Feentochter - Usch Luhn - E-Book

Feentochter E-Book

Usch Luhn

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Beschreibung

Meine Mutter, die böse Fee Das Erbe der Feen Seit einiger Zeit passieren seltsame Dinge im Leben von Leandra, genannt Leo: Warum rastet ihre sonst so sanfte Mutter Phädra plötzlich ständig aus? Warum wird Leo von Glühwürmchen und roten Libellen verfolgt? Und wieso darf sie um keinen Preis auf Oulil reiten, Phädras edlem Schimmel? Eines Nachts steigt Leo auf Oulils Rücken – und augenblicklich nimmt eine unheimliche Macht von ihr Besitz. Langsam kommt Leo einem dunklen Geheimnis auf die Spur ... Ein spannendes Abenteuer von Erfolgsautorin Usch Luhn

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Seitenzahl: 175

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Usch Luhn

Feentochter

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eISBN 978-3-649-63769-1

© 2024 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Usch Luhn

Covergestaltung: Anne Sent unter Verwendung einer Illustration von Tobias Goldschalt und Vignetten von shutterstock.com

Vignetten Innenteil: shutterstock.com

Lektorat: Hanna Schmitz

Satz: Helene Hillebrand

www.coppenrath.de

Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-63166-8.

Inhalt

Nachtgespenster

Die Neue

Phaedras Welt

Glühwürmchen

Ein waghalsiger Ritt

Oulil

Entdeckung

Rettung im letzten Moment

Missklänge

Auf Oulils Rücken

Eiskristalle

Sommergrippe

Feuer

Wahrheiten

Schicksal spielen

Die Stunde des Pegasus

Im Palast

Willkommen

Auf und davon

Geschenke

Die Oberste war besorgt.

Schon viele Jahre lenkte sie mit kluger Hand die Geschicke des Feenlandes. Doch in letzter Zeit geschah etwas, die magischen Kräfte in ihrem Reich drohten aus dem Gleichgewicht zu geraten. Alles Gute und Schöne brauchte das Böse – aber das war verschwunden. Rosata, die letzte böse Fee, war zuerst in Ungnade gefallen und dann verstorben.

Noch konnte die Oberste nicht absehen, was das für ihr geliebtes Feenland bedeuten würde. Noch reichte die Kraft des Schicksalssteins, sein Licht leuchtete, auch wenn es langsam nachließ. Doch schon bemerkte sie, dass die magischen Pflanzen weniger wuchsen. Die Flügel der Insekten wurden matter. Das Funkeln der Kristallgärten wurde trüber. Das Schillern der Feen blasser. Immer häufiger gab es Unfrieden unter den Feen. Auch ihnen fiel auf, dass etwas nicht stimmte.

Die Oberste musste diese Vorgänge unbedingt aufhalten. Sie brauchte die Willenskraft einer bösen Fee. Sonst war es um das Reich der Feen geschehen.

Sie zögerte noch einen Moment. Dann rief sie den Rat der Weisen zu Hilfe. Ihr blieb keine andere Möglichkeit.

Nachtgespenster

Leo wachte plötzlich auf. Irgendetwas hatte sie viel zu früh aus dem Schlaf gerissen. Sie blinzelte angestrengt in die Dunkelheit.

Seit Tagen war es sehr warm, deshalb hatte sie das Fenster auch nachts sperrangelweit offen. Wovon war sie aufgewacht? Da! Sie hörte ein leises Knistern, im selben Augenblick streifte etwas über ihr Gesicht.

Leo stieß einen unterdrückten Laut aus und wischte mit der Hand hektisch über ihre Wangen. Sie tastete nach dem Nachtlicht und knipste es an. Dann erschrak sie.

Direkt vor ihr schillerte ein großes Insekt. Eine purpurrote Libelle! Es schien Leo, als fixierte das Tier sie regungslos aus seinen schwarzen kugeligen Augen. Trotz Leos unwillkürlicher Bewegung rührte es sich nicht.

Leo hielt den Atem an. Sie hatte keine Angst vor Insekten. Selbst Spinnen nahm sie furchtlos in die Hand. Aber dieses Tier war ihr aus irgendeinem Grund unheimlich. Sie konnte nichts dagegen tun.

»Hau ab«, flüsterte sie.

Die Libelle rührte sich nicht. Gänsehaut überzog Leos Rücken. Sie fröstelte.

»Verschwinde. Sofort.« Leo klatschte in die Hände.

Die vier Flügel der Libelle begannen zu vibrieren, dann flog sie in die Nacht davon.

Leo verspürte Erleichterung. Eine ganze Weile noch blieb sie sitzen und starrte auf ihre Bettdecke. Ihr Herzschlag beruhigte sich nur langsam. Sie war hellwach, obwohl es erst vier Uhr war. Langsam stand sie auf und schaute aus dem Fenster.

Es war eine sternenlose Nacht. Der frische Neumond zeigte sich nur in einer schmalen Sichel. Nicht einmal die Umrisse der Obstbäume waren auszumachen, so tiefschwarz lag der Garten da.

Leo hatte sich immer für besonders furchtlos gehalten. Bis vor ein paar Monaten die Albträume angefangen hatten. Schattenträume nannte sie diese Träume insgeheim, die sie nachts aus dem Schlaf schrecken ließen, die sich wie dunkle Wolken über ihre Gedanken legten und sie nicht mehr zur Ruhe kommen ließen. Immer wieder waren in ihrem Traum diese hässlichen Libellen aufgetaucht und hatten sie bedrängt. Und nun saß hier so ein Biest in echt! Ekelhaft.

Leo hatte ihren Eltern nichts erzählt. Die beiden hatten so viel zu tun, sie wollte ihnen nicht jetzt auch noch mit schlechten Träumen in den Ohren liegen.

Ihr Vater Philip Blum hatte gerade die Schulleitung einer Gesamtschule übernommen. Ausgerechnet die Schule, die Leo besuchte. Und ihre Mutter Phaedra hatte vor Kurzem einen Laden in der Stadt eröffnet, der richtig gut anlief. Phaedras Welt hieß er und ihre Mutter hatte sich damit einen echten Traum erfüllt. Viele alte Sachen hatte sie in den letzten Jahren auf Flohmärkten liebevoll zusammengesucht und diese sollten nun endlich neue Besitzer finden. Die zahlreichen Kleinigkeiten und all die großen Möbelstücke waren eins nach dem anderen vom Dachboden in den Laden gewandert und konnten nun in Phaedras Welt bewundert und erstanden werden.

Nur eine einzige große verschlossene Truhe war vorerst auf dem Dachboden geblieben. Die »Krempelkiste« nannte Leos Vater diese Kiste. Ihre Mutter machte ein ziemliches Geheimnis darum. Nicht einmal Leos Vater wusste, was sich alles darin befand.

»Meine Sachen von früher gehen niemand etwas an«, wehrte ihre Mutter alle Fragen nach dem Inhalt sanft, aber bestimmt ab.

Die Kindheit ihrer Mutter lag ohnehin ziemlich im Dunkeln, fand Leo. Denn Phaedra war von ihrem fünften Lebensjahr an in einer Pflegefamilie aufgewachsen. Über ihre richtigen Eltern – also Leos Großeltern – und was mit ihnen passiert war, sprach Phaedra nie. Manchmal hatte sich Leo schon gefragt, ob ihre Mutter noch Erinnerungen an die Zeit vor der Pflegefamilie hatte, aber sie hatte Phaedras Schweigen immer respektiert. Sie hatte die entspannteste, freundlichste und geduldigste Mutter auf der ganzen Welt, um die sie alle ihre Freundinnen beneideten. Was wünschte sie sich mehr?

Auch die Großeltern väterlicherseits hatte Leo nie kennengelernt, sie waren vor ihrer Geburt gestorben. Von der Kindheit ihres Vaters wusste Leo deshalb ebenfalls nicht allzu viel. Aber er hatte ihr mal erzählt, dass er als kleiner Junge geschlafwandelt war. Vielleicht hatte Leo diese Eigenschaft geerbt und träumte deshalb so schlecht.

Wenn ihr Vater wieder mehr Zeit für sie hatte und ihre Albträume nicht von selbst verschwanden, würde sie ihn danach fragen, dachte sie und schaute gedankenverloren in die Ferne.

Inzwischen zeigte sich ein einzelner Stern am Himmel. Leo lächelte ihn an. Sein Licht hatte etwas Tröstliches.

Und plötzlich musste sie über sich selbst den Kopf schütteln. Obwohl sie fast elf war, benahm sie sich wie ein albernes Kleinkind.

Sie zwang sich, sich die Libelle noch einmal in Erinnerung zu rufen, aber sofort fröstelte es sie wieder. Egal. Sie musste nicht jedes Insekt mögen. Leo atmete tief ein und aus. Alles war gut. Die Libelle war fort.

Sie schaute auf ihre Uhr. Wenn sie sich jetzt zurück ins Bett legte, bekam sie noch ein paar Stunden Schlaf, bis sie aufstehen musste. Heute sollte die neue Mathelehrerin anfangen, da wollte sie einen guten Eindruck machen. Mathe war nicht gerade ihr Lieblingsfach und oft machte ihre Mutter heimlich die Hausaufgaben für Leo. Ohne dass es ihr Vater mitbekam, natürlich. Was Schule anging, verstand er keinen Spaß.

Weiter in Gedanken ließ Leo ihren Blick über die Sträucher und Bäume schweifen. Inzwischen konnte sie schon ihre Konturen erkennen und meinte, einen ersten Vogel zwitschern zu hören. Mit zusammengekniffenen Augen konnte sie sogar die gelben Früchte des Pflaumenbaums erkennen. Wie jedes Jahr würde ihre Mutter Pflaumenkuchen zu ihrem Geburtstag backen und ihre stadtberühmten Zitronentörtchen zaubern. Die waren so lecker, dass sogar der Konditor nach dem Rezept gefragt hatte. Vergeblich! Die Zitronentörtchen blieben Phaedras Geheimnis. Eine andere Sorte Geheimnis zwar als ihre Kindheit, aber trotzdem ein Geheimnis, dachte Leo verschmitzt. Plötzlich freute sie sich sehr auf ihren Geburtstag und darauf, endlich elf zu werden.

Sie warf einen letzten, befreiten Blick in den Garten und erschrak.

Hinter der Rotbuche, in deren Krone sich Leos altes Baumhaus befand, stand jemand und sah zu ihr herauf. Es war noch lange nicht hell genug, dass Leo die Gestalt gut erkennen konnte. Nur so viel war klar, es war eine Frau. Aber Leo war sicher, dass sie diese Person noch nie zuvor gesehen hatte.

Leos Herz klopfte.

Wer war das? Was machte die Frau um diese Uhrzeit in ihrem Garten?

Die Fremde trat zurück in die Dunkelheit und verschwand.

Es fuhr Leo heiß und kalt den Rücken herunter. Sie rieb sich die Augen – hatte sie sich die Silhouette nur eingebildet?

Sie schmetterte die Fensterflügel mit aller Kraft zu und warf sich auf ihr Bett, spürte, wie ihr plötzlich Tränen über die Wangen flossen.

»Verschwindet«, murmelte sie. »Lasst mich in Ruhe.« Sie zog die Decke über ihren Kopf und fiel in einen unruhigen morgendlichen Schlaf.

»Willst du heute gar nicht aufstehen, Leo?« Phaedra Blum stand in Leos Zimmer und zog die Bettdecke zur Seite.

»Mama«, sagte Leo verwundert und blinzelte ihre Mutter verschlafen an. »Wie spät ist es denn?« Sie guckte auf ihren Wecker. Schon nach sieben Uhr. »Ich glaube, mein Wecker hat nicht geklingelt«, gähnte sie.

Phaedra öffnete das Fenster und atmete die frische Morgenluft ein. »Frühstücke erst mal in Ruhe. Papa kann dich mit dem Auto mitnehmen, dann musst du nicht so hetzen.« Sie strich Leo über den Kopf. »Wieso hast du nachts das Fenster zu?«, fragte sie. »Ist total stickig hier drin. Du siehst ganz verknittert aus.«

Leo dachte an die merkwürdigen Ereignisse in der Nacht. Sollte sie ihrer Mutter davon erzählen? Oder hatte sie das alles doch nur geträumt? Sie zuckte mit den Achseln. »Insekten«, murmelte sie und schlüpfte ins Bad.

»In Leos Zimmer sind Mücken«, sagte Phaedra wenig später zu ihrem Mann, als alle am Frühstückstisch saßen. »Wir sollten Insektengitter anbringen, sonst kann sie das Fenster nachts nicht aufmachen.«

Philip schaute hinter seiner Zeitung hervor. »Bist du gestochen worden, Schatz?«, fragte er mitfühlend. »Du siehst aus, als hättest du kaum Schlaf bekommen.«

Leo runzelte die Stirn. »Ich hab keine Stiche. Wie kommst du darauf?« Sie schnappte sich die Milch und rührte sich ihr Müsli an.

»Ich sagte: Insekten, nicht: Stechmücken.« Leo begann, hastig zu essen.

»Kauen nicht vergessen«, ermahnte ihr Vater sie. »Die meisten Schüler, die mit Bauchschmerzen ins Sekretariat kommen, haben ihr Frühstück nicht richtig gekaut. Habe ich gestern in einer Fachzeitschrift gelesen. Und welche Insekten? Fliegen? Spinnen?«

Leo verdrehte die Augen. »Papa! Du musst nicht schon zum Frühstück den Lehrer raushängen lassen. Keine Spinnen, keine Fliegen. Eine riesige Libelle. Knallrot. Mit fiesen Augen. Richtig gruselig.«

Ihre Mutter strahlte. »Toll. Libellen im Garten. Das liegt bestimmt an der Wildwiesenmischung, die ich ausgesät habe.«

Leos Vater nickte. »Das kann ein Grund sein. Libellen sind leider sehr selten geworden und stehen deshalb unter Naturschutz. Gerade ihre Augen sind besonders spannend. Hast du gewusst, dass man diese Augen Komplexaugen nennt? Sie können bis zu 30 000 Einzelaugen, also einzelne Linsen, haben. Mit einem Wort: Libellen sehen dich immer und überall. Das liegt natürlich auch daran, dass sie ihren Kopf um 360 Grad drehen können.«

Leo hielt sich die Ohren zu. »Papaaa! Schluss jetzt. Genau deshalb fand ich die Libelle ja so eklig. Ich habe keine Lust auf Monster in meinem Zimmer.« Sie stand abrupt auf. »Du brauchst mich nicht mitzunehmen. Ist doch peinlich, wenn die Tochter vom Direktor auch noch vom Direktor zur Schule gefahren wird. Da komme ich lieber zu spät. Tschüss!« Sie verschwand aus der Küche, bevor jemand auf die Idee kam, ihr zu widersprechen.

»Mama, ich leih mir dein Fahrrad«, rief sie und nahm den Schlüssel vom Haken, ohne auf ein Okay zu warten.

Leo liebte das stahlblaue Rennrad ihrer Mutter. Im Vergleich dazu sah ihr eigenes aus wie ein klappriger Gaul. Und Phaedra erlaubte ihr sowieso immer, das Rennrad zu nehmen. Extrem cool.

Leo sprang auf das Rad und schoss ohne große Vorsicht hinaus auf die Straße. Um diese Zeit war in der kleinen Seitenstraße nie jemand unterwegs. Der Erste, der gegen zehn Uhr auftauchte, war der Briefträger. Heute war das anders. Erst als Leo bereits auf der Straße war, hörte sie ein sehr lautes Hupen. Im selben Augenblick sah sie von rechts ein Fahrrad auftauchen. In einer Hundertstelsekunde entschied Leo, dass Bremsen keinen Sinn hatte. Deshalb beschleunigte sie und verhinderte mit dieser waghalsigen Entscheidung einen Zusammenstoß mit dem anderen Rad. Erst danach bremste sie langsam ab. Sie spürte, wie ihr ganzer Körper unter Strom stand und wie gleichzeitig Wut in ihr aufstieg.

Auch der andere Fahrradfahrer hatte angehalten. Leo sprang aus dem Sattel, ließ Phaedras Rad achtlos zur Seite kippen und stürmte ärgerlich auf ihn zu. »Hast du keine Augen im Kopf?«, rief sie.

Der Junge musterte sie. »Kennst du keine Verkehrsregeln?«, fragte er dann, den Kopf zur Seite gelegt, und fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten: »Wer aus einer Hauseinfahrt kommt, muss den Fahrzeugen auf der Straße Vorfahrt gewähren.«

Leo stutzte. Der Junge hatte recht. Sie wusste selbst nicht, was in sie gefahren war und woher die große Wut so plötzlich kam.

»Aber ich fahre immer genau so und es kommt hier nie einer vorbei«, brach es trotzig aus ihr heraus.

Der Junge zuckte mit den Achseln. »Dein Glück, jedenfalls bisher. Heute hättest du fast Pech gehabt«, sagte er gelassen und betrachtete Phaedras Rennrad, dessen Blau im Sonnenlicht blitzte und funkelte. Der Junge pfiff durch die Zähne. »Ui, ein Pegasus. Nicht schlecht. Wäre wirklich schade um das schöne Fahrrad gewesen.«

Der Junge hatte ja die Ruhe weg, was Leo noch mehr aufbrachte. »Nicht nur um das Rad«, sagte sie knapp. »Auch um mich.«

Der Junge runzelte die Stirn. »Das kann ich nicht beurteilen. Dich kenne ich ja nicht. Das Fahrrad hingegen schon, also, ich meine die Marke.«

Leo schnappte empört nach Luft. »Du bist ja sehr freundlich«, sagte sie und bewegte sich zu ihrem Fahrrad. »Ach, und noch was. Deine Hupe klingt wirklich super scheiße.«

Der Junge lächelte. »Vielen Dank, das soll sie auch. Damit man sie nicht überhört. Hat ja funktioniert bei dir.« Er hob die Hand. »Man sieht sich. Ach, und nur damit du es weißt: Ich fahre jetzt jeden Morgen hier vorbei. Falls du wieder mit Karacho von zu Hause flüchtest.« Er sprang auf den Sattel und fuhr davon, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.

Leo sah ihm sprachlos hinterher. Was war denn das gewesen? Eigentlich war er bestimmt ganz nett, aber sie hatte plötzlich diese Wut gespürt und die Worte waren einfach so aus ihr herausgesprudelt. Sie hatte schlecht geschlafen und die Libelle spukte noch immer in ihrem Kopf herum. Das war wahrscheinlich der Grund.

Erst als der Junge verschwunden war, hob sie ihr Fahrrad auf. Im selben Moment fuhr ihr Vater aus der Garage. »Leo«, rief er. »Du bist ja noch hier. Willst du doch mit?«

Leo schüttelte verlegen den Kopf. »Alles gut, Papa!«

Die Oberste war zufrieden. Der Rat der Weisen hatte ihren Vorschlag einstimmig beschlossen. Nun gab es keine Zeit mehr zu verlieren. Es war schon alles in die Wege geleitet in der Menschenwelt. Denn dort befand sich die einzige Hoffnung für das Feenreich: Rosatas Tochter.

Noch als sie ein kleines Kind war, war Rosata mit ihr in die Menschenwelt geflohen. Rosata hatte ihre gerechte Strafe dafür bekommen, nun war sie tot. Und ihre Tochter war dazu auserwählt, die nächste böse Fee zu werden. Und sie würde, sie musste ins Feenreich zurückkehren.

Die Oberste hatte Rosatas Tochter aus der Ferne beobachtet und war erzürnt darüber, dass sie ihre besonderen Kräfte durch ihre Heirat mit einem Menschen verschwendete. Sogar ein Kind hatte sie bekommen. Die Erinnerung an ihre wahre Herkunft schien bereits vollständig verblasst. Doch nun würden die Menschen, die sie umgaben, dabei helfen, sie in die Feenwelt zurückzubringen – ohne es zu ahnen. Wie leicht konnte man ihnen Gedanken einflüstern. Der Junge würde den Stein ins Rollen bringen. Der Anfang war bereits getan.

Außerdem würde die Oberste das Kind der Erbin beobachten. Vielleicht trug es die Kräfte der bösen Fee ebenfalls in sich und konnte dem Feenreich nützlich sein.

Plötzlich nahm die Oberste ein Geräusch wahr. Jäh drehte sie sich um und entdeckte ihre Tochter. Sie unterdrückte ein verärgertes Stirnrunzeln. »Was willst du, Alicia?«, fragte die Oberste unwillig.

Alicia schaute die Oberste an. »Warum muss ausgerechnet SIE das Gleichgewicht wiederherstellen?«, fragte sie zornig.

Die Oberste blickte kalt zurück. Sie kannte ihre jüngste Tochter, die zugleich ihre begabteste Schülerin war, sie kannte ihre Gedanken, ihre Sehnsüchte, ihre Wünsche.

»Das kannst du dir nicht selbst beantworten?«, stellte sie die Gegenfrage, und bevor Alicia sich eine Entgegnung zurechtlegen konnte, fuhr sie fort: »Weil es schon immer so war. Die alten Bücher schreiben es uns vor. Warum sollten wir irgendetwas ändern? Sie und ihr Kind sind Rosatas Erben. Sie besitzen die Gaben, die für diese Aufgabe nötig sind. In ihnen fließt das Blut der bösen Fee.«

»Sie hat ein Kind?«, fragte Alicia erstaunt. »Sie wird nicht kommen. Ich weiß es. Und ich will es auch nicht.« Den letzten Satz flüsterte sie fast. Er war zu ungeheuerlich.

Die Oberste stockte. »Wer sagt, dass sie nicht kommt?«

Alicia ließ ein paar Atemzüge verstreichen. »Selina wird es verhindern«, flüsterte sie. »Ich habe sie im Traum gesehen. Sie ist in der Nähe der …« Alicia konnte sich nicht überwinden, ihren Namen auszusprechen. Sie hasste sie so sehr.

»In der Nähe der Erbin?« Die Oberste erschrak, aber nur innerlich. Ihre Stimme blieb klar und ruhig. »Selina? Unmöglich. Was hat Selina noch mit den Geschäften der Feenwelt zu schaffen?«

»Selina wird es verhindern«, bekräftigte Alicia. »Ich weiß es. Sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Sie drehte sich um und verwandelte sich vor den Augen der Obersten in einen Schauer Regentropfen.

Die Neue

Leo kam sieben Minuten zu spät ins Klassenzimmer.

»Da bist du ja endlich«, begrüßte sie Sofie und klatschte ihr unsanft, aber herzlich auf den Rücken. »Ich hab schon gedacht, du kneifst heute.«

Leo schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht«, antwortete sie. »Ich lass mir doch die neue Lehrerin nicht entgehen. Ich hatte Stress mit Mamas Fahrrad.« Sie winkte ab, als sie Sofies fragenden Blick sah. »Unwichtig. Zum Glück scheint unsere neue Lehrerin ja auch zu spät zu sein.«

Draußen hupte jemand. Leo zuckte zusammen.

»Was ist los?«, fragte Sofie.

»Die Hupe«, murmelte Leo.

Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. So ein seltsamer Morgen. Auf ihrer Haut kribbelte es, als würden Ameisen darüber laufen. Sie holte ihre Wasserflasche hervor und nahm einen tiefen Schluck.

»Ah«, stöhnte sie. Sie trank noch mal und steckte die Flasche wieder weg.

»Was ist denn los mit dir?«, wiederholte Sofie. Gerade als Leo überlegte, ihrer Freundin von der unheimlichen Begegnung mit der Libelle zu erzählen, fuhr Sofie fort: »Bist du schon aufgeregt wegen deines Geburtstags? Ich hab übrigens meine Eltern gefragt: Ich darf bei dir übernachten.«

Leo drehte erfreut den Daumen hoch. »Super. Wenn es so warm bleibt, können wir im Baumhaus schlafen.«

Tabea, die hinter ihnen saß, tippte Leo auf die Schulter. »Ich darf natürlich auch«, sagte sie. »Seit meine Eltern sich scheiden lassen, sind sie froh, wenn ich nicht zu Hause bin. Dann können sie sich anschreien, ohne Rücksicht auf mich nehmen zu müssen.«

Leo drehte sich um. »Sie lassen sich also wirklich scheiden? Wie mies.« Mitfühlend sah sie Tabea an. »Das würde meinen Eltern niemals passieren.«

Tabea zuckte mit den Achseln. »Das kannst du nicht wissen. Vielleicht haben deine Eltern auch Geheimnisse, von denen du nur nichts mitgekriegt hast.«

Leo lachte. »Garantiert nicht. Geheimnisse? Meine Eltern? Welche sollen das denn sein? Die beiden sind so was von stinknormal. Wenn mein Vater versucht zu lügen, wird er knallrot.« Sie schüttelte den Kopf.

»Sei dir nicht zu sicher«, widersprach Tabea. »Ich habe auch immer gedacht, meine Eltern sind todlangweilig.«

In diesem Moment öffnete sich die Klassentür und Direktor Blum kam herein, mit einer unbekannten Frau. Tabea guckte auf ihre Uhr und rief: »14 Minuten und zwei Sekunden zu spät, Herr Blum. Hoffentlich haben Sie eine gute Notlüge. Leo behauptet, Sie können gar nicht lügen.«

Leos Vater lachte und zwinkerte Tabea zu. »Meine Notlüge, die gleichzeitig die Wahrheit ist, lautet: Frau Pfeiffer und ich haben Kaffee getrunken und uns ein bisschen verquatscht.«

Er wandte sich der Lehrerin zu. »Darf ich Ihnen Ihre Klasse vorstellen, liebe Frau Pfeiffer, die 6a. – Liebe Kinder, das ist Frau Pfeiffer, eure neue Mathelehrerin.«

Frau Pfeiffer verbeugte sich lächelnd. »Vielen Dank, Herr Blum, hallo, Kinder. Ich sage euch gleich, ich bin verrückt nach Zahlen und hoffe, dass ich euch mit dieser Macke anstecken kann. Kaffee habe ich nicht für euch, aber ich spendiere ein Eis in der Pause. Wir treffen uns am Schulkiosk.« Die 6a klatschte begeistert und trampelte laut mit den Füßen.

Sofie strahlte Leo von der Seite an. »Scheint ganz okay zu sein, die Neue. Und auch nicht so uralt wie die anderen Lehrer, also außer deinem Vater natürlich.«

Leo antwortete nicht. Sie saß wie schockgefroren da und starrte ihre neue Lehrerin an.

»Leo? Alles okay bei dir? Du bist ja ganz blass.« Sofie drehte sich zu Tabea um. »Guck mal, Tabbi, was ist denn mit Leo los? Ich glaube, die kippt gleich aus den Latschen.«

Leo war eiskalt. Sie hatte Gänsehaut vom kleinen Zeh bis zur Kopfhaut.

Sie hatte Frau Pfeiffer schon einmal gesehen, und zwar erst vor einigen Stunden. Sie war sich zu hundert Prozent sicher. Was hatte ihre neue Mathelehrerin mitten in der Nacht in ihrem Garten gesucht?

Leo sprach in der ganzen Stunde nur ein einziges Wort. Als Frau Pfeiffer die Schüler anhand der Klassenbuchliste aufrief, sagte sie bei ihrem Namen hier. Sofie und Tabea fragten ein paarmal, was los war, aber Leo schüttelte nur den Kopf. Dann wechselten die beiden einen Blick, zuckten mit den Schultern und ließen Leo in Ruhe.