Feiertagskinder - Späte Romane - Eduard Keyserling - E-Book

Feiertagskinder - Späte Romane E-Book

Eduard Keyserling

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

«Wer Keyserling liest, geht in Ferien.» Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung

Längst ist Eduard von Keyserling in aller Munde – als bemerkenswerteste Wiederentdeckung der modernen deutschsprachigen Literatur. Keiner beschreibt das Farbenspiel der Natur sinnlicher, suggestiver, keiner geht jedoch auch raffinierter mit seinen Figuren ins Gericht. Die Renaissance des genialen Seelenzeichners und Stimmungskünstlers verdankt sich ganz entscheidend dem Engagement des Manesse Verlags, zuletzt mit «Landpartie», dem vielbeachteten Jubiläumsband 2018. Nach den gesammelten Erzählungen folgt nun der nächste Streich: die späten Romane in einer umfassend kommentierten Edition. Sie enthält die glänzenden Höhepunkte aus dem letzten Lebensjahrzehnt Keyserlings, neben «Wellen» (1911) noch «Abendliche Häuser» (1914), «Fürstinnen» (1917) und «Feiertagskinder» (1918/19).

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1114

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eduard von Keyserling

Feiertagskinder

Späte Romane

Herausgegeben und kommentiert von Horst Lauinger

Nachwort von Daniela Strigl

MANESSE

Eduard von Keyserling

Schwabinger Ausgabe

Inhalt

Wellen (1911)Abendliche Häuser (1914)Fürstinnen (1916)Feiertagskinder (1919)KommentarDie Erlebnisse der anderen. NachwortKeyserling-Porträts in Bild und WortZeittafelEditorische Notiz
Zitierte & konsultierte LiteraturCopyright

Wellen

MottoVous êtes tous les deux ténébreux et discrets: Homme, nul n’a sondé le fond de tes abîmes, Ô mer, nul ne connaît tes richesses intimes, Tant vous êtes jaloux de garder vos secrets. Baudelaire.

Erstes Kapitel

Die Generalin von Palikow und Fräulein Malwine Bork, ihre langjährige Gesellschafterin und Freundin, kamen in das Wohnzimmer. Sie wollten sich ein wenig erholen. Die Generalin setzte sich auf das Sofa, das frisch mit einem blanken schwarz und roten Kattun bezogen war. Sie war sehr erhitzt und löste die Haubenbänder unterm Kinn. Das lila Sommerkleid knisterte leicht, die weißen Haarkuchen an den Schläfen waren verschoben, und sie atmete stark. Sie schwieg eine Weile und schaute mit den ein wenig hervorstehenden grellblauen Augen kritisch im Zimmer umher. Das Zimmer war weiß getüncht, wenig schwere Möbel standen an den Wänden umher, und über die Bretter des Fußbodens war Sand gestreut, der in der Abendsonne glitzerte. Es roch hier nach Kalk und Seemoos.

«Hart», sagte die Generalin und legte ihre Hand auf das Sofa.

Fräulein Bork neigte den Kopf mit dem leicht ergrauten Haar auf die linke Schulter, blickte schief durch die Gläser ihres Kneifers auf die Generalin und das bräunliche Gesicht, das aussah wie das Gesicht eines klugen älteren Herrn, lächelte ein nachdenkliches, verzeihendes Lächeln. «Das Sofa», sagte sie, «natürlich, aber man kann es nicht anders verlangen. Für die Verhältnisse ist es doch sehr gut.»

«Liebe Malwine», meinte die Generalin, «Sie haben die Angewohnheit alles gegen mich zu verteidigen. Ich greife das Sofa gar nicht an, ich sage nur, es ist hart, das wird man doch noch dürfen.»

Fräulein Bork erwiderte darauf nichts, sie lächelte ihr verzeihendes Lächeln und schaute schief durch ihren Kneifer jetzt zum Fenster hinaus auf den kleinen Garten, der davor lag. Salat und Kohl wuchsen dort recht kümmerlich, Sonnenblumen standen da mit großen schwarzen Herzen, und über alledem lag ein leichter blonder Staubschleier. Dahinter der Strand grell orange in der Abendsonne, endlich das Meer undeutlich von all dem unruhigen Glanze, der auf ihm schwamm, von den zwei regelmäßigen weißen Strichen der Brandungswellen umsäumt. Und ein Rauschen kam herüber, eintönig, wie von einem schläfrigen Taktstock geleitet.

Die Generalin hatte den Bullenkrug für den Sommer gemietet, um hier an der See ihre Familie um sich zu versammeln. Vor drei Tagen war sie mit Fräulein Bork, Frau Klincke, der Mamsell, und Ernestine, dem kleinen Dienstmädchen, hier angelangt, um alles einzurichten. Es erforderte Arbeit und Nachdenken genug für alle diese Menschen Platz zu schaffen und nicht nur Platz, «denn», pflegte die Generalin zu sagen, «ich kenne meine Kinder, bei allem, was ich gebe, sind sie kritisch wie ein Theaterpublikum». Heute nun war die Tochter der Generalin, die Baronin von Buttlär, mit den Kindern, den beiden eben erwachsenen Mädchen Lolo und Nini und dem fünfzehnjährigen Wedig, angelangt. Der Baron Buttlär sollte nachkommen, sobald die Heuernte beendet war, und Lolos Bräutigam Hilmar von dem Hamm, Leutnant bei den Braunschweiger Husaren, wurde auch erwartet.

«Werden sie auch heute Abend alle satt werden?», begann die Generalin wieder; «die Reise macht hungrig.»

«Ich denke», erwiderte Fräulein Bork, «da sind die Fische, die Kartoffeln, die Erdbeeren, und Wedig hat sein Beefsteak.»

«So, so», meinte die Generalin, «übrigens der Junge wird es im Leben nicht leicht haben, wenn er immer sein Beefsteak haben muss.»

Fräulein Bork zuckte mit den Achseln und sagte entschuldigend: «Er ist so zart.»

Aber das ärgerte die Generalin: «Gewiss, ich gönne ihm sein Beefsteak, Sie brauchen ihn nicht zu verteidigen. Nur finde ich, liebe Malwine, dass Sie keinen rechten Sinn haben für das, was man allgemeine Bemerkungen nennt.» Dann schwiegen die beiden Damen wieder.

Draußen von der Holzveranda tönte Lärm herüber, Tellergeklapper und hohe Stimmen. Ernestine deckte dort den Tisch für das Abendessen und stritt dabei mit Wedig. Auch Lolo und Nini waren erschienen, sie lehnten an der Holzbrüstung der Veranda schmal und schlank in ihren blauen Sommerkleidern. Der Seewind fuhr ihnen in das leichte rote Haar und ließ es hübsch um die Gesichter mit den fast krankhaft feinen Zügen flattern. Die Mädchen zogen ein wenig die Augenbrauen zusammen und schauten mit den blanken braunroten Augen unverwandt auf das Meer und öffneten die Lippen, als wollten sie lächeln, aber das große bewegte Leuchten vor ihnen machte sie schwindelig. Auch Wedig hatte sich nun zu ihnen gesellt und schaute auch schweigend hinaus. Das kränkliche Knabengesicht verzog sich, als täte all dieses Licht ihm weh.

«So», sagte die Generalin drinnen zu Fräulein Bork, «das war ein angenehmer stiller Augenblick. Ich höre, meine Tochter kommt die Treppen herunter, nun kann es wieder losgehen.»

Frau von Buttlär hatte ein wenig geschlafen, trug ihren Morgenrock und hüllte sich fröstelnd in ein wollenes Tuch. Sie mochte früher das hübsche überzarte Gesicht ihrer Töchter gehabt haben, jetzt waren die Wangen eingefallen und die Haut leicht vergilbt. Aufgebraucht von Mutterschaft und Hausfrauentum war sie sich ihres Rechtes bewusst, kränklich zu sein und nicht mehr viel auf ihr Äußeres zu geben.

Man setzte sich auf der Veranda zur Abendmahlzeit nieder an den Tisch, über den das rote Abendlicht hinflutete und der Seewind an dem Tischtuch und den Servietten zerrte. Das machte die Gesellschaft schweigsam, so das Meer vor sich, war es, als sei man nicht allein, nicht unter sich.

«Ich habe mir das Meer größer gedacht», erklärte Wedig endlich.

«Natürlich, mein Sohn», meinte die Generalin. «Du willst wohl für dich ein Extra-Meer.»

Frau von Buttlär lächelte gerührt und sagte leise: «Er hat so viel Phantasie.»

Fräulein Bork sah Wedig schief durch ihren Kneifer an und meinte: «An die Phantasie des Kindes reicht selbst das Weltmeer nicht hinan.»

Nun begann Frau von Buttlär mit ihrer Mutter ein Gespräch über Repenow, ihr Gut, über Dinge, die sie anzuordnen vergessen hatte, von Gemüsen, die eingemacht werden sollten, und Dienstboten, die unzuverlässig waren, lauter Sachen, die seltsam fremd und unpassend in das Rauschen des Meeres hineinklangen, dachte Lolo. Aber unten am Tisch war ein Streit entstanden zwischen Wedig und Ernestine. «Ernestine», sagte Fräulein Bork streng, «wie oft habe ich es dir nicht gesagt, du darfst beim Servieren nicht sprechen. Oh! cet enfant!», setzte sie hinzu und seufzte.

Die Generalin lachte. «Ja, unsere Bork hat es mit Ernestinens Erziehung schwer, denkt euch, heute Mittag entschließt sich das Mädchen zu baden. Sie geht ins Meer nackt wie ein Finger, am hellen Mittag.»

«Aber Mama!», flüsterte Frau von Buttlär, die Mädchen beugten sich auf ihre Teller nieder, während Wedig nachdenklich Ernestine nachschaute, die kichernd verschwand.

Das Abendlicht legte sich jetzt plötzlich ganz grellrot und unwahrscheinlich über den Tisch, und Fräulein Bork schrie auf: «Seht doch!» Alle fuhren mit den Köpfen herum. An dem blassblauen Himmel standen riesige kupferrote Wolken, und auf dem dunkelwerdenden Meer schwamm es wie große Stücke rotglänzenden Metalls, während die am Ufer zergehenden Wellen den Sand wie mit rosa Musselintüchern überdeckten.

Wedig blinzelte mit den roten Wimpern und verzog wieder sein Gesicht, als schmerzte es ihn. «Das ist allerdings rot», meinte er.

Die Generalin jedoch war unzufrieden: «Sie haben mich erschreckt, Malwine, Sie haben eine Art auf Naturschönheiten aufmerksam zu machen, dass man jedes Mal zusammenfährt und glaubt, eine Wespe sitze einem irgendwo im Gesicht.»

Die Mahlzeit war zu Ende, die Mädchen und Wedig stellten sich an die Verandabrüstung, um auf das Meer zu starren. Frau von Buttlär hüllte sich fester in ihr Tuch und sprach mit leiser besorgter Stimme von ihren häuslichen Angelegenheiten.

Die gewaltsamen Farben am Himmel erloschen jäh. Die farblose Durchsichtigkeit der Sommerdämmerung legte sich über das Land, und das Meer, jetzt lichtlos, schien plötzlich unendlich groß und fremd. Auch das Rauschen war nicht mehr so geordnet eintönig und taktmäßig, es war, als ließen sich die einzelnen Wellenstimmen unterscheiden, wie sie einander riefen und sich in das Wort fielen. Klein und dunkel hockten die Fischerhäuser auf den fahlen Dünen, hie und da erwachte in ihnen ein gelbes Lichtpünktchen, das kurzsichtig in die aufsteigende Nacht hineinblinzelte. Auf der Veranda war es still geworden. Das seltsame Gefühl, ganz winzig inmitten einer Unendlichkeit zu stehen, gab einem jeden für einen Augenblick einen leichten Schwindel und ließ ihn stillehalten, wie Menschen, die zu fallen fürchten.

«Wer wohnt denn dort?», begann Frau von Buttlär endlich und wies auf eines der Lichtpünktchen am Strande.

«Das dort», erwiderte die Generalin, «das ist das Haus des Strandwächters. Eine verwachsene Exzellenz hat sich bei ihm eingemietet. Du kennst ihn auch, den Geheimrat Knospelius, er ist bei der Reichsbank etwas, er unterschreibt, glaube ich, das Papiergeld.»

Ja, Frau von Buttlär erinnerte sich seiner: «So ein Kleiner mit einem Buckel. Recht unheimlich.»

«Aber so interessant», meinte Fräulein Bork.

«Und die anderen Häuser?», fragte Frau von Buttlär weiter.

«Das sind Fischerhäuser», erklärte Fräulein Bork, «das größte dort ist das Anwesen des Fischers Wardein, und dort, ja dort wohnt sie doch.»

«Sie?», fragte Frau von Buttlär, beunruhigt davon, dass Fräulein Bork ihre Stimme so geheimnisvoll dämpfte.

«Nun ja», flüsterte Fräulein Bork, «sie, die Gräfin Doralice, Doralice Köhne-Jasky, die wohnt dort mit – nun ja, sagen wir mit ihrem Manne.» Frau von Buttlär verstand noch nicht ganz.

«Doralice Köhne, die Frau des Gesandten, das ist doch die, die mit dem Maler – die wohnt hier, das ist ja aber schrecklich, man kennt sich doch.»

Doch die Generalin ärgerte sich: «Was ist dabei Schreckliches, man hat sich gekannt, man kennt sich nicht mehr. Der Strand ist breit genug, um aneinander vorüberzugehen, eine fremde Frau Grill, nichts weiter. Ihr Maler heißt ja wohl Hans Grill.»

«Sind sie wenigstens verheiratet?», klagte Frau von Buttlär.

«Ja, sie sagen, ich weiß es nicht», meinte die Generalin, «das ist auch gleich. Sie wird das Meer nicht unrein machen, wenn sie darin badet. Es ist kein Grund, liebe Bella, ein Gesicht zu machen, als seiest du und deine Kinder nun verloren.»

«Und er ist ein ganz gewöhnlicher Mensch», jammerte Frau von Buttlär weiter.

«Ja», sagte Fräulein Bork, sie sprach noch immer leise, aber ihre Stimme nahm einen zärtlichen, feierlichen Klang an, als rezitiere sie ein Gedicht: «es ist traurig und doch wieder in seiner Art schön, wie der alte Graf das Talent des armen Schulmeistersohnes entdeckt, er ihn ausbilden lässt, wie er ihn auf das Schloss beruft, damit er die junge Gräfin malt, ja und dort – müssen sie sich eben lieben, was können sie dafür. Aber sie wollen nicht die Heimlichkeit und den Betrug. Sie treten zusammen vor den alten Grafen hin und sagen: ‹wir lieben uns, wir können nicht anders, gib uns frei›, und er, der edle Greis – –»

«Der alte Narr», unterbrach sie die Generalin. «Wer sagt Ihnen denn, dass es so gewesen ist, wer ist denn dabei gewesen? Wahrscheinlich sind nicht die beiden zu dem Alten gekommen, sondern der Alte ist zu den beiden hereingekommen, das sieht denn anders aus. Köhne war immer ein Narr. Wenn man dreißig Jahre älter als seine Frau ist, lässt man seine Frau nicht malen und spielt man nicht den Kunstfreund. Und diese Doralice, ich habe ihre Mutter gekannt, eine dumme Gans, die nichts zu tun hatte im Leben, als Migräne zu haben und zu sagen: ‹meine Doralice ist so eigentümlich!› Ja, eigentümlich ist sie geworden, gleichviel, da ist nichts, um die Augen gen Himmel zu schlagen und zu sagen: ‹wie schön!› Lassen Sie die Grill Grill sein, liebe Malwine, wenn Sie sie mit Ihren Phantasien zur Heldin des Strandes machen, verdrehen Sie den Kindern den Kopf. Ernestine läuft ohnehin alle Augenblicke zum Strande hinunter, um die fortgelaufene Gräfin zu sehen, das verbitte ich mir. Seien Sie so gut und halten Sie mit Ihrer Poesie an sich.»

«Schrecklich, schrecklich», seufzte Frau von Buttlär. Fräulein Bork aber schien das Schelten der Generalin nicht zu hören, verträumt schaute sie in die Dämmerung hinein, sah, wie die Dämmerung sich sachte aufhellte, der Mond war aufgegangen, Silber mischte sich in das Dunkel der Wellen, und der Strand lag hell beleuchtet da.

«Da sind sie!», schrie Fräulein Bork auf.

Erschrocken fuhren alle herum. Am Rande der Düne zeichneten sich gegen den hellen Himmel deutlich die Figuren eines großen Mannes und einer Frau ganz nahe beieinander ab. «Dort stehen sie jeden Abend», flüsterte Fräulein Bork geheimnisvoll.

Frau von Buttlär starrte angstvoll zu dem Paare auf der Düne hinüber, dann rief sie erregt: «Kinder, ihr seid noch da, warum geht ihr nicht schlafen? Ihr seid müde, nein, nein, geht, gute Nacht», und beruhigte sich erst, als die Kinder fort waren. Da sah sie sich noch einmal das Paar an da drüben, das jetzt eng aneinandergeschmiegt den Strand entlangging, seufzte tief und sagte kummervoll: «Das ist allerdings unerwartet, unerwartet fatal. Wenn ich mich auf etwas freue, kommt immer so etwas dazwischen. Schon der Kinder wegen ist es mir unangenehm.»

«Ich weiß, ich weiß», meinte die Generalin. «Du musst immer etwas haben, das dich quält, sonst ist dir nicht wohl. Schon als kleines Mädchen, wenn alles sich auf einen Spaziergang freute, sagtest du: ‹Was hilft es, es werden doch Steinchen in die Schuhe kommen.› Unsre Mädchen! Die haben genug Disziplin im Leibe. Sag ihnen, da ist eine Frau Grill, die nicht gekannt wird, und ich sehe es, wie Lolo und Nini die Lippen zusammenkneifen und gerade vor sich hin sehen, wenn sie an Madame Grill vorübergehen.»

«Ja und dann», begann Frau von Buttlär wieder leise, «offen gestanden, es ist auch wegen Rolf. Die Person ist sehr hübsch, solche Personen sind immer hübsch und Rolf, du weißt – –»

Die Generalin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: «Natürlich, das musste kommen, du bist jetzt schon auf Madame Grill eifersüchtig. Aber liebe Bella, so ist dein Mann denn doch nicht. Na ja, immer die eine alte Geschichte mit der Gouvernante, die könntest du auch vergessen. Ab und zu mal im Frühjahr regt sich in ihm noch der Kürassieroffizier, das ist eine Art Heuschnupfen. Aber ihr Frauen bringt durch eure Eifersucht die Männer erst auf unnütze Gedanken. Nein, liebe Bella, wozu ist man, was man ist, wozu hat man seine gesellschaftliche Stellung und seinen alten Namen, wenn man sich vor jeder fortgelaufenen kleinen Frau fürchten sollte. Du bist die Freifrau von Buttlär, nicht wahr, und ich bin die Generalin von Palikow, nun also, das heißt, wir beide sind zwei Festungen, zu denen Leute, die nicht zu uns gehören, keinen Zutritt haben; so, nun wollen wir ruhig schlafen gehen, als gäbe es keine Madame Grill. Wir dekretieren einfach, es gibt keine Madame Grill.»

Alle erhoben sich, um in das Haus zu gehen. Fräulein Bork warf noch einen Blick zum Meer hinab und sagte in ihrem mitleidig singenden Ton: «Die Gräfin Doralice war einst auch einmal solch eine arme kleine Festung.»

Die Generalin wandte sich in der Tür um: «Bitte, Malwine, meine Vergleiche nicht mit Ihrer Poesie zu umspinnen, dazu mache ich sie nicht. Und dann noch eines, ich bitte, ferner Madame Grill nicht zum Gegenstand Ihres Verteidigungstalentes zu machen, Madame Grill wird nicht verteidigt.»

Oben im Giebelzimmer, in dem Lolo und Nini schliefen, standen die beiden Mädchen noch am Fenster und schauten hinaus. Das mondbeglänzte Meer, das Rauschen und Wehen da draußen ließ ihnen keine Ruhe, es erregte sie fast schmerzhaft, und das Paar, das dort unten an den blanken Säulen der brechenden Wellen hinschritt, gehörte mit zu dem Erregenden und Geheimnisvollen da draußen, das den beiden Mädchen ein seltsames Fieber in das Blut legte.

Unten auf der Bank vor der Küche saß Frau Klincke und kühlte im Seewinde ihre heißen Köchinnenhände. Vor ihr stand Ernestine, wies zum Strande hinunter und sagte: «Nee, Frau Klincke, dass die beiden verheiratet sind, das glaube ich nicht.»

Hans Grill und Doralice gingen am Meeresufer entlang. Es ging sich gut auf dem feuchten, von den Wellen glattgestrichenen Sande. Zuweilen blieben sie stehen und schauten auf den breiten, sich sachte wiegenden Lichtweg hinab, den der Mond auf das Wasser warf.

«Nichts, heute nichts», sagte Hans und machte eine Handbewegung, als wollte er das Meer beiseiteschieben. «Es ziert sich heute, es macht sich klein und süß, um zu gefallen.»

«So lass es doch», bat Doralice.

«Ja, ja, ich lasse es ja», erwiderte Hans ungeduldig.

Als sie weiter schritten, hing Doralice sich ganz fest in Hans’ Arm. Sie konnte sich ja gehen lassen, dieser Arm war stark, und sie dachte flüchtig an einen anderen zerbrechlichen und zeremoniösen Arm, der ihr feierlich gereicht worden war und auf den sich zu stützen sie nie gewagt hatte.

«Du bist müde?», fragte Hans.

«Ja», erwiderte sie nachdenklich, «diese langen hellen Tage, glaube ich, machen müde.»

«Viel haben wir an diesen langen hellen Tagen nicht getan», bemerkte Hans.

«Getan», fuhr Doralice fort, «nichts. Im Sande gelegen und auf das Meer gesehen. Aber gleichviel, ich konnte doch alles Mögliche tun, Dinge, die ich sonst nie getan, unerhörte Dinge, nichts hindert mich. Auf der Reise war das anders, da tut man die Dinge, die im Reisebuch vorgeschrieben sind, aber hier muss das Neue kommen, und das macht vielleicht müde.»

«Gewiss, gewiss», begann Hans in seiner eifrigen Art, «Möglichkeiten, natürlich Möglichkeiten, das ist es, was der freie Mensch hat, es ist gleich, ob er etwas tut, aber nichts zwingt ihn, nichts schiebt ihn, nichts bindet ihn, was er tut und nicht tut, tut er auf eigene Verantwortung, und das kann müde machen, o ja, das kann müde machen», und Hans lachte ein lautes Ha! Ha! auf das Meer hinaus, «freie Menschen, freie Liebe, denn das ist ja gleich, ob ein alter Engländer aus London uns durch die Nase etwas gesagt hat, was wir nicht verstanden haben, das bindet nicht. Also freie Menschen, freie Liebe, freie –» Er hielt plötzlich inne und fragte: «Warum lachst du?»

Doralice hatte ihren Kopf zurückgebogen, um zu Hans hinaufzusehen, und sie lachte. Die schmalen, sehr roten Linien der Lippen öffneten sich ein wenig, ließen im Mondschein für einen Augenblick das Weiß der kleinen Zähne durchschimmern. So hell beschienen war das Gesicht sehr hübsch mit seinem kindlichen Oval, den graublauen Augen, in die das Mondlicht ein seltsam farbiges Schillern legte, und dem hellblonden Haar, an dem der Wind zauste. Ja, Doralice musste immer lachen, wenn Hans seine großen Worte hersagte, jene Worte, die klangen, als hätten sie in Zeitungen oder langweiligen Büchern gestanden, aber wenn Hans sie aussprach, bekamen sie etwas Junges, etwas Lebendiges, sie klangen, als schmeckten sie ihm gut, wenn er sie so zwischen seinen gesunden weißen Zähnen hervorzischte.

«O nichts», sagte Doralice, «sprich nur weiter von deinen freien Menschen.» Allein Hans war empfindlich geworden: «Meine freien Menschen, da ist doch nichts zu lachen», dann schwieg er.

«Du hast ja ganz recht», meinte Doralice, um ihn zu versöhnen, «vielleicht macht das müde, wenn nichts einen bindet. Bei uns auf dem Lande dort bei der Roggenernte gehen hinter den Mähern Mädchen her, welche die Ähren zu Garben binden. Das ist sehr anstrengend. Um weniger zu ermüden, binden sie sich Tücher ganz fest um die Taille. So war es vielleicht dort, und jetzt, wo mich nichts festbindet –.»

«Unsinn», unterbrach sie Hans, «ich sehe nicht ein, warum du deine Vergleiche von dort hernimmst, von dort sprechen wir doch nicht.»

«Nein, von dort sprechen wir nicht», wiederholte Doralice.

Sie kamen am Strandwächterhäuschen vorüber. Durch das geöffnete Fenster scholl eine laute Männerstimme, und ihr antwortete eine Frauenstimme leidenschaftlich und scheltend. Unten am Strande stand der Geheimrat Knospelius, eine kleine wunderlich verbogene Gestalt, er stand so nah am Wasser, dass sein unförmlicher Schatten sich in den Wellen badete. Als Hans und Doralice sich näherten, grüßte er, zog seinen Panama sehr tief ab, das graue Haar flatterte im Winde, er lächelte, und das regelmäßige bartlose Gesicht sah aus wie ein großes bleiches Knabengesicht.

«Guten Abend», sagte Hans.

Der Geheimrat lachte lautlos in sich hinein und zeigte mit einem merkwürdig langen dünnen Finger zum Hause des Strandwächters hinauf.

«Die streiten wieder», bemerkte Hans.

«Dort ist immer reger Betrieb», erwiderte der Geheimrat geheimnisvoll, «die arbeiten am Leben, bis ihnen die Augen zufallen. So was höre ich gern.»

«Ja, hm!», sagte Hans, «guten Abend», und sie gingen weiter.

«Was sagte er?», fragte Doralice ängstlich.

Hans zuckte die Achseln. «Verrückt wahrscheinlich. Solche kleinen Ungetüme sind gewöhnlich ein wenig verrückt. Kennst du ihn denn?»

Doralice dachte nach. «Gewiss, ich kenne ihn. Ich erinnere mich, auf einer großen Gesellschaft war es, es war spät, alle waren müde und warteten auf die Wagen. Da saß plötzlich dieser kleine Mann neben mir. Seine Füße reichten nicht an den Fußboden, sondern hingen wie bei Kindern frei vom Stuhle herunter. Er sah mir ganz frech in die Augen, wie man das sonst nicht tut, und sagte: ‹Es fällt mir auf, Frau Gräfin, dass jetzt, wo alle schon schläfrig sind, Ihre Augen noch so wach sind, die warten noch.› Ich machte wohl ein sehr dummes Gesicht und fragte: ‹Worauf?› Da lachte er ganz so, wie er jetzt eben lachte, und sagte: ‹Nun darauf, dass was geschieht, dass was kommt. O, die geben nicht nach, die stehen auf ihrem Posten.› – Mir war das unheimlich, ich war froh, als in dem Augenblicke der Wagen gemeldet wurde.»

«Ich weiß nicht, was du noch immer an allen diesen Erinnerungen hast, erquicklich sind sie nicht», versetzte Hans verstimmt.

«Was kann ich dafür», verteidigte sich Doralice, «ich habe doch noch keine anderen Erinnerungen, und dann, sie kriechen einem doch überall nach. Da steht der Geheimrat Knospelius plötzlich am Strande, drüben im Bullenkrug zieht die Generalin von Palikow und die Baronin Buttlär ein, auf Schritt und Tritt das alte Leben. Weißt du, was ich möchte? Dort drüben über dem Meer müsste man eine Hängematte aufhängen können, gerade so hoch, dass die Wellen sie nicht erreichen, aber doch so, dass, wenn ich die Hand herabhängen lasse, ich den Wellen in die weißen Bärte fassen kann, und so, siehst du, könnten, glaube ich, keine Erinnerungen kommen, und keine Knospelius’ und Palikows könnten einem begegnen.»

Hans blieb nachdenklich stehen: «Du», sagte er, «das wollen wir machen.» Er ergriff Doralice, legte sie auf seine Arme: «Lieg», rief er, «wie ein Kind auf den Armen des Paten während der Taufe», und nun begann er langsam in das Meer hineinzugehen. Regungslos lag Doralice da und schaute hinauf in den Himmel, der bleich von Mondenschein war. Das Wehen, das vom Meere kam, das Rauschen unter ihr, das goldene Fließen und Flimmern ringsumher, all das schien sie zu wiegen und zu schaukeln, und dann war es ihr, als fiele sie, fiele sie in einen Abgrund von Licht, das sie dennoch trug und hielt.

«So, so, weiter, weiter, jetzt sind wir ganz bei ihnen, mitten unter ihnen, das dumme Land ist fort.» Doralice sprach mit einer Stimme, wie Schlafende es tun, lachte ein leises, ganz helles Lachen wie Kinder, die auf einer Schaukel sitzen. Sie ließ ihre Hand herabhängen, griff in den Schaum der Wellen, schnalzte mit den Fingern, als wollte sie kleine Hunde springen lassen. «Wie sie zu mir heraufwollen», rief sie, «kommt, kommt, nein, das ist zu hoch.»

Hans stand bis über die Knie im Wasser und lächelte, das Gesicht rot vor Anstrengung. Aber allmählich wurde er müde, es war nicht leicht, sicher im Wasser zu stehen, und langsam zog er sich an das Ufer zurück. Mit einem befriedigten: «So, das war eine Leistung» setzte er Doralice auf den Sand zurück.

Sie schwankte ein wenig auf ihren Füßen wie berauscht, sie legte die Hand auf die Augen, alles um sie her schien noch sachte zu schwanken. Sie musste sich an Hans anlehnen. «Du siehst», sagte sie, «ich vertrage dies dumme Land nicht mehr.»

«Das kommt noch», meinte er, «das Land wird uns jetzt sehr gut schmecken. Eine warme Stube und Rotwein, ich bin nass, und mich friert.»

«Ja, gehen wir», sagte Doralice kleinlaut, «wir gehören ja doch nicht zu denen dort. Aber wie stark du bist, dass du mich so halten konntest.»

«Nicht wahr», erwiderte Hans stolz, «und weißt du, wie ich dich so hielt, wenn ich denke, das war eigentlich symbolisch, mitten in den Wellen, und ich halte dich.»

Aber Doralice sagte müde: «Ach nein, lass es lieber nicht symbolisch sein.»

Hans schaute sie verwundert an und murmelte dann ein wenig empfindlich: «Nun dann auch nicht.»

Um den Hof des Wardeinschen Anwesens standen die niedrigen strohgedeckten Häuser, der Schuppen, der Stall, der Speicher, in dem jetzt die Familie des Fischers wohnte, und das Wohnhaus, das Hans Grill gemietet hatte. Hier schien die Hitze des Tages noch eingeschlossen zu sein, die Luft war schwer von den Gerüchen des Strohs, der an Schnüren trocknenden Fische und feuchter Netze. Man hörte durch die kleinen geöffneten Fenster den Atem schlafender Menschen, irgendwo schlug ein Hahn auf seiner Stange mit den Flügeln, und im Schuppen grunzte ein Schwein im Traum. Und hier fiel von Doralice der Rausch der Weite und des Lichtes ab, ganz jäh, es schmerzte fast körperlich, und als sie durch die Türe traten, die so niedrig war, dass Hans sich tief bücken musste, sagte Doralice klagend: «So schlüpfen wir denn auch in unser Loch.»

«Ja, ja», meinte Hans eifrig, «das wird gut tun.» In dem kleinen Wohnzimmer brannte eine Petroleumlampe auf dem Tisch, und es fiel Doralice auf, wie hässlich unrein dieses Licht war, mit welch schläfriger Alltäglichkeit es den weißgetünchten Raum füllte. Hans war ganz geschäftig. «Köstlich, köstlich», sagte er, «setz du dich dort in den Korbstuhl, ich bin gleich wieder da.» Er verschwand, kam dann in weichen Filzschuhen zurück, ging ab und zu, holte Gläser, den Rotwein, schenkte die Gläser voll, setzte sich endlich Doralice gegenüber an den Tisch, rieb sich die Hände und lachte über das ganze Gesicht. Er sah sehr jung aus, das Gesicht von der Luft gerötet und der Bart und das kurzgelockte Haar honiggelb, die braunen Augen blinzelten blank vor Freundlichkeit. «Köstlich», wiederholte er, «das nenne ich eine Lebenslage, man sitzt so beieinander, und die Lampe brennt, man hat seinen Rotwein und dazu sein wunderschönes Weib.»

Doralice lehnte sich in ihren Korbstuhl zurück und schloss die Augen. «Ach», sagte sie müde, «nenne mich, bitte, nicht Weib, das klingt so, ich weiß nicht, nach losen blauen Jacken mit weißen Punkten und Kartoffelsuppe.»

Hans errötete: «Nein, nein», sagte er, «also nicht Weib. Weib ist ein schönes deutsches Wort, aber wie du willst, bitte.»

Sie schwiegen beide eine Weile. Aus dem Nebenzimmer hörte man deutlich das Schnarchen der alten Agnes, einer fernen Verwandten von Hans Grill, die ihm jetzt die Wirtschaft führte. Agnes hatte eine seltsame kummervolle und missmutige Art des Schnarchens. Am Tage versah sie still und pünktlich ihren Dienst, aber das alte Gesicht, in dem die Fältchen wie Sprünge in einem gelben Lack standen, trug stets den Ausdruck einer geduldigen, hochmütigen Ergebenheit. Jetzt schien es Doralice, als käme mit den verschlafenen Lauten alle Bitterkeit heraus, welche die Alte gegen sie hegte. Doralice presste die schmalen zu roten Lippen fest aufeinander, und wie sie dalag in dem dunkelblauen Kleide mit dem großen weißen Matrosenkragen, die Stirn ganz verdeckt von dem feuchtgewordenen blonden Haar, sah sie aus wie ein kleines Mädchen, das gescholten wird. Nein, auf die Dauer war es unerträglich dem Murren dort im Nebenzimmer zuzuhören. Alles, alles wurde traurig, wurde sinnlos, sie wusste nicht mehr, warum sie hier saß, warum – Und Hans, sie öffnete die Augen und schaute ihn an. Er hatte den Kopf auf die Brust sinken lassen, rauchte aus seiner kurzen Pfeife und trank ab und zu in hastigen kleinen Zügen den Wein.

«Bist du noch böse, weil du nicht Weib sagen sollst?», fragte Doralice und versuchte zu lächeln.

Hans hob schnell den Kopf, er begann zu sprechen, aber er musste einige Male da zu ansetzen, denn eine Erregung schnürte ihm die Kehle zusammen. «Weib oder nicht Weib, das ist doch gleich, der Ton ist es, der Ton. Wenn du den hast, dann bist du mir plötzlich ganz weit, ganz fremd, der streicht plötzlich alles aus, was wir miteinander erlebt haben. Ich freue mich darauf, dass es gemütlich sein wird, man wird beieinandersitzen, man wird lachen, man wird glücklich sein, und dann sagst du etwas, und dieser Ton ist da, und es wird sofort kalt und fremd und peinlich, als setzten wir uns drüben im Schloss vor den weißen Serviettenzeltchen mit dem alten Grafen zum Frühstücknieder.»

Doralice hörte ihm gespannt zu, diese erregte Stimme, die sich überstürzenden Worte erwärmten sie. Er sollte weitersprechen. «Wie ist dieser Ton?», fragte sie.

«Wie? wie?», fuhr Hans leidenschaftlich fort. «Wenn dir etwas nicht schmeckt, dann schiebst du den Teller fort und sagst feindselig: das will ich nicht. So, so ist dieser Ton, als ob du mich und unsere ganze gemeinsame Geschichte fortschiebst. Das kannst du ja auch, es ist ja auch dein Recht, sag es doch.»

Doralice lächelte jetzt ihr hübsches, strahlendes Lächeln. Sie hob die Arme in die Höhe und reckte sich: «Ach, Hans, das ist ja Unsinn, ich bin einfach müde. Glaubst du, das strengt nicht an, so zwischen Himmel und Meer zu schweben?»

Hans schaute sie erstaunt an, dann begann auch er zu lachen, sein lautes, ein wenig unerzogenes Lachen. «Also das strengt dich an und ich – glaubst du, es ist leicht, fest im Wasser zu stehen und eine Frau über den Wellen zu halten, die Hängematte zu spielen?»

«Du», meinte Doralice, «du bist ja so stark.»

Befriedigt lehnte Hans sich in seinen Stuhl zurück, goss sich Wein ein, er schüttelte sich vor Gemütlichkeit, als sei eine Gefahr glücklich vorübergegangen.

«Und all das kommt daher», erklärte Hans und stach dozierend mit seiner Pfeife in die Luft hinein, «uns fehlt eine gewisse Enge, eine Gebundenheit, Form, Form, Form, das ist es, das macht reizbar und unsicher. Von Unendlichkeiten kann man nicht leben. Immer kann der eine nicht stehen und den andern zwischen Himmel und Meer in den Mondschein hineinhalten. Also wir müssen unser Leben einteilen, regelmäßige Beschäftigung, Haushalt, eine Alltäglichkeit müssen wir haben, der ewige Feiertag macht uns krank .»

«Du könntest ja wieder malen», warf Doralice hin.

«Das werde ich auch», rief Hans hitzig, «glaubst du, ich werde ruhig dasitzen und von deinem Gelde leben?»

«Ach was, das dumme Geld.»

«Gleichviel, ich werde arbeiten, ich weiß auch, was ich zu malen habe, ich studiere meine Modelle, euch beide.»

«Uns beide?»

«Ja, dich und das Meer. Ihr beide müsst zusammen auf ein Bild und eine Synthese von dir und dem Meer, verstehst du?»

«Ja so», bemerkte Doralice, «ob du nicht versuchst, zuerst das Meer zu malen. Du sagtest doch, dass du mich nicht malen kannst.»

Das ärgerte Hans wieder. «Ja dort, dort konnte ich dich allerdings nicht malen. Ich war berauscht von dir. Man muss doch seinem Modell auch einigermaßen objektiv gegenüberstehen.»

«Stehst du mir jetzt objektiv gegenüber?», fragte Doralice verwundert.

«Ja», meinte Hans, «es kommt wenigstens allmählich, und das haben wir nötig, etwas Nüchternheit, so eine selbstgeschaffene Bürgerlichkeit, in die man sich fest einschließt. Du sprachst da vorhin wegwerfend von Kartoffelsuppe, ich möchte sagen, kein Leben, auch das idealste, ist möglich, in dem es nicht einige Stunden am Tage nach Kartoffelsuppe riecht.» Er lachte und sah Doralice triumphierend an, stolz auf seine Bemerkung.

Doralice seufzte: «Uff, wenn man da nur atmen kann, ganz eng, fest eingesperrt und riecht nach Kartoffelsuppe. Eine Welt, als ob Agnes sie geschaffen hätte.»

«Bitte», sagte Hans empfindlich, «wer da nicht atmen kann, darf hinaus, wir sind freie Menschen, dass wir uns selbst binden, ist unsere Freiheit, aber keiner von uns ist gebunden.»

Doralice zog die Augenbrauen in die Höhe und sagte ziemlich schläfrig: «Ach, lassen wir doch die alte Freiheit. Es ist ja ganz hübsch, wenn eine Tür immer offen steht, aber man braucht doch nicht beständig drauf hinzuweisen. Die Freiheit wird dann fast ebenso langweilig wie das ‹tenue ma chère› dort, du weißt.»

Hans schaute Doralice bestürzt an. Er wollte etwas sagen, verschluckte es jedoch. Er erhob sich und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, er ging schnell, stapfte stark mit seinen Filzschuhen auf den Boden. Doralice folgte ihm neugierig mit den Blicken. Jetzt war er zornig, jetzt würde er leidenschaftlich losbrechen, sie freute sich darauf, sie liebte es, wenn er die Worte so heiß hervorsprudelte und ein Gesicht machte wie ein zorniger Knabe. Das hatte ihr an ihm gefallen dort in der Welt der beständigen Selbstbeherrschung. Aber es wollte nicht kommen, immer noch ging er schnell und schweigend in dem engen Raum umher. Plötzlich blieb er vor Doralice stehen, kniete nieder mit beiden Knien hart auf den Boden schlagend und legte seinen Kopf auf Doralicens Knie, und so begann er zu sprechen leise und klagend: «Wie kannst du das sagen, ich – ich – ich weise auf die Türe hin. Aber wenn du zu dieser Tür hinausgingst, dann wäre es aus, dann hätte nichts mehr einen Sinn, dann hätte ich keinen Sinn, dann hätte die ganze Welt keinen Sinn.»

Doralice strich mit der Hand ihm leicht über das krause Haar. «Nein, nein», sagte sie, und das klang müde und mitleidig zugleich, «zusammen, wir bleiben zusammen, wir beide sind ja doch miteinander ganz allein.»

Hans richtete sich auf, er lachte wieder, zuversichtlich und triumphierend, indem er Doralicens Arm fasste und ihn schüttelte: «Das will ich meinen, und ich werde auch dafür sorgen, dass niemand an dich herankommt.» Dann nahm er ihre kleine Gestalt auf seine Arme, wie man ein Kind nimmt, und trug sie in das Schlafzimmer hinüber.

Zweites Kapitel

Der Morgen dämmerte, als Doralice erwachte. So war es jetzt immer, wenn sie sich niederlegte, schlief sie schnell und tief ein, aber lange vor Sonnenaufgang erwachte sie, und es war mit dem Schlaf zu Ende. Dann lag sie da, die Arme erhoben, die Hände auf ihrem Scheitel gefaltet, die Augen weit offen, und schaute der graublauen Helligkeit zu, wie sie durch die weiß- und rotgestreiften Gardinen in das Zimmer drang, den Waschtisch, die beiden plumpen Stühle, den großen gelben Holzschrank aus der Dämmerung herausschälte, das Zimmer erhellte, ohne es zu beleben, gleichsam ohne es zu wecken. Und dieses Zimmer, klein wie eine Schiffskabine, erschien Doralice als etwas ganz und gar nicht zu ihr Gehöriges. Sie lag da wohl in dem schmalen Bett unter der hässlichen rosa Kattundecke, aber sie hatte nicht die Empfindung, als sei dieses die Wirklichkeit, wirklich für sie war noch die Welt des Traums, aus der sie eben emportauchte. Jede Nacht führte er sie in ihr früheres Leben zurück, jede Nacht musste sie ihr früheres Leben weiterleben. Am besten war es noch, wenn sie sich in dem alten Heimatshause ihrer frühen Jugend dort in der kleinen Provinzstadt befand. Ihre Mutter lag wieder auf der Couchette, hatte Migräne und eine Kompresse von Kölnischem Wasser auf der Stirn. Sie hörte wieder die klagende Stimme: «Mein Kind, wenn du verheiratet sein wirst und ich nicht mehr sein werde, dann wirst du an das, was ich dir gesagt habe, oft zurückdenken.» Und dieses Wort «wenn du verheiratet sein wirst», das in den Gesprächen ihrer Mutter immer wiederkehrte, gab Doralice wieder das angenehme, geheimnisvolle Erwartungsgefühl. Draußen der schattenlose Garten lag gelb vom Sonnenschein da, die langen Reihen der Johannisbeerbüsche, das Beet mit den Chrysanthemen, die fast keine Blätter und stark geschwollene bronzefarbene Herzen hatten. Auf der Gartenbank schlummerte Miss Plummers. Das gute alte Gesicht rötete sich in der Mittagshitze. Doralice ging unruhig in Kieswegen auf und ab, das eintönige sommerliche Surren um sie her kam ihr wie die Stimme der Einsamkeit und der Ereignislosigkeit vor. Aber gerade hier in dem alten Garten fühlte sie es stets am deutlichsten, dass dort jenseits des Gartenzaunes eine schöne Welt der Ereignisse auf sie wartete. Sie fühlte es körperlich als seltsame Unruhe in ihrem Blut, sie hörte es fast, wie wir das Stimmengewirre eines Festes hören, vor dessen verschlossenen Türen wir stehen. Nun und dann war diese Welt gekommen, in Gestalt des Grafen Köhne-Jasky, des hübschen älteren Herrn, der so stark nach new mown hay roch, Doralice so verblüffende Komplimente machte und so unterhaltende Geschichten erzählte, in denen stets kostbare Sachen und schöne Gegenden vorkamen. Dass Doralice eines Tages ihr weißes Kleid mit der rosa Schärpe anzog, dass ihre Mutter sie weinend umarmte und der kleine kohlschwarze Schnurrbart des Grafen sich in einem Kusse auf ihre Stirn drückte, war etwas, das selbstverständlich notwendig war, etwas, auf das Mutter und Tochter ihr bisheriges Leben über gewartet zu haben schienen.

Am häufigsten aber befand Doralice sich im Traum in dem großen Salon der Dresdner Gesandtschaft. Immer lag dann ein winterliches Nachmittagslicht auf dem blanken Parkett. In den süßen Duft der Hyazinthen, die in den Fenstern standen, mischten die großen Ölbilder an der Wand einen leichten Terpentingeruch. Von der anderen Seite des Saals kam ihr Gemahl ihr entgegen, sehr schlank in seinen schwarzen Rock geknüpft, die Bartkommas auf der Oberlippe hinaufgestrichen. Ein wenig zu zierlich, aber hübsch sah er aus, wie er so auf sie zukam, die glatte weiße Stirn, die regelmäßige Nase, die langen Augenwimpern. Allein der Traum spielte ein seltsames Spiel, je näher der Graf kam, umso älter wurde dies Gesicht, es welkte, es verwitterte zusehends. Er legte den Arm um Doralicens Taille, nahm ihre Hand und küsste sie. «Scharmant, scharmant», sagte er, «wieder eine reizende Aufmerksamkeit. Wir haben unsere Ausfahrt aufgegeben, weil wir wussten, dass der Gemahl heut Nachmittag ein Stündchen frei hat. Da wollen wir ihm Gesellschaft leisten und ihm selbst den Tee machen. Gute Ehefrauen habe ich schon genug gesehen, Gott sei Dank, es gibt noch welche, aber ma petite comtesse ist eine raffinierte Künstlerin in Ehedelikatessen.» Doralice schwieg und presste ihre Lippen fest aufeinander und hatte das unangenehm beengende Gefühl, erzogen zu werden. Natürlich hatte sie ausfahren wollen, natürlich hatte sie gar nicht gewusst, dass der Gemahl heute eine Stunde frei hatte, und hatte auch gar nicht die Absicht gehabt, ihm Gesellschaft zu leisten. Allein das war seine Erziehungsmethode, er tat, als sei Doralice so, wie er sie wollte. Er lobte sie beständig für das, was er doch erst in sie hineinlegen wollte, er zwang ihr gleichsam eine Doralice nach seinem Sinne auf, indem er tat, als sei sie schon da. Hatte sich Doralice in einer Gesellschaft mit einem jungen Herrn zu gut und zu lustig unterhalten, dann hieß es: «wir sind ein wenig vielverlangend, ein wenig sensibel, man kann sich die Menschen nicht immer aussuchen; aber du hast ja recht, der junge Mann hat nicht einwandfreie Manieren, aber so viel es geht, wollen wir ihn fernhalten.» Oder Doralice hatte im Theater bei einem Stück, das dem Grafen missfiel, zu viel und zu kindlich gelacht, dann bemerkte er beim Nachhausefahren: «wir sind ein wenig verstimmt: chokiert, wir sind ein wenig zu streng, aber tut nichts, du hast ganz recht, es war ein Fehler von mir, dich in dieses Stück zu bringen. Ich hätte ma petite comtesse besser kennen sollen, vergib dieses Mal.» Und so war es in allen Dingen, diese ihr aufgezwungene fremde Doralice tyrannisierte sie, schüchterte sie ein, beengte sie wie ein Kleid, das nicht für sie gemacht war. Was half es, dass das Leben um sie her oft hübsch und bunt war, dass die schöne Gräfin Jasky gefeiert wurde, es war ja nicht sie, die das alles genießen durfte, es war stets diese unangenehme petite comtesse, die so sensibel und so reserviert war und ihrem Gemahl gegenüber immer recht hatte. Wie eine unerbittliche Gouvernante begleitete sie sie und verleidete ihr alles.

Als der Graf Köhne seinen Abschied nahm, als er, wie er es nannte, gestürzt wurde, und sich gekränkt und schmollend auf sein einsames Schloss zurückzog, um sich fortan damit zu beschäftigen, die Geschichte der Köhne-Jaskys zu schreiben und melancholisch zu altern, da war es eine neue Doralice, die Doralice dort auf dem alten Schlosse erwartete. «Ah, ma petite châtelaine ist hier endlich in ihrem wahren Elemente, stille, ruhige, etwas verträumte Beschäftigungen, der wohltätige Engel des Gemahls und des Gutes, das hat uns gefehlt.» Und der stille wohltätige Engel, der sie nun plötzlich war, drückte auf Doralice wie ein bleiernes Gewand.

Da kam Hans Grill ins Schloss, um Doralice zu malen, Hans mit seinem lauten Lachen und seinen knabenhaft unbesonnenen Bewegungen und seiner unbesonnenen Art, noch alles, was ihm durch den Kopf ging, unvermittelt und eifrig auszusprechen. «Ich empfehle dir meinen Schützling», hatte der Graf zu seiner Frau gesagt, «gewiss, als Gesellschafter kommt er nicht in Betracht, du hast ja ganz recht, ihn sehr à distance zu halten, aber dennoch empfehle ich ihn deinem Wohlwollen.» Es begannen nun die langen Sitzungen in dem nach Norden gelegenen Eckzimmer des Schlosses. Hans stand vor seiner Leinwand, malte und kratzte wieder ab. Dabei sprach er stets, erzählte, fragte, ließ große Worte klingen. Doralice hörte ihm anfangs neugierig zu, es war ihr neu, dass jemand so sorglos sein innerstes Wesen heraussprudelte. Er sprach stets von sich, zuweilen mit ganz kindlicher Zufriedenheit und Prahlsucht, dann vertraute er Doralice gutmütig an, was ihm an sich selber bedenklich schien. «An Charakter fehlt es zuweilen», sagte er, «ei, ei!» Was aus diesen Reden aber am stärksten hervorklang, war ein unbändiger Lebensappetit und ein unumschränktes Vertrauen, alles zu erreichen, wonach er greifen würde. «O, ich werde es schon machen, da ist mir nicht bange», hieß es. Doralice tat das wohl, es erregte auch in ihr wieder Lebenshunger, es erweckte in ihr etwas, das sie fast vergessen hatte, ihre Jugend. Von distance war eigentlich nicht mehr die Rede, die allzu sensible châtelaine fiel ganz von ihr ab, und es ging jetzt dort in dem Eckzimmer oft sehr heiter und kameradschaftlich zu. Aber zuweilen, wenn sie gerade recht laut lachten, hielten sie plötzlich inne, horchten hinaus. «Still», sagte Hans, «ich höre seine Stiefel knarren», und es war, als sei eine geheime Zusammengehörigkeit zwischen ihnen beiden eine selbstverständliche Sache. Hans verliebte sich natürlich in Doralice und war diesem Gefühle gegenüber ganz hilflos. Er zeigte es ihr, er sagte es ihr mit einer naiven, fast schamlosen Offenheit, und Doralice ließ es geschehen, es war ihr, als fasste das Leben sie mit starken gewaltsamen Armen und trug sie mit sich fort. Da begann in diesen Spätherbsttagen Doralices Liebesgeschichte. Helle, kalte Tage und dunkle Abende, auf den Beeten die von dem Nachtfrost gebräunten Georginen und in den Alleen des Parkes welkes Laub, das auch beim vorsichtigsten Schritte raschelte. Wenn Doralice an diese Zeit dachte, empfand sie wieder das seltsame schwüle Brennen ihres Blutes, empfand sie die stete Angst vor etwas Schrecklichem, das kommen sollte, das jeder Liebesstunde auch ihr furchtbar erregendes Fieber beimischte. Wieder empfand sie jenes wunderlich lose, verworrene Gefühl, jenen Fatalismus, der so oft Frauen in ihrem ersten Liebesrausch erfüllt. Dennoch trug Doralice leichter an den Heimlichkeiten und Lügen als Hans. «Ich halte es nicht mehr aus», sagte er, «immer einen so vor mir zu haben, den ich betrüge, wir wollen fortgehen, oder es ihm sagen.»

«Ja, ja», meinte Doralice. Es wunderte sie selbst, wie gering die Gewissensbisse waren über das Unrecht, das sie ihrem Manne antat, ja, es war fast nur so wie damals, wenn sie Miss Plummers hinterging. «Und er ahnt es», sagte Hans, «er bewacht uns, man begegnet ihm überall, hast du es bemerkt? Seine Stiefel knarren nicht mehr, wir müssen ihm zuvorkommen.»

Allein der Graf kam ihnen zuvor. Es war ein grauer Nebeltag, Doralice stand im großen Saal am Fenster und schaute zu, wie der Wind die Krone des alten Birnbaums hin- und herbog und die gelben Blätter von den Zweigen riss und sie in toller Jagd durch die Luft wirbelte. Es sah ordentlich aus, als freuten sich diese hellgelben kleinen Blätter, von dem Baume loszukommen, so ausgelassen schwirrten sie dahin. Doralice hörte ihren Gemahl in das Zimmer kommen. Er machte einige kleine knarrende Schritte, rückte den Sessel am Kamin, setzte sich, nahm ein Schüreisen, um, wie er es liebte, im Kaminfeuer herumzustochern. Als er mit einem «Ma chère» zu sprechen begann, wandte sie sich um, und es fiel ihr auf, dass er krank aussah, dass seine Nase besonders bleich und spitz war. Er schaute nicht auf, sondern blickte auf das Kaminfeuer, in dem er stocherte. «Ma chère», sagte er, «ich habe deine Geduld bewundert, aber lassen wir es genug sein, ich habe mit Herrn Grill eben vereinbart, dass er uns heute verlässt. Mit dem Bilde wird es ja doch nichts, und von dir ist es zu viel verlangt, dich noch der Langeweile dieser Sitzungen und dieser – Gesellschaft zu unterziehen. So werden wir wieder entre nous sein. Recht angenehm, was?»

Doralice war bis in die Mitte des Zimmers gekommen, da stand sie in ihrem schieferfarbenen Wollenkleide, die Arme niederhängend, in der ganzen Gestalt eine Gespanntheit, als wollte sie einen Sprung tun, in den Augen das blanke Flackern der Menschen, die vor einem Sprunge von einem leichten Schwindel ergriffen werden.

«Wenn Hans Grill geht, gehe ich auch», sagte sie, und im Bemühen, ruhig zu sein, klang ihre Stimme ihr selbst fremd.

«Wie? was? Ich verstehe nicht, ma chère.» Das Schüreisen fiel klirrend aus seiner Hand, und Doralice sah wohl, dass er sie gut verstand, dass er längst verstanden haben musste. Um seine Augen zogen sich viele Fältchen zusammen, und die Bartkommas auf seiner Oberlippe zitterten wunderlich.

«Ich meine», fuhr Doralice fort, «dass ich nicht mehr deine Frau bin, dass ich nicht mehr deine Frau sein darf, dass ich mit Hans Grill gehe, dass, dass – » Sie hielt inne, Schrecken und Verwunderung über den Anblick des Mannes dort im Sessel ließen sie nicht weitersprechen. Er knickte in sich zusammen, und sein Gesicht verzog sich, wurde klein und runzlig. War das Schmerz? War das Zorn? Es hätte auch ein unheimlich scherzhaftes Gesichterschneiden sein können. Mit großen angstvollen Augen starrte Doralice ihn an. Da schüttelte er sich, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, richtete sich stramm auf. «Allons, allons», murmelte er. Er erhob sich und ging mit steifen zitternden Beinen an das Fenster und schaute hinaus. Doralice wartete angstvoll, aber auch sehr neugierig, was nun kommen würde. Endlich wandte sich der Graf zu ihr um, das Gesicht aschfarben, aber ruhig. Er zog seine Uhr aus der Westentasche, wurde etwas ungeduldig, weil die Kapsel nicht gleich aufspringen wollte, schaute dann aufmerksam auf das Zifferblatt und sagte mit seiner diskreten höflichen Stimme: «Fünf Uhr dreißig geht der Zug.» Er sah auch nicht auf, als Doralice jetzt langsam aus dem Zimmer ging.

«Mein Herz schlug dabei sehr stark», hatte später Doralice zu Hans Grill gesagt, «ich hörte es schlagen, es schien mir das Lauteste im Zimmer. Ich weiß nicht, was es war, vielleicht war es plötzlich eine sehr starke Freude.»

«Natürlich, natürlich», meinte Hans Grill, «was sollte es denn anderes gewesen sein.»

Drittes Kapitel

Im Wardeinschen Anwesen erwachte das Leben, eine Stalltüre knarrte, nackte Füße stapften die Holzstufen am Hause auf und ab. Doralice fuhr aus ihrem Sinnen auf, aus dem Weiterleben des nächtlichen Traumes. Das Zimmer war jetzt ganz hell, die Decke mit den großen Streckbalken, die Möbel in ihrer robusten Hässlichkeit ließen sich nicht mehr wegdenken wie vorhin in der wesenlosen Dämmerung, sie riefen Doralice zu ihrer Wirklichkeit zurück, mahnten sie, dass sie zu ihnen gehörte. Die Türe zum Nebenzimmer stand offen, dort schlief Hans. Doralice sah ihn, wie er in seinem Bette auf dem Rücken lag, die Wangen rot, das gelbe Haar wirr in die Stirn fallend, die Lippen halb geöffnet. Er atmete tief und laut, seine breite Brust hob und senkte sich, die Augenbrauen zog er ein wenig zusammen, was dem Gesicht einen Ausdruck verlieh, als sei das Schlafen eine ernste schwere Arbeit, der er sich mit ganzer Anstrengung widmete. «Der wird’s schon machen», dachte Doralice, «wer so schlafen kann, wer so dabei ist, der ist seiner Sache sicher.» Das tröstete sie ein wenig in der unklaren Traurigkeit ihrer Morgenstunden. Aber sie wollte nicht wieder schlafen, sie fürchtete sich davor, zu träumen, wieder hinüberzugleiten in ihr früheres Leben. Sie sprang aus dem Bette und kleidete sich an.

Als sie draußen auf die Düne hinaustrat, wehte ein lebhafter kühler Seewind ihr entgegen. Über einen blassblauen Himmel zogen eilige hellgraue Wölkchen, und auf dem Meere hoben sich die Wellen ohne Schaum, groß und grüngrau, ein mächtiges stilles Atmen, erst näher dem Strande wurden sie lebhafter und ließen die weißen Schaumtücher flattern. Dieses Atmen des Meeres erinnerte Doralice an etwas, was war es? Ach ja, an Hans, an seine Brust, die sich dort in dem Zimmer eben ruhig und kraftvoll hob und senkte. Sie begann am Strande entlangzugehen, der Wind fuhr ihr in die Röcke, er trieb sie, sie spürte es deutlich, wie er zu kleinen Stößen ausholte, bald von hinten, bald von der Seite sie anfiel und das war ein köstlich erfrischendes Spiel, so muss es den Wellen zumute sein, sie wiegte sich im Gehen; es war ihr, als wogte sie, jetzt fuhr ihr ein stärkerer Windstoß in die Haare, schüttelte sie. Doralice machte einen Satz, stieß einen lustigen kleinen Schrei aus. «Jetzt brande ich, jetzt brande ich», dachte sie. Über ihr antwortete ein schriller Ruf, eine große weiße Möwe hing über dem Wasser, sie schlug mit den Flügeln, warf sich wie von plötzlicher Lust berauscht auf das Wasser nieder und schwamm dort, ein kleiner weißer Punkt auf dieser wogenden grüngrauen Seide. Vor den Fischerhäusern auf der Düne standen Fischerfrauen, ihre grauen Röcke, ihre roten Tücher flatterten, und sie schützten die Augen mit der Hand und schauten auf das Meer hinaus nach den Männern, die in der Nacht zum Fischfang hinausgefahren waren.

Als Doralice um den Vorsprung einer Düne bog, sah sie den Geheimrat von Knospelius, der vor ihr her den Strand entlangging. Im gelben Leinenanzug, den Panama im Nacken, einen schönen gelben Setter neben sich, holte er mit dem dicken Spazierstock weit aus, machte große Schritte, warf sich in den Schultern hin und her, hatte, wie es Verwachsene lieben, die Bewegungen starker, großer Leute. Als er Schritte hinter sich hörte, wandte er sich um, er grüßte sehr tief, und das große bleiche Knabengesicht lächelte. Da es schien, als wolle er etwas sagen, blieb Doralice stehen. «Guten Morgen, gnädige Frau», begann er und schaute mit seinen stahlblauen Augen scharf und aufmerksam hinauf in Doralicens Gesicht, «schon vor Sonnenaufgang auf dem Posten?»

Doralice errötete und lachte: «Es ist Ihnen wohl entfallen, Exzellenz, dass das letzte Mal, als wir uns sprachen, Sie mir dasselbe sagten, auch so etwas von auf dem Posten stehen.»

«So, so», meinte Knospelius, «möglich, ich interessiere mich für diese Sachen. Sie haben ein gutes Gedächtnis. Darf ich Sie einige Schritte begleiten, gnädige Frau?»

Sie nickte, obgleich es ihr nicht recht war, dieses kleine Ungeheuer neben sich zu haben, das sie von unten auf ansah, unbekümmert, wie man einen Kupferstich, nicht wie man einen Menschen anschaut. Im Gehen sprach er mit tiefer Stimme, deren Metall ihm selbst zu gefallen schien. «Mit dem Schlafen, meine Gnädige, scheint es Ihnen hier auch nicht recht gelingen zu wollen.»

«Doch», meinte Doralice, «nur die andern alle sind so früh auf, die Fischersleute, die Hähne, nun und das Meer schläft ohnehin nicht.»

Knospelius lachte jetzt sein lautloses Lachen: «Ja, ja, hier ist Betrieb, hier kann man was lernen. Denn, sehen Sie», er wurde ernst, sein Gesicht nahm einen bösen, fast hasserfüllten Ausdruck an, «sehen Sie, es gibt nichts Dümmeres, nichts Sinnloseres als die Schlaflosigkeit, als im Bett zu liegen, auf den Schlaf zu warten und nicht schlafen zu können. In solchen Stunden komme ich mir vor wie meiner Menschenrechte beraubt. Ich tue nicht meine Pflicht als Mensch.»

«Pflicht als Mensch», wiederholte Doralice etwas zerstreut.

«Ja, gerade so», fuhr der Geheimrat fort, zänkisch, als hätte jemand ihm widersprochen, «meine Pflicht als Mensch ist, zu schlafen oder mein Handwerk als Mensch zu treiben, zu arbeiten wie da die Fischer oder zu lieben wie Sie und der Herr Maler oder zu streiten wie meine Hausleute, gleichviel, eben Menschengeschäfte zu treiben, und können wir das nicht, so haben wir zu schlafen. Das weiß mein Karo auch, kann er den Aufgaben seines Hundelebens nicht nachgehen, dann schläft er. Aber was wir in einer schlaflosen Nacht denken und fühlen, ist ganz unnütz, gar nicht zu brauchen, weggeworfenes Leben. Sehen Sie, ich habe viel zu rechnen, das ist mein Beruf, aber in schlaflosen Nächten muss ich auch rechnen, Rechnungen, die nie stimmen, die keinen Sinn und kein Resultat haben, das ist doch menschenunwürdig. Wenn Karo mal so daliegt und mit der Nase im Buche der Natur liest, dann wittert er wirkliche Hasen und wirkliche Hühner, nicht sinnlose Tiere, die es gar nicht gibt; nein, nein, ich sage, nicht schlafen können ist ein Skandal und dürfte einem gar nicht passieren.»

Knospelius schwieg und schaute ärgerlich auf das Meer hinaus.

Doralice tat der kleine Mann leid. Es war doch eine Qual, die zu ihr gesprochen hatte, sie wollte ihm etwas Freundliches sagen. Es kam ihr jedoch kühl und flach heraus: «Ich hoffe, die Seeluft wird Ihnen guttun, Exzellenz.» Knospelius begann wieder weiterzugehen und murmelte: «Ich, ach, es ist nicht das, ich sage es so im Allgemeinen. Wenn man wacht, muss man was erleben können, und wenn man schlafen will, muss man schlafen können. Das dürfen wir verlangen.» Plötzlich lächelte er, ein hübsches, fast schüchternes Lächeln. «Na ja, wenn es bei dem einen oder andern so ’ne Bewandtnis hat, wenn da Hindernisse sind, nu so müssen wir uns an die Erlebnisse der andern halten. Ich interessiere mich sehr für die Erlebnisse der andern, ich kümmere mich hier stark um die Angelegenheiten meiner Nebenmenschen. Ja, ja, was Leben betrifft, bin ich Kommunist, ich leugne das Privateigentum, ha, ha!»

«Erleben denn die Leute hier so viel?», fragte Doralice.

«O genug», erwiderte der Geheimrat, «sehen Sie die Fischer, die Kerls haben sich mit dem Meere eingelassen, und das hält in Atem, das können Sie mir glauben. Und dann die Weiber, wie sie dort oben stehen und warten. So zu stehen und auf den Mann oder Sohn zu warten, das spannt an. Haben Sie die Augen dieser Frauen beobachtet? Das sind Blicke, die nicht so planlos an den Dingen herumwischen, das sind Blicke, die ohne Umweg gerade auf den Punkt treffen, der ihnen wichtig ist, wie der Hammer in der Hand eines guten Handwerkers gerade und hart immer auf den richtigen Fleck schlägt. Und Sie sollten mal diese Augen sehen, wenn so ’n Mann oder Sohn nicht zurückgekehrt ist und die Frau dann tagelang am Strande hin- und herläuft und jeden dunkeln Punkt auf dem Wasser oder auf dem Strande erspäht und mit furchtbarer Aufmerksamkeit beobachtet. Das sind Augen, die ihr Handwerk verstehen. Übrigens hat es mich sehr interessiert, dass Sie hergezogen sind. Sie werden schon Farbe in den Betrieb bringen. Es würde mich freuen, den Herrn Maler kennen zu lernen. Es scheint ein lebensvoller Herr zu sein. Das sehe ich gern. Ha, ha, das sehe ich ebenso gern, wie der Bauernfänger den Herrn mit der dicken Brieftasche gern sieht.» Und er lachte lautlos und andauernd über seinen Witz.

Der Himmel wurde jetzt farbig, die Wolken am Horizont bekamen dicke goldene Säume, und eine Welle von Rot übergoss den Himmel. Auch in das Graugrün des Meeres mischten sich blanke Fäden, und die Höhlungen der brechenden Wellen am Strande füllten sich mit Rosenrot, und plötzlich begann das Meer weiter dem Horizonte zu ganz in Rotgold zu brennen. Knospelius blieb stehen und machte mit seinem langen Arm eine große Bewegung auf das Meer hinaus, als wollte er das Meer vor Doralice ausbreiten.

«Sehen Sie», sagte er, «das ist nun der allmorgendliche Farbenspektakel. Eine hygienische Maßregel. Die Natur wird ganz rücksichtslos da mit all diesem Rot und Gold überschüttet. Das soll anregen wie uns die Morgendusche oder der Morgenkaffee. Wenn Sie noch einige Schritte weitergehen wollen, so können wir einen hübschen, ja ich sage geradezu einen hübschen Anblick haben.»

So gingen sie denn weiter. Sie kamen an eine Stelle des Ufers, wo eine hohe Sanddüne ganz nah bis an das Wasser herantrat, die Wellen unterspülten sie so, dass die Sandwand teilweise eingestürzt war. Bei hohem Seegang waren große Stücke des Erdreichs abgebröckelt und fortgerissen worden, überall klafften Höhlen und Risse, das alles triefte jetzt von rotem Morgenlicht. Hie und da ragte aus dem hellbeschienenen Sande morsches Holzwerk hervor, das metallisch glänzte, und weiße Stücke, die –

«Aber», rief Doralice, «das ist dort eine Hand.»

«Allerdings», erklärte der Geheimrat, «das da ist eine Hand und ein Arm, und dort ist ein Schädel hübsch rosa angeleuchtet und in dem verfallenen Sarge dort ein ganzer Mann. Wie Sie sehen, ist dies ein Friedhof, mit dem das Meer langsam aufräumt. Für Friedhofsromantik und Friedhofschauer habe ich wenig übrig, die sind billig. Dies aber gefällt mir. Ein Friedhof, von dem jede Sturmnacht ein Stück abschneidet wie von einem Kuchen, und aus dem Sande gucken dann all diese Stillen heraus und lassen sich den Seewind um die Knochen wehen. Sehen Sie, wie kokett sie sich im Morgenrot färben, die blühen wie die Rosen. Und dann kommt die Sturmnacht und holt sie ab, dann geht es auf die Reise ins Meer hinaus. Aus dem denkbar Engsten und Stillsten in das Weiteste und Lauteste hinein. Das gefällt mir. Wie auf einer Landungsbrücke stehen die hier und warten auf das Schiff, das sie abholt. Das könnte mich reizen. Da ist doch Betrieb. Dem Tode wird hier das Muffige genommen, mit dem man ihn zu umgeben liebt. Nicht?»

Knospelius schaute zu Doralice auf. Sie war ein wenig bleich geworden, sie presste die Lippen aufeinander und zog die Augenbrauen zusammen. Es sah aus, als sei sie böse. «Nun, es scheint Ihnen nicht zu gefallen», bemerkte der Geheimrat, «fürchten Sie sich vielleicht? Wir werden ja zur Furcht vor diesen Dingen erzogen.»

«Nein», erwiderte Doralice, «ich fürchte mich nicht. Dies hier ist sehr seltsam. Nur, ich weiß nicht, ich hätte es vielleicht heute Morgen lieber nicht gesehen.»

«So, so», meinte der Geheimrat, «dann können wir ja gehen. Sie haben übrigens recht, über den Tod und was mit ihm zusammenhängt nachzudenken ist wohl augenblicklich ganz und gar nicht Ihr Beruf.»

Auf dem Rückweg war Doralice schweigsam. Knospelius plauderte behaglich vor sich hin. Die Generalin Palikow, ja, die kannte er. Eine kluge alte Frau, ein wenig laut, und liebte es die Angelegenheiten anderer Leute fest in ihre Hand zu nehmen. Sie fühlt sich stets verantwortlich für die Angelegenheiten anderer. Der Baron Buttlär, nun – der hat einen wunderschönen blonden Schnurrbart. Wenn er nach Berlin kam, da brauchte er viel Sekt und suchte Abenteuer. Solch ein Schnurrbart verpflichtet eben und macht auch den christlichen Hausvater und Gatten oft unruhig. Die Töchter, übrigens hübsche Mädchen, schmal und biegsam wie Weidenruten. Das ist die moderne Fasson. Junge Mädchen mussten jetzt aussehen wie Arabesken. Er, Knospelius, zog das frühere, das dreidimensionale Format dem heutigen Stile vor.

Doralice hörte ihm mit Abneigung zu. Sie fand jetzt ihren Begleiter unheimlich, und er verdarb ihr den schönen Morgen. Was ging sie die Welt der Buckeligen an, sie sehnte sich nach Menschen mit geradem Rücken. Dazu hatte er eine unangenehme Art so von unten herauf ihr scharf auf die Lippen zu sehen. Doralice verzog die Lippen, als schmeckte sie etwas Bitteres.

Nach Sonnenaufgang hatte sich der Wind gelegt. Das Meer glättete sich und glitzerte weit hinaus. Viele Fischerboote kehrten heim. Von den Dünen liefen die Fischerfrauen zum Strande hinab, schürzten ihre Röcke hoch auf und wateten in das Wasser, um den Männern behilflich zu sein, die Boote auf den Sand zu ziehen. Mitten im Brandungsschaum standen alle diese Menschen blank von Wasser und Sonnenschein. «Ah, unsere Fischer», sagte der Geheimrat. Er trat an eins der Boote heran, begrüßte die Fischer, die er kannte: «Guten Morgen, André, guten Morgen, Wardein, nun, hat es sich gelohnt?»

«Bisschen was ist da», sagte Wardein und wischte sich den Wellenschaum aus dem grauen Bart. Knospelius beugte sich über den Bootsrand, um die Fische zu sehen, die auf dem Boden des Bootes lagen. Er streifte sich den Rockärmel auf und fuhr mit seinen langen Fingern mitten hinein zwischen die Dorsche mit ihren bleichen Silberleibern, die Butten, die aussahen wie bräunliche Bronzescheiben, an denen wunderlich verzerrte Gesichter sitzen, und die Fülle der kleinen Brätlinge, die blank waren wie frischgeprägte Markstücke. Knospelius kniff ein Auge zu und lachte das Lachen eines ausgelassenen Schuljungen. «Betrieb, auch Betrieb», sagte er.

Doralice sah ihm einen Augenblick zu, dann wandte sie sich mit einem kurzen «guten Morgen» ab und ging schnell weiter. Jetzt hatte sie Eile, bei Hans Grill zu sein. Da kam er ihr schon entgegen in