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Manchmal ist es nicht mehr als ein Federstrich, der ein Leben verändert. Manchmal aber ändert er nicht nur ein Leben, sondern tausende … Ein unsicherer König. Eine Frau auf der Suche nach Freiheit. Eine verhinderte Hochzeit. Ein Königsbruder unter Verdacht. Drei Krieger zwischen Loyalität und Neuanfang … und ein Bürgerkrieg. Zwischen Kanonendonner und Musketenfeuer kämpfen sechs Menschen um Selbstbestimmung, Anerkennung, Freundschaft und Liebe - und manchmal einfach nur darum, zu überleben. - Politik, Abenteuer und vielschichtige Charaktere in einer Fantasy-Welt ohne Magie!
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Seitenzahl: 716
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Birthe zur Nieden
Federstrich
&
Mündungsfeuer
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7575-5721-8
Texte: Copyright © 2023 by Birthe zur Nieden
Umschlaggestaltung: © Birthe zur Nieden
Umschlagbilder: aopsan/freepik.com; perpetualstudios/deviantart.com
Schriftarten Umschlag: Copperplate, Jey (cuttyfruty.com)
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Verlag: Birthe zur Nieden
Tilsiter Straße 7
35043 Marburg
https://birthezurnieden.de
6. Frostmond 758
Eigentlich lohnt es sich ja momentan kaum, Tagebuch zu schreiben, so wenig gibt es zu berichten. Ich schreibe aber trotzdem, mit irgendwas muss man sich ja beschäftigen. Draußen ist es eklig, man ist längst gezwungen, sich in dicke Wolle einzupacken, wenn man in den Palastpark gehen will, und ich bekomme immer noch juckende Pickel davon. Jedes Jahr versuche ich es wieder, aber es wird eher schlimmer als besser. Also muss ich mich nicht nur in Wolle einwickeln, sondern auch noch zusehen, dass das Zeug nicht direkt an meine Haut kommt. Anziehen dauert auf diese Art und Weise mindestens zwanzig Minuten. Das macht keinen Spaß.
Und wenn ich dann doch Ausschlag kriege, regt sich ganz Trutz, ach was, alle Welt darüber auf – nicht etwa, weil ich arme Frau darunter leide, dass es juckt wie blöd, nein, weil es ja so unschön aussieht. Als ob das noch irgendwas ausmachen würde. Mein Verstand, ich bin vierunddreißig Jahre alt, knochig und habe eine viel zu große Nase – da fallen ein paar rote Stellen am Hals doch nun wirklich nicht ins Gewicht!
Naja. Momentan planen ja alle ganz aufgeregt meine Hochzeit. Sollen sie, wenn es ihnen Spaß macht. Der Termin steht auch schon: Der 6. Saatmond soll es werden. 6.6. also. Wenigstens ein nettes Datum.
Ich habe übrigens diese vertrackte Gleichung endlich gelöst. War heute Nachmittag so darin vertieft, dass mich Rotstern beinahe dabei überrascht hätte – das wäre ein Schock für ihn geworden: eine Frau, die rechnet! Konnte den Zettel gerade noch unter einen Brief schieben, der noch auf dem Schreibtisch lag. Nein, nicht einer von diesen Briefen (der letzte dürfte inzwischen übrigens angekommen sein), sondern eines von meinen reizenden Schreiben an meine reizenden Cousinen in Wasserblick, die mir neulich so reizend von ihren reizenden Spaziergängen an der Küste berichteten. Die haben sicher keine Probleme mit Wolle. In Wasserblick kann man sich das ja auch noch weniger leisten als hier in Trutz. Im Spätherbst am Meer spazierengehen – nein danke, ich verzichte. Da klappern mir ja schon bei dem Gedanken die Zähne. Aber ich bin überzeugt, die beiden haben auch dabei immer noch ganz reizend ausgesehen.
Wo war ich eigentlich – ach so, ja, ich war gerade völlig vertieft in die Rechnerei, da kam Ihre königliche Hoheit in meine Gemächer gestürmt, mein hochverehrter, großartiger (das hätte er gern!) Bruder – von Anklopfen hat der wirklich noch nichts gehört. Naja, er ist ja auch der König, nicht wahr, da braucht man sich um sowas nicht mehr zu scheren. Schon gar nicht, wenn man nur seine Schwester mit Neuigkeiten über ihren wunderbaren Parvenü von Bräutigam in Turming beglücken will.
Ich weiß wirklich nicht, warum er das ständig macht. Er kann diesen Goldreder genauso wenig leiden, wie ich ihn heiraten will. Ich habe den Kerl ja noch nie gesehen, aber wenn man von dem ausgeht, was man so über ihn hört, scheint er sowohl körperlich als auch charakterlich nicht gerade ein Traum von Mann zu sein. Ganz abgesehen davon, dass ich nun mal sowieso überhaupt nicht von einem Mann träume. Danke, ich lebe hier ganz gut ohne. Aber danach fragt natürlich keiner.
Naja, das habe ich alles schon tausendmal in diesem Tagebuch niedergeschrieben, und bevor ich mich hier weiter verrenne, höre ich lieber auf. Habe da sowieso noch ein Kissen fertig zu besticken. Wie glücklich mich die Vorstellung macht, mich mit diesem blöden Ding vor die Gaslampe zu setzen und stupide krumme Kreuzstiche darauf zu pieken … Ich meine, es sieht nicht mal gut aus, was ich da fabriziere. Aber es gehört sich nun mal für eine Dame, reizende Handarbeiten zu erstellen. Meine reizenden Cousinen tun ja auch den ganzen Tag nichts anderes. Es sei denn, sie marschieren gerade mit geröteten Nasen durch den eiskalten Meerwind und sehen dabei reizend aus.
***
»… deswegen würde ich vorschlagen, dass wir uns jetzt erst einmal dem nächsten Thema auf unserer Agenda zuwenden.«
Beifälliges Gemurmel erfüllte den Ratssaal. Papier wurde raschelnd übereinandergeschoben, und man atmete einmal tief durch. Dachspiel lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete amüsiert die offen zur Schau gestellte Erleichterung in einigen Gesichtern. Die Diskussion war lang und zäh gewesen, und eigentlich hatten nur der Zweite Landwirtschaftsrat und die beiden anwesenden Gesundheitsräte das Thema für wichtig und interessant gehalten.
Dachspiels Blick wanderte über die Anwesenden und blieb an seinen königlichen Bruder hängen, der sichtlich ein Gähnen unterdrückte. Rotstern war inzwischen einundvierzig Jahre alt, etwas mehr als drei Jahre älter als Dachspiel selbst, und seit elf Jahren der König in Trutz, und obwohl er ein so schwacher König war, der von seinen Beratern ohne große Anstrengung manipuliert werden konnte, hatten sich in diesen Jahren einige sichtbare Linien in seine Stirn und um seine Mundwinkel und die Nase eingegraben. Er hatte die gleiche große Nase wie Dachspiel selbst und auch zwei seiner anderen Geschwister – nur Rennersprung, der jüngste, hatte den Zinken nicht geerbt. Rotstern und Dachspiel teilten zudem die von der mütterlichen Seite stammenden weit auseinander stehenden Augen. Während Dachspiels linkes Auge allerdings etwas schief in seinem Gesicht saß, waren Rotsterns Züge ebenmäßig, wenn auch trotzdem nicht direkt schön zu nennen. Einzelne Strähnen seines braunen Haars lösten sich wieder einmal aus dem Band, das sie im Nacken zusammenhielt. Nach wie vor griff er sich zu oft unbewusst an den Kopf und spielte mit seinen Haaren, das hatte er schon als Kind getan, und es hatte jedes Mal dieses verächtliche Zucken um den Mund ihres Vaters hervorgerufen, das nur für den Thronfolger vorgesehen war. Dachspiel selbst hatte häufiger einen vor Wut schmal werdenden Mund zu sehen bekommen, und anders als Rotstern hatte er diese Gefühlsregungen seines Vaters schon bald mit Genugtuung wahrgenommen und den hasserfüllten Augen ungerührt standgehalten.
Als Rotstern jetzt vom Tisch aufsah, schaute Dachspiel allerdings lieber rasch weg und fing statt des Blicks seines Bruders plötzlich den Nachtbraue Viermessers auf … Augenblicklich war er hellwach. War es die Erinnerung an seinen Vater, die ihn Dinge sehen ließ, die nicht da waren? Nein, die Augen des Ersten Kriegsrates schleuderten unter den struppigen Brauen hervor tatsächlich unverhohlenen Hass zu ihm hinüber, und etwas in der Körperhaltung des Mannes ließ Dachspiel an einen Grauschleicher vor dem Sprung denken. Bevor er noch auf den Tagesplan schauen konnte, um zu sehen, was als nächster Punkt besprochen werden sollte, ergriff Nachtbraue bereits das Wort. »Da wir damit beim Punkt ›Sonstiges‹ angekommen sind, möchte ich einen Antrag stellen. Ich fürchte, er wird einigen hier anwesenden Personen nicht gefallen, aber ich halte diese Revision für dringend notwendig.« Sein Blick streifte wiederum Dachspiel. Was würde jetzt wohl kommen?
»Wie Ihr wisst, Euer Majestät« – ein kurzes Kopfnicken in Richtung Rotstern – »habe ich ein besonderes Auge auf die Palastwache. Schließlich ist sie eine Eliteeinheit und für das Wohl und die Sicherheit des Königshauses zuständig. Und zur Zeit mache ich Beobachtungen, die es mir angebracht erscheinen lassen, die Dienstvorschriften zu straffen. Es haben sich da Lücken gezeigt, die ein ordentliches Arbeiten unmöglich machen können, wenn sie genutzt werden.« Nachtbraue machte eine effektvolle Pause und schaute mit ernster Miene in die Runde.
Dachspiel lächelte spöttisch. »Findet Ihr es nicht paradox, Kriegsrat, dass Ihr einerseits von einer Elitetruppe sprecht, sie dann aber im gleichen Atemzug als nicht recht vertrauenswürdig darstellt?«
»Es geht hier nicht um Vertrauen, sondern um eine simple Dienstvorschrift. Mit solchen Bemerkungen wird die Sache wirklich völlig unnötig aufgeblasen.«
»Ach?« Dachspiel machte ein übertrieben fragendes Gesicht. »Eben sagtet Ihr doch selbst noch so großartig, die Lücken würden ein ordentliches Arbeiten unmöglich machen? Das klingt doch wohl auch so schon recht dramatisch, findet Ihr nicht?«
»Ruhe!«, schaltete sich Rotstern ein. »Lass doch bitte diese Wortklaubereien, Dachspiel. Um was genau handelt es sich denn, Kriegsrat Nachtbraue? Man kann aufgrund von vagen Andeutungen schließlich nur schwerlich eine Entscheidung treffen.«
»Es betrifft mehrere Bereiche – Verlassen des Kasernengeländes während dienstfreier Zeiten, eigenmächtiges Tauschen von Diensten, wann Uniform zu tragen ist und wann nicht … Es wäre, bei allem Respekt, zu umfangreich und zu umständlich, jede einzelne Dienstvorschrift hier auszubreiten und dem Rat zu erläutern.«
»Mit anderen Worten: Ihr wollt eine Generalvollmacht vom Rat bekommen, die Vorschriften nach eigenem Gutdünken ändern zu können«, stellte Dachspiel trocken fest. »Sauber.«
Nachtbraue wandte sich ihm ruckartig zu, seine Stimme klang scharfkantig wie ein Messer. »Was wollt Ihr mit diesem ›sauber‹ andeuten, Königsbruder?«
Dachspiel hob abwehrend die Hände. »Oh, nichts, nichts. Es ist sicher die beste Idee, das selbst in die Hand zu nehmen. Der Rest des Rates hat ja auch keine Ahnung, dem müsste man alles kleingekaut vorsetzen und trotzdem würde die Hälfte die Sache nicht verstehen …«
»Ihr dreht mir schon wieder das Wort im Mund herum! Ich habe nichts dergleichen auch nur angedeutet!«
Dachspiel lächelte zufrieden, als Nachtbraues Stimme schon jetzt begann, vor Zorn schrill zu klingen. Er konnte den Kerl nicht ausstehen, und dass diese Straffung der Dienstvorschrift vor allem gegen ihn und seine Gefolgsleute aus der Kriegerschaft gerichtet war, war vermutlich nicht nur ihm selbst klar. Aber Nachtbraue war ein grober Klotz, Krieger mit Leib und Seele und alles andere als ein Redner, auf diesem Feld war ihm Dachspiel also haushoch überlegen. Und das gedachte er auszukosten. »Aber gedacht habt Ihr es. Am liebsten wäre Euch vermutlich sowieso, Ihr könntet über die Armee ganz allein bestimmen, und niemand könnte Euch da hineinreden. Verstehe ich gut, das ist ein vollkommen natürlicher Wunsch für einen Heerführer. Nur leider funktioniert unser Staat nicht so. Das mag Euch als Militär nicht so recht einleuchten, aber so ist es nun mal.«
Nachtbraue atmete scharf ein. »Jetzt deutet Ihr wiederum an …« Er unterbrach sich. »Nein, Schluss. Ihr lenkt mit Euren Unterstellungen nur den Fokus von der Sache ab.«
»Nun, was ist denn die Sache? Was genau ist so staatsgefährdend an der gewachsenen Eigenverantwortlichkeit der ausgewählten Elitekrieger der Palastwache?« Dachspiel sah mehrere Räte grinsen. In diesem Fall waren ausnahmsweise viele auf seiner Seite. Nachtbraue war kein Mensch, der sich mit seiner Art viele Freunde machte, ganz im Gegenteil. Keiner unterbrach das Streitgespräch, und auch Rotstern ließ es jetzt laufen.
»Es geht hier nicht um Staatsgefährdung, sondern um Vorschriften, verdammt! Um das Prinzip der Wache, das nicht ausgehebelt werden sollte, egal von wem!«
»Oh, jetzt sind wir schon bei Prinzipien angekommen. Von welchem Prinzip genau sprecht Ihr hier?«
»Was?«, stieß Nachtbraue hervor. »Na, um das – Prinzip eben! Ihr wisst doch sehr gut, was ich meine! Das Prinzip der Autorität zum Beispiel, des Gehorsams, der Leitung von Menschen. Wir wollen unter der Kriegerschaft genauso wenig wie unter den anderen Ringen unserer Gesellschaft aufrührerische Tendenzen haben. Aber vielleicht seht Ihr das ja anders, Königsbruder?«
Aha, man war also schon bei der Frontalattacke angekommen. Dachspiel lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ah, da stoßen wir doch zum Kern vor. Ihr fürchtet also um Eure Autorität?«
»Sie wird untergraben, und das wisst Ihr wohl besser als jeder andere hier!«
»Vielleicht tue ich das – vielleicht auch nicht. Festzuhalten bleibt aber doch wohl eins: Wenn Ihr Eure Autorität untergraben lasst, kann es damit ja von vornherein nicht so weit her sein …«
Nachtbraue stand so ruckartig auf, dass sein Stuhl mit lautem Kreischen über den Steinfußboden schrammte. Aber bevor er etwas erwidern konnte, schallte Rotsterns Stimme scharf durch den Raum: »Das reicht! Setzt Euch, Nachtbraue. Wir vertagen diese Frage auf eine spätere Sitzung.«
Dachspiel strich zufrieden das Papier vor sich auf dem Tisch glatt. Kein Wort von Rotstern zu ihm, und das Verschieben des Antrags bedeutete, dass er bis dahin ausreichend Zeit hatte, um die Sache zu verhindern. Es gab noch genügend Fäden, die er ziehen konnte, und er hatte nicht vor, seine inoffizielle Spezialtruppe in der Palastwache so einfach aufzugeben.
Nachtbraue setzte sich mit rotem Gesicht wieder auf seinen Stuhl und starrte vor sich auf den Tisch. Ein Feind mehr für meine Sammlung, dachte Dachspiel. Aber warum auch nicht? Er freute sich regelrecht darauf, sich mit dem Kriegsrat zu messen. Langeweile war für die nächste Zeit jedenfalls nicht zu erwarten.
***
Trutz war eine zu große Stadt, um mit einem Witwenheim auszukommen, wie das in kleinen Städten wie Randort oder Seedorf der Fall war. In der Stadt des Königs hatte beinahe jedes bürgerliche Viertel sein eigenes Heim, in dem unverheiratete Frauen ihren Dienst an Kranken und Behinderten verrichteten und versorgt wurden. Entsprechend lag das Witwenheim des Palastviertels, zu dem Wirbelklinge gerade unterwegs war, nicht am Stadtrand wie anderswo, sondern mitten in der eng bebauten Altstadt. Es war ein altes Gebäude, das klobig und unansehnlich schon seit hundertzwanzig Jahren in seiner winzigen Grünfläche stand.
Vor dem Haupteingang bog er ab und lief an der mit abplatzendem grauem Putz verkleideten Fassade entlang, um zum deutlich kleineren Seiteneingang zu gelangen. Aus den Fenstern im Erdgeschoss drang das laute Jammern eines Kranken heraus. Wirbelklinge spürte, wie sich sein Unterkiefer verkrampfte. Heute war kein guter Tag, und das Wissen, dass seine Kinder jeden Tag von Leiden, Krankheit und Tod umgeben aufwuchsen, machte seine Laune nicht besser.
Er holte den Schlüssel aus der Tasche seiner rostroten Uniformjacke, öffnete und trat in den dämmrigen Flur. Aus der nur angelehnten Tür vor ihm, die ins Krankenlager führte, war ein weinendes Kind zu hören. Seine eigenen waren zum Glück noch nicht sehr häufig dort gewesen – es schien, als hätten sie seine eiserne Konstitution geerbt. Er stieg die ausgetretenen Stufen der schmalen Treppe hinauf, die an der linken Außenwand nach oben führte, und hatte bald die beiden kleinen Zimmer erreicht, in denen seine Familie wohnte.
Das vordere Zimmer war leer, und während er sich in dem winzigen, karg ausgestatteten Raum umsah, kroch in Wirbelklinge wieder einmal Groll auf darüber, dass er als Krieger im aktiven Dienst nicht heiraten und Sternlied und den Kindern ein richtiges Zuhause einrichten durfte. Sie war nichts weiter als seine Geliebte, und dass sie mit nur zwei Kindern trotzdem gleich zwei Zimmer bewohnen durfte, war schon nicht selbstverständlich und von ihm mit etwas drohendem Nachdruck durchgesetzt worden. Noch sechs Jahre würden sie hier wohnen müssen, bis er fünfzig wurde und seine Dienstzeit zu Ende ging.
Dabei hätte er das selbst verhindern können. Zum hundertsten Mal ärgerte er sich schrecklich darüber, vor Jahren die Beförderung zum Silberbrust abgelehnt zu haben, die Königsbruder Dachspiel ihm für seine Dienste hatte zuschustern wollen – Offiziere durften schließlich auch innerhalb der Dienstzeit heiraten. Aber damals hatte er Sternlied noch nicht gekannt, und jetzt war er zu stolz, den Königsbruder noch einmal darum zu bitten.
»Stern?«, rief er. Der Klang seiner rauen, tiefen Stimme wurde von den wenigen Möbeln kaum geschluckt. Er stieß die Tür zum Schlafzimmer auf, aber auch dort war niemand. Dabei hatte er seinen Besuch angekündigt!
Der Raum roch feucht und stickig. Wirbelklinge trat zum Fenster und riss es mit einem Ruck auf, während er gleichzeitig seine rostrote Uniformjacke aufknöpfte.
Jetzt ertönten aus dem Wohnraum Schritte: hastige, aber leise Erwachsenenschritte und das Getrappel von Kinderfüßen. Dann standen sie in der Tür. Sternlied warf einen prüfenden Blick in sein Gesicht, bevor sie die Augen wie jede tugendsame Frau in Gegenwart eines Mannes senkte. Ihr dunkelblondes Haar war zu einem unordentlichen Zopf gebunden, aus dem sich viele Strähnen gelöst hatten und vom Kopf abstanden. Um ihre Augen lagen müde Falten.
»Warum seid ihr nicht längst hier?«, fragte er scharf. »Ich habe schließlich nur zwei Stunden frei!«
»Ich weiß«, antwortete sie, den Blick immer noch auf den unebenen Fußboden gerichtet. »Aber wir hatten einen Notfall heute Nacht, und das junge Mädchen mit der Fehlgeburt brauchte gerade noch meinen Trost.«
Wirbelklinges Ohren begannen zu dröhnen. »Willst du sagen, diese junge Hure, die zu blöd war, aufzupassen oder das Kind rechtzeitig loszuwerden, ist wichtiger als ich?«
Aus den Augenwinkeln sah er die erschrockenen Augen Jungsternlieds, seiner vierjährigen Tochter, aber er konnte sich nicht zurückhalten.
»Geht rüber, Kinder, und macht die Tür hinter euch zu. Wir kommen gleich«, sagte Sternlied ruhig, und der siebenjährige Jungreifblatt nahm seine Schwester bei der Hand und zog sie mit sich in den Vorraum. Jungreifblatt, nicht Jungwirbelklinge. Noch so etwas – der Junge sollte nicht nach seinem Großvater heißen, sondern nach seinem Vater, aber auch das war erst in sechs Jahren möglich.
Wirbelklinge schaute wieder zu seiner Geliebten hinüber, die seinem Blick nun direkt begegnete. »Ich will, dass ihr da seid, wenn ich komme!«, stieß er hervor und hörte selbst, wie er immer lauter wurde. »Du solltest für mich da sein, nicht für die kaputten Krüppel, die ihr hier pflegt. Du gehörst zu mir, verdammte Scheiße, wozu hast du das Halsband um, wenn sich keiner darum schert?«
Ihre Hand wanderte automatisch zu dem Band mit dem Anhänger um ihren Hals, das anzeigte, dass sie vergeben war, kein Freiwild für andere Männer.
»Zu mir gehörst du, nicht zu denen!«, schrie Wirbelklinge jetzt, Frust und Wut heiß in seinem Bauch. Er suchte nach irgendetwas, worauf er einschlagen konnte, etwas, das er zertrümmern konnte, aber er fand nichts als das eiserne Bett und den geöffneten Fensterflügel, vor dem er immer noch stand. Er packte den Rahmen, es war ihm egal, wie viel er hinterher für die Reparatur bezahlen musste – aber bevor er das Fenster aus den Angeln reißen konnte, spürte er Sternlieds Hand auf seiner Schulter und hörte wie von weither ihre Stimme. »Wirbelklinge! Wirbel!« Er schlug mit einem wütenden Grunzen die Hand weg und fasste wieder nach dem Fenster.
»Nicht«, sagte sie. »Tu es nicht.« Er zögerte einen kurzen Moment. »Tu es nicht«, wiederholte sie noch einmal. Er versuchte, tief ein- und auszuatmen und die heiße Mauer vor seinen Augen wegzublinzeln. Er wusste mitten in seinem Zorn, dass sie recht hatte, dass es nicht einmal ihm helfen würde, wenn er die Einrichtung zertrümmerte. Mit einer großen Anstrengung löste er seine Hände vom Fensterrahmen und drehte sich zu ihr um.
»Wir würden ziemlich frieren ohne Fenster, weißt du«, bemerkte sie ruhig und liebevoll, und dann nahm sie eine seiner großen Hände und streichelte sanft darüber. Erst jetzt merkte er, wie stark er sie zusammengekrampft hatte im Versuch, seiner Wut Herr zu werden. Langsam löste sich der Klumpen in seinem Bauch auf. Er schaute auf ihren zerzausten Scheitel hinab und schluckte ein letztes Mal trocken.
»Verzeih«, sagte er leise, und sie nickte nur leicht. Sie kannten sich nun seit neun Jahren, es brauchte nicht mehr gesagt zu werden.
Sie setzten sich nebeneinander auf das Bett. Sternlied hielt immer noch seine Hand fest. »Also, was ist tatsächlich los?«, fragte sie. Sie kannte ihn wirklich gut.
Wirbelklinge schob sich mit der freien Hand die langen, braunen Strähnen hinter die Ohren, die ihm eben ins Gesicht gefallen waren. »Ich habe vorhin das Gerücht gehört, Kriegsrat Nachtbraue will die Vorschriften verschärfen. Er will uns bevormunden, wie kleine Kinder! Und es würde bedeuten, dass ich noch seltener hierher kommen könnte als sowieso schon.«
»Aber es ist nichts als ein Gerücht? Dann nutzt es doch nichts, sich jetzt schon über etwas aufzuregen, das möglicherweise gar nicht wahr ist, oder das vielleicht nie zur Ausführung kommt, oder?«
Er atmete tief aus. »Nein, natürlich bringt es nichts. Deswegen hat es mir aber trotzdem die Laune verdorben.«
»Sicher«, sagte sie, dann schwiegen sie beide. Es tat gut, einfach nur neben ihr zu sitzen. Wirbelklinge spürte, wie er immer ruhiger wurde.
Nach einer Weile beugte sie sich zu ihm hinüber, reckte sich im Sitzen und küsste ihn sacht auf die stoppelige Wange. »Glaubst du, wir können jetzt zu den Kindern rübergehen?«
Er nickte und dachte an die aufgerissenen Augen seiner Tochter. Er wollte nicht, dass seine Kinder Angst vor ihm hatten. Er wusste, dass es viel Arbeit kostete, einen Ausbruch wie den gerade eben geschehenen vor einem so jungen Kind wieder gut zu machen. Jungreifblatt war immer noch vorsichtig ihm gegenüber, wenn er sich auch inzwischen nicht mehr fürchtete.
Während sie langsam aufstanden, sagte Sternlied: »Versuch, diese Sache für den Moment mal zu vergessen, Wirbel. Es ist so wichtig für die Kinder, dass sie einen Vater wie dich haben, der sie so oft es geht besuchen kommt. Sie sind stolz auf dich. Mach es ihnen leichter, dich auch zu lieben.«
»Du weißt doch, dass ich mich bemühe«, sagte er rau.
»Ja, das weiß ich«, erwiderte sie zärtlich. »Und ich weiß auch, wie schwer es dir fällt. Du bist ein guter Mann, Wirbelklinge, und ich liebe dich, so wie du bist. Ich versuche ja nur, dir zu helfen.«
»Ich weiß«, sagte diesmal er und folgte ihr in den Wohnraum hinüber.
***
9. Frostmond 758
Wer hat sich eigentlich das Konzept »Geschwister« ausgedacht? Ich glaube, das Leben wäre wahrhaftig für alle Beteiligten leichter, wenn jedes Ehepaar nur ein Kind zeugen würde. Gut, natürlich wäre ich dann nicht auf der Welt, das würde mir, denke ich, doch nicht gar so gut gefallen, aber trotzdem.
Ich meine, man schaue sich doch mal bitte meine noch vorhandene Familie an. Von den fünf Kindern, die unsere Eltern in die Welt gesetzt haben, ist nicht eines so geraten, wie es sollte. Rotstern, unser aller geliebter und hochverehrter König und so weiter, ist ein Möchtegern-Held, der sich selbst völlig überschätzt, dabei aber eigentlich von allen Seiten manipuliert wird, ohne das zu merken. Komplettausfall.
Übrigens, kleine Abschweifung: Ich frage mich ja, ob die Tatsache, dass er mir ständig von Goldreder Fangbaum vorschwärmt, und dass ich mit dem Turmherrn in Turming schließlich den zweitmächtigsten Mann im Staat heiraten und damit ja eine so wunderbare Partie machen würde, womöglich von schlechtem Gewissen mir gegenüber zeugt. Denn der Plan an sich, das machthungrige Maul dieses offensichtlich auch noch sehr charismatischen Emporkömmlings durch eine Heirat mit der Königsschwester zu stopfen, ist sogar ziemlich gut, den braucht er sich nicht schönzureden. Wenn diese Königsschwester nicht dummerweise ich wäre, würde ich die ganze Geschichte vollkommen unterstützen. Nicht, dass das jemanden interessieren würde, ob ich sie unterstütze.
Aber ich war dabei, meine Familie auseinanderzupflücken, also weiter im Text: Flügelhand ist so ziemlich das Unerfreulichste, was überhaupt in diesem Palast rumläuft, übertroffen höchstens noch von dem verwöhnten Arroganzbolzen von Königssohn. Er ist ein derart aufdringlicher Stiefellecker, dass sogar Rotstern das merkt und ein angewidertes Gesicht macht, wenn er ihm über den Weg läuft. Und das passiert häufig, schließlich scharwenzelt Flügelhand dauernd um ihn rum.
Und dann natürlich Dachspiel, diese Abnormität von männerliebendem Intriganten. Darüber braucht man wirklich keine Worte mehr zu verlieren. Nicht mal in einem verschlüsselten Tagebuch. Bäh.
Dann komme ich. Natürlich auch ein Komplettausfall. Hässlich wie die Nacht, stickt wie ein Schlosserlehrling, mit vierunddreißig Jahren immer noch unverheiratet, und wenn man wüsste, was ich denke – ach was, dass ich überhaupt denke, würde ich wahrscheinlich als der größere Fleck auf der Familienehre angesehen als Dachspiel.
Bleibt noch der Grund für diesen Eintrag hier: Rennersprung, das süße kleine Nesthäkchen. Na, das ist schon länger her. Meine Güte. Der Junge ist doch inzwischen auch zweiunddreißig, da sollte man annehmen, dass sich ein Kerl benehmen kann. Rennersprung kann das offensichtlich nicht. Heute Morgen kam er stockbesoffen in den Frühstücksraum getorkelt, lachte sich halb kaputt und erzählte irgendwas von Pferden und Geschlechtsteilen, dessen genaueren Sinn ich lieber gar nicht erst ergründen möchte. Und dann kotzte er auf den Fußboden.
Wobei ich vergaß zu erwähnen, dass nicht nur der Erste Wissenschaftsrat mit seiner Frau zum Frühstück eingeladen waren, sondern auch Fingerkreis Dornwender, die Koryphäe auf dem Gebiet der Weltenlehre. Der mit »Transzendenz ist die Grenze des Wissens« und so weiter. Bravo, kleiner Bruder. Der Eindruck ist dir gelungen.
Inzwischen ist es Nachmittag, Rennersprung ist verkatert, aber wieder einigermaßen nüchtern, und Rotstern macht ihn gerade zur Schnecke. Hoffe ich jedenfalls. Bei Rennersprung ist der König ja fast genauso nachsichtig wie bei seinem missratenen Sohn.
Mein Verstand. Und da soll man dann nicht zum zynischen Einsiedler werden.
***
»Sag mal, was tun die hier eigentlich immer ihren Schoten an? Das ist doch – äh, gemüseverachtend, jawohl!« Brunnentaucher verzog angewidert das Gesicht und ließ die völlig verkochte Schote von seinem Löffel baumeln.
»Was erwartest du von der Wachkantine? Das Essen war hier noch nie gut.« Mottenschlag grinste ihn unter seinen schwarzen Locken hervor spöttisch an, die ihm wie immer halb ins Gesicht hingen. Die Frauen wurden bei genau diesem Blick aus den dunklen Augen regelmäßig schwach. Wenn Brunnentaucher selbst das versuchte, fingen sie bloß an zu kichern. Seine Haare waren zwar ebenfalls schwarz, aber im Gegensatz zu Mottentauchers vollem Schopf dünn und flusig und lichteten sich bereits an der Stirn, und seine Augen standen vor – er sah nun einmal nicht gut aus und wirkte wohl im besten Falle eher niedlich als männlich-attraktiv auf die Damenwelt. Aber das störte ihn meist nicht weiter, und er gönnte seinem Freund seine sexuellen Erfolge von Herzen.
»Stimmt, zu dick wird man hier nicht«, bestätigte er, angelte das schlabbernde Gemüse von unten her mit dem Mund auf, kaute dreimal und schluckte es herunter. »Aber man wird sich doch wohl noch darüber beschweren dürfen. Außerdem fiel mir kein besseres Gesprächsthema ein. Immerhin hast du drauf geantwortet.«
»Witzbold.«
»Vielen Dank! – Ach, apropos Witz …«
Mottenschlag hob abwehrend die Hände. »Och nee, bitte verschone mich mit deinen Witzen!«
»Du weißt nicht, was du verpasst.«
»Oh doch, das weiß ich, und ich verpasse es liebend gerne. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe essen.«
»Na gut.« Brunnentaucher zuckte mit den Achseln und schlürfte eine Weile schweigend und zufrieden seine verkochten Schoten.
Die Kantine lag im Erdgeschoss der Kaserne. Wenn man vor dem Fenster saß, wie Mottenschlag und er es gerade taten, konnte man durch die Büsche und den hohen schmiedeeisernen Zaun in den Palastpark sehen, und in dieser Jahreszeit, wo das Laub schon längst von den Ästen gefallen war, sogar bis zum Palast selbst.
Der Kies vor dem Eingang knirschte unter schweren Stiefeln. Brunnentaucher beugte sich vor, um dichter vor die von Blasen und Schlieren durchzogenen Fensterscheiben zu kommen, aber er sah gleich, dass das nicht nötig gewesen wäre. Die breiten Schultern und den festen Schritt hätte er auch erkannt, ohne die markanten Gesichtszüge mit dem kantigen Kinn ausmachen zu können. »Wirbelklinge kommt«, sagte er.
Mottenschlag grunzte nur desinteressiert.
»Wolltest du ihm nicht von deiner Eroberung der schönen Strahlauge erzählen?«
»Wirbelklinge interessiert sich nicht für Edelnutten, das weißt du doch genau.«
»Na und? Dafür regt er sich immer so schön darüber auf, wie du deine Zeit verbringst.«
»Na, danke. Ich spiele eigentlich ungern Seilspringen auf dem Frühlingseis.«
Brunnentaucher kicherte. Ein treffendes Bild, dachte er, als er Wirbelklinge beobachtete, der inzwischen den Raum betreten hatte und sich eine Schüssel Schoten holte. Die mal mehr, mal weniger drohend zusammengezogenen Falten in seiner Stirn markierten die Risse in der Eisdecke. Sie lebten schon seit über zehn Jahren mit dieser stetigen Gefahr einzubrechen, seit der ältere Krieger sie für den Königsbruder rekrutiert hatte. Damals waren Mottenschlag und er Mitte Zwanzig gewesen und stolz darauf, von dem beeindruckenden, breitschultrigen Krieger für wert erachtet zu werden, diese etwas abenteuerliche Sonderrolle am Rande der Legalität ausfüllen zu dürfen. Es war im Laufe der Jahre eine enge Beziehung zwischen ihnen entstanden, aber Brunnentaucher war sich nicht sicher, ob man es als Freundschaft bezeichnen konnte. Eher war es wohl eine Zweckgemeinschaft. Aber sie wussten inzwischen, wann sie sich mehr und wann lieber weniger erlauben durften.
Heute schien ein mittelmäßig guter Tag zu sein, entschied Brunnentaucher und winkte. Wirbelklinge zögerte einen Moment, dann kam er herüber, nickte ihnen kurz zu und setzte sich.
Brunnentaucher ließ ihm kaum Zeit, den ersten Löffel schlabbriger Schoten in den Mund zu schieben. »Hast du schon gehört? Kriegsrat Nachtbraue soll ja schäumen, weil der Königsbruder ihm wegen der Dienstvorschriften in die Suppe gespuckt hat.«
»Na, hoffentlich hat er wenigstens gründlich gespuckt«, brummte Wirbelklinge. »Sonst können wir unseren Sonderstatus nämlich vergessen. – Sagt mal, was ist das hier eigentlich für ein Pamps?« Angewidert rührte er in dem bräunlichen Inhalt seiner Schüssel.
»Schoten«, antwortete Brunnentaucher grinsend. »Als sie noch lebten, waren es wunderbare Schoten.«
Die Türglocke klingelte leise. Rotstern schaute von seinen Papieren auf. Der Dienstleister schob sich vorsichtig durch den Türspalt, blieb davor stehen, brachte noch sorgfältig seinen rechten Fuß in eine Linie mit dem linken und machte dann eine tiefe Verbeugung.
»Was gibt es?«, fragte Rotstern ungeduldig.
»Ein Bote aus Turming, Euer Majestät«, sagte der Mann, ohne aufzublicken. »Er sagt, es sei sehr dringend. Soll ich ihn gleich hereinrufen, oder wollt Ihr ihn im Thronsaal empfangen?«
Dringend? Aus Turming? Was konnte Goldreder wollen? Hoffentlich keine noch unmäßigeren Mitgiftsforderungen, die ganze Sache würde so schon ein unangemessen großes Loch in die Staatskasse reißen. »Nein, lass ihn hier herein, der Thronsaal ist ungeheizt, da holt man sich ja sonst was«, sagte er und schob die Papiere auf seinem Schreibtisch zu einem einigermaßen ordentlichen Haufen zusammen.
Militärisch stramme Stiefelschritte knallten auf den Steinfußboden vor dem Arbeitszimmer, und tatsächlich stand bald ein junger Mann in Uniform vor ihm, das turmingische Wappen auf dem Ärmel und das lange Haar windzerzaust vom Ritt. Ein Krieger als Bote? Ein ungutes Gefühl zog plötzlich in Rotstern auf, das sich noch verstärkte, als er den überheblichen Blick des Mannes sah und das kaum sichtbare Nicken des Kopfes, das die eigentlich gebotene Verbeugung ersetzte.
»Seid gegrüßt«, sagte Rotstern und bemühte sich um einen entspannten Habitus. »Ihr bringt Nachrichten von meinem zukünftigen Schwager?«
Der junge Mann verzog keine Miene. »Ich bringe einen Brief von Turmherr Goldreder Fangbaum.« Damit trat er einen Schritt vor und reichte Rotstern einen versiegelten Umschlag.
Rotstern runzelte die Stirn. Nicht einmal höfliche Grüße? Was für einen Stoffel hatte Goldreder da geschickt – oder war das Methode? Er starrte auf den in das Siegelwachs eingedrückten Turm und versuchte, aus der Sache schlau zu werden. Sollte er den Krieger zurechtweisen?
»Ich bin beauftragt, auf Antwort zu warten«, erklärte der Mann, immer noch keinerlei Ehrerbietung in der Stimme.
»Gut, dann …«, sagte Rotstern langsam und wandte sich dem Dienstleister zu, der immer noch an der Tür stand. »Lass dem Krieger ein Gastzimmer zuweisen. – Ihr werdet doch sicher nicht heute schon wieder reiten wollen?«
Der Bote schüttelte nur schweigend den Kopf und folgte dem Dienstleister mit geradem Rücken aus dem Zimmer.
Rotstern fühlte sich überrannt. Wie so oft. Warum nur gelang es ihm nach über zehn Jahren an der Regierung immer noch nicht, so wie sein Vater die richtigen Entscheidungen innerhalb von wenigen Augenblicken zu treffen?
Aber für Depressionen war jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. Entschlossen brach er das Siegel auf und entfaltete den Brief.
Weiser Goldreder Fangbaum, Turmherr in Turming und damit sowohl Oberhaupt der dortigen Universität als auch Herr der umliegenden Landstriche, an Rotstern Baumname, König in Trutz.
Keinerlei Ehrentitel für den König. Nicht ein einziger. Rotsterns Herz begann schneller zu schlagen. Hier war wirklich etwas ganz und gar nicht in Ordnung. So intim war er mit dem Turmherrn noch lange nicht.
Euer Majestät, begann der eigentliche Brief, nachdem man mir einige Tatsachen zugetragen hat, die mich zutiefst in meiner Ehre kränken müssen, sehe ich mich gezwungen, diesen Brief zu schreiben.
Ihr botet mir scheinbar so großmütig die Ehe mit Eurer Schwester an. Ich bin mir vollkommen sicher, dass Euch sehr gut bewusst ist, dass die damit verbundenen und teilweise auch angesprochenen Konsequenzen auf meinen Rang und die Stellung Turmings im trutznoilanischen Reich der Grund für meine Zustimmung zu dieser Verbindung gewesen sind. Bei allem Respekt – dass Eure Schwester keine Schönheit ist, ist im ganzen Reich bekannt. Dass sie auch unfruchtbar sein soll, mag ein Gerücht sein, das ich aber in meiner Position durchaus prüfen sollte.
Nachdem ich aber nun aus verschiedenen Quellen deutlich alarmierendere Enthüllungen vermittelt bekam, versinkt diese angebliche Unfruchtbarkeit in der Bedeutungslosigkeit.
Ich verlange keinerlei Erklärungen von Euch oder Versuche, die Unwahrheit der folgenden Anschuldigungen zu beweisen – es wird Euch sowieso nicht gelingen, die stichhaltigen Beweise, die mir vorliegen, zu widerlegen.
Mir ist also folgendes bekannt:
- dass Ihr gedachtet, mich zum Narren zu halten und die betreffenden Klauseln im Ehevertrag so zu formulieren, dass Ihr die Rangerhöhung jederzeit durch einen vorgeschobenen Krisengrund rückgängig machen könntet,
- dass die Erhöhung sowieso von Grund auf eine Attrappe sein würde, die keinerlei Auswirkungen auf Turming und seine Stellung im Reich hätte, obwohl das nach geltendem Recht und dem Ehrgefühl unseres Standes als Obere eine selbstverständliche Folge der Hochzeit wäre,
- dass ich mit der für eine womöglich nutzlose, weil unfruchtbare, zu alte und unansehnliche Ehefrau erstaunlich hohen Mitgift ruhig gestellt werden sollte,
- und dass diese Ehefrau noch nicht einmal als Druckmittel Euch gegenüber wirken könnte, weil sie Euch so oder so nicht weiter nützlich sein kann und offenbar auch nicht sonderlich am Herzen liegt.
Ich denke nicht, dass ich mich, diese Punkte betreffend, in Einzelheiten ergehen muss. Ihr wisst sehr genau, was dahintersteht und welch üble und ehrlose Verfahrensweisen für diese unwürdige Intrige herhalten sollten.
Aus diesem Grund kann ich nur noch einmal wiederholen, wie zutiefst in meiner Ehre als Oberer und Turmherr gekränkt ich mich durch Eure nicht anders als Verletzung jeglichen Anstands zu nennenden Handlungen fühle, und muss als Mann und als Mensch von einer Ehe mit Eurer Schwester Lichterfreude Baumname absehen. Die Verlobung ist hiermit gegenstandslos und wird nicht erneuert werden.
Ich hoffe, es wird uns gelingen, diese Krise auf diplomatischem Wege zu bereinigen. Es dürfte Euch allerdings klar sein, dass dies in hohem Maße von Eurer Bereitschaft abhängt, von nun an mit offenen Karten und Händen zu arbeiten.
Hochachtungsvoll
Weiser Goldreder Fangbaum, Turmherr.
Rotstern schaute auf seine Hände hinunter, die den Brief so fest hielten, dass die Seitenränder des Papiers bereits zerknittert waren. Er spürte seine Finger kaum. In seinem Kopf wirbelten ungeordnete Gedanken wie die Blätter in den Silberwäldern im Herbst umher. Eine Katastrophe. Was sollte er nun tun? Jetzt, im Augenblick? Als erstes den gesamten Rat einberufen. Nein, den Ersten Diplomatischen Rat für eine Besprechung unter vier Augen. Oder wäre es womöglich sogar notwendig, den Ersten Kriegsrat von Anfang an mit einzubeziehen? Was hätte sein Vater in einer Situation wie dieser getan? Was Raumherz? Es war lange her, dass er sich so sehr nach dem Berater gesehnt hatte, der vor neun Jahren ermordet worden war, und dessen Intelligenz und Ruhe ihm schwierige Entscheidungen so viel leichter gemacht hatten. Aber Weiser Raumherz Leichthand war nun einmal tot. Vielleicht sollte er …
Aber wie hatte es dazu kommen können? Die Frage drängte sich riesig groß in den Vordergrund. Wieso wusste Goldreder von all den Plänen, die seine so gefährlich machtvoll werdende Rolle in Trutznoila auf geschickte Art und Weise wieder in den Hintergrund hatte drängen sollen? Wer hatte ihm von diesen Plänen verraten?
Rotstern ließ den Brief fallen, als könne er sich daran verbrennen. Dachspiel? Wieder einmal? Aber es gab für seinen Bruder diesmal eigentlich keinen Grund für eine Einmischung … Wie auch immer – es gab einen Verräter im Palast, und auch wenn er nicht wusste, wie diese Krise bereinigt werden konnte, eins war klar: Er würde diesen Verräter finden und außer Gefecht setzen, wer auch immer es war. Jemand hatte ihn für dumm verkauft, und das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Er war der König. Er durfte so etwas nicht auf sich sitzen lassen.
»Dienstleister!«, rief er laut. »Lass augenblicklich nach dem Ersten Kriegsrat schicken.«
***
16. Frostmond 758
Der ganze Palast ist in Aufruhr. Gestern Abend kam ein Bote aus Turming, mit einem Brief in der Tasche, in dem der Turmherr außerordentlich brüsk die Hochzeitspläne annulliert.
Na sowas.
Ich bin natürlich tief betrübt, betroffen und beleidigt (hat der Kerl mich doch tatsächlich als alt und hässlich bezeichnet! Also wirklich!) und weine in meiner Kammer vor mich hin.
Rotstern benimmt sich wie ein aufgescheuchtes Schneehuhn, geradezu putzig. Er hätte nie damit gerechnet, dass der Turmherr ihm auf die Schliche kommt, wo er doch so geschickt war … Jedenfalls fürchtet er jetzt um seine Herrschaftsgrundlage, schätze ich, weil seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht. Tja, selbst Schuld.
Allerdings finde ich den Grad der Aufregung gerade doch ziemlich albern. Schließlich ist einfach nur eine Hochzeit abgeblasen worden, und mein Ex-Bräutigam (hach, wie schön sich das schreibt!) ist jetzt ein bisschen beleidigt. Der wird sich aber schon schnell wieder beruhigen, wenn man ihm gut zuredet – und mit ordentlich Geldzuwendungen versorgt natürlich. Aber das sollte ja wohl kaum das Problem sein, schließlich war die Mitgift auch schon eingeplant.
Außerdem sparen wir ja nun auch die Kosten für die absurd riesig geplante Hochzeitsfeier.
Und jetzt werde ich mal einen furchtbar niedergeschlagenen Brief an meine Cousinen in Wasserblick verfassen. Die brauchen Abwechslung. Außerdem wäre alle Welt sehr enttäuscht, wenn ich meine weiblichen Herzensergüsse nicht mit irgendjemandem teilen würde.
***
Die beiden schmalen Klingen blitzten im Tageslicht, das durch die hohen Fenster des Fechtsaales auf sie traf, in rasendem Wechsel auf. Außer dem scharfen Klang von Metall auf Metall waren nur die Schritte und Sprünge auf dem Parkett zu hören.
Dachspiel parierte einen Schlag seines Gegners und drehte sich im Zurückspringen um sich selbst. Erneut tanzten die Degen umeinander, umschlangen sich in dem Versuch, die Waffe aus der Hand des anderen zu winden, doch erneut gelang es keinem der beiden Kombattanten.
Das schulterlange braune Haar hing Dachspiel ins Gesicht, er schüttelte kurz den Kopf, um bessere Sicht zu bekommen. Wieder ein neuer Angriff. Dachspiel wechselte die Klinge in die linke Hand und machte einen Sprung – um gleich darauf die stumpfe Spitze des Degens in seiner Seite zu spüren. Er hob die Hand, um den Treffer anzuzeigen. Sie grüßten mit den Klingen und gaben sich die Hand.
»Ihr seid heute gar nicht gut bei der Sache, Königsbruder«, bemerkte Baumbrecher Wolkensprung, als Dreißiger ein sehr hochrangiger Offizier und der Fechtmeister am Hof, bevor er den Degen zu einer einladenden Geste hob. »Noch eine Runde?«
Dachspiel schob seine Klinge in die Scheide. »Nein, es hat heute keinen Sinn. Ihr habt Recht, ich bin nicht konzentriert dabei.«
Baumbrecher nickte und steckte ebenfalls den Übungsdegen weg, um danach zur vorderen Hallenwand zu gehen, dort den Degen an seinen Platz zu hängen und seine Jacke vom Haken zu nehmen. Einen Augenblick lang stand er mit dem Kleidungsstück über dem Arm vor der Tür, dann schaute er Dachspiel aus schmalen Augen an und fragte vorsichtig: »Darf man fragen, warum Ihr euch nicht konzentrieren könnt?«
Dachspiel trat neben ihn und hängte seinen Übungsdegen zu den anderen. »Man darf. Mir geht diese Sache mit Turming nicht aus dem Kopf. Es wurmt mich, dass es in diesem Palast jemanden gibt, der mich so vollkommen kalt erwischt hat. Ich habe aber auch gar keine Ahnung gehabt – und das muss ja Wochen an geheimer Aktion und Kontakt mit dem Turmherrn gekostet haben. Aber ich habe nicht einmal einen Hauch davon mitbekommen. Da fragt man sich schon, ob man noch im Geschäft ist, wenn Ihr versteht, was ich meine …«
Baumbrecher gab ein zustimmendes Geräusch von sich, machte aber dabei ein etwas zweifelndes Gesicht.
»Ihr glaubt mir nicht?«, fragte Dachspiel.
Baumbrecher wiegte den Kopf. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll – nein.«
Dachspiel grinste. »Also ist mein Ruf immer noch größer als meine Fähigkeiten. Umso besser, dann ist ja noch nichts verloren.«
Baumbrecher lachte und öffnete die Tür für den Königsbruder. »Wie sieht es morgen bei Euch aus?«, fragte er draußen.
»Sofern nichts Unvorhergesehenes dazwischenkommt, bin ich um die selbe Zeit wieder hier, wenn es Euch recht ist.«
»Sicher. Bis morgen dann!«
Dachspiel nickte ihm zum Abschied zu und machte sich auf den Weg zurück zu seinen Räumlichkeiten. Seine Gedanken drehten sich immer noch um den unbekannten Verräter. Es war elementar wichtig, den Mann zu entlarven, sonst würde keine sinnvolle Politik mehr zu machen sein, darin stimmte er mit seinem Bruder überein, der nun schon seit zwei Tagen von nichts anderem mehr sprach. Außerdem hätte er einen solchen Konkurrenten auf dem Gebiet der politischen Intrige, auf seinem Gebiet, gerne unter Kontrolle gewusst.
Aber andererseits begann er sich nach diesen zwei Tagen zu fragen, ob es sich Rotstern mit seiner Ansicht, der Turmherr würde sich mit gutem Zureden und einigen Zuwendungen materieller Art schon bald wieder beruhigen, nicht zu einfach machte. Man sollte ihn beizeiten geschickt daran erinnern, dass auch hier Arbeit nötig war, und zwar mehr als nur einen besänftigenden Brief zurückzuschreiben. Allerdings sollte das besser einer von den Räten tun. Dachspiels Verhältnis zum König war schon seit Jahren mehr als unterkühlt – endgültig seit der Sache mit Raumherz … Der plötzliche Gedanke daran traf Dachspiel immer noch hart wie jedes Mal, und er schob die Erinnerung rasch beiseite. Jedenfalls waren die Zeiten leider lange vorbei, als Rotstern ein unsicherer, überforderter junger König gewesen war und seinen Bruder dankbar um Rat gefragt hatte. Damals hatte sich Rotstern ganz einfach lenken lassen. Inzwischen ertrug er Dachspiels Anwesenheit in den Ratssitzungen nur, weil er genau wusste, dass es Schwierigkeiten ohne Ende für ihn bedeuten würde, wenn er seinen Bruder ausschlösse. Schon allein, weil etliche der Räte auf die eine oder andere Art von Dachspiels Wohlwollen abhingen und darum bis zu einem gewissen Grad ängstlich darauf bedacht waren, ihm nicht allzu stark in die Quere zu kommen.
Und Dachspiel hatte nicht vor, sich in dieser seiner Stellung von irgendwem den Rang ablaufen zu lassen. Man würde sehen, wer in diesem Spiel die bessere Ausgangsposition hatte: derjenige, der heimlich im Verborgenen spielte, oder derjenige, der schon seit Jahren offen die Fäden in der Hand behielt.
***
Mottenschlag stand missmutig in der Mitte des kleinen Raumes, der mit vier Betten und zwei Schränken vollgestopft war, und wartete auf dessen Bewohner. Die Luft war stickig und von den vermischten Gerüchen nach schmutziger Wäsche, Schweiß und Feuchtigkeit durchzogen.
Dass die Palastwache ausgeschickt wurde, um nach dem Saboteur zu suchen und die übliche Recherchearbeit zu machen, war ja schön und gut – aber dass man ausgerechnet ihn in die Dienstleisterquartiere schicken musste, wurmte ihn unmäßig. Jeder Trottel konnte Dienstleister ausquetschen. Er dagegen war gut darin, sich einzuschleichen, sich selbst quasi unsichtbar zu machen, so dass nur seine Fragen wie unwiderstehliche Verlockungen im Raum standen. Das hatte er in Königsbruder Dachspiels Diensten mehr als einmal bewiesen. Aber das, was er da tat, konnte und durfte natürlich seinen vorgesetzten Offizieren nicht so genau zu Ohren kommen, also stand er nun hier und musste sich mit dem dummen Bodensatz auseinandersetzen. Dabei würde hier mit großer Wahrscheinlichkeit sowieso nichts Brauchbares herauskommen.
Jetzt öffnete sich zögerlich die Tür, ein kurzgeschorener Kopf wurde sichtbar, dann schob sich der ganze Dienstleister herein. Drei andere folgten ihm auf dem Fuß. Sie schauten Mottenschlag an und wechselten sichtlich erschrockene Blicke. Mottenschlag lächelte zufrieden. Sein Ruf eilte ihm wohl voraus.
»Wie heißt ihr, und wo arbeitet ihr?«, fragte er.
Sie hoben die Augen nicht vom Boden, während sie antworteten. Drei von ihnen waren deutlich älter als Mottenschlag, einer dagegen ein junger Mann, kaum dem Schulalter entwachsen. Zwei arbeiteten als Leibdiener, einer im Botenraum, der Junge in der Küche.
Mottenschlag lehnte sich gegen einen der Schränke und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also. Ich gehe zwar davon aus, dass dieses Gespräch sowieso kein Ergebnis bringen wird, aber natürlich muss jede noch so abwegige Informationsquelle angezapft werden. Ihr braucht nicht zu wissen, worum es geht.« Gerüchte würde es wahrscheinlich sowieso geben, aber die interessierten nicht.
»Ich will alles von euch wissen, was ihr in letzter Zeit von den vernünftigen Menschen in diesem Palast mitbekommen habt. Kein Gewäsch über andere Dienstleister.« Er nickte mit dem Kinn zu den beiden Leibdienern hinüber. »Vor allem von euch will ich etwas hören.«
»Mein … mein Herr hat … hat sicher nichts damit zu tun. Er ist ein guter Mann. Und ich habe nichts Ungewöhnliches bemerkt in letzter Zeit«, antwortete der erste Mann leise und stockend.
»Nein. Aha. Natürlich nicht«, sagte Mottenschlag ruhig und musste sich nicht sonderlich bemühen, diese Ruhe gefährlich wirken zu lassen.
»Ich auch nicht, wirklich nicht«, schloss sich der zweite Leibdiener eilig an. Schweiß stand auf seiner Stirn unter der kurzen grauen Dienstleisterfrisur.
Mit zwei schnellen Schritten war Mottenschlag vor den beiden Dienstleistern. Der eine überragte ihn um einen halben Kopf, trotzdem wirkte er klein und verloren. Wenigstens etwas Gutes hat dieser dämliche Auftrag, dachte Mottenschlag zufrieden. Er stieß beide mit je einer Hand so heftig und unerwartet vor die Brust, dass sie zurücktaumelten und gegen die Wand prallten. Der große jammerte auf, als sein Kopf schmerzhaft gegen die Mauer stieß.
»Ich lasse mich von Abschaum wie euch, der für keine vernünftige Arbeit taugt, nicht zum Narren halten. Noch einmal: Was habt ihr gesehen oder gehört?«
»Nichts«, versicherte der kleinere Mann mit zittriger Stimme. »Wirklich nichts, so glaubt mir doch!«
»Mein Herr bekommt Besuch von einer anderen Frau«, sagte der andere atemlos. »Aber ich weiß nicht, wessen Frau es ist, sie ist blond und hat diesen Leberfleck am Kinn und …«
»Das interessiert mich nicht«, unterbrach Mottenschlag den Redefluss angewidert. Er hatte noch nie verstehen können, wieso man sich überhaupt Leibdiener hielt, und dieses schnelle Einbrechen und Verraten von Geheimnissen zeigte ihm, dass es für seine Abneigung ganz handfeste Argumente gab.
Er winkte die beiden beiseite. »Ich komme nachher noch einmal auf euch zurück. Nur der Vollständigkeit halber – habt ihr beiden anderen etwas zu sagen?«
Der Junge schüttelte nur mit weit aufgerissenen Augen den Kopf und mied Mottenschlags Blick.
Der Bote dagegen schaute ihn voll an. »Es gab da Briefe«, sagte er mit dunkler, fester Stimme. »Briefe auf dem teuren Briefpapier, das die königliche Familie benutzt, aber mit keinem Absender drauf, und sie kamen nie über den normalen Weg über uns, sondern lagen plötzlich im Botenraum. Das kommt ja manchmal vor, aber die hier gingen alle nach Norden, das ist mir aufgefallen. Manche nach Turming, manche nach Donnerloch, manche irgendwo drumherum. Wir haben uns darüber ein bisschen gewundert. Aber es ist ja nicht unsere Sache, darüber Bericht zu führen. Und wahrscheinlich war damit alles in Ordnung, denn der Vorsteher hat nie etwas dazu gesagt.«
Mottenschlag stieß die Luft wieder aus, die er unbewusst während der Rede des Mannes angehalten hatte. »Wie sah die Schrift auf den Briefen aus?«
Der Bote runzelte die Stirn. »Das waren immer andere Schriften. Drei oder vier. Keine davon hatte ich schon vorher mal gesehen. Aber so genau kann ich das natürlich nicht sagen, ich bin ja nur ein Dienstleister.«
»Keine weibliche darunter?«
Entschiedenes Kopfschütteln. »Nein, weiblich sah es wirklich nicht aus. Ziemlich energisch waren die einen Briefe, und die eine andere Schrift sah eher etwas zittrig aus, so krakelig. Aber wie gesagt, ich habe ja keine Ahnung.«
»Ja, das habe ich jetzt zur Kenntnis genommen«, sagte Mottenschlag scharf. »Wie heißt dein Vorsteher?«
»Freisteher Starkwind.«
Mottenschlag zog Bleistift und Papier aus der Tasche seiner Uniformjacke und notierte den Namen. »Noch etwas?«
Keiner der vier Männer antwortete. Mottenschlag sah auf und schaute jedem von ihnen noch einmal scharf ins Gesicht. Auf der Oberlippe des Jungen standen Schweißperlen.
Mottenschlag schickte sie mit dem Kinn zur Tür hinüber. »Geht zurück an eure Arbeit.« Wortlos und hastig schlüpften sie aus dem Raum.
Mottenschlag steckte Stift und Papier wieder weg. Nun, das war doch gar nicht mal so schlecht als Ergebnis. Blieb nur die Frage, ob er jetzt sofort selbst zu diesem Freisteher Starkwind gehen sollte, oder ob er das Ergebnis seinem Vorgesetzten melden musste. Es juckte ihn in den Fingern, die Sache selbst zu Ende zu bringen … Aber letztlich wäre es den Ärger nicht wert, den er zweifelsohne bekommen würde. Also würde er wohl doch dieses müffelnde Quartier verlassen, nur um auf dem schnellsten Weg seinen Offizier aufzusuchen. Auf diese Weise würde er wenigstens ein anerkennendes Nicken ernten. Wenn auch leider nicht mehr.
Aber mehr war diese Befragungsarbeit auch nicht wert. Ein offener Kampf, das war etwas, worauf man stolz sein konnte. Aber das kam ja selbst in einem Kriegerdasein kaum vor.
Nun, aber es war müßig, darüber nachzugrübeln. Mit einer ungeduldigen Bewegung schüttelte er sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht und machte sich auf den Weg zu seinem Silberbrust.
***
Ein kalter Schneeregen, der schon stark nach Winter schmeckte, ging über Trutz nieder. Wirbelklinge drückte müde die nassen Haare aus, als er endlich die trockene Kaserne erreichte. Die wollene Uniformjacke war dunkelbraun vor Feuchtigkeit und roch nach Schaf, aber darunter war er glücklicherweise einigermaßen trocken geblieben.
Und wofür das alles? Jeden Tag stundenlange Verhöre von jedem, der auch nur ab und zu im Palast zu tun hatte, und herausgekommen war absolut gar nichts. Jedenfalls nichts zusätzlich zu dem, was Mottenschlag bereits vor Tagen herausgefunden hatte. Niemand wusste, woher diese mysteriösen Briefe stammten, und das nicht gerade zimperlich geführte Verhör des Botenvorstehers hatte auch nur ergeben, dass der Mann in Abhängigkeit zu jemandem stand, den er selbst nur durch Briefe und übermittelte Botschaften unter dem Namen Gansläufer kannte – allerdings war eine Person mit diesem Namen nirgends verzeichnet. Eine offensichtlich falsche Identität, die auch wieder nur ins Nirgendwo führte.
Frustriert stapfte Wirbelklinge mit der Jacke über dem Arm zu seinem Quartier.
Er war fast vor seiner Tür angekommen, als ein Wort aus dem Raum nebenan ihn langsamer werden ließ: »... Königsbruder«, hörte er einen seiner Kameraden sagen. Wirbelklinge blieb stehen. Um welchen der drei Königsbrüder ging es hier? Vorsichtig trat er einen Schritt näher zur Tür hin.
»Ich weiß, dass es keinen direkten Beweis gibt. Dazu ist er ja auch viel zu geschickt. Er hinterlässt keine eindeutige Spur. Aber das Papier ...«
»Hast du nicht gerade gemeint, er sei so geschickt? Warum sollte er dann ausgerechnet das Papier nehmen, das fast ausschließlich von der königlichen Familie benutzt wird?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ist das ja auch gerade die Taktik – wir sollen denken, dass er es aus diesem Grund nicht sein kann, weil er das Papier nicht benutzen würde ...«
»Na, ich weiß nicht. Das ist ja ziemlich um die Ecke gedacht. Andererseits würde das natürlich gerade sehr gut zu ihm passen. Und an sich ist er nun mal der einzige, dem man sowas zutrauen kann. – Na, das müssen ja nicht wir entscheiden.«
»Wenn sich nicht doch noch ein eindeutiger Beweis findet, wird sich sowieso nichts ändern. Wie immer. Königsbruder Dachspiel kommt immer davon, egal was er für unsägliche Dinge tut.«
»Da hast du auf jeden Fall recht. – Was hältst du von einem heißen Kräutertee in der Kantine?«
»Gute Idee, ich bin völlig ausgekühlt nach diesem blöden Regen.«
Rasch bewegte sich Wirbelklinge von der Tür weg und verschwand in seinem eigenen Raum, bevor er beim Lauschen erwischt werden konnte.
Er warf die nasse Uniformjacke auf einen Stuhl, streifte die Stiefel ab und ließ sich auf sein Bett fallen. Das belauschte Gespräch beunruhigte ihn. Sollte er dem Königsbruder davon berichten? Letztlich waren es ja nur Gerüchte und Vermutungen. Und Dachspiel lebte schon so lange mit Verdächtigungen, Feinden und Gefahren, außerdem hatte er seine Ohren sowieso überall, und wenn die Verdächtigungen ernsthaft wären, würde er so oder so davon hören.
Die Frage war eher: War er wirklich der Urheber der Briefe? Wirbelklinge kannte den Königsbruder seit nunmehr sechzehn Jahren, aber es war nach wie vor unmöglich, ihn einzuschätzen. Denkbar war es, dass er in die Sache verwickelt war. Denkbar war bei Dachspiel alles. Nur: Welchen Zweck sollte er damit verfolgen, die Hochzeit zu verhindern und den Turmherrn zu verärgern?
Wirbelklinge schüttelte den Kopf und begann, sich die feuchten Strümpfe auszuziehen. Das war nicht sein Metier, nicht seine Sache, darüber nachzugrübeln. Er war Krieger, kein Politiker.
Als sich Dachspiel dem königlichen Arbeitszimmer näherte, in dem Rotstern die meisten seiner Regierungsgeschäfte abwickelte, wurden seine Schritte immer zögerlicher. Vielleicht sollte er doch versuchen, an die Diplomatieräte heranzukommen? Dummerweise hatte er genau bei ihnen derzeit keinen Fuß in der Tür, solange der Dritte Diplomatierat Wolfsfuß Wasserberg wegen seiner schweren Erkrankung ausfiel. Und noch einmal einen der Gesundheitsräte oder den Landwirtschaftsrat vorzuschicken, reichte inzwischen nicht mehr aus – Rotstern brauchte offenbar eine echte Ansage eines Fachmannes, kein unsicheres Gestammel von Männern, die sich eigentlich selbst nicht mit der Materie auskannten. Denn immer noch lag sein Fokus vollständig darauf, den Verräter zu finden, und nicht auf dem Kitten der Beziehungen zum Turmherrn.
Vor der Tür blieb Dachspiel noch einmal stehen, um sich zu sammeln. Er war kein Diplomat, aber immerhin war er Rotsterns Bruder, und vor wenigen Jahren noch war sein Rat schließlich durchaus geschätzt worden. Er wusste, dass er politisches Talent hatte, und Rotstern wusste das auch. Dachspiel atmete tief durch und nickte dem Dienstleister zu, der vor der Tür stand. »Melde mich beim König. Es ist wichtig.«
Der breitschultrige Dienstleister, den Rotstern statt einer Wache aus Kriegern vor dem Zimmer hatte postieren lassen, verneigte sich und verschwand hinter der Tür. Es dauerte nicht lange, bis er wieder zum Vorschein kam. Als er die Tür öffnete, hörte Dachspiel seinen Bruder sagen: »… ihm, ich habe nicht viel Zeit.«
Dachspiel holte noch einmal tief Luft und versuchte, seinen Ärger wegzuschlucken. Rotstern hatte nie Zeit, egal, was Dachspiel von ihm wollte. Es gefiel ihm gar nicht, sich wie ein Bittsteller zu fühlen. Er winkte ab, als der Dienstleister dazu ansetzte, die Aussage zu wiederholen, und drängte sich an ihm vorbei in das Arbeitszimmer.
Rotstern saß an seinem mit Papieren vollgeräumten Schreibtisch und schaute ihm mit gerunzelter Stirn entgegen. »Was gibt es? Ich habe nicht –«
Dachspiel fiel ihm ins Wort. »… nicht viel Zeit, ich weiß. Es ist aber wichtig.«
»Ja, das sagtest du bereits. Dann komm wenigstens schnell zur Sache.«
»Na schön, wie du willst: Ich halte es für meine Pflicht, dich darauf aufmerksam zu machen, dass Turmherr Goldreder in Turming eine politisch nicht zu unterschätzende Größe ist, und dass es angeraten wäre, sich intensiv darum zu bemühen, ihn zu besänftigen.«
Dachspiel konnte sehen, wie sich Rotsterns Oberkörper anspannte. »Intensiver, als ich das tue, meinst du.«
Was nicht schwer war, denn bisher tat Rotstern, soweit Dachspiel das mitbekam, überhaupt nichts. Er zog es aber vor, das nicht so deutlich zu sagen, sondern nickte nur.
»Und du glaubst natürlich genau zu wissen, was wichtig ist. Und du bist auch völlig im Bilde über alle Hintergründe und meine sämtlichen Aktionen und Bemühungen und kannst mir damit aus der Hinterhand mal eben die einzig richtige Handlungsweise ansagen, die selbstverständlich nicht dem entspricht, was ich alleine mache, denn ich bin ja völlig unfähig, und meine Berater auch.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber gemeint. Ich weiß sehr gut, was du von mir denkst. Und auch, was du von dir selbst denkst.«
Dachspiel spürte, wie sich der Ärger in seinem Bauch breitmachte, und er bemühte sich nicht, ihn aus seiner Stimme zu verbannen. »So, weißt du das? Wunderbar, dann werde ich dich in Zukunft fragen, wenn ich mir nicht sicher bin, was ich denken soll.«
Rotstern schnaubte. Es klang nicht sehr überzeugend. »Dein Sarkasmus ist völlig unangebracht. Und wenn du tatsächlich nur hier bist, um mir zu sagen, was für ein schlechter König ich bin, ist mir nicht klar, inwiefern das wichtig genug ist, um mich bei meiner schlecht ausgeführten Regierungsarbeit zu stören. Ich denke, du willst jetzt wieder gehen.«
»Da siehst du mal, wie wenig du tatsächlich von meinen Gedanken weißt. Ich will ganz sicher nicht schon wieder gehen.« Er trat einen Schritt nach vorn, um das zu unterstreichen. »Rotstern, ich bin nicht hier, um mich mit dir zu streiten, sondern um dich vor dem Turmherrn zu warnen. Der Mann –«
Rotstern fiel ihm ins Wort. »… hat sich wohl mit dir abgesprochen, wie ihr mich am besten manipulieren könnt – ihr zwei seid sicher ein Herz und eine Seele, was?«
Dachspiel biss die Zähne zusammen. »Was ich sagen wollte, war: Der Mann ist gefährlich. Und ausgesprochen ehrgeizig. Und du machst derzeit den Eindruck, als würdest du ihn unterschätzen und versuchen, ihn mit ein paar guten Worten abzuspeisen, die ihm mit Sicherheit nicht reichen werden. Da deine Berater offenbar entweder den Mund halten, um dich gewogen zu halten, oder selbst in die gleiche Falle tappen, scheint es an mir hängenzubleiben, Klartext zu reden.«
»Klartext. Du. Ausgerechnet! Wenn ich nicht so wütend wäre, könnte ich glatt darüber lachen, Dachspiel.«
»Du bist wütend, weil …? Weil ich es wage, dich auf eine Gefahr hinzuweisen? Dir in deine Politik reinzureden? Oder was?«
»Wenn du nur reinreden würdest und nicht handeln, wäre mir schon viel wohler.«
Dachspiel schüttelte den Kopf. »Fängst du jetzt auch damit an, dass ich irgendwas damit zu tun haben soll? Inzwischen höre ich sogar schon von der Dienerschaft aus den Palastapsiden Gerüchte über meine angebliche Verstrickung in die Sache. Ich habe aber nichts damit zu tun, Rotstern. Wenn du willst, unterschreibe ich dir das.«
Wieder schnaubte Rotstern hörbar durch die Nase. »Als ob deine Unterschrift irgendwas bedeuten würde! Ich werde es dir natürlich wie immer nicht nachweisen können. Vielleicht hast du nichts damit zu tun, vielleicht doch. Aber auch, wenn du diese Briefe nicht geschrieben haben solltest: Irgendwie hast du doch immer deine Finger im Spiel. – Aber lassen wir das, ich erwarte wirklich nicht, dass du es zugibst. Warum solltest du auch.«
»Richtig, warum sollte ich. Vor allem, wenn ich verdammt nochmal nichts zuzugeben habe!«
»Du erwartest nicht ernsthaft, dass ich dir das glaube, oder? Ich bin nicht so naiv, wie du das offenbar immer noch denkst, ich weiß, was für eine Rolle du seit Jahren in diesem Palast und darüber hinaus spielst. Ich habe es schmerzlich genug erlebt, immer und immer wieder, und normalerweise hast du ja auch kein Problem damit, wenn deine Intrigen dir auch zugeordnet werden. Solange es dir niemand tatsächlich nachweisen kann natürlich.«
Dachspiel hob eine Augenbraue. »Was soll das werden, Rotstern, eine Analyse unserer brüderlichen Liebe?«
Rotstern reagierte nicht auf den Sarkasmus. »Bisher hast du nur einmal nicht wie ein stolzer Handwerker auf eine vollendete Intrige reagiert – und das, obwohl auch dabei niemand dir etwas nachweisen konnte.« Er schaute seinen Bruder voll an dabei, aber Dachspiel sah deutlich, wie sich seine Halsmuskeln anspannten und wie er begann, in höherer Frequenz zu blinzeln. Sein eigener Herzschlag begann ebenfalls, sich zu beschleunigen. Rotstern meinte doch hoffentlich nicht …
»Vor neun Jahren nämlich. Als ich meinen besten Berater verloren habe, der mir jetzt wieder einmal schmerzlich fehlt. Als Raumherz Leichthand von der Hand eines kleinen Beamten starb, mit dem er überhaupt keine Berührungspunkte hatte.«
Raumherz. Hitze sammelte sich in Dachspiels Kopf, als der Name den dunkelsten Punkt seines Lebens nach oben spülte. Das herzliche Lächeln im Gesicht des jungen Beraters, mit dem er Dachspiel Stück für Stück aus Rotsterns Vertrauen gedrängt hatte. Der noch jüngere, ehrgeizige Palastbeamte mit der rotblonden Lockenmähne, der so gern bereit gewesen war, eine Flasche mit dem berauschenden Traumkrautextrakt in der Wohnung des Beraters zu verstecken, um ihn zu diskreditieren. Das Blut, das sich wie ein roter See um Raumherz’ Kopf ausgebreitet hatte, als er dort gefunden wurde, die verklebte Bronzestatuette neben ihm, Dachspiels Schock, er hatte ihn niemals tot sehen wollen – und dieses rasende, brennende Gefühl in ihm, das ihn dazu getrieben hatte, dem flüchtenden Mörder durch halb Trutznoila zu folgen, nur, um ihn am Ende doch nicht fassen zu können.
Und Eisrecker, der ihn daraufhin verlassen hatte.
Der Gedanke war noch weniger willkommen, und Dachspiel schob ihn weg und konzentrierte sich statt dessen auf den Ärger, der sich in ihm breit machte. Warum musste Rotstern gerade das wieder vorholen? Als ob es irgendetwas mit der jetzigen Situation zu tun hätte!
»Lenk nicht ab, Rotstern!«, schnappte er. »Du willst dich doch bloß nicht mit Goldreder auseinandersetzen, weil du dann tatsächlich mal Rückgrat zeigen müsstest. Weil du dich dann nicht hinter Briefen und deinen Diplomaten und Beratern verstecken könntest, sondern dich selbst mit einem aalglatten Redner wie ihm auseinandersetzen müsstest und womöglich Konsequenzen androhen und – große Weisheit!, sogar handeln müsstest. Und das hast du in den elf Jahren deiner sogenannten Herrschaft noch nie fertiggebracht.«
Rotsterns Gesichtszüge erstarrten. Dann atmete er tief ein, es wirkte eher, als würde er nach Luft ringen. »Jetzt wirst du gehen, Dachspiel. Egal, ob du willst oder nicht. Du gehst. Jetzt!«
Einen kurzen Moment lang maßen sich ihre Blicke, dann schaute Rotstern weg. »Wenn du es nicht tust, rufe ich die Wache.«
Dachspiel schnaubte. »Leere Drohungen. Das kannst du gar nicht, oder du hast einen Skandal an der Backe, den du gerade jetzt überhaupt nicht gebrauchen kannst. Aber ich gehe auch so. Hier ist sowieso alles zu spät, ich kann an der Situation offenbar nichts mehr drehen. Mein Fehler, zu denken, dass du zuhören würdest. Ich kriege hier keine Luft mehr.«