Schmuckstücke herstellen und manchmal auch Großhändler auf. Es klingt nicht sehr interessant, aber ich komme viel in Europa herum.«

Vielleicht sollte ich ihr meine kleine Edelsteinsammlung daheim zeigen.

Wobei, von meinem kleinem Depot an Diamanten weiß niemand und das soll auch so bleiben.

»Warum sprichst du so gut Deutsch?«

»Ich habe nach der Schule in Wien studiert.«

Die Kabinentür wurde geschlossen und Niko nahm Platz.

Alison setzte sich ihm gegenüber.

»Mein Vater hat darauf bestanden, also habe ich meinen persönlichen Bodyguard für den Trip nach Schottland. Mach es dir gemütlich.«

Hatte die Erwähnung von Schottland schon Erinnerungen wachgerufen, sorgte die Aussage der jungen Frau für sehr detaillierte Bilder in Nikos Kopf.

Er machte es sich in dem breiten, lederbezogenen Sitz bequem und schloss die Augen. Seine Musikbibliothek hatte Niko vor der Abreise auf den neuesten Stand gebracht, weshalb sich viele Songs auf dem Handy befanden, die ihn an seine Vergangenheit erinnerten. Während Carl Peyer die erste Strophe von ›Romeo und Julia‹ sang, reiste er gedanklich zurück in seine Schulzeit.

Genauer in den kalten Jänner des Jahres 1993.

Es is scho so lang, es is scho so lang her,

mia woan no Kinder oda doch scho mehr,

so verliebt, dass des nur amoi gibt

Des erste grosse Wunder, so spannend und so nei,

voller Angst und voller Hoffnung, so gfangen und so frei, mia woan jung, unbesiegboa jung

Jänner 1993

Es war der erste Schultag nach den Weihnachtsferien. Niko stapfte durch den zentimeterhohen Schnee über den Schulhof zu der Gruppe Jugendlicher, die vor dem Tor ins Gebäude standen. Seine Schulkameraden waren gerade dabei, über ihre Ferienerlebnisse zu erzählen. Nikos Schilderung fiel kurz und unspektakulär aus.

»Wir sind in Wien geblieben. Keiner von uns fährt Schi und ich bin sowieso mehr der Sommertyp.«

Während er sich Geschichten von Tiefschneefahrten in Tirol und Aprés-Ski Diskotheken anhörte, schweifte sein Blick immer wieder über die eintreffenden Schüler. Da er nach einem bestimmten Mädchen Ausschau hielt, fiel ihm nicht auf, wie jemand näher kam und ihn unsanft rempelte.

»Na, hast du schöne Ferien gehabt, daheim?« Die herablassende Stimme gehörte zu Mathias, mit dem Niko schon immer seine Probleme hatte. Wenn es nach den Gerüchten in der Schule ging, störte es den Sohn einer bekannten Politikerfamilie, dass sich Niko mit einem Mädchen so gut verstand, welches er selbst näher kennenlernen wollte.

»Ich brauche keine großen Reisen, um schöne Ferien zu haben. Zieh ab!«, fauchte Niko ihn an. Beim Eingang zum Schulareal konnte er endlich eine bekannte Gestalt entdecken. Dick eingehüllt in eine weiße Daunenjacke kam das großgewachsene Mädchen auf ihn zu. Als sie ihre Kapuze abnahm, kamen ihre rotbraunen Haare zum Vorschein. Die dichten Locken fielen umso mehr auf, da sie einen sehr blassen Teint hatte. Neben ihren Haaren fiel ihr breiter Mund auf, mit auffällig roten Lippen. Diese Lippen warfen beim Näherkommen der Gruppe ein Lächeln zu.

»Hallo, Julia!«, begrüßte Niko die junge Frau und kam ihr entgegen.

Einige aus der Gruppe grinsten. Es war ein offenes Geheimnis, dass Niko über beide Ohren in das Mädchen verknallt war. Obwohl auch einige ihrer Freundinnen Andeutungen gemacht hatten, dass Julia ihn sehr gern hatte, waren beide zu schüchtern und wollten ihre Freundschaft nicht riskieren.

Julia umarmte Niko und drückte ihm einen Schmatzer auf die Wangen. Niko durchfuhr ein wohliger Schauer, als er ihre Lippen spürte. Gleichzeitig war er bemüht, sich vor seinen Freunden nichts anmerken zu lassen. Rot wurde er trotzdem.

»Ich habe dir so viel zu erzählen. Die Woche in der Schweiz war traumhaft. So viel Schnee, das Essen, jeden Tag Schifahren. Am liebsten wäre ich dort geblieben.«

Sie winkte in die Runde.

»Aber ganz ehrlich, diesen Haufen hier würde ich schon sehr vermissen.«

Julia legte den Arm um Niko und zog ihn zu sich.

»Besonders dich, Niko.«

Er spürte, wie sein Gesicht glühte, wollte etwas antworten, doch ihm fiel nichts Intelligentes ein.

Zwei Schulstunden später waren die Weihnachtsferien schon wieder vergessen. Die gesamte Gruppe war in der Pause im Freien versammelt.

»Ich würde gern in den neuen Film mit Kevin Costner, Bodyguard«, meinte Julia, erntete aber nur ablehnende Blicke.

»Herz, Schmerz, Bussi, Bussi. Nein danke, das ist mir zu langweilig.«

»Das ist doch nur so eine Liebesschnulze.«

»Ja, aber mit Kevin Coster!« Julia wandte sich an Niko.

»Hättest du vielleicht Lust? Ich weiß, es ist nicht ganz dein...«

»Ja gerne, warum nicht?«, antwortete er sofort.

»Dann haben wir heute Abend ein Date.«

Niko versuchte ruhig und gelassen zu wirken. Aber innerlich stieg seine Nervosität, sein Bauch zog sich zusammen. Ein echtes Date mit seiner großen Flamme, endlich einmal nur zu zweit. Das konnte nur ein schöner Abend werden.

»Und was ist mit unserem Spieleabend?«, warf Daniel ein. Er wohnte im gegenüberliegenden Haus von Niko, zusammen verbrachten sie viele Nachmittage vor ihren Amiga Computern.

Da Daniel kein großes Interesse an Mädchen zeigte, verstand er nicht, wieso ihn die Freunde schmunzelnd angrinsten.

»Ich glaube, Niko zieht den Abend mit unserem Rotschopf dem Fertigspielen von Indiana Jones vor.«

Julia klopfte Daniel auf die Schulter.

»Ihr Jungs und eure Spielsachen. Indiana Jones and the Fate of Atlantis? Soll ich dir verraten, wie es ausgeht?«

»Du hast es nicht...«

»Doch, ich habe das Rätsel um Atlantis gelöst. Soll ich dir eine kurze Zusammenfassung geben, wie ich es geschafft habe?«

»Nein!«, antwortete Daniel trotzig, »Ich will es selbst schaffen.«

Mit einem schelmischen Grinsen drückte sie den verdutzen Daniel an sich.

»Nichts gegen Indy, aber das beste Spiel ist immer noch Monkey Island, egal ob 1 oder 2. Es war aber auch leicht zum Durchspielen.«

Daniel sah sie überrascht an.

»Jetzt übertreibst du aber.«

Niko hatte miterlebt, wie sich Daniel mit seiner Hilfe nächtelang an dem Adventure-Game die Zähne ausgebissen hatte. Er war auch dabei gewesen, als sie zusammen den zweiten Teil beendet hatten. Den folgenden Tag war Daniel der Held in der Klasse, verriet aber nicht, wie die Geschichte um den Piraten Guybrush ausging.

Julia strich ihre nassen Haare zurück und baute sich vor Daniel auf.

»Brauchst du einen Beweis?«

Daniel blickte sie unsicher an, wurde nervös, als sich die junge Frau zu seinem Ohr beugte und ihm etwas zuflüsterte.

Niko konnte an ihren Lippen ablesen, was sie Daniel verriet.

»LeChuck ist sein Bruder.«

»Okay, okay. Ich glaube dir«, stotterte Daniel, dem die Nähe zu einer Frau nervös machte.

Der restliche Schultag konnte gar nicht schnell genug vorübergehen. Nachdem sie Zeit und Treffpunkt für den Abend ausgemacht hatten, sprintete Niko heim. Seine Aufregung konnte er nur schwer verstecken, so musste er sich den ganzen Nachmittag doppeldeutige Meldungen von seinem Bruder anhören. Stefanos, der ein Jahr älter war, deckte ihn mit wenig hilfreichen Tipps zu, die ihn alle nicht interessierten. Für ihn war nur wichtig, Zeit alleine mit Julia zu verbringen.

Obwohl sie sich für 19 Uhr verabredet hatten, stand Niko schon eine halbe Stunde früher vor dem »Kolosseum«, einem der bekanntesten Kinos in Wien. Nervös stapfte er durch den Schnee, wischte sich immer wieder die Flocken aus den kurzen Haaren. Der dichte Schneefall ließ ihn hoffen, dass er nach dem Film, der ihn nicht wirklich interessierte, Julia noch heimbegleiten konnte und somit einen romantischen Spaziergang im Schnee vor sich hatte. Andererseits hatte er aber auch die Befürchtung, dass sie ihren Kinobesuch nur als Treffen zwischen zwei guten Freunden sah.

Julia kam ohne Kopfbedeckung und war somit leicht zu erkennen. Mit einem breiten Lächeln kam sie auf ihn zu, ihre roten Haare leuchteten und glänzten unter der Straßenlaterne. Niko kam ihr entgegen, während er überlegte, wie sie reagieren würde, wenn er sie nicht wie sonst nur freundschaftlich begrüßen würde. Doch als sie direkt vor ihm stand waren diese Gedanken verflogen. Er umarmte sie kurz, küsste sie auf die Wange und schon waren sie auf dem Weg ins Innere des Kinos.

Der Film war für Niko nur Nebensache. Er wünschte sich, dass der Film ähnlich lang wie Kevin Costners bekanntester Film »Der mit dem Wolf tanzt« dauern würde. Er genoss die Nähe, traute sich aber vorerst nicht, etwas zu unternehmen.

Fünf Minuten nachdem der Film begonnen hatte, spürte Niko, wie Julias Hand auf seiner lag. So sehr er es auch versuchte, er konnte seine Nervosität nicht verbergen.

Zaghaft drehte er seine Handfläche und hielt ihre Hand fest.

»Es ist schön, endlich alleine mit dir zu sein«, flüsterte Julia.

Niko brachte keinen Ton heraus, drückte ihre Hand etwas fester und ließ sie nicht mehr los.

Zur Hälfte des Films war sie dicht an ihn gekuschelt, sein Arm lag um ihre Schulter und ihr Kopf lehnte an seinem.

Als es im Finale des Films richtig romantisch wurde, drehte er seinen Kopf zu ihr. Scheinbar schien Julia darauf gewartet zu haben, denn sie drehte sich ebenfalls zu ihm. Ohne weiter darüber nachzudenken, nahm Niko seinen Mut zusammen und küsste seine Angebetete. Darauf hatte Julia nur gewartet, die seinen Kuss zuerst zögernd, doch dann stürmisch erwiderte.

Beide bekamen nicht mit, wie der Film endete, da sie sich von ihrem ersten Kuss nicht lösen wollten. Erst als es im Saal heller wurde, erhob sich Julia und sah ihn mit strahlendem Lächeln an.

Bis sie wieder im Freien waren, gingen sie wortlos, händehaltend nebeneinander.

»Dir ist klar, dass ich schon lange in dich verschossen bin?«

Julia sprach leise, auch für sie war die Situation vollkommen neu.

»Mir geht es ganz genauso. Aber ich habe mich nie getraut...«

»Ich möchte nur... Wir verstehen uns so gut. Nicht, dass es jetzt vielleicht...«

Niko blieb stehen und zog sie zu sich.

»Dieselben Sorgen hatte ich auch.«

So entschieden sie sich, alles für sich zu behalten, solange es ging. Wobei beide denselben Gedanken hatten: In wenigen Tagen würde es sowieso jeder mitbekommen, dazu waren sie beide zu verliebt ineinander.

---***---

Niko wachte aus seinem Traum auf und benötigte einige Sekunden, um sich zu orientieren.

Ach ja, Flugzeug. Am Weg nach Schottland mit der Business-Tussi.

Alison Mac Irgendwas.

Er sah sich um, konnte die Frau aber nicht finden. Dafür sah er, wie die zwei Stewards miteinander flüsterten und auf die Tür zu einem der hinteren Räume deuteten. Niko fiel auf, dass sich beide Männer sehr ähnlich sahen, wobei der Jüngere schlanker war und sein Gesicht sehr jungenhaft wirkte.

Niko wollte schon wieder die Augen schließen, als ihm ein Detail an der Kleidung der Männer hellwach werden ließ.

Beide hatten an der Seite einen Pistolengurt unter ihrem Jackett.

Anscheinend braucht diese Frau sehr viel Schutz, dachte er und erhob sich. Sein Hemd engte ihn ein, er sah keinen Grund, sich weiter damit herumzuquälen. Mit dem Rucksack in der Hand ging er zu der Tür und begab sich in den hinteren Raum, wo er Alison vermutete.

Dort war sie auch anzutreffen, wobei Niko einen ungünstigen Zeitpunkt erwischt hatte. Die junge Dame war ebenfalls gerade im Begriff, sich umzuziehen. Nur in Unterwäsche bekleidet blickte sie auf und musterte Niko argwöhnisch.

»Gehört das auch zur Bewachung?«, fragte sie spitz.

»Nein. Ich frage mich aber, wozu du jemanden wie mich brauchst, wenn das Bordpersonal sowieso bewaffnet ist.«

Alison wollte gerade nach einem Shirt greifen, als sie stutzte und Niko überrascht ansah.

»Wie bitte?«

»Das dürfte dir doch bekannt...«

»Ich kenne das Personal nicht. Das Flugzeug ist gemietet und nicht im Besitz der Familie MacHart.«

»Dann will dein Vater scheinbar auf Nummer sicher gehen«, mutmaßte Niko.

Schnell streifte sich Alison ein bauchfreies Shirt über und schlüpfte in eine bequeme Jeans.

»So fühle ich mich wohler. Wenn du dich ebenfalls umziehen willst, dort ist dein Koffer.«

In sportlicher Kleidung wirkte sie sympathischer auf Niko.

Alison schlüpfte in eine dünne Jacke und wollte zurück in den großzügigen Aufenthaltsraum, doch als sie versuchte, die Tür zu öffnen, war diese versperrt. Sie versuchte mehrmals ihr Glück, doch die Kabinentür gab nicht nach.

»Entschuldigung!«, rief sie der Tür entgegen, »Die Tür scheint zu klemmen.«

»Nein, sie ist versperrt«, kam die Antwort von einem der Stewards.

Überrascht blickte Alison zu Niko, der nur ahnungslos die Schultern hob.

»Wir machen es ganz einfach für Sie, Miss Hart. Verraten Sie uns, wo die Höhle ist und wir kommen alle unbeschadet aus dem Flugzeug.«

»Wie bitte?«, fragte Alison verwundert nach.

»Sie wissen ganz genau, wovon wir reden!«

Niko lehnte sich gegen das Regal neben ihm. Langsam stieg Unruhe in ihm auf.

»Was wollen Sie?«, fragte Alison erneut.

»Die genaue Lage der Höhle.«

»Welche Höhle?«

»Die Höhle, die eigentlich dem Clan Remington zusteht, mitsamt dem Gold, welche sonst? Die Höhle mit der bedeutendsten Legende unseres Clans.«

Alison starrte die Tür an, schlug mehrmals dagegen und rüttelte fest an ihr.

»Mechty...!«, fluchte sie und hämmerte nochmals gegen die Tür, »Ich kenne die Legende, aber mehr auch nicht.«

Legende? Nicht schon wieder, fluchte Niko und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

Martin, ich verfluche Dich. Nie wieder lasse ich mich von dir auf Urlaub schicken!

»Ich weiß nichts. Die Originalbücher sind vor Jahren...«

»Bei einem Brand vernichtet worden, das haben wir auch gehört.«

»Wir? Ihr seid doch verrückt mit euren Traditionen und Geschichten!«

»Tradition ist das, was unseren Clan aufrecht hält! Und wir werden endlich unser Recht auf die Höhle einfordern. Hier und heute!«

»Diese Höhle interessiert mich wie ein Stein in Glasgow. Was glaubt ihr denn...?«

»Wir haben keine Zeit für Spielchen, Miss Hart.«

Neben Niko war ein mechanisches Geräusch zu hören.

»Die hinteren Einstiegsluken wurden soeben entriegelt«, informierte sie der Mann hinter der Tür.

»Ernsthaft?«, stieß Niko erschrocken aus.

»Ich frage Sie noch ein letztes Mal, Miss Hart. Wo befindet sich die Höhle?«

Alison wich von der Tür zurück und blickte hilfesuchend zu Niko.

»Die meinen das ernst«, stotterte sie nervös.

»Klingt so.«

»Wir haben nicht vor, Sie zu verletzen. Machen Sie es uns ganz einfach, sagen Sie uns alles, was Sie wissen und wir...«

»Fucking Pricks, Bastards!«, schrie Alison die Tür an, »Ich weiß gar nichts und diese angebliche Legende interessiert mich nicht!«

»Nur zu ihrer Information, wir haben soeben die Küste Schottlands überquert und befinden uns gerade auf knapp 15.000 Fuß Höhe. Es wird also ein längerer Weg nach unten.«

»Das kann doch jetzt nicht...«, ein leises Zischen an der Kabinenluke ließ Niko verstummen.

»Die öffnen die Türen!«, schrie Alison.

Niko hörte, dass auch die Stimmen von der anderen Seite nervös wurden. Er konnte nur einige Gesprächsfetzen verstehen.

Die wollten nur bluffen, aber jetzt bekommen sie die Türverriegelung nicht mehr...

Die Kabinenluke vibrierte immer lauter. Hektisch blickte Niko auf seinen Rucksack, den er fest in der Hand hielt.

Da ist nicht gerade was Nützliches drinnen, stellte er fest.

Alison stürmte durch den Raum, riss mehrere Kästen auf und warf unterschiedliche Sachen zu Boden.

»Was suchst du?«, wollte Niko wissen.

Als Antwort wurde ihm ein gelbes Paket zugeworfen, das er im ersten Moment nicht identifizieren konnte.

»Notpack, Survival Kit?«, las er vor.

»Das können wir vielleicht noch brauchen, steck es in deinen Rucksack. Wir springen hinaus.«

»Ernsthaft?« Niko sah sie mit aufgerissenen Augen an, folgte aber ihren Anweisungen.

Hinter der Tür wurde es ebenfalls hektisch. Offenbar versuchten die Stewards die Tür zu ihnen zu öffnen. Doch das Rütteln an der Tür blieb erfolglos.

Alison streckte ihm einen dick gefüllten Rucksack entgegen.

»Schon einmal gesprungen?«

Niko starrte sie ungläubig an.

»Gesprungen?«

»Ja, mit einem Fallschirm.«

Bin nicht ich sonst derjenige mit verrückten Ideen?

»Nein.«

»Rausspringen, Hände ausstrecken und versuchen, in Bauchlage zu bleiben. Bis zehn zählen und dann dieses Seil ziehen, um den Fallschirm aufzumachen.«

Niko sah sie perplex an.

»Bist du verrückt?«

Alison antwortete ihm nicht und schulterte einen Fallschirmrucksack.

Bevor er dazu kam, etwas zu sagen, flog die Kabinentür mit einem lauten Kreischen auf. Gleichzeitig packte Niko ein gewaltiger Sog und riss ihn von den Beinen. Ohne eine Chance, sich dagegen zu wehren, wurde er in Richtung Tür geschleudert. Er stieß gegen Kiste und versuchte sich an dieser festzukrallen. Doch er fand keinen Halt und wurde ins Freie geschleudert. Sein Rucksack hing an seiner Schulter, doch der Fallschirmrucksack flog ohne ihn ins Freie.

Augenblicklich umschloss ihn eisige Kälte, mehrmals drehte er sich um sich selbst. Ein kurzes Blinzeln reichte ihm, um zu sehen, wo er sich befand. Das Flugzeug war schon binnen Sekunden weit über ihm und er fiel wie ein Stein auf die Erde zu.

Alisons Worte kamen ihm in den Sinn und Niko versuchte, seinen Körper in Richtung Boden zu drehen. Seine Hände wurden zur Seite gerissen, der eiskalte Wind blies ihm nun direkt und schmerzhaft ins Gesicht. Dennoch öffnete er kurz die Augen. Weit unter ihm erkannte er unterschiedliche Grünflächen, mehrere Ortschaften und dichte Wälder. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht, jeder Tropfen schmerzte wie ein Nadelstich.

Erst jetzt realisierte Niko voller Panik, dass ihm etwas fehlte.

Ich habe keinen Fallschirm! Ich stürze ungebremst auf die Erde zu und habe keine Möglichkeit, irgendetwas dagegen zu tun!

Der Gurt seines persönlichen Rucksacks drückte sich gegen seine Brust. Doch der war in dieser Situation absolut nutzlos.

Er versuchte sich umzusehen, sah aber nur den wolkenverhangenen Himmel über der Insel.

So soll es enden? Ich bin gerade einmal 41, habe eine Zeit davon im Gefängnis verschissen und gerade jetzt, wo alles einmal normal verläuft, kratze ich ab.

Die Landschaft unter ihm kam nur langsam näher, obwohl er mit ungefähr 200 Stundenkilometern nach unten raste.

Jedenfalls, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, dachte er.

Der Regen fühlte sich an, als würde Niko durch eiskalte Nadeln fliegen, die durch seine Kleidung drangen. Am schmerzhaftesten war der Regen im Gesicht.

In seiner panischen Angst kamen ihm verschiedenste Erinnerungen in den Sinn.

Julia, seine erste und anscheinend einzig große Liebe.

Sie ist wahrscheinlich irgendwo unter mir auf dieser Insel, denkt aber sicher nicht mehr an mich.

Seine Zeit im Gefängnis und Martin, der ihn vorzeitig freibekommen hatte.

Wegen dir bin ich jetzt hier, fluchte er, aber du warst mein bester Freund.

Niko glaubte seinen Namen im Rauschen zu hören.

Einbildung, die Stimme klingt wie Julias.

Niko wollte schreien, doch kaum öffnete er den Mund, jagte die eiskalte Luft durch seinen gesamten Körper.

Ich werde einfach auf einem Feld, einer Wiese oder mitten auf einer Straße aufklatschen und nichts wird von mir übrig bleiben.

Seine Gedanken machten wilde Sprünge. Von seinem letzten Urlaub in Kreta, zurück in die Schulzeit, seiner verstorbene Mutter und zu seinem Bruder.

Mein Bruder, der Mönch. Er kann für mich beten. Vielleicht hat Alison es geschafft, ihren Fallschirmrucksack festzuhalten. Aber...

Etwas packte ihn an den Hüften und im nächsten Moment drehte sich Niko mehrmals um sich selbst. Er wusste nicht, was geschehen war, aber der Schmerz des Zusammenpralls ließ ihm schwarz vor Augen werden. Er spürte, wie sich sein Körper im freien Fall unkontrolliert drehte, aber auch ein zusätzliches Gewicht an seinem Rücken, etwas das ihn fest umschlang. Ihm wurde schlecht. Einige Sekunden später, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, wurde er mit einem plötzlichen Ruck nach oben gezogen. Er spürte, wie sein Fall abgebremst wurde. Seine Schultern, die von etwas festgehalten wurden, fühlten sich an, als würden sie jeden Moment abreißen. Der eiskalte Gegenwind wurde schwächer, das Rauschen in seinen Ohren nahm ab.

»... bei Bewusstsein. Bleib wach, sonst kann ich dich nicht runterbringen!«, hörte er eine Frauenstimme neben sich schreien.

Niko drehte den Kopf und erkannte Alison, die an seinem Rücken hing, die Arme fest um ihn geschlungen. Sie hatte es tatsächlich geschafft, den Fallschirm rechtzeitig umzuhängen und war irgendwie zu ihm gelangt.

»Verstehst du mich?«

»Ja«, krächzte er leise. Er konnte nicht schreien, die Panik durchzog seinen ganzen Körper.

»Wir werden gleich hart landen, ich weiß nicht ob diese Fallschirme für unser beider Gewicht ausgelegt sind. Pass auf deinen Kopf auf, roll dich zusammen.«

Niko verstand nur Bruchstücke. Er war nahe daran, ohnmächtig zu werden, immer noch in Todesangst.

»Ich werde versuchen, dich halbwegs heil abzusetzen, aber meine zehn Sprünge bisher waren keine Vorbereitung auf das hier.«

Niko nickte und versuchte sich zu beruhigen. Sein ganzer Körper zitterte, wobei er nicht wusste, ob vor Kälte oder seiner Angst.

Ein Ast streifte ihn, instinktiv hob er die Arme vor sein Gesicht. Ein weiterer Ast schnalzte über seinen Unterarm.

Seine Beine berührten etwas. Niko hoffte, dass es der Erdboden war, und versuchte sich abzurollen. Doch seine Beine knickten weg, er fiel nach vorne und rollte über morsches Geäst, das unter seinem Gewicht brach. Er spürte, wie er gegen einen Stein stieß und darüber rollte. Kurz kam ihm der Gedanke, dass dieser ihm das Kreuz brechen könnte. Im nächsten Moment erwischte sein Bein einen stabilen Baum, gegen den er geschleudert wurde. Ihm wurde schwarz vor Augen.

Stille.

Dann das sanfte Rauschen von Blättern, Feuchtigkeit auf Nikos Kopf, ein weicher, erdiger Boden unter seinen Händen.

Ich lebe.

Vorsichtig sog er die Luft ein. Frische Waldluft, kühl und feucht.

Kein Brennen in der Lunge, kein Geschmack von Blut, ich schätze, das ist gut.

Er konzentrierte sich auf seine Beine und konnte beide spüren, ebenso seine Arme. Die Finger waren steif vor Kälte, das Kribbeln war unangenehm aber weniger schlimm als der restliche schmerzende Körper.

Langsam rollte sich Niko auf den Rücken und blinzelte. Über ihm sah er den wolkenverhangenen Himmel und viele Baumwipfel.

Er hatte kein Zeitgefühl, lag nur auf dem kühlen Boden, sah seinen Rucksack neben sich liegen und versuchte, ruhig zu atmen. Das plötzlich über ihm auftauchende Gesicht von Alison ließ ihn zusammenschrecken.

»Wie geht es dir?«

Niko wollte antworten, doch sein Hals war staubtrocken, mehr als ein Krächzen kam nicht heraus. Deshalb nickte er Alison nur zu.

»Bleib einfach liegen. Ich werde mich umsehen, vielleicht haben wir Glück und finden etwas Wasser in der Nähe.«

Niko fiel es leicht, zu gehorchen. Er wollte sich keinen Zentimeter bewegen. Kurz bevor er einschlief, erschien Alison wieder.

»Wir sind sehr nahe an einem Bach. Hier trink.«

Obwohl er wusste, dass frei fließendes Wasser zuerst gereinigt werden sollte, vertraute er auf die Sauberkeit des Flusses und nahm einen Schluck des eiskalten Wassers.

»Wie geht es dir?«, fragte Alison erneut.

»Ich bin gerade aus ein paar tausend Metern Höhe aus einem Flugzeug gesprungen, ohne Fallschirm. Dafür geht es mir recht gut.«

Er benötigte noch einige Minuten, bevor er es schaffte, sich aufzusetzen. Alison saß vor ihm und sortierte einige Gegenstände, die Niko aus seinen Survivalpaketen kannte.

»Du scheinst auf solche Abenteuer vorbereitet zu sein«, meinte Niko und versuchte sich zu strecken. Seine Arme schmerzten, aber er konnte bis auf kleine Schnitte und vielen Kratzern keine ernsthaften Verletzungen entdecken. Dafür spürte er einen Druck an seinem Oberschenkel.

»Nein, Niko. Das habe ich aus dem Flugzeug mitgenommen.«

Niko erinnerte sich an das gelbe Paket, welches sie ihm vor dem Ausstieg in die Hand gedrückt hatte.

»Hast du Erfahrung mit Survivaltechniken?«

»Nicht wirklich«, gestand Alison und händigte ihm das Paket aus. Niko sah verschiedene Beutel, die mit allerlei Nützlichen gefüllt waren. Er hatte davon gehört, dass es in Flugzeugen ein Survialpaket gibt, aber noch nie eines gesehen.

Wahrscheinlich ist das nicht unbedingt eine Information, die man den Gästen direkt auf die Nase binden möchte, dachte er.

Er sah an sich hinab und bemerkte, dass seine Hose herunter-gezogen war.

»Du hast eine tiefe Wunde am Oberschenkel. Sie hat stark geblutet, aber keine Arterie erwischt«, erklärte Alison.

»Sicher?«

»Ja, sonst wärst du schon verblutet. Ich habe sie desinfiziert und einen Druckverband angelegt. Mehr kann ich hier nicht machen.«

Niko dankte ihr und öffnete seinen Rucksack.

»Uhrzeit?«, fragte er.

»Ich schätze mal früher Nachmittag.«

Niko blickte in den Himmel, doch durch die dicke Wolkendecke war es schwer, den Stand der Sonne genau auszumachen.

»Hast du dein Handy?«, fragte er weiter, den Blick in seinen Rucksack vertieft.

»Das fliegt noch im Flugzeug mit. Und deines?«

Niko zog sein Smartphone hervor, dessen Display vollkommen zerstört war. An einer Ecke fehlte die Verkleidung, ebenso Teile der hinteren Abdeckung.

»Unbrauchbar.«

Er nahm seine SIM-Karte und die Speicherkarte aus dem völlig zerstörten Telefon und verstaute sie in einer kleinen Tasche im Rucksack.

Alison deutete auf das gelbe Paket bei Niko.

»Ich habe bei den Notfallsachen eine Signalrakete gesehen.

Wenn wir die zünden...«

»Treffen wir mit großer Wahrscheinlichkeit die Baumkronen und haben über uns ein nettes Feuer. Weißt Du, wo wir gelandet sind?«

»Nicht genau. Soweit ich aus der Luft erkennen konnte, sind wir über Edinburgh hinweg geflogen. Das heißt, es war nie geplant, dort zu landen. Wir sind über einige Ortschaften gesegelt, allzu weit entfernt wird der nächste Ort nicht sein.«

»Die Umgebung hier?«

»Ich bin bis jetzt nicht viel herumgekommen, ich wollte dich nicht alleine liegen lassen.«

Niko versuchte, aufzustehen. Der Schmerz schoss von seinen Beinen durch den ganzen Körper. Langsam und mit schmerzverzerrtem Gesicht zog er sich hoch.

»Wann geht die Sonne unter?«

»Du hast Fragen. Es ist September, wir sind nicht zu weit im Norden... Ich würde sagen, früher als in Wien.«

»Danke, das hilft uns weiter«, meinte er spöttisch, »Wir brauchen Wasser, Feuer und einen Unterstand, der auch nachttauglich ist.«

Niko benötigte einige Minuten, bis er in der Lage war, klar zu denken und sich zu bewegen. Ihre Umgebung bot wenig Anhaltspunkte, es war kein Weg auszumachen, dem sie folgen konnten. Geräusche von Fahrzeugen oder Industrie waren nicht zu hören, dafür fanden sie in der Nähe einen kleinen Fluss. Da es immer wieder leicht regnete, entschloss sich Niko, zuerst einen Unterstand zu bauen. Er kramte ein schwarzes Taschenmesser aus seinem Rucksack hervor und reichte es geöffnet an Alison weiter.

»Das ist aber ein großes Teil«, meinte sie anerkennend, als sie das Messer in der Hand hielt. Der Griff war nicht für zarte Hände konzipiert worden.

»Du wirst schon damit umgehen können. Es hat einige nützliche Funktionen, wie einen Kompass im Griff, eine Säge, die auch den Namen verdient, eine kleine Lampe und eine Filetierklinge.«

»Filetierklinge?«

»Eine schlankere Klinge für Feinarbeiten.«

»Jedenfalls sieht es scharf aus«, stellte Alison fest, die mit dem Finger vorsichtig über die Klinge strich.

»Scharf und durch die Titanium Bonded Veredelung besonders hart und...«

»Okay, du kennst dich mit Messern aus, ich habe es verstanden. Was darf ich mit diesem edlen Teil machen?«

»Trenn die Seile vom Schirm. Wir haben genug Material, um uns einen halbwegs trockenen Platz für die Nacht zu bauen«, erklärte Niko.

»Hier? Mitten im Nirgendwo?«

»Ja.«

»Aber...«

»Die Alternative wäre, zur nächsten Ortschaft zu wandern.

Du musst nur wissen, in welche Richtung und wie weit. Hast du beim Heruntersegeln etwas gesehen?«

»Naja, es gibt ein Dorf in der Nähe. Aber ich kann nicht sagen in welche Richtung und wie weit entfernt wir gelandet sind. Ich hatte da noch jemanden in den Armen, den ich heil runterbringen wollte.«

»Gutes Argument«, pflichtete ihr Niko bei.

Humpelnd suchte er die nähere Umgebung ab, bis er einige Meter neben dem Bachbett eine geeignete Stelle fand. Eine ebene moosbewachsene Fläche mit einem umgeknickten Baum, über den er den Fallschirm spannen konnte. Mit Hilfe einiger Äste fixierte er den Schirm und verknotete die Enden mit den Seilen. Dabei musste Niko daran denken, dass er für solche Fälle sein Paracordarmband hatte.

Da trage ich ein Armband, speziell für solche Situationen und dann lande ich in einer Survivalsituation mit genügend Paracordschnur.

Er benötigte eine halbe Stunde, bis das Gerüst fertig war.

Währenddessen befüllte Alison beim Bach die Wasserbeutel aus dem Überlebensset. Sie kehrte zurück und staunte über die Notunterkunft.

»Sieht gut aus. Machst du sowas öfter?«

»Mitten in einem Wald landen, ohne eine Ahnung, wo ich bin... nein eher nicht.«

Nikos Antwort klang bissig. Mit ruhigerem Tonfall sprach er weiter.

»Ich weiß, was du meinst. Ja, ich interessiere mich für Survivaltechniken und habe einige Kurse besucht. Echte Notsituationen habe ich bislang aber nicht erlebt.«

Er ordnete ihr an, nach kleinem, möglichst trockenem Holz zu suchen. Unterdessen kramte er in seinem Rucksack und dem Survivalpaket aus dem Flugzeug nach hilfreichen Utensilien.

Als Alison mit einem Stapel dünner Ästen zurückkehrte, schlichtete Niko diese zu einem Haufen.

»Und wie willst du Feuer machen?«, fragte sie skeptisch. Der dichte Wald schützte sie zwar vor dem Regen, aber dennoch war alles um sie herum feucht.

»Damit.« Er zog aus dem schwarzen Taschenmesser einen kleinen länglichen schwarzen Stab heraus. Als er ihn über den Messerrücken strich, spritzen Funken von ihm ab.

»Du bist ja bestens ausgerüstet«, staunte Alison.

»Nicht, dass ich geglaubt hätte, es benutzen zu müssen.«

Die Äste waren zu einer Pyramide zusammengeschlichtet.

Aus dem umgefallenen Baum schnitt Niko einige Holzstücke heraus.

»Die trockenen Teile der Rinde habe ich schon geholt. Diese Kienspäne aus dem abgestorbenen Baum sind ideale Anzündhilfen«, erklärte Niko. Tatsächlich schaffte er es binnen einiger Minuten, ein Lagerfeuer zu entfachen.

Obwohl sie bislang nichts gesagt hatte, ließ sich Alison gleich neben dem Feuer nieder und wärmte ihre Hände. Die dichten Baumkronen über ihnen ließen nur einige Regentropfen hindurch. Niko nahm sich einen Wasserbeutel und drückte eine Tablette hinein. Auf Alisons fragendes Gesicht hin, erklärte er ihr:

»Wasserentkeimung. Wir haben keine feuerfesten Behälter zur Hand. Für heute wird es reichen.«

Er reichte Alison einen in Silberpapier verpackten Riegel.

»Wir müssen etwas warten, kann können wir das Wasser trinken. Der Riegel ist dein Abendessen, genieß ihn.«

Alison entschied sich, die Notfallration mit Niko zu teilen.

Im Notfallpaket des Flugzeugs befand sich auch eine Kälteschutzdecke. Niko breitete sie aus und bot Alison an, sich damit vor der kalten Nacht zu schützen. Eine weitere Aludecke aus Nikos Rucksack verwendete er als Unterlage ihrer Unterkunft,

»Wenn wir uns zusammenkuscheln, können wir beide sie nutzen. Komm her«, meinte sie und hockte sich nahe ans Feuer. Die Decke bot ihnen etwas Schutz vor dem Wind und auch das Feuer half, trotzdem zitterten Alison und Niko in der feuchten Kälte.

»Du wirkst durchtrainiert und erfahren in diesen Dingen. Ist das der Grund, warum mein Vater dich als Aufpasser ausgesucht hat?«, fragte Alison.

»Ich kenne deinen Vater nicht. Ich bin im Auftrag seines Anwalts in Wien hier. Es hätte auch nur ein Flug und eine Autofahrt zu deinem Schloss werden sollen, ohne...«

Die Erinnerung an den Sturzflug kam hoch und ließ Niko schaudern. Erst nachdem er mehrmals tief eingeatmet hatte, beruhigte er sich wieder.

»Erzähl mir von dieser Legende, wegen der wir hier gelandet sind«, bat Niko nach einer Weile. Inzwischen war die Sonne beinahe untergegangen. Das Feuer sorgte für Licht und unter den Decken war die Kälte halbwegs erträglich.

»Mein Vater ist Clan Chief, das Oberhaupt des MacHart Clans. Wie du weißt, einer der Geschäftszweige des Clans sind Edelsteine. Dieses Gewerbe gibt es bei uns seit einigen hundert Jahren. Aus dieser Zeit stammt auch die Legende. Es soll eine Höhle geben, in der alle hundert Jahre ein hohes Mitglied des Clans einen Stein aus Gold bekommt. Eine Höhle, die durch ihre Schönheit blendet. Für mich genauso interessant wie ein Straßenstein in Glasgow, aber was soll's.

Mit achtzehn Jahren bin ich in das Familiengeschäft eingestiegen, während mein Vater sich auf ein neues Gebiet begeben hatte. Er investiert in ein Gezeitenkraftwerk im Norden Schottlands. Das war auch der Grund für seine Geschäfte in Österreich.«

Niko ließ Alison näher heranrücken, damit sie die Decke teilen konnten und von ihrer Körperwärme profitierten.

Außerdem musste er zugeben, dass er im Moment die Nähe benötigte, um ruhig zu bleiben.

»Erzähl mir mehr über diese Clanfehde. Es klang zwar, dass unser Abflug nicht beabsichtigt war, aber alleine die Androhung...?«

»Nun, fangen wir zuerst weit in der Vergangenheit an. Eine der bekanntesten Clan-Geschichten ist das Glencoe-Massaker von 1692.

Kurz zusammengefasst, Robert Campbell of Glenlyon erhielt den Befehl, den Clan MacDonalds of Glencoe nahezu auszurotten. Er sollte sie überfallen und alle Personen unter siebzig Jahren hinrichten. Das Abscheuliche daran war die Tatsache, dass er die Tage zuvor mit den MacDonalds zusammensaß, Karten spielte und die Gastfreundschaft genoss. Bis heute ist ungewiss, wann genau er seine Befehle bekam. Jedenfalls führte er den Befehl aus. Es gab und gibt sogar einen eigenen Namen dafür, Mord unter Missbrauch des Vertrauens. Es kam nie zu einer Anklage und bis heute sind die MacDonalds nicht gut auf den Clan der Campbells zu sprechen.

Soviel zur Geschichte. Diese Anekdote hat insofern mit meinem Clan zu tun, dass es den Wunsch gab, der Clan MacHart sollte die Campbells unterstützen. Der Clan Chief verweigerte die Hilfe, wie auch der Clan Remington. Soweit, so friedlich.

Der tatsächliche Grund für die Nichteinmischung war aber, dass die beiden Clans, die geografisch nicht weit voneinander entfernt lebten, dieselben Interessen teilten. Auch die Remingtons waren Goldgräber und handelten mit Edelsteinen. Das sorgte nicht selten für Konflikte, auch kleinere Scharmützel sind dokumentiert. Über die Jahre wurde der Clan der MacHarts einflussreicher auf ihrem Gebiet und die Remingtons suchten sich neue Interessen.

Bis es zu der Entdeckung der Höhle des goldenen Flusses kam. Zwei Freunde, ein MacHart und ein Remington, sollen sie zufällig gefunden haben. Beide Clans erhoben den Anspruch auf diese Höhle und, soweit ich es aus Erzählungen gehört habe, hat der Clan MacHart die Höhle eingenommen. Als Zeichen, dass sie den MacHarts gehört, wurde ein Schwert in der Höhle platziert. Es soll unser Clanzeichen tragen.«

»Ich nehme an, niemand weiß, wo die Höhle ist, niemand hat das Schwert gefunden und die Remingtons wollen diesen Anspruch nicht anerkennen.«

»Ganz genau. Viele Jahre war es ruhig. Aber in den letzten Jahren, unter der Führung eines neuen Clan Chief wurde diese Legende wieder ausgegraben. Es geht erneut um den Anspruch auf die Höhle, mitsamt dem möglichen Inhalt. Das Problem ist, dass mein Vater nie erfahren hat, wo sich die Höhle befindet. Wir haben im Castle ein paar Goldnuggets, aber keines ist jünger als hundert Jahre.«

»Was genau soll sich neben dem Schwert in der Höhle finden?«

»Ein Raum, der voller Edelsteine sein soll. Ich nehme an, dass eine offene Ader an dieser Stelle liegt.«

»Eine offene Ader?«

»Ja. Du kennst sicher diese Schmucksteine, meistens Amethysten oder andere besonders farbenkräftige Steine, die man hinstellen kann. Wenn man eine Ader freilegt oder das Glück hat, eine zu finden, sieht man dort die unbehandelten Steine, wie sie scheinbar aus dem Erdboden gewachsen sind.

Genaugenommen entstehen Kristalle durch das aus dem Erdinneren aufsteigende Magma, wenn es unter großem Druck aufsteigt und abkühlt. Je nachdem um welche Kristalle es sich handelt, kann auch ein Druck- und Temperaturunterschied in bestehenden Gesteinsschichten dafür verantwortlich sein.

Gold hingegen entstand vor Jahrmillionen durch astronomische Ereignisse, die ich dir jetzt nicht genauer erklären werde. Nur so viel, damals war die Erde noch ein leerer Planet und es kommt kein Gold nach, es wird nicht wie Kristalle neu gebildet.«

Niko bemerkte, wie ambitioniert Alison bei dem Thema war.

Er nickte nur und ließ sie weiterreden.

»Also, eine Edelsteinader wäre nichts Ungewöhnliches.

Selten ja, aber nicht unmöglich. Aber es gibt noch eine weitere Legende, die recht übertrieben bis unmöglich ist. Ein Fluss soll in der Höhle verlaufen. Bei einem Becken soll alle hundert Jahre ein Goldnugget im Wasser zu finden sein.

Woher das Gold kommt, kann aber niemand erklären. Wie gesagt, Gold wächst nicht einfach so.«

»Das ist der Grund für das Interesse der Remingtons, ein Fluss aus dem Gold entspringt?«

»Genau. Ich kann dir die bisherigen Funde zeigen, es sind nicht gerade kleine Stücke. Es gibt also Beweise für Goldfunde, aber es wird nicht so sein, dass irgendwo hier in Schottland ein magischer Fluss Gold produziert.«

Niko schüttelte den Kopf.

»Wenn etwas an dieser Geschichte dran ist, dann hofft der Clan auf immensen Reichtum.«

»Reichtum aus einer Höhle, die seit hunderten von Jahren den MacHarts gehört.«

»Wenn man wüsste, wo sie ist«, gab Niko zu bedenken, »Okay, genug von Legenden, ruhen wir uns aus. Wir werden morgen dem Fluss folgen. Hoffentlich landen wir so in einer Ortschaft, von der aus wir Hilfe bekommen werden.«

»Mir genügt ein Telefon. Mein Vater erwartet mich schon heute, also weiß er längst, dass etwas nicht in Ordnung ist.«

»Das kannst du ihm dann morgen ausführlich erklären.«

Niko nahm seinen Rucksack als Polster und lehnte sich damit gegen einen Baum. Der Regen setzte ein und ließ das Feuer ausgehen.

»Hast du Angst im Dunkeln?«, fragte Niko.

»Hier gibt es keine Geister, vor denen ich mich fürchten muss.« Alison nahm die Taschenlampe an sich.

»Schlaf ruhig, Niko. Ich werde schon aufpassen.«

Wieso passiert das gerade mir? Wieso schon wieder so ein junges Ding?

Niko schloss die Augen, das Nieseln auf ihrem provisorischen Dach wurde leiser und er versank in einen tiefen Schlaf.

Jänner 1993