Federkleid - Gina Mecke - E-Book

Federkleid E-Book

Gina Mecke

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Beschreibung

Wer weiß schon, ob unter dem Federkleid des Vogels über unseren Köpfen die Haut eines Menschen steckt? In »Federkleid« geht es um den Mythos der Gestaltenwandler. Doch nicht etwa Vampire oder Werwölfe bestimmen die Geschichte, sondern Menschen, die jede tierische Form annehmen können, die es nur so gibt. Über Legenden und Märchen wurde die Geschichte dieses besonderen Fluches vergessen und so befinden wir uns nun in einer modernen, digitalen Gesellschaft, die gar nicht ahnt, dass sich im Verborgenen eine neue Rasse von Mensch entwickelt hat. Ein neuer Mythos, eine neue Geschichte, die nur darauf wartet, erzählt zu werden und das in einer Welt, die jeder von uns kennt. Denn wer weiß schon, ob unter dem Federkleid des Vogels über unseren Köpfen die Haut eines Menschen steckt?

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Seitenzahl: 299

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Gina Mecke

© 2018 AAVAA Verlag

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag

Coverbild: Gina Mecke

Printed in Germany

Taschenbuch:  ISBN 978-3-8459-2606-3

Großdruck:   ISBN 978-3-8459-2607-0

eBook epub:  ISBN 978-3-8459-2608-7

eBook PDF:  ISBN 978-3-8459-2609-4

Sonderdruck  Mini-Buch ohne ISBN

AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin

www.aavaa-verlag.com

E-Books sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken!

Für meinen Papa, für den diese Geschichte ursprünglich geschrieben wurde.

„In meinem nächsten Leben wäre ich gerne ein Adler. Wie toll muss es sein, fliegen zu können?“

Für meine Mama, die mir jeden Abend ausgedachte Geschichten erzählt hat.

Jetzt möchte ich eine erzählen!

Prolog:

Wenn zwischen den Federn der Wind durchpfeift,

Wenn die Krallen leicht die Baumspitzen berühren,

Wenn die Augen kilometerweit das Land überblicken,

Wenn der höher werdende Druck die Ohren betäubt,

Wenn man das Harz, das feuchte Gras riecht und

Wenn man die frische, kühle Luft schmeckt,

Dann fühle ich mich frei!

Mein kleiner Körper dreht sich wie schwerelos im Windstrom und schießt weiter nach oben. Alles ist möglich und ich kann so weit hinauf, wie ich nur möchte.

Niemand kann mich stoppen und niemand hält mich auf.

Ich strecke die Flügel in der Drehung aus und gleite noch eine Weile in der Höhe, bevor ich in einer Bewegung hinab stürze. Mein Kopf ist wie ein scharfes Messer, welches die Luftdecke wie ein weiches Stück Butter durchschneidet. Kurz vor dem Boden ziehe ich hoch und spüre dabei die Tautropfen der Grashalme, die ich berührt habe zwischen den Federn.

Mein schriller Freudenschrei hallt in den Baumwipfeln wider und schreckt einige kleinere Vögel auf, die mir vorwurfsvoll hinterherblicken. Sie haben jedoch keine Zeit, sich lange zu beschweren, da meine Ohren schon wieder außer Hörweite sind. Ich lasse den noch im Dunkel liegenden Laubwald weit hinter mir und gleite über ein flaches, weites Feld. Dabei bin ich wieder so tief, dass die Spitzen meiner Federn fast den Boden berühren.

Meine Augen sind scharf, sie sehen alles. Jedes mit Wasser benetzte Spinnennetz, welches sich zwischen den Grashalmen hält, jede Spinne, die gerade ihre Beute einwickelt. Ich sehe jede Maus, die sich aus Furcht vor mir in ihr Loch verkriecht, jede Fliege, die meine Flugbahn kreuzt und jeden Jäger, der versucht, mich aus dem Hinterhalt zu beobachten.

Im Gegensatz zu ihnen bin ich jedoch schnell, lautlos und ihre langsamen Augen können mir nicht folgen. Und das ist auch gut so.

Ich wechsle einige Male die Richtung, bevor ich dem vertrauten Weg zu meinem eigentlichen Ziel folge.

Ein altes, verlassenes Landhaus setzt sich düster vom Rest des Waldes ab und heißt mich auf seine Art willkommen. Es hat eine einschüchternde, mächtige Fassade trotz seines Verfalls. Schon von Weitem sieht man die sieben großen Fenster, die das Licht einfangen und in der Mitte fünf riesige Säulen, welche eine große Betonplatte halten. Ich schwinge die Flügel nach vorn, um zu bremsen und lande sicher auf dem abgebrochenen Balkon. Noch bevor meine Krallen den gespaltenen Boden berühren, verwandeln sie sich zurück in meine nackten Füße und bewegen sich schnell und lautlos in das Gebäude.

Meine Augen blicken aus dem dunklen Zimmer zurück in die aufgehende Sonne, die ihre ersten kräftigen Strahlen auf den von Glassplittern glänzenden Boden wirft.

Neben der Tür liegt ein einfaches, weißes Kleid, das ich schnell über werfe, um nicht länger nackt zu sein. Nicht dass es mich hier in diesem menschenleeren Gebäude sonderlich stören würde, aber falls doch jemand durch die großen Löcher schaut, die einmal Fenster gewesen sind, dann erscheint es weniger auffällig.

In der Ecke stehen ein paar Kerzen, die ich beim letzten Mal zurück gelassen habe und nun schnell noch anzünde, sobald sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt haben.

Der ganze Raum ist nun in ein Gemisch aus flackerndem Kerzenlicht und schwachen Sonnenstrahlen getaucht und offenbart seine ganze Schönheit. Wobei, Schönheit liegt hier wohl im Auge des Betrachters. Die alten, verschnörkelten Tapeten sind schon zerrissen und blättern von den Wänden, der Stuck ist zum Teil zertrümmert und vom Boden lösen sich morsche Holzdielen oder fehlen zum Teil ganz.

Trotzdem hat hier nichts seinen Charme verloren. Das Landhaus wirkt auf mich wie eine gut gekleidete alte Dame. Sie trägt ihre Fassade mit Stolz und verlangt von allen Respekt, die sie bewundern dürfen. Obwohl das Alter bzw. der Zerfall seine äußerlichen Spuren hinterlässt, kann es der Seele des Hauses nichts anhaben.

Bevor ich jedoch ihre Schönheit weiter bewundern und mich von der schützenden Hülle umgeben lassen kann, muss ich nachsehen, ob mir doch irgendjemand gefolgt ist.

Ich hebe eine der brennenden Kerzen auf und halte sie dicht an meinen Körper, damit sie nicht wieder erlischt. So leise, wie mich meine Flügel durch die Luft tragen, laufen meine Füße auf dem von Dreck und Moos bedeckten Boden, hinaus aus dem Balkonzimmer, auf die Galerie von der man den Rest des Inneren gut überblicken kann.

Niemand dürfte hier sein, es ist nie jemand hier, aber davon muss ich mich erst selber überzeugen, bevor ich mich frei bewegen kann. Es ist zu riskant.

Während die losen Dielen knacken und die Wände um mich herum stöhnen, achten alle meine Sinne auf unbekannte Vibrationen oder Gerüche, Bewegungen oder Anzeichen, dass jemand hier war. Ich trete näher an das Geländer heran.

Unter mir erstreckt sich die riesige Eingangshalle. Der Marmor reflektiert das matte Licht, welches sich durch die dreckigen Fensterscheiben gekämpft hat. Meine Augen wandern zu den offenen Türen zu beiden Seiten, nichts.

Immer, wenn ich hier bin, stelle ich mir vor, es wäre mein Haus. Vor den offenen Fenstern würden noch Seidenvorhänge wehen und überall würden weiche Sessel und Sofas herum stehen und zum süßen Nichtstun einladen. Ich weiß, dass ich das niemals haben werde, doch ohne Träume ist das Leben doch nicht lebenswert.

Da ich niemanden entdecken kann, gehe ich entspannt zurück in das Balkonzimmer. Neben der Tür, unter einem abgebröckelten Stück Wand, liegt mein alter MP3-Player. Ich mache ihn an, stelle mich auf die Zehenspitzen und tanze über den Boden. Mein weißes, langes Kleid wirbelt Staub und lose Tapetenreste auf und ich fühle mich wieder so frei wie in der Luft. Dies ist der einzige Ort, an dem ich mich entspannen kann, weil er fern der Stadt ist und umgeben von der von mir geliebten Natur.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht lasse ich mich auf den Boden neben den Kerzen nieder und greife nach einer losen Diele rechts von mir. Darunter befindet sich ein kleines Loch, in dem eine Schatulle versteckt ist, die ich erleichtert heraus nehme.

Heute muss man alles verstecken, sonst nehmen sie es einem weg oder noch schlimmer, sie entdecken das Geheimnis.

Diese kleine Holzkiste ist das Letzte, was mir geblieben ist von meinem eigentlichen Leben und ich werde es so gut wie möglich vor jedem verstecken, der es mir nehmen möchte. Alles, was mich verraten könnte, ich aber einfach nicht wegschmeißen kann, ist darin. In einem Kästchen, das in etwa so groß wie meine Handfläche und beinahe so leicht wie eine meiner Federn ist.

Etwas betrübt schaue ich hinab auf das verdreckte kleine Ding in meinen Händen.

 „Du wirst dich um Gottes Willen jetzt nicht selbst bemitleiden, Bree“, flüstere ich und ein kleines Schmunzeln huscht mir übers Gesicht, als ich es öffnen will.

„Es kommt von oben.“ Ein Flüsterton aus der Eingangshalle lässt mich aufschrecken und ich stoße mit meinem Knöchel gegen die lose Diele, welche ich neben mir abgelegt hatte.

Sie haben mich entdeckt, wie kann das sein? Es war doch niemand da, das hätte ich gemerkt!

„Da ist es, schnell!“ Sie bemühen sich gar nicht mehr, sich an mich heran zu schleichen und poltern nun die Treppe hinauf. Unbeholfen rapple ich mich auf, puste die Kerzen aus und renne los. In meiner Panik hätte ich beinahe die Kiste vergessen. Ich kehre um und sehe, wie das Licht, welches die Leute bei sich tragen, bereits in das Zimmer hinein dringt. Nur noch wenige Schritte trennen sie von mir.

Nein, ich werde es ihnen nicht überlassen, kann es aber auch nicht mit meinen kleinen Krallen umschließen.

Ich hebe die Diele auf, packe das Kästchen so schnell wie möglich zurück in das kleine Loch und die Diele direkt darüber.

Die Ersten betreten den Raum und ich muss los.

„Da ist … sie!“

Mist. Sie haben mich erkannt. Aber nur von hinten. Ich darf mich nicht umdrehen, muss nur losfliegen, so schnell ich kann.

Ohne zu sehen, wer mich verfolgt, renne ich zurück zu der zertrümmerten Glastür, raus auf den abgebrochenen Balkon.

Mit einem letzten Schritt drücke ich mich vom Rand ab und stürze hinab. Meine Haut wird von schwarzen Federn bedeckt und meine Gliedmaßen schrumpfen. Ich fliege durch das Loch in meinem Kleid, welches für meinen Kopf gedacht war und lasse das nun viel zu große Kleidungsstück sanft zu Boden sinken.

Die Männer blicken mir hinterher und brüllen vor Zorn. Ich kann sie nicht genau verstehen, da meine Ohren vom Adrenalin betäubt sind.

Z1: Die alte Dame steht galant

Mit einem weißen Tuch tupfe ich mir die Spitzen meiner langen braunen Haare trocken und setze mich dabei ans Fenster.

Noch nie sind sie mir so nah gekommen. Auf der einen Seite strotzt mein Körper vor Stolz, dass ich diese Männer trotzdem mit so einer Leichtigkeit abgehängt habe. Auf der anderen weiß ich ganz genau, dass diese Arroganz und Leichtsinnigkeit mich hätte umbringen können.

Die ganze Zeit schon versucht mein Kopf die Bilder vom Morgen Revue passieren zu lassen und jede meiner Handlungen erneut zu durchleben. Wo haben sie mich entdeckt und erkannt, dass ich eigentlich ein Mensch bin und wann sind sie ins Haus gedrungen? Mit meinen scharfen Adleraugen hätte ich jede Bewegung im Haus wahrnehmen müssen.

Es ist unbedingt notwendig, zu wissen, ob jemand mich erkannt hat. Das würde meinen Tod bedeuten und mir bliebe nur die Flucht. Wenn jedoch keiner mein Gesicht gesehen hat, so wäre ein Verschwinden das Auffälligste, was ich in der jetzigen Situation tun könnte.

Trotzdem ist es genau das, wonach ich mich schon seit Jahren sehne. Endlich raus aus dieser Stadt, eine Uni besuchen und in eine eigene Wohnung ziehen. Gedankenverloren streiche ich über die Flyer der verschiedenen Universitäten, welche ich zugeschickt bekommen habe. Für alle habe ich bereits Anmeldungsformulare fertig gemacht. Doch, statt abgeschickt zu werden, versauern diese nun in einem Pappkarton unter meiner Kommode.

Mehrmals habe ich die Chance gehabt, mit meinen Freunden ein Auslandsjahr zu starten oder mein Studium zu beginnen. Immer scheitert es an der Angst, enttarnt zu werden, die die anderen nicht kennen und somit nicht verstehen können. Sobald ich mich aus meinem sicheren Kokon heraus bewege, erwartet mich das Unerwartete. Andererseits könnte dieser Kokon sowieso bald platzen, wenn die Vermutungen in meinem Kopf wirklich stimmen.

Während ich das Handtuch weiter durch die tropfenden Haarsträhnen ziehe und nachdenke, betrachte ich mein Gesicht im Spiegel. Es wirkt so normal. Das typische, kastanienbraune Haar, welches hier viele haben, nichtssagende grün-blaue Augen und helle, überraschend makellose Haut. Niemand würde auch nur ahnen, was darunter steckt. Ein Geheimnis, dass mich jeden Tag grübeln lässt.

Genauso wie jetzt.

Verdammt!

Ich habe meinen MP3-Player liegen lassen. Ich klatsche mir mit der freien Hand gegen die Stirn. Ganz ruhig Bree, so wild ist es ja eigentlich nicht, der hätte sowieso schon in ein Antiquariat gehört. Doch da ist etwas viel Schlimmeres, was ich vergessen haben könnte.

Es ist erst nur eine unscharfe Ahnung, die jedoch mit jeder Sekunde deutlicher wird, bis sie mir nun ganz hämisch ins Gesicht grinst.

Ich sehe die Diele über meinem Versteck, wie sie nur leicht am Rand lehnt und einen winzigen Einblick in das Loch darunter bietet, gerade groß genug, um etwas darin zu vermuten.

Ist das nur ein Streich meiner verzerrten Erinnerung oder habe ich nun wirklich das Letzte von mir und meiner Vergangenheit preisgegeben, was mir geblieben ist?

Diese kleine Unsicherheit in meinem Kopf spinnt sich immer weiter und ich kann nun auch noch sehen, wie einer von den Dieben die Diele beiseiteschiebt, meine Schatulle mit einem interessierten Blick aufhebt und öffnet.

Mit einem Ruck stehe ich auf, werfe dabei das Handtuch auf den Boden und lege die Hände auf den Kopf.

Was hast du getan? Der Gedanke macht mich verrückt, doch ich kann nicht einfach zurückgehen und nachschauen, wie es wirklich ist. Sie könnten dort auf mich warten. Sie kennen jetzt mein Versteck und ich kann für die nächste Zeit keinen Schritt dort hinein setzen. Allerdings wird alles von ihnen durchsucht werden und wenn ich die Kiste jetzt nicht rette, dann wird sie früher oder später sowieso gefunden und geöffnet werden. Ich muss zurück.

Voller Wut trete ich gegen das Handtuch, welches gerade erst auf dem Boden gelandet ist und nun quer durch den Raum fliegt.

„Hoffentlich bereue ich diese Entscheidung später nicht“, denke ich laut, bevor ich die Treppe des kleinen Restaurants hinunter stürze.

„Wo willst du jetzt bitte hin, junges Fräulein?“ Ich mache auf dem Absatz kehrt und blicke in die tiefen, braunen Augen von Marianne.

„Ich muss noch was besorgen“, antworte ich notgedrungen. Ich kann gut lügen, aber nicht ihr gegenüber.

„Und was denkst du, wer alles vorbereitet, wenn ich einkaufen bin?“ Mist, die Arbeit hatte mein Kopf neben den ganzen Bildern rund um die frühen Ereignisse total verdrängt.

„Wenn du willst, kann ich auf dem Rückweg für dich einkaufen gehen!“ Marianne schüttelt den Kopf.

„Das kannst du dir sowas von abschminken, du weißt doch gar nicht, was ich alles brauche und so wie ich dich kenne, trödelst du damit dann wieder die nächsten vier Stunden rum auf dem Weg nach Hause und ich brauche das alles sofort“.

„Schreib mir ´ne Liste“, antworte ich knapp und sehe sie dabei leicht flehend an.

„Mädchen, ich schreib keine Listen, das ist alles hier oben.“ Sie tippt sich mit ihren dicken Fingern gegen die Schläfe und zieht die Augenbrauen hoch.

„Bitte.“ Meine Stimme geht leicht in die Höhe und ich setzte meinen unwiderstehlichen Blick auf.

„Schätzchen, ich bin kein Typ, der dahinschmilzt, wenn du ihn so ansiehst.“ Sie zögert, ich hab gewonnen, bin eben doch irgendwie ihr kleines Mädchen.

„Okay, dafür machst du heute aber Spüldienst. Bin gleich wieder da, warte hier.“ Ich stöhne, lächle sie dabei aber vielsagend an.

„Gut, hier haste deine Liste, aber du bist in zwei Stunden zurück, verstanden?“ Ich nicke, drücke sie schnell, bevor sie mich wegschieben kann und verschwinde durch die Tür.

Es ist schwer zu beschreiben, wer Marianne für mich ist. Sie war einfach immer da und besteht immer noch darauf, dass sie mich adoptiert hat, ohne zu wissen, wer meine Eltern sein könnten. Ich glaube, da steckt mehr dahinter.

Als ich das Landhaus nur kurze Zeit wieder vor mir erblicke, erscheint es mir düsterer als sonst. Als würde es einen schwarzen Schleier der Trauer tragen, weil es weiß, dass ich nun nicht mehr zurückkehren kann. Ich lächle der alten Dame kurz zu und schleiche dann in einem weiten Abstand ums Haus herum. Das Auto der Fänger parkt etwa hundert Meter entfernt im Gestrüpp. Das heißt, dass mindestens einer, maximal fünf dort drinnen nach mir oder Spuren von mir suchen. Bei der Anzahl könnte ich es schaffen, mich unbemerkt heranzuschleichen.

Trotzdem entscheide ich mich aus Vorsicht für meine menschliche Gestalt, da sie den Adler noch viel eher erkennen und verfolgen würden, als ein junges Mädchen, von dem sie das Gesicht nicht sicher kennen.

Mit meinen diesmal bekleideten Füßen erweist es sich als sehr schwierig, geräuschlos in das Haus zu huschen, daher baue ich auf meine ausgeprägten Sinne. Und das mit Recht. Ich bemerke die Anwesenheit von zwei … nein, drei Männern. Ihr Versuch, durchs Haus zu schleichen, scheitert kläglich an den alten Holzdielen und dem ganzen Unrat, der sich überall darauf zerstreut befindet. Ich spüre die Vibration und entdecke ihre Fußspuren überall, selbst auf dem Fenstersims, als ich hindurch klettere.

Ich versuche, mich außer Hörweite der Drei hin zu einem Versteck ganz in der Nähe zu bewegen. Gerade, als ich quer durch die Eingangshalle zur Treppe laufen will, erscheint über mir ein vierter Mann am Geländer und ich erschrecke mich fast zu Tode.

In meiner Benommenheit schaffe ich gerade einmal, zwei Schritte zurück zu stolpern und im Schatten der Galerie zu verschwinden. Der Vierte muss mich trotzdem gehört haben und blickt jetzt genau in meine Richtung. Zum Glück sind seine Augen nicht so gut wie meine und bleiben daher leer. Er ruft die anderen heran und dreht sich dabei einen Moment weg. Ich nutze diese Sekunde und verschwinde schnell unter einem der Tücher, die über die alten Möbelstücke der Halle gelegt wurden.

Da das Tuch bis zum Boden reicht, schließe ich meine Lider und versuche, durch meine Ohren zu sehen.

Das ist nicht besonders leicht, da dieser Sinn neben den anderen nicht ganz so gut ausgeprägt ist.

Sechs Füße berühren abwechselnd die Treppenstufen. Nacheinander hört man bei jedem einen schwereren Schritt, da ein Trittbrett kurz nach der Hälfte des Weges fehlt, welches sie übersteigen müssen. Mit einem dumpferen Ton, als jenem, welcher durch das Holz entstanden ist, erreichen die Männer den Boden. Einer gibt Anweisungen, die ich leider nicht genau verstehen, doch die Ausführungen umso besser spüren kann.

Ich erstarre. Sie suchen nach mir. Mein Kästchen wird wohl doch noch ein bisschen auf mich warten müssen. Zuerst einmal muss ich mich selber aus dieser brenzligen Situation retten. Ich ärgere mich über meine eigene Arroganz und versuche dabei, keinen Laut von mir zu geben.

Die drei Fußpaare teilen sich auf und schleichen mehr schlecht als recht durch den Raum, um in alle möglichen Ecken zu spähen.

In einem geeigneten Moment, als der Erste vermutlich in einen anderen Raum verschwindet, der Zweite die Treppe wieder hinauf poltert und der Dritte sich auf das einzig freiliegende Sofa von mir abgewandt fallen lässt, ergreife ich meine Chance und hebe den Stofffetzen so weit hoch, dass mein Körper lautlos hindurch schlüpfen könnte. In diesem Moment hätte ich beinahe aufgeschrien, da zwei große Füße direkt vor mir, jedoch abgewandt, darauf warten, dem Eindringling hinterherzulaufen. Der Vierte, den ich wieder nicht wahrnehmen konnte, hat es offenbar in meine Ecke verschlagen und nun, da ich das Tuch wieder fallen gelassen habe, dreht er sich zu dem Möbelstück um und greift nach unten. Mit einer Hand halte ich meinen Mund zu, während die andere mich auf die andere Seite des Gegenstandes zieht.

Gerade als sich meine Haarspitzen hinter dem alten, breiten Tischbein in Sicherheit bringen, höre ich seinen Atem nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Ich schließe die Augen und versuche, mich zu beruhigen, da ich das Gefühl habe, man könnte meinen Herzschlag in der großen Eingangshalle widerhallen hören.

Als die Hand den Stoff loslässt und das Tuch wieder auf den Marmor gleitet, bemerke ich, dass ich während der ganzen Zeit vor Anspannung nicht geatmet habe und lasse die angestaute Luft aus meinen Lungen.

„Hier ist nichts. Du musst dich verhört haben“, sagt eine tiefe Stimme aus der gegenüberliegenden Seite der Eingangshalle.

Z2: Und hält ein sonderlich Ding in der Hand

Es ist mein Glück, dass diese Fänger weder sonderlich klug, noch geduldig sind. Als dem ersten der Magen knurrt, braucht es nicht lange, bis alle anderen die Lust verlieren und das Haus verlassen. Erst Minuten später traue ich mich aus meinem Versteck, da ich mir nicht sicher bin, ob wirklich alle vier über die Türschwelle gelaufen sind. Gehört habe ich nur drei. Der Vierte scheint besonders leise Fußsohlen zu haben und ich befürchte irgendwie nicht nur das.

Auf dem Weg zurück zur Gaststätte ärgere ich mich so sehr, dass ich beinahe die Einkaufsliste von Marianne vergesse, welche zerknüllt in meiner Jackentasche wartet. Ich mache auf dem Absatz kehrt und steuere das nächstgelegene Lebensmittelgeschäft an. Genau genommen gibt es in dieser Kleinstadt davon auch nur zwei.

Der Ort, in dem ich, seit ich mich erinnern kann, lebe, hat kaum mehr als 500 Einwohner und liegt relativ abgeschieden. Die nächstgrößere Stadt ist etwa eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt. Diese Distanz ist mir ganz Recht, da dort nur noch mehr Leute darauf warten würden, mich zu enttarnen und unschädlich zu machen. Außerdem brauche ich, wie alle anderen, die so sind wie ich, die Natur, um ab und zu das Tier in mir rauslassen zu können.

„Milch, Eier, Schinken, Wasser, Brot, fehlt noch der Wein“, murmle ich, während meine Füße die Kasse ansteuern.

Da die Kleinstadt in einer hügeligen Umgebung liegt, haben wir genug Steilhänge, welche das Anbauen von Reben und somit die Produktion von Wein ermöglichen. Dies ist vermutlich auch der einzige Rohstoff, welcher uns am Leben erhält und ermöglicht, dass der Ort auch weiterhin existiert. Um das Lebenselixier bei Touristen publik zu machen, besteht Marianne darauf, dass wir den Wein ausschließlich bei Hendrik, dem örtlichen Weinhersteller, kaufen, um die rote Flüssigkeit den Gästen im Restaurant schmackhaft zu machen. Dass der etwa 40 Jährige mit dem braunen, schütteren Haar offensichtlich ein Auge auf Marianne geworfen hat, spielt dabei selbstverständlich keine Rolle.

Nur wenige Häuserblocks von „Nadines Lebensmittel und Haushaltswaren“ entfernt, zieht bereits ein hölzernes Schild über einer modernen Glastür die Aufmerksamkeit auf sich, auf welchem relativ sporadisch: „Wieselers Wein seit 1865“ eingraviert ist.

Noch bevor ich die Türschwelle überschritten habe, begrüßt mich Hendricks strahlendes Lächeln.

„Bestellung steht schon parat, Fräulein Bree.“ Ich kenne nur zwei Leute in dieser Stadt, die dieses veraltete Wort noch benutzen. Und ich weiß, dass trotz seiner freundlichen Begrüßung, Hendrik genau diejenige erwartet hat, die das auch tut.

Er schmachtet Marianne jetzt schon so lange hinterher, dass es ein Wunder ist, dass die beiden es immer noch nicht geschafft haben, miteinander auszugehen. Mit einem leicht hinkenden Gang steuert er die Weinkammer an, während ich mich in seinem Laden umsehe.

Es duftet so wunderbar nach den alten Holzmöbeln, die sich seine Familie schon vor über 100 Jahren angeschafft hat. Auch antike Gerätschaften zur Weinherstellung sind ausgestellt und natürlich die bekannt alkoholischen Fruchtsäfte in Hülle und Fülle. Fast wie ein kleines Museum wurde der ganze Laden eingerichtet. Um die Touristen zusätzlich bei der Stange zu halten, steht gleich neben der Tür ein neueres Regal, welches Broschüren mit Ausflugsmöglichkeiten anbietet.

Träumend schlendere ich dort hin. Wie jedes Mal überblicke ich die gestellten Bildchen und bunten Überschriften, in der Hoffnung, dass irgendwann mal etwas hier passieren könnte, was mich aus dem ganzen Trott raus holt.

Stattdessen reißt mich eine Frau mit schön gewelltem Haar aus den Gedanken, indem sie mir von hinten auf die Schulter tippt.

„Entschuldigung, wissen Sie, ob es hier ein Restaurant gibt, in dem man gut Abendessen kann?“

Mit meinem freundlichen Kellnerlächeln drehe ich mich zu ihr um und antworte: „Ich kenne selbstverständlich das beste und einzige Restaurant hier in der Gegend.“

„Achja? Arbeiten Sie dort?“

„Ja, ich muss auch gleich wieder zurück, sonst versohlt mir die Chefköchin noch den Hintern.“ Ich lächle und nehme Mariannes Weinbestellung entgegen.

„Dürfte ich Sie vielleicht begleiten, dann können Sie sich die Mühe ersparen, mir den Weg zu erklären.“ Meine instinktive Skepsis meldet sich, doch ich stimme erst einmal zu und nicke Hendrik zum Abschied zu.

Während des gesamten Weges fragt die Dame mich aus. Ich weiß nicht, ob sie einfach nur Smalltalk betreiben will oder etwas zu verbergen hat. Ich achte darauf, ihr keine Auskünfte über Dinge zu geben, die mir oder vielleicht sogar Marianne schaden könnten. Zu ihr stellt sie nämlich erstaunlicherweise auch sehr viele Fragen. Ich versuche, den paranoiden Teil in meinem Gehirn abzustellen und werte es mit dem Gedanken ab, dass sie einfach nur mehr über die Leute erfahren möchte, die gleich ihr Essen zubereiten. Außerdem ist sie mir auf eine unbestimmte Art und Weise sympathisch.

„Na dann herein spaziert, werte Dame, ich empfehle Ihnen den Platz dort vorn neben dem Fenster. Dort hören Sie das Knattern der Heizung nicht so stark.“ Ich lächle ihr freundlich zu und ziehe ihr den Stuhl zurück.

„Und du beschwerst dich immer über meinen Umgang mit den Kunden“, brülle ich laut in Richtung Küche, „So einen Service haben Sie doch sicherlich noch nie erlebt, oder? Vom Einkaufen abgeholt und direkt zum Restaurant gebracht.“

„Wenn du nicht gleich deinen schönen Hintern mit dem Einkauf hierher bewegst und mir hilfst, dann darfst du bald gar keine Kunden mehr bewirten. Also Beeilung“, schallt es aus der Küche zurück. Die hübsche Frau am Tisch muss sich ein Kichern verkneifen.

 „Tja ich muss zurück an die Arbeit, aber machen Sie es sich ruhig bequem und schauen sich schon mal unsere Karte an. Die Weine kann ich übrigens sehr empfehlen, jetzt da wir wieder welche haben.“

Ich zwinkere ihr zu, binde mir meine Schürze um und trage alles zu Marianne in die Küche.

Je näher sich der Tag dem Abend nähert, füllt sich das Restaurant. Heute scheint es gut zu werden, zumindest vom Umsatz her. Meine Füße werden das am Ende vermutlich eher nicht von sich behaupten können.

Gerade, als ich mein gefühlt hundertstes Gericht aus der schweren Schiebetür bringe, erweckt ein Geräusch meine Aufmerksamkeit. Ein Klackern hebt sich vom restlichen Geräuschpegel ab. Ein Klackern zwischen Gemurmel, Gelächter und Geschirrklappern, wie ich es überall wieder erkennen würde, ertönt in einer von Licht gedämmten Ecke, in der zuvor noch die schöne Frau gesessen hat.

Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es die Kerle aus dem Haus sind, welche versuchen, mein Kästchen zu öffnen. Während einer von ihnen es unentwegt schüttelt, als würde es dabei wie durch Zauberhand aufspringen, schließen die anderen Wetten über den Inhalt ab. Dass sie bisher noch nicht auf die Idee gekommen sind, es mit einem riesigen Hammer zu zertrümmern oder es einem Schlosser in die Hand zu drücken, bedeutet für mich sowohl, dass sie noch nicht wissen, wer ich bin, als auch, dass sie wie so oft zu der nicht besonders intelligenten Sorte von Fängern gehören.

Wie in Trance laufe ich rückwärts in die Küche und zerbreche mir den Kopf darüber, was ich nun tun könnte. In dieser Situation kann ich nicht einfach dazwischen springen und mir das Kästchen schnappen. Gerade hier, in meinem Zuhause, ist das der denkbar ungünstigste Moment. Insbesondere wenn die Männer es gerade keine Sekunde aus den Augen lassen. Schmerzlich wird mir bewusst, dass es keinen Weg geben wird, auf dem ich ungesehen bleibe. Es sei denn, ich schaffe es innerhalb der nächsten paar Minuten, mich statt in einen Adler, in einen Geist zu verwandeln.

„Jetzt komm ausm Knick, Bree. Das Essen wird kalt.“ Marianne sieht mich irritiert an. Ich kann da jetzt aber nicht raus, wenn sie mich in der Villa doch gesehen haben, werden sie mich sofort wiedererkennen und auch ohne das Kästchen genug Privatleben von mir haben, um mich festzunageln. Das Essen muss noch kurz warten.

„Ich, ähm, Marianne, kannst du das machen?“

Sie schaut mich sehr interessiert an, als würde sie jetzt eine wirklich gute Ausrede erwarten.

„Wenn deine Füße wehtun, tuts mir leid, ich habe nur dich, falls du das vergessen haben solltest.“

„Nein, ich wollte eigentlich vorschlagen, zu tauschen.“ Ihre Antwort folgt prompt, hoffentlich ist im Nebenraum immer noch so lautes Gemurmel.

„TAUSCHEN???!“

„Naja, also… ach man, Marianne, bitte?“

„Ach was, Bree? Langsam wird es mir heute genug mit deinen Extrawünschen!“ Mist, jetzt lass dir was einfallen.

„Da draußen sind … naja, da sind so ein paar Kerle, die… die… mit einem von denen hatte ich ein Date und der stalkt mich jetzt und ich will da nicht raus, bitte!“

Jetzt beginnt sie zu lachen, ich weiß allerdings nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist.

„Ach bitte, Bree, wann hattest DU denn ein Date?“

„Was soll das denn jetzt bitte heißen, ICH?“

„Ich bitte dich, Bree, du weißt ganz genau, was ich damit meine. Und jetzt raus mit der Wahrheit.“ Okay, sie kennt mich leider zu gut. Jetzt muss die Ausrede aber passen, sonst habe ich es verbockt.

„Okay, okay. Also ich finde den einen Typ ganz gut. Aber immer, wenn ich versuche, ihn anzusprechen, bekomme ich keinen Ton heraus und ich glaube nicht, dass es einen guten Eindruck hinterlässt, wenn ich da jetzt hingehe und: ‚WWWW-Was wwww-wollt ihr bbbbstellen?‘ frage!“

„Das hört sich eigentlich auch nicht gerade nach meiner selbstbewussten Bree an.“

„Ja, sonst schon, aber hast du mich je mit einem Jungen reden sehen? Einen hübschen Jungen meine ich. Also nicht der Dorftrottel, der hier immer nur drei Steaks ohne alles isst und auch nicht die Bohnenstange, die den halben Ketchup leer macht. Sondern so einen, der gut aussieht und mehr als Luft im Kopf hat.“

„Da hast du auch wieder Recht. Aber das du mir nichts anbrennen lässt, klar? Außerdem müssen wir dann mal ein Wörtchen wechseln, wenn deine Jungsphase jetzt anfängt.“

„Ich glaube, dafür ist es mit 19 Jahren reichlich spät, meinst du nicht?“

„Ja, lassen wir das.“ Mit diesen Worten und dem bestimmt nur noch lauwarmen Essen in der Hand verschwindet sie und ich bleibe mir selbst überlassen.

Als ich mein Bestes gebe, die Garnelen nicht anbrennen zu lassen, scheitere ich gekonnt daran, mir einen vernünftigen Plan zu überlegen, der mich so risikoarm wie möglich an die Diebe heran bringen könnte. Alle möglichen Abläufe, die es geben könnte, kann man einfach nicht bedenken. Es bleibt also nichts anderes übrig, als zu improvisieren und das bereitet mir Bauchschmerzen. Was wäre die Alternative? Noch mehr Zeit verschwenden und am Ende die Stadt verlassen müssen? Nein, ich muss es riskieren.

Während ich meine Arbeiten in der Gaststätte erledige, beobachte ich die Truppe durch den Türspalt. Marianne wertet das vermutlich mit einem Stalker-Versuch meinerseits ab. Da werde ich mir bestimmt noch was anhören dürfen.

Da die Vierergruppe an einem hochprozentigen Wein zum Anheizen der Stimmung interessiert ist, vermute ich, dass sie eventuell am Abend noch in eine Bar gehen könnten, um ihren mittelmäßigen Triumph zu feiern. In dieser kleinen Stadt gibt es nur eine Bar, also weiß ich, wo ich hin muss.

Als die letzten Kunden das Restaurant verlassen, kann ich endlich aus der Küche, schnappe mir eine dunkle, weite Jacke von Marianne und laufe Richtung Ausgang. Bevor ich jedoch die Türschwelle überschreite, stellt sich mir Marianne in den Weg.

„Momentchen mal, hast du alles erledigt?“

„Ja, Sir!“, sage ich in einem strengen Militärton und halte mir die linke Hand an die Stirn.

„Den Herd, die Spüle? Alle Lebensmittel verpackt und in die Kühltruhen geräumt?“

„Ja, ja und ja, könnte ich dann wegtreten, Sir?“

„Also wenn du schon rumalberst, dann mach es wenigstens richtig und nimm die rechte Hand.“ Sie schüttelt seufzend den Kopf. „Also ausgehend von dem, was ich von der Gruppe da hören konnte, kann dir keiner das Wasser reichen. Der Eine schien zwar zumindest weiter, als bis drei zählen zu können, aber der war schon etwas gruselig, findest du nicht? Also ich weiß ja, dass hier nicht viel los ist was Jungs angeht, aber da findest du bestimmt jemand besseres, als Graf Dracula und seine drei Brüllaffen. Und warum rennst du denen jetzt überhaupt hinterher, ich dachte, du wärst zu schüchtern zum Reden?“ Ich zögere, lege meine Hände auf ihre großen, kräftigen Schultern und sage: „Ich glaube, du hast Recht, die sind wohl alle nichts für mich, also werde ich mich jetzt sinnlos betrinken und spätestens um Zwölf wieder im Bett liegen, okay?“

„Na gut, trink einen Schnaps für mich mit, ja? Viel Spaß, vielleicht reißt du einen anderen Jungen auf, der ein paar Prozent mehr Hirn hat.“

Ich grinse sie zum Abschied an und drängle mich dann an ihr vorbei nach draußen. Da es nun bereits nach Zehn ist, kann der Schleier der Dunkelheit mich besser verbergen und mir etwas Sicherheit schenken. Ich zwänge mich tief in die Jacke, als könnte das Innenfutter mich von Kopf bis Fuß verschlingen und jeder nur einen schwarzen Mantel durch die Straßen laufen sehen.

Sie sind tatsächlich dort.

Das Licht in der Bar ist schwach und lässt einen die Gesichter nur erahnen, doch meine scharfen Augen vermögen es, durch den rauchigen Schleier zu blicken und sie zu entdecken.

Ich trete hinein und da der Raum nur durch einen winzigen Heizstrahler und die Menschen, die überall verstreut sitzen, beheizt wird, kann ich meine Jacke anbehalten.

Ganz in der Nähe des Tisches der Fänger befindet sich die Bar, an der ich mich auf einem hohen Stuhl mit dem Rücken zu ihnen niederlasse. Als der Barkeeper auf mich aufmerksam wird, ziehen meine Finger die schwarze Kapuze des Mantels etwas tiefer über die Augen und bestellen mit einer einfachen Geste einen Drink, damit ich weiter sitzen bleiben kann.

„Wir schnappen den kleinen Bastard bestimmt.“

„Benutze dieses Wort nicht immer.“

„Aber das sind sie doch.“

„Nein, ein Bastard ist etwas ganz anderes.“

„Ich nenne es, wie ich will, damit das klar ist. Und dieser kleine Bastard wird sich noch wundern, wenn er uns in die Falle geht.“

„Sie könnte gerade zuhören, also sei vorsichtig, was du sagst. Wir wissen immerhin nicht, wer sie ist.“ Der Mann mit dem schwarzen, längeren Haar beginnt zu flüstern und sich umzudrehen, was man am Rascheln seiner Kleidung festmachen kann.

Gar nicht so dumm für einen Fänger. Ich höre ihnen noch eine Weile zu und warte auf einen günstigen Moment, in dem ich die Kiste zurück stehlen kann. Sie reden über so viele Nichtigkeiten, die mich zu Tode langweilen und beinahe einschlafen lassen.

Und offenbar macht sich die Müdigkeit nicht nur bei mir bemerkbar.

Nach rund einer halben Stunde hat der erste der vier Männer bereits die Kneipe verlassen, der zweite verschwindet gerade auf die Toilette, um das letzte Bier wieder loszuwerden und der dritte nutzt diesen Moment, um gleich wieder Nachschub zu holen.

Der letzte Mann und der schlauste zu meinem Nachteil, schaut nachdenklich aus dem Fenster.

Da sich mir vermutlich keine bessere Gelegenheit mehr bieten wird, stehe ich auf und greife in einer fließenden Bewegung unauffällig nach der Kiste, welche aus der Tasche des Diebes unter dem Tisch herausguckt. Meine Hand greift dabei so leicht unter das Holz und zieht es hervor, dass eine herabsinkende Feder nicht leiser hätte sein können.

Doch gerade, als ich mich umdrehen will, um zu gehen, blickt der vierte Mann nicht länger aus dem Fenster und schwängt direkt zurück auf mich. Er räuspert sich und ich ziehe meine Kapuze tiefer, während ich mich wieder vor ihm aufrichte.

„Ich, ähm, Sie haben das hier fallen lassen. Es wäre doch sicherlich ärgerlich gewesen, es zu verlieren, oder?“, versuche ich, die Situation zu retten. Er räuspert sich erneut und ich mache mich bereit, davon zu laufen. Während sein Blick mich skeptisch von oben bis unten mustert, zerfrisst mich meine Anspannung.

Er glaubt mir nicht. Er hat gemerkt, dass ich es klauen wollte. Ich habe mich verraten. Wie konnte ich nur so dumm und naiv sein? Er wusste, dass ich es mir zurückholen würde, vor nichts zurückschrecken würde und jetzt weiß er, wer der Bastard ist.

Doch entgegen allen blutigen Szenarien, die sich in meinem Kopf nun farbenfroh abspielen, antwortet er schlicht und einfach:

„Danke, es wäre fatal gewesen, es zu verlieren. Ich habe damit noch etwas sehr Wichtiges vor. Du weißt nicht zufällig, wie man es öffnet? Der Inhalt könnte ungemein wichtig sein.“ Ich schüttle den Kopf, obwohl er Recht hat. Der Inhalt ist so viel mehr…

„Na dann ist es ja gut, dass ich es noch entdeckt habe, als ich zum Gehen aufgestanden bin. Und wo wir dabei sind, einen schönen Abend wünsche ich noch.“