Federspiel - Kerstin Hensel - E-Book

Federspiel E-Book

Kerstin Hensel

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Beschreibung

Federspiel”: Das ist ein giftig-schönes Feuerwerk über den Ausbruch dreier Frauen aus dem Gefängnis eingefahrener Beziehungsmuster. Über drei Frauen, die sich in der Liebe zu Männern und in der Sorge um sie wie in einem Spinnennetz verfangen und ihr Leben darüber verlieren. Die sich aufopfern und tyrannisieren und betrügen lassen. Bis sie ihren eigenen Kopf entdecken und begreifen, dass es auch ganz anders geht …

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DREI LIEBESNOVELLEN

LUCHTERHAND

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© 2012 Luchterhand Literaturverlag, Münchenin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Satz: Uhl + Massopust, AalenAlle Rechte vorbehalten. Printed in Germany.ISBN 978-3-641-07700-6V003
www.luchterhand-literaturverlag.de

Der Gnadenhof

Der Gnadenhof

Rita nahm eine Feder aus ihrem Schatzkästchen und strich mit der weichen Fahne über Richards Gesicht, von der Stirn zur Wange, zum Kinn und zurück. Sie bohrte mit der Federspitze in die Nasenlöcher des Brüderchens, in der Hoffnung, daß es zu schreien beginnt oder wenigstens niesen muß. Aber Richard schlief, als hätte er mit seiner Geburt einen Anspruch auf Abwehr jeglicher Störung bekommen. Rita kitzelte und piekte ihn, damit er endlich erwache. Erst wenn draußen die Luftschutzsirenen über Berlin-Wedding aufjaulten und Mutter Gerlinde energisch das Zimmer betrat, blinzelte Richard.

Kaum, daß Gerlinde den Jungen ungestört an die Brust legen konnte. Rita wollte dabei sein, ihn streicheln, das Köpfchen zur Quelle führen, um ihn nach dem Trinken mit Liebkosungen zu überhäufen. Sie küßte die milchige Haut, die daunendünnen Haare, die hellen Wimpern. Sie steckte ihren Kopf in die Kissen des Stubenwagens, um den Bruder zu riechen. Gerlinde Ladegast, obwohl sie die Bemutterungslust der Dreijährigen als übertrieben empfand, war dankbar, daß Rita nicht wie andere Geschwister in vergleichbarer Lage in mißgünstiges Geschrei verfiel. Schreien war nämlich in der Wohnung verboten.

»Wenn du schreist«, drohte Gerlinde ihrer Tochter, »bist du schuld, daß wir auffliegen.«

Auffliegen. Rita lauschte dem Wort nach. Es klang nach Märchenhexe, Funkenflug, hochfliegendem Staub. Es klang nach munterem Federspiel, aber Rita durfte nicht schreien, weil sie sonst auffliegen würden. Spiel! befahlen die Eltern, wenn sie Angst bekamen. Sie spielten. Alles was Flügel hat, fliegt auf in die Luft … Vögel fliegen Bienen fliegen Fliegen fliegen Flugzeuge fliegen Papa fliegt … Ritas Fingerchen flatterten. Warum kann Papa fliegen? – Sei still, Kind, sei einfach nur still.

Hielt Rita am Stubenwagen Wache, kitzelte sie den Bruder mit der Feder. Würde er schreien, wäre er schuld. Wachte Richard auf, steckte ihm Rita ihre Finger zum Lutschen in den Mund.

Der Philosophiestudent Georg Ladegast, wehruntauglich wegen Kinderlähmung, saß abends mit seiner Frau Gerlinde am Küchentisch. Bei zugezogenen Gardinen. Zwischen Stapeln von Büchern und Blättern. Sie sprachen gedämpft, auch lachten sie wie unter Tüchern. Georg las Gerlinde vor. Sie lauschte ihm, hörte, was ihre große Liebe durch die Münder der Philosophen zu sagen hatte. Später nahm sie Georg das Buch aus der Hand und setzte sich auf seinen Schoß. Dann wurde es still in der Küche. Jede Welterklärung, auf die Gerlinde so scharf war, verstummte. Drohte seine Frau übermütig zu werden, machte Georg Pssst!

Jeden Abend stand Rita hinter der Küchentür und lauschte. Wurde es still zwischen Mama und Papa, war sicher: sie haben sich lieb, und alles ist gut. Vor Freude hätte Rita dann am liebsten geschrieen.

Georg hatte keinen großen Wohlstand mit in Gerlindes Wohnküche gebracht. Vater Magnus Ladegast, ein pedantischer, aber stets um den Sohn besorgter Witwer, der mit Bildern und Antiquitäten handelte, steckte Georg den einen oder anderen Geldschein zu. Vater Ladegasts Meinung, Philosophie sei in geistlosen Zeiten wie der gegenwärtigen gefährlicher Luxus, hörte sich Georg an und wollte doch nichts von der väterlichen Weisheit wahrhaben. In den Hörsälen der Universität war er ebenso zu Hause wie bei seiner Familie. Gerlinde und die Kinder galten Georg als lebendiger Beweis der Gesetze des Idealen. Er war ein Schwärmer.

Spielte Georg mit Rita, wurde er selbst zum Kind. Den verkrüppelten rechten Fuß nachziehend, gab er den lahmen Teufel. Oder er führte vor, wie damit zu marschieren wäre: Einszwei-platsch! Einszwei-platsch! – Rita liebte den Klumpfuß. Er war für sie ein besonderes Spielzeug. Sie streichelte den Fuß, wie man ein Hündchen streichelt. Sie ließ ihn Späße machen. Sie erzählte dem Brüderchen in der Wiege, was für einen tollen Papa er habe.

So sehr Gerlinde die Tischgespräche mit ihrem Mann liebte: satt machten sie nicht. Magnus Ladegasts Unterstützung ließ nach, da im Krieg kaum mehr einer Bilder oder Antiquitäten kaufte. Im Juli 1943 nahm Gerlinde eine Putzstelle bei Steuerprüfer Blaschke in der Schlüterstraße an. Bevor Georg zu seinen Vorlesungen ging, hütete er die Kinder. Er freute sich auf die Abendstunden, wo er seiner armen Putzteufelin, wie er Gerlinde nannte, mit Geist und Liebe das wirklich Lebenswerte zeigen durfte.

Dr. Carl Blaschke war ein hohes Mitglied der NSDAP. Das erfuhr Gerlinde erst nach ihrer Einstellung. Da war es schon zu spät, um, ohne in Verdacht zu geraten, wieder zu kündigen. Zumal Blaschke, ein Junggeselle in den Fünfzigern mit gefälligen Manieren, seine Putzhilfe mit Komplimenten bedachte: »Weshalb hat ein so schönes und gescheites Mädel es nötig, bei fremden Leuten Dreck wegzukehren?«

»Ich muß meinen Mann finanziell unterstützen«, erklärte sie.

»Was macht er? Und warum ist er nicht im Feld?«

Gerlinde wollte sagen: mein Mann ist Philosoph. Er studiert die Rätsel der Menschheit. In einem Moment des Mißtrauens antwortete sie: »Er hat einen kranken Fuß, und von Beruf ist er Maler.«

»Maler! Da gibt es doch immer genügend zu tun! Gerade an der Heimatfront«, warf Dr. Blaschke ein.

»Nicht, wenn man Bilder malt.«

»Bilder, soso. Was denn für Bilder?«

»Landschaften«, sagte Gerlinde.

Blaschke zeigte sich interessiert.

»Landschaften!« rief er mit Kennerstimme und wagte vorsichtig die Frage: »Wie unser Führer?«

»Wie unser Führer.«

Gerlinde war, als würde ihr eine Kröte den Hals verstopfen. Dr. Blaschke kam aufgeregt um den Schreibtisch herum, nahm Gerlinde Eimer und Schrubber aus der Hand und betrachtete sie wie eine erlesene Skulptur. Landschaften! Der Steuerprüfer wiederholte dieses Wort noch einige Male, strich sich dabei übers Kinn und murmelte: »Wenn das kein Zufall ist.«

Bohnerte Gerlinde das Parkett der Kanzlei, schaute ihr Dr. Blaschke aus den Augenwinkeln zu. Wischte Gerlinde über den Schreibtisch, klopfte Stuhlpolster vom Staub frei oder polierte an der Wand den Stuckmarmor, blickte er sie unverhohlen an. Er sah ihr noch hinterher, wenn sie längst die Kanzlei verlassen hatte.

Eines Tages wagte Dr. Blaschke die Frage, ob er ein Bild ihres Mannes erwerben dürfte. Wäre es nach Führers Art gemalt, würde dies eine Zierde für die Kanzlei sein. Gerlinde schluckte an der Kröte. Blaschkes Blicke bedrängten sie. Sein Wunsch machte ihr Angst. Wenn ich ihm nicht nachgebe, fliegen wir auf.

In ihrer Not ging Gerlinde zum Schwiegervater, der inmitten seiner unverkäuflichen Bilder und Antiquitäten saß und bat ihn um Hilfe. Magnus Ladegast lachte, als Gerlinde ihm Blaschkes Wunsch vorgetragen hatte. Der Händler überließ ihr ein Ölgemälde, worauf ein Mann auf einer Flußbrücke stand, umgeben von romantischer Bergnatur, Wildgetier und Vögeln.

»Grüß deinen Steuermann«, sagte Magnus Ladegast.

Gerlinde verließ dankbar, wenngleich etwas beleidigt den Laden. Sie überreichte das Bild Dr. Blaschke. Dem trieb es Tränen in die Augen. Gern hätte Dr. Blaschke die Überbringerin umarmt, doch das wagte er nicht. Das Glück, das ihm dieses Bild bescherte, stellte jedes andere Bedürfnis in den Schatten. Er gab Gerlinde fünfzig Reichsmark.

Die schwarzgekleideten Frauen auf der Straße wurden täglich mehr. Sieben, acht, neun, zehn! zählte Rita in einer Stunde, wenn sie mit Mutter und dem Brüderchen durch die bombenzerstörten Straßen huschte. Rita fragte: »Warum sind die Frauen so schwarz?«

Gerlinde antwortete: »Die haben keine Männer mehr.«

»Warum haben die keine Männer mehr?«

»Ihre Frauen haben nicht richtig auf sie aufgepaßt.«

»Aber wir haben einen Mann, auf den wir aufpassen, nicht wahr?«

Gerlinde nickte und legte den Finger auf ihre Lippen.

»Und wenn uns Papa einfach davonläuft?« flüsterte Rita besorgt.

»Das kann er nicht«, beruhigte Gerlinde, »er hat ja einen Hinkefuß.«

Kurz nach Ritas viertem Geburtstag flog Vater auf. Obwohl Rita nie geschrieen hatte. Männer in schwarzen Uniformen kamen in die Wohnung, zerlegten sämtliche Möbel, warfen die Bücherregale um und brüllten: »Wo ist der Lügner!«

Einer faßte Rita unters Kinn und sagte, wenn sie ein ehrliches Mädel sei, müsse sie verraten, wo ihr Vater alles versteckt hätte.

»Alles was Flügel hat?« fragte das Mädchen.

Der Mann nickte. Rita überlegte. Beim Herumstöbern in der Küche hatte sie vor kurzem in der Zwiebackdose einen Stapel bedruckter Blätter gefunden. Sie hatte diese Vater gezeigt, worauf er mit seltsam bebender Stimme erklärte: Daraus kann man Papiertauben falten, die zu den Leuten fliegen und Frieden bringen. – Er hatte die Dose schnell wieder zurück an ihren Platz gestellt, und Rita ermahnt, still zu sein. Später hatte er zu Mutter ein Wort gesagt, das so ähnlich wie Flügelblätter klang. Alles was Flügel hat … Rita wußte, wo die Flügelblätter waren. Sie zeigte den Männern die Zwiebackdose in der Speisekammer.

»Die bringen den Leuten Frieden«, verkündete sie stolz.

»Braves Kind«, sagten die Männer, und Rita wollte wissen: »Fliegt Papa jetzt zu uns zurück?«

»Als Engel, Mädel, verlaß dich drauf.«

Die Männer holten Georg von der Universität ab. Gerlinde weinte in die Küchenschürze. Ihr Gesicht wurde vom Weinen flammend rot wie ein Apfel. Später räumte Gerlinde die Trümmer der Wohnung auf. Von Stund an betrachtete sie ihre Tochter mit stechenden Blicken. Ich hab doch gar nicht geschrieen, dachte Rita.

Sie verzog sich. Zu Richard, der wimmernd im Stubenwagen lag. Rita steckte ihm ihre Finger in den Mund. Sie mochte es, wenn er daran saugte. Doch am Tag, da Vater aufgeflogen war, spürte Rita schmerzhaft Richards zahnlose Kiefer. Er beißt! dachte das Mädchen, aber ich halt’s aus. Ich will ganz tapfer sein. Nachts trat Gerlinde an Ritas Bett. Der Kernseifengeruch von Mutters Händen beruhigte.

»Hast du mich noch lieb, Mama?«

»Du hättest still sein sollen.«

»Ich habe nicht geschrieen.«

»Wer dann?« fragte Gerlinde.

Das klang so streng, daß Rita die Luft anhielt. Nie wieder wollte sie atmen. Es gelang ihr nicht. Sie stand auf, nahm die Feder und stach das Brüderchen mit der Kielspitze in den Arm. Richard quäkte kurz auf, dann schlief er weiter.

Kurz vor elf pochte es abermals an die Wohnungstür. Diesmal zaghaft, als sei jemand heimlich zurückgekommen. Vorsichtig schaute Gerlinde durch den Spion. Vor der Tür stand nicht Georg. Da stand Blaschke. Er klopfte noch ein paarmal, dann ging er davon. Gerlinde hörte ihn seufzen. Im Morgengrauen machte sie den Handwagen flott.

Gerlinde Ladegast floh aus Berlin-Wedding nach M., einem Vorort der Trümmerstadt Hannover. Im Handwagen: zwei Kinder, zwei Koffer. Gerlinde floh vor Dr. Carl Blaschke zu Adolph Erwin Greiner, einem Cousin mütterlicherseits.

Greiner hatte dreißigjährig im Rußlandfeldzug einen Bauchschuß überlebt. Seitdem lief er mit einem Knick in der Leibesmitte, auf einen Stock gestützt und arbeitete kriegsversehrt als Buchhalter in der Reifenfabrik. Adolph Erwin Greiner war ein Mann, dem jegliche Leidenschaft, einschließlich der Neugier, fremd war. Nichts begehrte er zu wissen, was sich außerhalb seines invaliden Lebens abspielte. So wollte er auch nichts von Gerlindes Fluchtanlaß erfahren. Empathie verursachte Panik in ihm. Er wollte sich nicht hingeben. Nicht in seinem Amt. Nicht in dieser Zeit. Adolph Erwin gab seiner Cousine zu verstehen, daß er sie einzig aus christlicher Nächstenliebe bei sich aufnehme: er fühlte sich dem starken Blut der Familie verbunden. Mehr dürfe er sich nicht erlauben.

Er gab Anweisungen, wie sie das Haus zu versorgen, Eßbares zu organisieren sowie ihm am Morgen frische Wäsche hinzulegen habe. Den Kindern gegenüber verlor er anfangs kein Wort. Sah er, wie die vierjährige Rita ihrem Brüderchen das Laufen beibrachte, fürchtete er, die Kleinen könnten ihn bald in seiner schwächlichen Existenz ausstechen. Gleichzeitig ertappte sich Greiner dabei, diese Furcht auszukosten und das drollige Kinderpaar auf sonderbare Weise nett zu finden.

Rita nannte den Onkel Dolphi. Er war ihr unheimlich. Vor allem, wenn dieser mürrische maulfaule Mensch sich herabließ, dem kleinen Richard übers Haar zu streichen. Dann fauchte Rita wie eine Katze. Richard ahmte das Fauchen nach, aber es klang schwach, fast unhörbar. Onkel Dolphi, der sonst kurzatmig gekrümmt durchs Haus schlich, richtete sich in Momenten des kindlichen Widerstandes auf, zog Rita an den Zöpfen oder piekte ihr mit seiner Stockspitze in die Waden. Die Kinder flüchteten unter Mutters Arbeitsschürze. Dort roch es nach Kohle, Schuhwichse und Bohnerwachs. Dort war es warm und sicher. In Mutters Schürzenhöhle erfand Rita ihre ersten gemeinen Worte: Onkel Doofi. Das Brüderchen plapperte nach, stolperte an der Hand seiner Schwester durchs Haus und sang: »Ontel Doofi, Ontel Doofi …«

Kam Adolph Erwin Greiner vom Dienst aus der Firma, verstummten die Kinder. Der Buchhalter ließ den Stiefelknecht bringen, womit er sich ruckzuck der Schuhe entledigte, in Pantoffeln schlüpfte, um danach am Küchentisch ein Glas Wein zu trinken. Greiner erklärte diese ihm liebgewordene Gewohnheit: er distanziere sich mit erlesenen Buketts von biertrinkenden Proleten, und der Wein mache ihm Mut. Außerdem könne er mit edlen Tropfen in würdiger Weise auf den baldigen Endsieg anstoßen.

Die Kröte saß in Gerlindes Hals, wenn der Cousin vom Endsieg sprach. Dabei war Politik im Haus unerwünscht, weil, Politik, wie Greiner behauptete, das Blut im Menschen zum Rauschen bringe. Nur die Liebe, erklärte Adolph Erwin trunkselig, doch ohne leidenschaftliche Regung – nur die Liebe könne sich vor Gott erlauben, den Menschen im Innersten anzugreifen. Bei diesen Worten griff er nach dem Jungen und hob ihn für einen Moment hoch. Mehr schaffte sein versehrter Körper nicht, aber es genügte, um Rita eifersüchtig strampeln zu lassen.

Während Greiner Wein trank, Rita mit den Füßen gegen das Tischbein stieß und Richard gähnte, blies Gerlinde zur Nachtruhe. Sie schaffte die Kinder auf den Dachboden, wo sie in zwei Wäschekörben ihr Nachtlager hatten. Saß Gerlinde nach dem Gutenachtkuß pflichtgemäß noch ein Stündchen bei ihrem Cousin, erinnerte sie sich an Georg: die nächtlichen Gespräche, das zärtliche Vertrauen. Mit aufsteigenden Tränen fühlte sie das Apfelrot auf ihren Wangen aufflammen. Adolph Erwins Gesicht zerfloß vor ihr zu farblosem Brei, der wiederum Dr. Blaschke ähnelte.

»Ich bin doch kein Unmensch«, sagte Adolph Erwin unvermittelt.

Gerlinde sprang auf, stieg auf den Dachboden, herzte und küßte ihre Kinder. Richard schlief schon. Rita hielt nur die Augen geschlossen. Dankbar nahm sie Mutters tränenfeuchte Liebe entgegen und wollte nie wieder das warme friedliche Glück der Geborgenheit missen.

Eines Tages, als Adolph Erwin aus irgendeinem Grund mehr als nur ein Glas Wein getrunken hatte, fragte er die auf dem Küchenboden mit Wäscheklammern spielenden Kinder: »Wißt ihr, daß man auf meinem Bauch Blumen pflücken kann?«

Schon hatte er Hemd und Unterhemd hochgezogen. Tatsächlich wuchs auf Onkel Dolphis Bauch eine rotviolette, wulstig gewölbte Narbe, die einer Blume glich. Onkel Dolphi tat, als würde er die Blume pflücken. Rita graulte sich vor dem Gewächs. Der kleine Richard betrachtete es arglos. Seine Fingerchen stupsten die Blume an. Gerührt ergriff Greiner Richards Hand. Er hielt sie fest, und während er den Jungen betrachtete, versuchte Adolph Erwin den Knick in seiner Leibesmitte mit Strecken zu beheben. Irgend etwas war mit ihm geschehen.

Wenige Tage nach diesem Ereignis bekamen Rita und Richard Mumps. Gerlinde wußte nicht, was sie zuerst tun sollte: den Haushalt versorgen, dem Cousin die Wäsche machen, den Ziegenpeter mit warmen Halsumschlägen überlisten oder den heillosen Nachrichten aus dem Radio glauben. Gerlinde wachte über die Bettruhe der Kinder. Sie kochte Brei, den Richard mit Behagen aß, während Rita ihn ausspuckte. Gerlinde sang ihrer Tochter den Brei schmackhaft: Lecker lecker Mittagbrot! Wer nichts ißt, ist abends tot!

Am Tag, da Onkel Dolphi unerwartet seine Vermählung mit Magdalena von Rouff, der Tochter des Prokuristen der Reifenfabrik, bekanntgegeben hatte, rollte auf den kleinen Richard ein riesiges Geschenk zu: ein ausgedienter LKW-Autoreifen mit dickem Gummiprofil. Greiner sagte zu dem Jungen: »Für dich, mein Sohn.«

Richard wollte kein Sohn für Onkel Doofi sein. Er übergab das Geschenk sogleich seiner Schwester. Es war ihm ein Bedürfnis, jegliche Freude mit ihr zu teilen. Rita warf den Reifen um, nahm auf dem Gummi Platz, zog das Brüderchen neben sich. Sie umarmte und herzte Richard. Sie streichelte sein Haar und küßte die Schnute, auf der immer ein paar Breireste hafteten. Onkel Doofi steckte sie die Zunge heraus. Rita und Richard zwängten sich zusammen in den Hohlraum der Reifenkarkasse, um mit Geschrei den Wiesenberg hinab in die Büsche zu rollen. Rita, die ein starkes Mädel war, rollte den Reifen wieder bergauf. Die Kinder wiederholten das Spiel, bis es Richard übel wurde. Gab es Fliegeralarm, ließ Rita den Reifen stehen und rannte Hand in Hand mit dem Brüderchen nach Hause in den Keller. Es war ein heißer, abenteuerlicher Sommer.

Gerlinde wunderte sich über die Tatsache, daß ihr furchtbeladener Cousin ein weibliches Wesen auch nur von ferne in Augenschein zu nehmen vermocht hatte. Nun sollte es gar eine Vermählung geben. Eine, wie vom Himmel gefallen! Ob es Onkel Dolphis Panik, sein Geiz oder der erblühte Stolz auf seinen plötzlichen gesellschaftlichen Aufstieg war – jedenfalls sprach er nur einem einzigen Mitglied der Familie Ladegast eine Einladung aus: dem einjährigen Richard. Greiner bat seine Cousine, ihm ihren Sohn für das große Fest zu überlassen. Gerlinde empörte sich: »Und ich? Wer bin ich?«

Greiner meinte nur hämisch, daß er dies nicht zu wissen wünschte.

Am Tag des Festes machte Gerlinde mit ihren Kindern einen Ausflug ans Steinhuder Meer.

Adolph Erwin Greiner zog nach seiner Verlobung im August 1944 in die Villa seines künftigen Schwiegervaters. Nach Hannover-S. Dort war direkt neben dem Reifenwerk ein Konzentrationslager errichtet worden. Dort hatte Onkel Dolphi als Leiter der Buchhaltung für mehr als tausend polnische Juden den Arbeitskräfteaustausch mit dem Stammlager zu organisieren. Dort lernte er mit seinem Stock seine Panik zu dirigieren. Bis sie ihm gehorchte.

Das Haus in M. überließ er seiner Cousine, nicht ohne Miete einzufordern. Adolph Erwin Greiner besorgte Gerlinde zum Zweck der Zahlungsfähigkeit einen Arbeitsplatz in der Firma, wo sie Radfelgen für Militärlastwagen abschmierte. Wenn er die monatliche Miete abholte, fragte er Gerlinde nach dem Befinden des kleinen Richard.

Sie schmirgelte das Öl mit Mandelkleie von den Fingern und spülte den Schlick unter fließendem Wasser ab. Sie seifte die Hände, rieb die Haut mit Soda und befreite sie von den letzten Schlieren. Sie hockte im Luftschutzkeller hinter der Kartoffelhorte, die Knie zum Kinn gezogen, die Kinder an sich gepreßt. Rita fühlte sich wie in der Karkasse des Autoreifens. Ob Onkel Doofi aufgeflogen wäre, fragte sie, worauf Mutter in Kreischen ausbrach. Bomber flogen übers Haus hinweg Richtung Innenstadt. Rita rief nach ihrem Vater. Richard blieb stumm an Gerlinde geschmiegt. Manchmal schlief er sogar. Rita saß mit starren Augen. Bis der Donner verzogen, der Abgesang der Sirenen verklungen war. Bis Gerlinde aufstand, ihre Kinder in den Arm nahm und sie streichelte. Bei jeder Liebkosung, bei jeder Berührung wuchsen sie ein Stück.

Bis eines Tages Frieden herrschte. Gerlinde kochte aus Brennesseln, Kartoffelschalen und Magermilch LeckerleckerMittagbrot. Von Adolph Erwin Greiner, dem Cousin mütterlicherseits, hörte sie nichts mehr. Hatte er sich bis eben noch jeden Monat eigenhändig von Gerlinde die Miete überreichen lassen, tauchte nun ein Hausverwalter auf, der den Empfang derselben im Mietbuch quittierte.

Rita und Richards weitere Kindheit verlief leise, fast stumm. Rita hatte den LKW-Reifen an andere Kinder verschenkt, die sich, in sein Inneres gezwängt, den Wiesenberg hinabrollen ließen. Statt die Abenteuer der neuen Zeit spielend zu erfahren, halfen die Ladegast-Kinder im Haus. Mittags, nach der Schule, packte die siebenjährige Rita an, schleppte Kohlen, spaltete Holz, brachte Wäsche zur Mangel und paßte auf ihr Brüderchen auf. Mutter ging arbeiten. Oftmals setzte sich Rita, wie es Vater getan hatte, mit aufgestemmten Ellenbogen an den Küchentisch.

Richard, der sich feingliedriger als seine Schwester entwickelte, lernte mit drei Jahren Strümpfestopfen und kämmte Mutter mit einer Bürste das Haar: vom Scheitel bis zu den Spitzen gestriegelt, knisterte es. Auch Rita kämmte er: ihr sandblondes Haar fiel glatt und schwer auf die Schultern. Richard liebte es, es durch seine Finger streifen zu lassen.

Als Richard in die Schule kam, suchte er in jeder Pause seine große Schwester. Es war ihr peinlich. Sie versteckte sich vor ihm. Wenn Rita Richard weinen sah, schämte sie sich. Wenn sie sich schämte, kroch sie noch tiefer in ihre Verstecke. Nach der Schule war alles wieder gut, und die Geschwister liefen ohne Umwege nach Hause.

In der wenigen freien Zeit, die den Ladegast-Kindern zugeteilt war, lehnten sie gern am Fenster und sahen, was auf der Straße vorm Haus vorging. Gegenüber und anderswo in M. waren helle schmucke Häuschen entstanden. Straßen waren verbreitert worden, und Rita und Richard sahen den blitzenden Automobilen nach. Einmal äußerte Rita den Wunsch: »Ich würde auch gern so ein Auto fahren.«

Richard, der leicht über solche Äußerungen erschrak, lenkte ein, daß Rita ein Mädchen sei, und ein Mädchen könne doch nicht …

»Äffchen!« rief Rita.

Sie boxte den kleinen Bruder. Erst sanft, dann stärker, bis er ihr nicht mehr widersprach. Rita kitzelte Richard, wälzte sich mit ihm auf dem Boden, lachte, schrie. Dann blieben die Geschwister umschlungen liegen, bis sich alles in ihnen wieder beruhigt hatte.

Sie hatten nur Augen für sich. In ihrem stillen, häuslichen Leben. Die Jahre verstrichen. Ihre Kinderzeit ging in eine Jugend über, die sich lediglich durch ein neues, unerwartetes Verhalten ankündigte: Rita, die all die Jahre hindurch dem Bruder in schwesterlicher Zuneigung verbunden war, verspürte mit einem Mal das Bedürfnis, beim Benutzen des Bades die Tür zu verriegeln. Im Kinderzimmer rückte sie ihr Bett von Richards Schlaflager weg. Kleidete sie sich um, verbarg sie sich vor den Blicken des Jungen. Trotzdem liebte sie ihren Bruder weiterhin herzlich.

Den ersten Flaum, den Richard über seiner Oberlippe bemerkte, bekämpfte er mit Bimsstein. Ihre wachsenden Brüste verbarg Rita unter weit geschnittenen Männerhemden, die sie auf dem Trödelmarkt kaufte. Beim Blut, das das Mädchen eines Morgens auf dem Bettlaken entdeckte, fürchtete sie Mutters Schelte. Gerlinde sagte nur: »Es ist nichts.«

Rita war so froh über diesen Satz, daß sie beschloß, ihr Bett wieder an Richards Schlafstatt heranzurücken. Es war ja nichts. Sie krempelte die Hemdsärmel hoch und stieg in den Keller Holz hacken. Kurz vorm Schlafengehen blickte Rita neben Richard gelehnt aus dem Fenster. Es war wie immer.

Sie trafen sich fast jede Pause auf dem Schulflur. Die sind verliehiebt! klang es aus den Klassenzimmern. Die Geschwister beteuerten einander, daß sie sich nie verlassen würden. Und daß es unerhört sei, wie man sich über sie lustig mache. Diese Halbstarken mit ihren eitlen amerikanischen Frisuren und Heldensprüchen. Die sie aus Filmen geborgt hatten, welche Rita und Richard nicht kannten. Nicht kennenlernen wollten. Obwohl Gerlinde es vielleicht sogar gestattet hätte: diesen James Dean, Rock ’n’ Roll, Cola, Mopeds, Zigaretten. Obwohl Rita einmal heimlich auf der Mädchentoilette rauchte. Aber das schmeckte ihr nicht.

Rita und Richard hatten nur Augen für sich und Mutter. Sie nahmen an keiner Bewegung der Zeit teil. Es fehlte ihnen die Lust, sich auf mehr einzulassen, als auf das, was sein mußte. Sie lernten das Nötigste und besorgten nach der Schule den Haushalt. Kam Mutter aus der Fabrik, war das Essen fertig. So verging die Zeit. Bis sie auf einmal stockte. Von Freitagnachmittag an und die Wochenenden hindurch klagte Gerlinde: »Ich verblöde in dieser Knochenmühle. Ich verblöde und bekomme ein paar Groschen dafür. Ich, die Witwe eines Philosophen, schufte wie eine Idiotin. Gummi und Schrauben, Schrauben und Gummi. Ist das die Möglichkeit? Jeden Tag diese Mühle, und kommt man nach Hause, ist kein Mensch da.«

»Aber wir sind da!« lenkte Rita ein.

Für Momente spürte sie den Wunsch davonzulaufen. Es war wie ein Zucken, das schmerzhaft aufloderte und sogleich wieder vorüber war. Richard holte den Kamm und striegelte wortlos Mutters Haar. Es knisterte. Es war still in der Stube. Gerlinde ließ sich das nicht länger gefallen. Sie schüttelte plötzlich heftig den Kopf und forderte die Kinder auf: »Erzählt mir was!«

Rita mochte nicht erzählen. Auch Richard zeigte keine diesbezügliche Leidenschaft. Er war jetzt dreizehn Jahre alt, und seine Stimme tief geworden. Sie klang ihm fremd. Rita lachte ihren Bruder aus. Brummbär nannte sie ihn. Sie las ihm das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein vor und lachte immerfort. Rita gab Richard ein Stück Kreide zu essen. Er würgte es hinunter und erbrach sich. Da schämte sich Rita. Mit zärtlichen Fingern fuhr sie über Richards Gesicht, über seine Schultern und ließ ihre Daumen wieder zum Kehlkopf hinaufgleiten. Dann forderte Mutter Gerlinde ihr Recht, und das Märchen war zu Ende.

Rita und Richard standen oft nebeneinander am Fenster. Sie zogen die Gardinen zur Seite und beobachteten, was sich draußen tat. Bei schönem Wetter öffneten sie das Fenster und beugten sich etwas vor. Da konnten sie den Fußweg erkennen, auf dem ab und zu ein Mensch vorbeieilte. In M. wuchsen neue Häuser: kleine, mittlere, auch villenartige Gebäude. Namhafte Architekten gestalteten die Siedlung um. Straßen wurden verbreitert, Vorgärten angepflanzt. Firmen, Arztpraxen, Restaurants, Läden, sogar ein Brautsalon entstand.