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"Es wird keinen Frieden geben. Das Reich ist in Gefahr. Alle Völker." Magie bedroht die Welt. Elphen lauert in den Schatten. In der Unterwelt der Boragha gärt es. Die Kinder sind verschwunden. Schwer gezeichnet von Gefechten und Verlusten, planen die Gefährten ihre nächsten Schritte. Die Ereignisse überschlagen sich, als Syriakin der eigenen Vergangenheit begegnet und Arlen wieder auftaucht.
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Seitenzahl: 585
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Säufergasse. Perth Sie blieb so unvermittelt stehen, dass er gegen ihre Seite prallte. Reflexartig griff er nach ihrem Arm, gewappnet gegen Angriffe jeder Art. Doch kein Dieb lauerte in ihrer Nähe, kein Soldat blickte herausfordernd. Niemand schenkte ihnen Beachtung. Um sie summte das Leben der Stadt. Bedienstete hasteten vorüber, Bürger schlenderten gemächlich vorbei. Über ihnen spann sich das Gewirr unzähliger Stimmen, von denen die der Marktschreier und Betrunkenen am lautesten röhrten. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, scherzte Gillok mit schiefem Grinsen, das verschwand, als sie nicht reagierte. „Syra?“, setzte er nach, jählings verunsichert wegen des steinernen Gesichtsausdrucks. Er zupfte sie am Ärmel ihres Mantels. „Was ist? Ist dir etwas aufgefallen? Hat es mit ...“ Er kam nie dazu, die Frage zu vollenden. Mit einem unerwarteten Satz wich Syriakin zur Seite aus, stob an schimpfenden Passanten vorbei über die Straße und unter einem Torbogen hindurch in eine Gasse. Einen Augenblick stand Gillok stocksteif, dann setzte er ihr nach. Billige Wirtshäuser und armselige Suppenküchen säumten die enge Straße. Gillok hastete an schwindsüchtigen Dirnen vorüber, streifte einen Mann, der ihm unflätige Schimpfworte hinterher brüllte. Er wich fauligem Unrat aus, sprang über das angenagte Skelett eines Hundes, beschleunigte, als er einen durchdringenden Schrei vernahm, gefolgt von entsetzten Ausrufen und wütenden Flüchen, jagte die Gasse entlang, das Pochen des eigenen Herzens und das Dröhnen seiner Stiefel im Ohr. Als er um die hervorstehende Ecke eines schiefen Gasthauses bog, erfasste er mit einem Blick, dass er zu spät gekommen war. Eine Meute hatte sich um seine Gefährtin geschart. Syriakin musterte sie aufmerksam, die Hände kampfbereit nach vorn gestreckt. Gillok wusste, dass sie zwei, drei Männer töten konnte, wahrscheinlich sogar mehr. Dass sie eine Kämpferin mit nahezu unheimlichen Fähigkeiten war, die in ihrem Leben vielen ausweglosen Situationen entronnen war. Doch um sie wogte das Pack. Ein wilder Haufen verlorener Existenzen, durchtränkt von Branntwein und Schmutz, gewaltbereite Männer und Frauen, gierig nach Kampf und Sensation, lüstern nach Blut und Tod. „Heda!“, rief er und schob sich durch die aufgebrachte Menge. „Lasst mich durch! Was ist geschehen?“ „Sie hat ihn umgebracht“, dröhnten die Stimmen im Chor. Auf dem Kopfsteinpflaster, inmitten schmierigen Abfalls, lag ein regloser, schmaler Körper. Gillok schoss Syriakin einen Blick zu, bevor er zu dem Mann trat. Augenblicklich erkannte er, dass diesem nicht mehr zu helfen war. Er lag auf dem Rücken, die Arme schlaff an den Seiten, die Augen gebrochen. Ein Messer ragte aus seiner Kehle, ein zweites aus der Brust. Aus der Art der Wunden las Gillok, dass beide Würfe tödlich gewesen waren. Herz und Halsschlagader. Kraftvolle, präzise Würfe, die das Opfer nach hinten geschleudert und erstickt hatten. Ein rascher Tod. Keine Zeit mehr, die Arme abwehrend zu heben, keine Zeit für letzte Worte. Das Messer im Leib steckte bis zum Heft im Fleisch, verhinderte, dass Blut austrat. Nur ein kleiner hellroter Fleck schimmerte auf dem durchgescheuerten Stoff. Die Kehle sah schlimmer aus. Dicke Rinnsale liefen den Hals hinunter. Als er den Toten genauer betrachtete, stutzte Gillok. Er ging in die Knie und befühlte die Kleidung. Eine Uniform. Fadenscheinig, abgetragen, die ursprüngliche Farbe kaum mehr zu erkennen.Ein Soldat. Nachdenklich strich er über die Brust des glatzköpfigen Mannes. „Finger weg von den Messern!“, röhrte die Stimme eines Säufers plötzlich laut und brachte die Menge erneut zum Wogen. Schnell hob Gillok die Hände und wandte sich der Meute zu, die ihn erbost anstarrte. „Mordkumpan!“, entrüstete sich ein magerbrüstiges, übermäßig geschminktes Weib. „Lasst Eure dreckigen Finger von den Klingen!“ „Ich wollte nur nach den Wunden des Mannes sehen“, sagte Gillok beruhigend, die Hände weiterhin in der Luft. Langsam drehte er sich zu Syriakin, versuchte, ihren Blick einzufangen, aber Syras Augen schweiften über die aufgebrachte Menge und ignorierten ihn. „Wozu? Er ist hinüber, das sieht doch ein Blinder“, spie die Dirne mit den hellroten Wangen aus. „Gerichtet von der da.“ Ihr Finger wies auf die Kriegerin, die das Weib ohne sichtbare Regung musterte. „Mörderin!“ „Macht ihr den Prozess!“ „Lasst sie in der Boragha schmoren!“ „Bringt sie in den Kerker, damit sie dort verrotten kann!“ Der Pulk, ausgespuckt von den Löchern und Höhlen der Säufergasse, drängte näher, geriet außer Kontrolle. Schimpfwörter hagelten auf Syriakin, heisere Stimmen schrien nach Vergeltung, Fäuste reckten sich in die Luft. Gillok sah nicht, wer das Toben lostrat. Plötzlich waren überall Arme, die herniederprasselten, Gegenstände, die auf Syriakin zuflogen. Steine. Unrat. Die Menge wogte in Kreisen um sie, spülte Gillok an den Rand. Syriakin hatte keine Chance. Zwar gingen Männer und Frauen unter dem Hagel ihrer Ausfälle zu Boden oder wankten getroffen zurück, doch von allen Seiten drückten und drängten aufgeheizte Körper gegen sie, kreisten sie ein, verhinderten, dass sie nach ihren Waffen greifen konnte. Gillok ruderte mit den Armen und schob Menschen beiseite, aber gegen die tobsüchtige Horde kam er nicht an. Nicht, ohne andere ernsthaft zu verletzen. Schläge und Tritte prasselten auf Syriakin ein. Sie versuchte, die Attacken zu parieren, selbst als sie zu Boden ging; wehrte sich verbissen weiter, gab erst auf, als ein Stiefel ihren Kopf traf. Ein Knüppel, den plötzlich einer der Anwesenden schwang und in Syriakins Bauchhöhle bohrte, verhinderte, dass die trampelnde Meute sie unter sich begrub. Gleichzeitig nagelte er die Kriegerin auf dem Pflaster fest. „Auseinander!“, brüllte eine donnernde Stimme, die auch die hintersten Reihen erreichte. Vor dem riesenhaften Mann mit den rollenden Augen wich die Menge zurück. Das Stimmengewirr ebbte ab und verstummte. Säufer bückten sich nach fallengelassenen Mützen, Dirnen schoben verrutschte Perücken zurecht. Steine polterten auf das Pflaster, Dolche wurden unauffällig in Hemdärmel geschoben, Fäuste hinter Rücken versteckt. Einzelne lösten sich aus dem Pulk, traten den Rückzug an. Andere entfernten sich grollend, manche stoben hinfort. Diebe verschwanden wie Schatten, die Taschen schwer von neuen Reichtümern. Nur wenige blieben zurück. Gillok beugte sich zu Syriakin hinunter, doch der Knüppel schob sich vor seine Brust. „Nichts da.“ „Ich wollte nur sehen, ob sie verletzt ist.“ Gillok zwang sich, ruhig zu sprechen. „Sie reagiert nicht.“ „Kennt Ihr sie?“, fragte der muskelbepackte Besitzer des Prügels barsch. „Ja.“ „Dann nehmt ihn ebenfalls in Gewahrsam“, befahl der Riese über Gilloks Kopf hinweg. Gillok fuhr herum und trat einen Schritt zurück, als er sechs Männer auf sich zu rennen sah. „Haltet ein“, rief er, die Arme abwehrend erhoben. „Ich hatte mit dem Vorfall nichts zu tun.“ „Das stimmt, Amon Gurbandat“, sagte einer der Dagebliebenen, ein schmächtiges Männlein mit harten Gesichtslinien. „Er kam, nachdem sie den Mann gemetzelt hatte.“ „Ihn trifft keine Schuld“, bestätigte ein anderer. „Er schien genauso erschrocken wie wir.“ Gurbandat brummte etwas Unverständliches. „Behaltet ihn im Auge“, wies er seine Uniformierten dann im Kommandoton an. Der Knüppel schwang bedrohlich in seiner Hand. „Sie hat sie einen Mann getötet, vor aller Augen. Vorsätzlich.“ Einer der Schergen zuckte mit den Achseln. „Sie scheint bewusstlos.“ „Scheint“, wiederholte Amon Gurbandat mit verkniffenem Lächeln, hob blitzschnell den Fuß und rammte ihn in Syriakins Seite. Gillok kannte Syras eiserne Selbstbeherrschung, aber der brutale Tritt ließ sie aufstöhnen. Noch während sie sich krümmte, senkte der Prügel sich auf ihren Nacken. „Schluss mit den Spielchen“, befahl Gurbandat dröhnend. „Ein Schlag und Ihr werdet nie wieder laufen. Für den Rest Eures erbärmlichen Lebens.“ „Warum tötet Ihr mich nicht gleich?“, drang Syriakins Stimme zwischen zusammengebissenen Zähnen zu ihnen herauf. „Syra“, stöhnte Gillok. „Weil ich das Gesetz vertrete“, zischte Gurbandat. Mit einer Faust griff er nach ihrem Kragen und zog sie auf die Beine, als wäre sie schwerelos. Gillok schluckte, gegen seinen Willen beeindruckt. Amon Gurbandat schien stark wie ein Bulle und gerissen wie ein Fuchs. Kein Mann, mit dem man sich leichtfertig anlegte, zumal auch seine Untergebenen aussahen, als verbrächten sie die meisten Stunden des Tages auf dem Kampfplatz. Zwei von ihnen traten Syriakins Beine auseinander und bogen ihre Arme auf dem Rücken so weit nach oben, dass ihre Finger beinahe ihr eigenes Schulterblatt berührten. Eine Prozedur, die sie in die Knie zwang. Gillok wurde unruhig. „Ah. Bleibt schön, wo Ihr seid!“ Warnend hob Gurbandat den Knüppel. „Sie tun nur ihre Pflicht.“ „Ihr behandelt sie wie eine Verbrecherin.“ „Sie ist eine kaltblütige Mörderin. Und ich helfe, Mörder zu bestrafen.“, Er beobachtete Syriakin, während seine Männer ihre Handgelenke fesselten und ihre Taschen systematisch entleerten, „Knebelt auch ihre Füße“, wies er seine Leute an. „Sie kämpft mit allen Finessen.“ Gillok betrachtete seine Gefährtin. Sie hatte jeden Widerstand aufgegeben, wirkte benommen und teilnahmslos. Er suchte ihren Blick. Sie hielt den Kopf gesenkt und von ihm abgewandt. Fühlte sie Schuld? Kein Wort der Verteidigung drang über ihre Lippen. Sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Empfand sie Reue, weil sie einen wehrlosen Menschen ohne Warnung getötet hatte? Oder Scham, weil sie es unbeherrscht getan hatte? Er war sicher, dass sie ihre Gründe gehabt hatte, aber ebenso sicher wusste er, dass sie diese niemals offenbaren würde. Statt nach Rechtfertigung würde sie nach einem Ausweg suchen. Nicht hier, nicht jetzt. Nicht in einem aussichtslosen Kampf gegen sieben bewaffnete und gut ausgebildete Männer. Sie wartete auf eine bessere Gelegenheit. Zumindest hoffte er das. „Amon Gurbandat“, wandte er sich an den Anführer. „Euer Name kommt mir bekannt vor.“ „Er befehligt die Stadtwache“, mischte der schmächtige Zuschauer sich ein. „Hat einiges zu sagen in Perth.“ „Wo bringt Ihr sie hin?“ „In den Kerker.“ „Was geschieht dann mit ihr?“ „Wir senden nach dem Leitenden Inquisitor. In der Zwischenzeit nehmen wir ein Protokoll auf, befragen die Zeugen. Falls wir noch welche finden“, knurrte Gurbandat, die Gasse hinab spähend. Gillok folgte seinem Blick. Anwohner, Dirnen und Wirtshausbesucher schienen verschluckt von den Türen verkrüppelter Häuser, geflüchtet in Keller und verrammelte Hinterhöfe. Ratten und magere Hunde eroberten den Durchlass zurück. „Ich habe alles gesehen. Von Anfang an“, erbot sich der schmächtige Zuschauer. „Sie kam von der Stadt her. Angeflogen wie ein ... ein Greifvogel oder so was. Der Mann stand hier an der Mauer, schäkerte mit Affran. Alles ganz harmlos.“ „Sie schleuderte die Messer, noch bevor sie heran war“, mischte sich der andere Passant, ein untersetzter Greis mit getrübten Augen, ein. Seine Stimme quietschte wie nasse Bootsplanken. „Kello wusste nicht einmal, wie ihm geschah. Ihre Messer hauten ihn um. Einfach so.“ „Kello, hmm“, knurrte Gurbandat. „Ein Kumpan von Euch?“ „Ach. Man kannte sich flüchtig. Traf sich, wie man sich eben ab und zu auf der Straße trifft.“ „Er war Soldat. So wie Ihr.“ Der Kommandant tippte auf die verblichene Uniformjacke des bereitwilligen Zeugen.Aufmerksam, ergänzte Gillok seine Einschätzung Gurbandats. „Viele hier sind Ausgediente“, entgegnete der Alte, dessen milchige Augen sich verengt hatten. „Das Wirtshaus hinter Euch ist ein beliebter Treffpunkt für Ehemalige.“ „Wirtshaus, na ja.“ Abschätzig musterte Gurbandat die rußgeschwärzte Spelunke. „Ehrenhaft Entlassene verbringen ihre Tage nicht in Räuberhöhlen wie dieser. Desertierte schon eher.“ „Wollt Ihr mir unterstellen ...“, hob der Greis empört an, doch Gurbandat zerschnitt den Protest mit einem Schwung des Knüppels. „Genug jetzt. Mich interessiert Eure Vergangenheit nicht und auch nicht die des Opfers. Kello. War das sein wirklicher Name?“ „Hier war er unter diesem Namen bekannt.“ Der Kommandant wandte sich an die Wachen. „Bringt den Toten zu den Ärzten. Sie sollen ihn genauer untersuchen, die Todesursache offiziell feststellen. Das Weib schleift zu den Kerkern. Gebt ihr die Einzelzelle ganz hinten.“ Er trat zu Syriakin und hob ihr Kinn an. „Keine Fenster, nicht einmal ein Windloch“, raunte er ihr zu. „Eine Tür, die Axtschlägen standhält. Glatte Wände, keine Schlupflöcher. Ich selbst kontrolliere sie regelmäßig. Nur für den Fall, dass Ihr an einen Ausbruch denkt.“ Grinsend ließ er sie los. „Und ihr“, rief er den Umstehenden zu, „begleitet meine Männer. Eure Aussagen werden aufgenommen.“ „Wie lange werdet Ihr sie festhalten?“, fragte Gillok. „Bis der Inquisitor eintrifft. Alles Weitere entscheidet er.“ „Ihr vernehmt sie nicht?“ „Wenn sie mit uns reden will, werden wir zuhören. Mehr nicht.“ „Darf sie Besuch empfangen?“ „Ihr scherzt wohl“, lachte Gurbandat. Seine Männer wieherten belustigt. „Sie braucht ärztlichen Beistand. Innere Verletzungen sind nicht auszuschließen.“ „Ah. Sie ist Schlimmeres gewohnt.“ „Woher wollt Ihr das wissen?“ „Sie heult nicht, sie fleht nicht. Hat die Taschen voller Spielzeuge. Kello war körperlich noch gut in Schuss, hatte Kampferfahrung und Soldateninstinkte, trug selbst ein, zwei Waffen am Leib. Sie schaltete ihn aus. Einfach so.“ Gurbandat schnipste mit den Fingern, ein obszönes Geräusch, das in der Gasse nachhallte. „Sie muss ihre Gründe gehabt haben“, wagte Gillok einen Versuch der Verteidigung. „Die kann sie dem Inquisitor schildern. Damit verkürzt sie vielleicht ihr Strafmaß. Wenn sie es schafft, sein Herz zu erweichen. Doch man sagt, Remond hätte seins verloren an jenem Tag.“ „Gestattet ihr einen Besuch“, bat Gillok. „Sollte es ihr schlechter gehen, rufen wir einen unserer Ärzte. Ihr könnt am Kerkereingang Nachrichten einholen. Hinterlasst eine Adresse. Wir senden einen Boten, sobald Remond eintrifft.“ Gilloks Gedanken rasten. „Der Kaiser“, fiel ihm ein. „Die Inquisitoren unterstehen dem Kaiser, genau wie die Stadtwache, nicht wahr?“ Gurbandats Augen verengten sich. „Erhofft Ihr seinen Beistand? Er ist für seine Nachsicht und seinen Verstand bekannt, doch hier liegt der Fall eindeutig. Kaltblütiger Mord.“ „Der nicht grundlos geschah.“ Gillok raffte seinen Mantel enger um sich. „Syra“, wandte er sich an seine Gefährtin. „Tu nichts Unbedachtes, hörst du? Ich werde nach Yruish gehen. Ich hole Ylaiy. Er wird dir helfen.“ Sie hob den Kopf. „Nein.“ „Natürlich! Das ist der einzige Weg. Er ist unser Freund.“ Ungläubig sahen Gurbandat und seine Wachen sich an. „Nein“, wiederholte Syriakin scharf. „Du musst! Deine Geheimnisse sind bei ihm sicher.“ „Ich werde nichts sagen. Meine Vergangenheit gehört mir.“ Gurbandat merkte auf. „Ich dachte mir schon, dass Ihr Kello kanntet. War der Mord ein Racheakt?“ „Tut Eure Pflicht. Bringt mich zum Kerker.“ Syriakins Stimme klirrte wie Eis. „Wie Ihr wünscht.“ Gurbandat gab seinen Männern ein Zeichen. Gillok fluchte, wechselte in seine Muttersprache. „Was wird aus Ciycain, wenn du in der Boragha bist?“ Syriakin blieb mit einem Ruck stehen, sodass die Wachen an ihren Seiten ins Taumeln kamen. „Sucht sie. Sucht die Kinder. Sucht nach Elphen und den Quellen.“ Auch sie sprach in der Heimatsprache. „Was ist mit dir?“ Sie presste die Lippen aufeinander. „Es gibt keinen Weg zurück.“ „Du bist doch keine Mörderin“, stammelte er. „Wir beide wissen, dass das nicht stimmt.“ „Syra, wer war er?“ „Er war das Böse.“ Beim letzten Wort wechselte sie zurück in die Reichssprache, als wolle sie ihre eigene Sprache nicht damit beschmutzen. Hastig drehte sie sich um und zog die Wachen mit sich. „Syra“, rief Gillok ihr verzweifelt nach. „Lasst ab“, befahl Amon Gurbandat. „Nehmt endlich diesen verfluchten Prügel von mir.“ Ärgerlich drückte Gillok die Waffe beiseite. „Ich bin kein Kämpfer.“ „Nein, Ihr seid der Vermittler. Der Friedenstiftende.“ Gurbandats finsteres Gesicht wurde eine Spur versöhnlicher. Er ließ den Knüppel sinken. „Wärt Ihr nicht gewesen, hätte sie weiter gekämpft.“ „Angeschlagen gegen sieben bewaffnete Männer? Nein.“ „Nein? Sie wirkte nicht allzu besorgt. Normalerweise schreien Verhaftete, schlagen um sich, beteuern ihre Unschuld.“ „Sie ist nicht unschuldig. Wen sollte sie also überzeugen?“ „Glaubt Ihr, sie heckt einen Fluchtplan aus? Oder irgendeine Gemeinheit?“ Gillok entschloss sich zur Ehrlichkeit. „Ich hoffe nicht.“ „Ich auch nicht.“ Gurbandat straffte sich. „Sprecht mit dem Kaiser. Wenn er wirklich Euer Freund ist, ist er der Einzige, der sie vor der Boragha retten kann.“ Gilloks Gesicht nahm einen misstrauischen Ausdruck an. „Solltet Ihr nicht auf der Seite des Opfers sein?“ „Tja, nun. Ihr wisst, wie es ist. Manchmal sind Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Das hier ist eine verrufene Gegend. Wer sich hier herumtreibt, hat kein reines Herz. Hier landet der Abschaum, der Bodensatz unserer Stadt. Kello hatte eine schmutzige Weste, das würde ich fast beschwören.“ „Doch selbst wenn Kello ein Dreckschwein war, hatte sie nicht das Recht, sein Leben zu nehmen“, sagte Gillok bedrückt. „Macht Euch auf den Weg nach Yruish, bevor sie auf die Idee kommt, Dummheiten anzustellen.“ „Stellt sicher, dass es ihr gut geht.“ „Kerkerhaft ist hart, aber sie wird es überleben.“ „Bitte. Ich kenne eine Ärztin. Erlaubt, dass sie nach ihr sehen darf.“ „Wen?“ „Ardanna. Sie leitet ein Haus der Kranken.“ „Ich kenne sie. Eine ausgezeichnete Ärztin.“ „Dann wisst Ihr, dass man ihr vertrauen kann. Lasst sie nach meiner Gefährtin sehen. Nur, um sicherzugehen, dass es ihr körperlich und geistig gut geht. Damit sie keine Dummheiten macht.“ Der Kommandant legte den Kopf schief. „Ihr habt einflussreiche Freunde, scheint mir. Man erzählt sich von Sumpflingen, die geholfen haben, Maxim Baraten dingfest zu machen. Die verwickelt waren in die Kämpfe in ihrem Haus. Das wart ihr, nicht wahr?“ „Wäre Syra nicht gewesen, wäre die Sache für Ardanna und ihre Tochter schlimmer ausgegangen, glaubt mir.“ Amon Gurbandat dachte lange nach, musterte Gillok aufmerksam, nickte schließlich. „Ein einmaliger Besuch. Nur die Ärztin.“
Palast. Yruish Von außen wirkte die Palaststadt wie immer. Eine wuchtige Ansammlung erhabener Gebäude in unterschiedlichen Baustilen. Balustraden, Ziermauern, Vordächer, Säulen, Portale, Bogengänge, Spitzpfeiler. „Davanas“, murmelte der Fraga-í beeindruckt. „Der Anblick ist jedes Mal betörend. Schau, wie die Sonne sich auf dem weißen Stein spiegelt. Es blendet geradezu.“ Akim nickte. „Marmor. Selten, schwer abzubauen und zu transportieren. Deshalb gilt er als unbezahlbar. Diesen hier hat man gewonnen aus dem Steinfeld, das Sila und Ivson passiert haben.“ Bei dem Gedanken an den Bauersburschen verdüsterten sich ihre Mienen und sie verstummten einen Augenblick. „Die Vorfahren des Kaisers mussten immens reich sein, wenn sie einen Palast daraus bauen lassen konnten.“ Akim musterte die Palastmauern, die Mansarddächer der imposanteren Gebäude, die Turmkuppeln. „Das meiste ist Fassade. Anfangs war der Palast nichts weiter als ein Jagdschloss. Die Elboin haben es über Jahrzehnte stetig ausgebaut. Ylaiy hat mir erzählt, dass es hier früher Parkanlagen gab, künstliche Seen und Bäche. Sie schwanden, weil all die Häuser für die Palaststadt errichtet wurden. Die besteht hauptsächlich aus Ziegeln und Sandstein. Nur die Mauern der Repräsentationsbauten sind mit Marmor und Gold verkleidet.“ „Blendwerk. So wie die nutzlosen Teppiche im Inneren.“ „Ja.“ „Beeindruckend ist es dennoch. Lass uns nachsehen, wie es drinnen aussieht.“ „Gehen wir zur Rückseite. Bestimmt lässt man die Bauhelfer dort ein.“ „Müssen wir uns wieder verstellen?“ Akim vergewisserte sich, dass seine Klingen fest unter Lederriemen und Gürtel am Körper saßen. „Vorerst. Vorsichtshalber.“ Die Handwerkerstadt hatte gelitten. Viele Hütten waren noch immer beschädigt, einige so zerstört, dass man begonnen hatte, sie abzureißen. Vereinzelt sahen sie verrußte Überreste von Grundmauern. Doch vor und in den Werkstätten war der Betrieb aufgenommen worden. Männer, Frauen und Kinder wuselten umher, räumten Schutt beiseite, versorgten Arbeiter mit Essen. Hammer- und Axtschläge zerhackten den Vormittag, Sägen knirschten, Schubkarren rumpelten über die Rundsteine. „Das ging schnell“, murmelte Nou. „Sieht beinahe alltäglich aus. Anders als vor ein paar Wochen.“ Akims schwarze Augen huschten über den Hof. Er hatte den Kopf gehoben und einen wachsamen Ausdruck im Gesicht. Abwartend studierte Kanouepe den Wüstenmann. „Sie trauern noch“, entgegnete Akim schließlich leise. Er wies mit dem Kinn auf einen älteren Mann, der auf einer Bank vor einer der Hütten kauerte und in die Ferne starrte. „Und sie leiden. Die Frau dort drüben hinkt, trägt einen Eimer statt zwei wie die anderen. Sieh in ihre Gesichter. Qual, Gram, entsetzliche Erinnerungen. Es stinkt immer noch nach verbranntem Fleisch. Die Bedürftigen fehlen und die Tore zur Küche sind verschlossen. Keine Soldaten auf dem Exerzierplatz, kein Pferdegetrappel. Selbst die Torwärter sind verstummt. Eine Menge ist wieder aufgebaut, doch das hier ist nicht derselbe Palast wie vor drei Jahren. Es gab viel mehr Leben.“ Nou seufzte. „Deine Sinne sind schärfer als meine.“ „Nicht mehr lange“, lächelte Akim traurig. „Sie schwinden allmählich. Sila allerdings erkenne ich.“ Nou blickte zu einer der Handwerkerhütten, von wo aus Sila ihnen mit wehenden Haaren entgegeneilte und sie in die Arme schloss. Akim musterte sie. Ihr Kleid wies Schweißränder und Schmutzflecken auf. „Wie geht es dir?“ „Hundemüde.“ Sie legte die Arme um sich, als ob sie fror. „Völlig erledigt. Wenigstens lenkt die Schufterei uns vom Grübeln ab. Seid ihr wohlauf?“ „Jonoy und Shesh suchen mit Syra und Gillok nach Spuren, helfen dabei, die Residenz zu flicken und Vorräte zu beschaffen. Mehlau erholt sich noch, Ardanna arbeitet wie eine Besessene. Aus demselben Grund wie ihr vermutlich. Aber ganz allmählich kehrt so etwas wie Alltag ein, zumindest nach außen hin.“ „Und innen Schock und Chaos. Die Toten verfolgen uns. Die Kaiserin. Bland, Daví, Deniirt. Paíre und Theou. Remond ist eine wandelnde Leiche.“ „Und Ylaiy?“, fragte Akim behutsam. Sila senkte den Blick. „Lebt von Tag zu Tag. Zieht sich oft zurück, isst wenig, schläft viel oder gar nicht. Manchmal lenkt ihn Talin ab, dann wieder sieht er ihn an und gibt ihn an Rana weiter, als wäre sein Anblick unerträglich.“ Akim zog sie an sich. „Gib ihm Zeit.“ „Wir brauchen ihn. Wir organisieren den Alltag, so gut wir es vermögen. Meine Mutter kümmert sich um die Dienerschaft und die Handwerker, ich überwache die Mahlzeiten, die Wäsche, die Pferde. Der Rat versucht, irgendeine Form von Regierung aufrechtzuerhalten. Zum Glück ist ein Teil von Ylaiys Soldaten zurück, der Palast nicht mehr schutzlos. Die meisten Botschafter, Diplomaten und Gäste sind abgereist, was weniger Arbeit bedeutet. Dafür weiß man mittlerweile wohl auch im letzten Winkel des Reiches, was passiert ist.“ Nou nickte. „Die Leute reden darüber, wie Vei die Kaiserin umgebracht hat. Dass ein fremder Mann aus der Boragha danach ihn gemetzelt hat. Dass Theou am Verrat beteiligt war.“ „Außerdem machen Gerüchte die Runde“, fügte Akim hinzu. „Halbwahrheiten und Übertreibungen, hauptsächlich über die Ereignisse hier. Ardannas Residenz ist im Vergleich unbedeutend, der Rest ihrer Dienerschaft schweigt. Doch in Yruish ... Jeder kennt eine Base, deren Neffe einen Freund hat, der bei dem Gemetzel dabei war. Irgendwann wird niemand mehr die Wahrheit kennen.“ „Das ist ja vielleicht nicht das Schlechteste“, seufzte Sila. Sie musterte die beiden jungen Männer, den Staub auf ihrer Kleidung. „Wo sind eure Pferde?“ „Wir sind gelaufen“, erklärte Kanouepe. Silas Gesicht hellte sich eine Spur auf. „Ein Sumpfmann und ein Wüstenläufer. Wahrscheinlich wart ihr zu Fuß sogar schneller. Kommt. Wir haben Wasser, Brot und Fleisch.“ „Das kann warten“, erwiderte Akim. „Zuerst wollen wir nach Ylaiy sehen.“ „Ich bringe euch zu ihm. Vielleicht vermögt ihr, ihn aufzurütteln.“ Zusammengekrümmt und mit wirr abstehendem Haar, lag der Kaiser auf einem Sessel. Er trug Hemd und Hose wie ein Handwerker, hatte die Ärmel hochgerollt. Akim erschrak über die spitze Nase und die hohlen Wangen. Zu seiner Erleichterung klarten Ylaiys Augen auf, als er sie erkannte. Schwerfällig hievte er sich aus dem Polster und trat auf sie zu. Trotz der gebeugten Haltung überragte er Akim um mehr als einen Kopf. „Akim“, begrüßte er den Fährtenleser, ihm die Hände reichend. „Kanouepe. Es ist schön, euch zu sehen.“ Der Fraga-í drückte die kalten Finger. „Dran.“ „Freunde nennen mich bei meinem Namen.“ Nou lächelte verlegen. Ylaiy winkte sie zu der Sitzgruppe und bot ihnen Wasser an. „Nun. Seid ihr hier, um nach dem Rechten zu schauen?“ „In regelmäßigen Abständen, wie besprochen“, erwiderte Akim. Ylaiy nickte und massierte sich die Stirn. „Ich wünschte, ihr müsstet das nicht sehen. Einen Kaiser, der vor Kummer den Verstand verliert. Und seine Würde.“ „Ihr trauert. Dabei verliert Ihr weder das eine noch das andere. Außerdem seid Ihr nicht untätig gewesen.“ Ylaiy warf Akim ein gequältes Lächeln zu. „Wann bist du nur so erwachsen geworden?“ „Auf einer langen Reise in den Norden. So wie Ihr, Kaiser.“ Ylaiy sackte in sich zusammen. „Ich habe nicht deine Kraft, fürchte ich.“ „Natürlich habt Ihr die“, sagte Akim sanft, aber bestimmt. „Es ist eine schwere Zeit, doch Ihr werdet sie überstehen. Ihr habt Sila und Talin. Rana. Uns.“ „Ich habe euch verraten. Habe Elphen direkt zu euch geführt.“ „Hört endlich auf mit diesen Schuldgefühlen! Chausselles hat Euren Sohn bedroht. Wir wissen das. Die Kinder schützen sich außerdem selbst. Sie waren über alle Berge, bis er eintraf.“ „Habt ihr Nachricht von ihnen?“ „Nein.“ Akim schlug die Augen nieder. „Was ist mit Elphen?“ „Keine Spur.“ „Das muss dir sehr zusetzen.“ Akim kämpfte mit sich, stand schließlich auf. „Es ist schlimm, aber nicht wie damals. Die Kinder sind älter und stärker geworden.“ „Trotzdem will man sie beschützen, nicht wahr?“ „Ja.“ Er verstummte und biss sich auf die Fingerspitzen. Akim sah Nou an und räusperte sich. „Lasst uns einen Spaziergang machen. Ihr braucht ein wenig Frischluft.“ Sobald sie das Tor zum Hauptgebäude hinter sich gelassen hatten und auf einen der vorderen Höfe eingebogen waren, erhöhte Ylaiy die Geschwindigkeit, als liefe er vor etwas davon. Akim und Nou hefteten sich an seine Fersen, folgten ihm an verwaisten Exerzierplätzen und Flaniergängen vorbei. Die Bewegung schien etwas in Ylaiy freizusetzen. Er begann zu reden, zu plappern vielmehr, sprudelte geradezu, als hätte er einen Knebel aus seinem Mund gezogen. „Ich hätte es kommen sehen müssen. Paíre hat es gesagt, hat mich gewarnt. Köder. Das waren wir. Wir hätten uns nicht auftrennen dürfen. Gemeinsam hätten wir sie aufhalten können.“ „Hört auf!“, sagte Akim. „Wir haben getan, was wir für richtig hielten. Eure Vorwürfe bringen nichts.“ „Ich hätte nie weggehen dürfen, hätte den Palast beschützen, die Soldaten hier lassen müssen. Sie würden noch leben. Alle hätten herkommen müssen, auch die Kinder.“ „Euer Palast war löchrig“, rief Nou. „Denkt an Eure Tante!“ „Ich habe Sila und Talin weggeschickt, Paíre und meine Mutter im Stich gelassen. Ich hätte für sie da sein müssen. Sie schützen müssen!“ Ylaiy brabbelte weitere Selbstvorwürfe, während sie kreuz und quer über die Höfe wieselten. Akim bemerkte, wie Bewegung hinter den Fenstern und auf den Balkonen einsetzte, sah Menschen aus dem Weg huschen, spürte neugierige Blicke. Er zog den aufgebrachten Elboin unter eine Balustrade. „Genug jetzt! Lasst uns irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind.“ Ylaiy sah ihn an. „Arena“, sagte er nur. Mit jedem Schritt zurück über die Höfe wurde Ylaiy beherrschter. Seine Gestalt richtete sich auf, die Schultern strafften sich, der Blick wurde klarer. Akim begriff, dass Ylaiy eine Maske überstreifte, eine, die für die Öffentlichkeit bestimmt war. Zu dritt ließen sie sich im Schneidersitz auf den Sägespänen nieder, den Rücken an die mit Sand gefüllten Säcke gelehnt. „Veis Hunde kamen über uns wie eine Sturmflut“, begann Ylaiy leise. Akim horchte auf. Einzelheiten jener Nacht hatten Rana und Sila bei ihrem letzten Besuch geschildert. Es war das erste Mal, dass Ylaiy über den Thronraub sprach. „Elphens Männer hingegen verhielten sich diszipliniert. Rana sah nicht einen von ihnen bei den Hütten. Ihnen ging es nicht um Rache. Auch nicht um den Thron. Elphen wirkte beinahe gelangweilt.“ „Ihr wisst doch, dass die Chausselles die Kinder wollen“, entgegnete Nou. „Ihre Magie. Um ein eigenes Reich in der Wüste zu gründen. Der Älteste in der Boragha erzählte davon, Elphen ebenso.“ „Ich erinnere mich, aber nur vage.“ „Bei unserem letzten Besuch wart Ihr noch nicht ganz bei Euch“, gab Akim zurück. „Es ist alles so verwirrend. Adivs Mutter, die noch lebt. Chries, der ihr hilft. Chausselles, die Magie.“ Akim lächelte. „Euer Verstand setzt sich ja doch in Bewegung. Das ist gut. Wir brauchen ihn.“ „Aber ich kann hier nicht weg. Nicht schon wieder. Nicht während einer Staatstrauer. Ich bin der Kaiser. Es gibt unendlich viel zu tun.“ „Das wissen wir. Helft uns mit Eurem Kopf.“ Ylaiy strich sich über den Bart. „Was habt ihr unternommen?“ „Spuren gesucht, hauptsächlich. In der Wüste kennen wir C’hadruoun. Windgeister. Sie kommen, richten Schaden an, verschwinden spurlos. Chausselles und seine Leute sind wie sie.“ „Gar nichts?“ „Elphens Leibwächterin und mindestens ein weiterer Tänzer waren schwer verwundet, doch unmittelbar nach den Kämpfen setzte Starkregen ein. Keine Blutspuren. Nirgends. Perth war menschenleer wegen der Seuche. Die sich nach draußen wagten, trugen Tücher. Elphen konnte ungesehen verschwinden.“ „Er muss irgendwo ein Versteck haben.“ „Vielleicht graben sie sich ein“, sagte Nou. „Sie kommen doch aus der Erde.“ „Was ist mit den Kindern?“ „Kian ist nicht weit, das spüre ich“, flüsterte Akim. „Von Yvain wissen wir, dass er auf einem Leichenwagen aus Perth floh. Zwei Totengräber haben ihn zuletzt gesehen. Arlen versteckte sich einige Tage in einer Kirche, bevor er endgültig verschwand. Ciycain hat keine Fährte hinterlassen. Syriakin und Gillok wandern jeden Tag stundenlang durch die Stadt. Nichts. Sie vermuten, dass sie Wasserwege benutzt hat.“ „Das klingt plausibel. Sie ist im Wasser zu Hause.“ „Aí. Es gibt nicht viel anderes zu tun außer zu warten.“ „Worauf?“ „Dass etwas passiert. Dass jemand den ersten Schritt macht.“ „Ich setze all mein Gold auf Syra.“ Akim lächelte nicht. „Irgendwann wird sie losziehen, um Ciycain zu suchen.“ „Das ist vielleicht genau das, worauf Elphen wartet.“ „Das hämmert Gillok ihr auch immer wieder ein. Ihr wisst, wie sie ist.“ Seufzend erhob sich Ylaiy und klopfte sich Späne vom Hosenboden. „Ja.“ „Was nun?“, fragte Akim und stand ebenfalls auf. „Im Pajut gibt es den Begriff pat“, erwiderte Ylaiy matt. „Er bedeutet, dass es weder Gewinner noch Verlierer gibt. Ein Unentschieden. Die Partie ist beendet.“ „Das hier ist kein Spiel“, entgegnete Akim scharf. „Nichts ist vorbei. Die Kinder sind in Gefahr. Die Chausselles sind nur die konkreteste, unmittelbarste. Adivs Mutter glaubt, dass auch die Majestes den Kindern schaden wollen. Und dann ist da die Magie selbst. Sie ist das wahre Ungeheuer.“ Ylaiy starrte den Fährtenleser an, dessen Sanftheit fortgeweht war wie Wüstenluft. „Maji nennen die Majestes sie“, fügte Nou hinzu. „Kaadaa ist der Hort der Magie“, murmelte Ylaiy. „Und Maji bringt den Tod. Bland hatte recht. Der Codex spricht davon.“ „Und Ihr in Rätseln“, erwiderte Nou mit gerunzelter Stirn. Ylaiy winkte ab. „Später. Ich muss nachdenken.“
Kerker. Perth „Ihr habt wahrlich ein Talent dafür, Euch in ausweglose Situationen zu bringen.“ Ardanna sah sich in der düsteren Zelle um. Für Besucher blieb wenig Platz. „Nehmt den Strohballen“, schlug die Kriegerin vor. „Er sieht schmutzig und unbequem aus.“ „So steht.“ „Ich betrachte Eure Ruppigkeit als Zeichen zufriedenstellender Gesundheit.“ Ardanna band ihr Kopftuch ab und schüttelte einige Päckchen heraus, welche sie der Sumpffrau zuwarf. Sie landeten auf Syriakins Bauch und rutschten von dort zu Boden. „Bringt Ihr Feile und Stichel? Dann nehmt sie wieder mit. Gitter zum Durchfeilen gibt es nicht und der Boden besteht aus massivem Stein.“ „Ja, ein wahrhaft unwirtlicher Ort. Einem Menschen, der an Waldluft und Meereswind gewöhnt ist, dürfte er ziemlich zusetzen. Ihr fühlt Euch schon in unseren Häusern unwohl. In diesem Loch zu liegen, muss ein Albtraum sein.“ „Spielt Ihr Eure Kopfspielchen? Lasst sie. Ich will nicht reden.“ „Dann rede ich. In den Päckchen ist Fleisch.“ „Die Wachen versorgen mich mit Nahrung und Wasser.“ „Schimmeliges Brot und angesäuerte Suppe. Beides habt Ihr nicht angerührt. Außerdem würdet ihr lieber Euren eigenen Urin trinken als Wasser, in welchem womöglich Ungeziefer schwimmt“, sagte Ardanna, nachdem sie Krug und Napf inspiziert hatte. Mit spitzen Fingern hob sie eine Decke hoch, durch deren Stoff Kerzenlicht schimmerte. „Ihr habt Glück, dass erst Herbst ist. Im Winter würdet Ihr hier unten erbärmlich frieren. Dennoch solltet Ihr um mehr Stroh und eine zweite Decke bitten. Der Boden ist eisig.“ „Ich friere nicht.“ Ardanna beugte sich vor und strich über Syriakins nackte Arme. Die Kette klirrte, als die Sumpffrau vor dem Kontakt floh. „Kalt.“ Ardanna gab vor, den Widerstand der anderen Frau nicht zu spüren. Manche Menschen ertrugen Berührungen schwer. „Ihr müsst die Arme bewegen, den linken vor allem.“ „Sicher.“ Verdrießlich rüttelte die Kriegerin an der Kette, die durch einen Ring an der Decke verlief. „Schüttelt Eure Hand aus. Schwingt den Arm. Er ist kaum mehr durchblutet.“ „Danke für den Ratschlag.“ „Störrisch wie eine Eselin. Wo sind Eure Sachen?“ „Abgenommen.“ Ardannas Finger rieben über die Schultern der Kriegerin, um sie zu erwärmen, wanderten über Hals und Gesicht, zwangen den Kopf zurück, als Syriakin ihn wegdrehen wollte. „Bei allen Göttern, haltet still! Ich will untersuchen, ob Euer Eisenschädel Schaden davon getragen hat.“ „Es ist nur eine Beule.“ „Eine beeindruckende“, entgegnete die Najimi und drückte den Kopf herunter, damit sie die Schwellung in der Düsternis des engen Verlieses besser begutachten konnte. „Selbst Euer störrischer Schädel dürfte ordentlich gebrummt haben. Ist Euch schwindelig? Übel?“ „Nein.“ „Folgt meinem Finger!“ Die Heilerin schwenkte ihren Zeigefinger vor Syriakins Gesicht hin und her, bis diese unversehens nach ihrem Handgelenk langte. „Genug! Es geht mir gut.“ Sofort holte Ardanna mit der freien Hand aus, doch Syriakin schwang ihren Kopf herum, noch bevor die Handfläche ihre Wange berührte. Ihr linker Arm riss an der Kette. Die Heilerin wich zurück, zog sich mit einiger Anstrengung aus dem Griff der gefesselten Frau und ließ sich dann mit ausgestreckten Armen schwer auf sie fallen. Der Schmerz ließ Syriakin scharf die Luft einziehen. Wie von selbst fuhr ihre Hand nach der rechten Hüfte. Ardanna stülpte ihre Hand darüber, während sie die Kriegerin auf die Seite drehte. „Scht.“ Sie streichelte Syriakins Finger. „Es geht gleich vorbei. Gillok berichtete mir von dem Stiefeltritt.“ Sie nestelte Stoffschichten beiseite, schob Syriakins Hand weg und strich über die geschwollene Stelle. Plötzlich war ihr energischer Ton verschwunden, waren ihre Bewegungen behutsam, beinahe zärtlich, bis die Sumpffrau still lag unter den sanften Berührungen. „Amon Gurbandat wusste, was er tat. Er kennt den menschlichen Körper, seine Schwachstellen. Die wunden Punkte. Er hat Euch gut getroffen. Hat auf das weiche Fleisch unter den Rippen gezielt, unmittelbar unter dem Zwerchfell. Hat Eure Niere erwischt. Mit einer stählernen Stiefelspitze. Äußerlich hat er einigen Schaden angerichtet. Nun seid Ihr mit Schmerz erfahren, könnt ihn verdrängen wie keine zweite. Aber dieser setzt Euch zu, nicht wahr? Bevor ich hereinkam, habt Ihr auf der Seite gelegen, weil Ihr auf dem Rücken nicht liegen könnt, schon gar nicht in dünner Häftlingskleidung auf kaltem Stein. Ihr seid zusammengezuckt, als ich die Päckchen auf Euren Bauch warf, und Ihr vermeidet es, Euch zu bewegen, selbst wenn Eure Schultern und Arme gefühllos werden.“ Während die Sumpffrau mit mahlenden Kiefern schwieg, strich Ardanna unablässig über die Stelle, auf der sich im grauen Zwielicht die Stiefelspitze Gurbandats deutlich abzeichnete. „Als ich Euch unterstellte, Urin statt Wasser zu trinken, wanderten Eure Augen zu dem Eimer. Ihr habt nicht aus ihm getrunken, denn Ihr fürchtet, dass Blut darin ist. Nicht unüblich bei Nierenverletzungen. Soll ich nachsehen?“ „Nein“, ächzte Syriakin. „Schön liegenbleiben“, befahl Ardanna, mit einer Hand ein Tuch aus ihrer Brusttasche nestelnd und nach einem der Päckchen greifend, das sie umständlich öffnete. Sie entleerte den Inhalt auf das Tuch, derweil ihre andere Hand weiterhin über den Bluterguss strich. Dann setzte sie sich kurzerhand auf die Beine der Kriegerin, nahm die Hand von der Verletzung und stützte sie in den Rücken der Sumpffrau. „Nicht erschrecken“, sagte sie und presste das Tuch auf die misshandelte Stelle. „Es wird warm werden. Entspannt Euch weiter. Ihr macht das sehr gut. Ihr müsst hier nicht stark sein. Hier unten sieht Euch keiner. Lasst den Schmerz zu. Ich bin hier, um ihn kleiner zu machen. Entspannt Euch.“ „Ihr spielt Eure Kopfspielchen“, murmelte die Kriegerin. Ihr Aufbegehren kam dumpf und schläfrig. „Ich will nicht reden.“ „Ich sagte doch, dass ich rede. Ihr entspannt Euch.“ „Ihr plappert meinen Verstand wirr.“ „Ich kümmere mich um Eure Verletzung. Euer Verstand arbeitete schon lange, bevor ich durch diese Tür trat. Um den kümmert Ihr Euch allein. Ihr werdet eine Lösung finden.“ „Da bin ich mir nicht sicher.“ Syriakin bettete ihren Kopf in ihre Armbeuge; eine unbequeme Haltung, da der Arm an der Kette schwang und die Heilerin auf ihren Oberschenkeln hockte. Ardanna schlang das mit Heilerde bestrichene Tuch um Syriakins Hüfte. „Wisst Ihr noch, wie ich Euch neulich sagte, Ihr würdet schlafen können?“ „Ihr hattet irgendwelche Zauberkräfte eingesetzt. Meinen Verstand eingesponnen. So wie jetzt.“ „Ich hatte recht. Ich werde auch diesmal recht behalten. Euch wird etwas einfallen. Ihr mögt Euch in ausweglose Situationen bringen, doch genauso oft manövriert Ihr Euch wieder aus ihnen heraus. Wahrscheinlich habt Ihr längst einen Plan ausgeheckt. Möglicherweise flieht Ihr auf dem Weg in die Boragha.“ „Ihr versucht, in mein Inneres zu dringen.“ „Ich kümmere mich um Eure Wunden. Was mich erneut zu dem Urin bringt. War Blut darin? Habt Ihr nachgesehen? Wart Ihr überhaupt schon auf dem Eimer? Allein darauf zu gelangen, einhändig und mit steifen Gliedern, dürfte einige Schmerzen bereiten.“ „Schwer zu erkennen. Ich denke nicht.“ „Dennoch habt Ihr ihn nicht getrunken. Das Wasser auch nicht.“ „Woher ...?“ „Der Krug ist randvoll. Ihr seid müde. Langsamer als sonst. Eure Haut ist trocken. Ihr müsst trinken.“ „Verseuchtes Wasser?“ „Abgestanden höchstens. Perth tötet seine Gefangenen nicht. Wartet.“, Ardanna erhob sich mit raschelndem Kleid, griff nach dem Krug und roch daran. „Es riecht nur ein bisschen erdig. Ich halte Euch ohnehin nicht für einen Menschen, der sich schnell den Magen verdirbt. Soweit ich weiß, erkrankt Ihr höchst selten. Dafür seid Ihr umso öfter verletzt.“ Sie hielt der Kriegerin den Krug hin, den diese misstrauisch beäugte. „Ihr habt mir schon einmal Wasser angeboten. Stunden später wachte ich auf und Ihr hattet an mir herumgeschnitten.“ „Diesmal gibt es nichts zu schneiden. Trinkt.“ Resolut drückte Ardanna Syriakin den Wasserkrug an den Mund, half ihr in eine sitzende Stellung, beugte sich vor und schüttelte den Eimer. „Kein Blut. Eure Niere wird noch eine Weile schmerzen, aber das Schlimmste ist vorbei. - Werdet Ihr Ylaiy alles erklären?“ Syriakin setzte den Krug ab und leckte sich das Wasser von den Lippen. „Ich werde gar nichts erklären. Niemandem.“ „Gillok meinte, Ihr seid auf der Straße stehengeblieben, als wäret Ihr festgefroren“, sagte Ardanna und griff nach Syriakins Arm, als diese sich auf das Stroh zurücksinken lassen wollte. Die Kriegerin riss ihren Arm zurück. „Eure Sinnesnarreteien funktionieren kein zweites Mal. Ich rede nicht.“ „Ich rede, ganz recht. Ihr hört zu.“ „Lasst das mit Eurer Stimme. Ich weiß, dass Ihr sie verstellen könnt. Ich will sie nicht in meinem Kopf.“ „Gillok behauptete, Ihr saht aus, als hättet Ihr einen Geist gesehen, aber da war niemand. Keiner schenkte Euch Beachtung. Was habt Ihr gesehen?“ „Nichts. Hört auf.“ Ardanna beugte sich vor. „Was habt Ihr gesehen, das Gillok entgangen ist? Wen habt Ihr gesehen?“ Die Kriegerin wich Ardannas Blick aus. „Niemanden.“ „Und doch ranntet Ihr los. Eine Jägerin auf der Suche nach ihrer Beute. Das passt nicht zu Euch. Die Gewalt, ja, aber nicht dieses Unbeherrschte. Was hat es bewirkt?“ Syriakin starrte zur Seite. Ihre Kiefer mahlten. Ardanna schüttelte sie. „Verdammt, Syra! Ihr haltet so verbissen an Euren Geheimnissen fest, dass sie das wahre Gefängnis darstellen. Begreift das! Nicht diese Mauern hier sperren Euch ein, nicht die Ketten fesseln Euch, sondern Euer Starrsinn. Ihr mögt auf dem Weg zur Boragha fliehen oder aus der Boragha selbst; irgendeiner Eurer Pläne wird aufgehen. Aber Ihr werdet nicht frei sein. Niemals. Irgendwo wird immer ein Blaukopf sein, der Euch Narben beigebracht hat. Wer war es? Wen habt Ihr gesehen?“ „Ich habe ihn nicht gesehen.“ Ardanna war verdutzt, als der Widerstand der Kriegerin abrupt wegbrach, doch sie fing sich schnell. „Ihr habt ihn gehört.“ Das Schweigen war Bestätigung genug. „Ihr erkanntet die Stimme.“ „Heiser und irgendwie schmierig. Voller Verachtung. Sie war in meinem Geist. War all die Jahre in meinen Ohren.“ Syriakins Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. „Und ich dachte, ich hätte sie vergessen.“ „Schlimme Dinge vergisst man nie. Man versucht es. Doch in bestimmten Momenten realisiert man, dass nichts vergangen ist. Außer der Zeit.“ Die Kriegerin schwieg. Kaute auf ihren Lippen, mahlte mit den Kiefern. „Wie viel Zeit ist vergangen?“, fragte Ardanna leise. „Viel. Fast ein Jahrzehnt. Und trotzdem ... trotzdem ...“ „Macht der Klang einer Stimme Euch zur Mörderin.“ Ruckartig wandte Syriakin den Kopf und starrte Ardanna aus umwölkten Augen an. „Meine Tochter wird mich hassen.“ „Nichts bringt Ciycain dazu, Euch zu hassen. Es bringt sie höchstens dazu, Euch besser zu verstehen, wenn sie alt genug ist. Euer Selbsthass ist außerdem schon groß genug.“ „Ich hasse mich nicht.“ „Natürlich tut Ihr das. Ihr hasst Euch für Eure Schwäche. Wolltet sie bekämpfen. Mit Willenskraft. Mit körperlicher Stärke und einem Schild um Euch. Wer könnte einer Kämpferin wehtun? Ihr habt diesen Mann getötet. Ist der Hass damit weg? Sind die Schmerzen weg? Die Erinnerungen?“ „Ihr wollt mir einreden, dass Hass etwas Verabscheuungswürdiges ist? Rache unmenschlich? Den Versuch haben andere vor Euch unternommen, einschließlich meiner selbst. Rache und Hass waren lange Zeit das Einzige, das mich am Leben hielt. Hass gibt Kraft. Rache ist ein Geschenk für die Überlebenden. Die Erinnerungen sind nicht weg, doch sie sind erträglicher geworden. Ich fühle Schmerzen, aber auch Leichtigkeit. Ihr glaubt, ich würde mich vor mir selbst verkriechen? Ich laufe nicht davon. Ich weiß, wer ich bin.“ „Eine Mörderin.“ „Er hatte es verdient.“ „Was, wenn es der Falsche war? Jemand, der eine ähnliche Stimme hatte?“ „Das war er nicht.“ „Wisst Ihr das sicher?“ „Ich kenne seine Stimme.“ „Stimmen verändern sich. Beinahe zehn Jahre, Ihr habt es selbst gesagt. Zehn Jahre, Alkohol, Rauschmittel. Es könnte der falsche Mann gewesen sein.“ „Es war nicht der falsche.“ „Was, wenn Ihr Euch täuscht?“ Die Kriegerin hieb mit ihrer Faust auf den Boden. „Nein!“ „Was, wenn Ciycain dabei gewesen wäre?“ „Was?“ „Hättet Ihr dann auch so reagiert? Hättet Ihr Eure Tochter zusehen lassen, wie Ihr einen Mann ermordet?“ „Sie war nicht dort. Ihr wisst, dass sie nicht dort war.“ „Vielleicht hat Euch ein anderes Kind gesehen. Sein Kind möglicherweise. Rache verletzt Unschuldige, wisst Ihr? Und sie hört nie auf.“ „Es gab keine Kinder.“ „Ihr hattet doch nur Augen für den Mann mit der Stimme.“ „Bada war nicht da. Es waren keine Kinder dort.“ „Vielleicht wart Ihr doch von der Umgebung abgelenkt und habt den Falschen erwischt. Sprach er noch, als Ihr in der Gasse wart?“ „Ja. Nein. Hört auf!“ „Rache ist kein Geschenk. Sie ist ein Fluch.“ „Nein. Es war der Richtige. Ich kannte die Stimme.“ „Nur eine Stimme. Was hat sie gesagt?“ „Ich weiß nicht. Ich habe auf den Klang geachtet.“ „Nicht heute. Damals. Vor zehn Jahren. Was hat er gesagt?“ „Ich habe auf den Klang geachtet.“ „Damals, Syriakin. Nicht heute.“ „Ich kannte die Worte nicht.“ „Er war ein Fremder?“ „Eindringlinge. Sie sprachen Yr.“ „Warum dann die Stimme? Die Worte konnten Euch doch nicht verletzen.“ „Er ... er ... spornte die anderen an.“ „Was noch? Kommt schon! Was war mit der Stimme?“ „Er hat geatmet. Pfeifend. Hoch. Geschrien. Hört auf!“ Ardanna riss Syriakins Hände von deren Ohren hinunter und hielt sie fest. Ignorierte Tritte und klirrende Ketten, setzte sich auf den Schoß der Kriegerin, drückte sie zu Boden, zwang ihr ihren Blick auf. „Das reicht nicht, Frâgg. Das sind nur Geräusche. Was hat die Stimme gesagt, Sumpfratte?“ „Das“, knirschte Syriakin plötzlich und schoss mit ihrem Kopf nach vorn auf Ardannas Stirn zu. Ardanna musste damit gerechnet haben, denn sie wich geschwind zur Seite aus. „Sumpfratte? Was noch? Schlammschuppe? Schlangenfresser?“ Ardannas Stimme hatte sich verändert. Sie war kalt geworden. Kalt, laut und voller Verachtung. „Hört auf!“ „Das kriegen Frâgg doch alle Tage zu hören!“ „Ich kannte die Wörter nicht. Aber ich ahnte sie. Seine Stimme war ... wie Eure.“ „Also bin ich der Richtige. Er war der Falsche.“ „Nein“, spuckte die Kriegerin aus und zog erneut an den Fesseln. Putz rieselte von der Decke. „Er war es. Ich weiß es!“ „Nur aufgrund einer Stimme?“ „Er lachte. Höhnte. Schnaufte. Stöhnte. Grunzte. Kreischte.“ „Er kreischte?“ „Nein. Ich kreischte.“ Mit einem Mal war Stille. Ardanna ließ Syriakins Arme los. Sie fiel auf ihre Fersen zurück und betrachtete die Kriegerin, deren Augen weit offen standen und sie anstarrten. Ardanna fing sich zuerst. Sie beugte sich vor und strich eine Strähne schwarzen Haares aus Syriakins Stirn. „Es tut mir leid.“ Die Kriegerin antwortete nicht. Ihr Gesicht war weiß und ihr Atem ging schnell. „Es war wichtig, dass Ihr redet. Das ist es noch.“ „Ihr seid eine Hexe“, flüsterte Syriakin. „Ihr spielt mit unlauteren Mitteln. Sogar Euer Umschlag betäubt meinen Geist.“ „Wollt Ihr mir erzählen, was genau passiert ist damals?“ „Geht von mir runter.“ Ardanna rappelte sich auf, klopfte sich Staub von den Kleidern. Dann betrachtete sie die Kriegerin traurig. „Dieser Mann hat Euch geschändet. Euch Gewalt angetan. Und er war nicht allein.“ Das Gesicht der Sumpffrau verkrampfte sich. „Seid Ihr fertig?“ „Ihr müsst es Ylaiy erzählen.“ „Nein.“ „Es geht um Euer Leben.“ „Eben. Ich muss damit leben.“ „Ihr seid doch nicht allein. Andere wollen Euch helfen.“ „Warum?“ „Weil Ihr kein schlechter Mensch seid. Vielleicht akzeptiert Ihr das endlich. Menschen mögen Euch. Ihr seid ihnen wichtig. Doch Eure Vergangenheit berührt auch sie. All jene, die mit Euch ziehen. Eure Vergangenheit überschattet alles. Wie soll ein Mensch allein leben mit all diesem Ballast? Ihr müsst davon abgeben, bevor er Euch erdrückt.“ Die Heilerin wandte sich zum Gehen. Mit zwei kurzen Schritten hatte sie die Tür erreicht und hob ihren Arm, doch sie hielt inne, als die Kriegerin zögernd zu sprechen begann. „Sie hatten leichtes Spiel mit mir. Viel zu leicht. Ich war so … erschrocken. Sein Mund war an meinem Ohr, die ganze Zeit. Die Stimme in meinem Kopf. Einige Male brüllte er, dass ich dachte, ich werde taub. Meist stöhnte er. Keuchte und flüsterte.“ „Wie ein Liebhaber? Sprach er zärtlich? Wollüstig?“ „Das durfte er nicht. Er ... hatte kein Recht. Die anderen haben nicht geflüstert. Er aber, er säuselte und er knabberte ... an meinem Ohr ...“ „Psst“ Ardanna, huschte zu Syriakin zurück und kniete vor ihr nieder. „Atmet! Atmet. Ihr habt die Stimme wiedergehört. Brüllte sie?“ „Nein. Er bändelte mit einer Dirne an.“ „Ihr hörtet sie auf der Straße?“ „Die Gasse trug die Stimme nach draußen.“ „Atmet weiter. Er ist nicht mehr da, ebenso wenig der Blaukopf. Der hat auch geflüstert, nicht wahr? Zärtlich, dabei voller Gewalt und Schmerz. Er ist weg, Syriakin. Aber Ihr seid noch da. Ihr seid da. Ihr lebt. Tut es ohne schlechtes Gewissen. Es war nicht Eure Schuld.“ „Ihr hext“, stieß die Kriegerin mit glänzenden Augen aus. „Es war nicht Eure Schuld. Versteht Ihr das? Nicht Eure Schuld.“ Syriakin atmete zittrig ein. „Ihr müsst keine Fluchtpläne wälzen. Reden ist alles, was Ihr tun müsst. Euch verteidigen.“ „Sie hat recht, störrische Frau. Ihr solltet reden. Euch erklären.“ Amon Gurbandat starrte durch das winzige Viereck, das in die Kerkertür eingelassen war. Für einen Mann seiner Größe und Statur bewegte er sich erstaunlich geräuschlos. „Seit wann steht Ihr dort?“, fragte Ardanna. „Lang genug.“ In der Stimme des bulligen Kommandanten schwang etwas mit, das die Heilerin nicht recht einordnen konnte. Bedauern? Verständnis? Mitleid? Auch die Kriegerin hörte es und wurde steif wie ein Brett. Ihr Gesicht verschloss sich. Ardanna beugte sich zu ihr. „Wenn Ihr nicht mit Ylaiy reden könnt, dann berichtet Remond. Oder Gurbandat. Er kann alles niederschreiben für den Inquisitor. Ylaiy wird die Protokolle nicht lesen, wenn wir ihn darum bitten.“ Syriakin antwortete nicht. Ihr war nicht anzusehen, ob sie die Worte überhaupt vernommen hatte. Ardanna seufzte und schritt zur Tür, die Gurbandat ihr aufhielt. „Wird sie reden?“ „Sie ist ein harter Brocken. Ich weiß es nicht.“ „Besucht sie, so oft Ihr wollt. Ein paar Tage wird sie wohl noch hier sein.“ „Danke, Amon. Passt ein wenig auf sie auf, ja?“
Palastzimmer. Yruish Nou stand am Fenster, hatte den Vorhang angehoben, die Stirn an das Glas gelegt, betrachtete den in nächtliche Stille getränkten Hof. „Es ist so ruhig“, sagte er, mehr zu sich selbst. „Als wir aus den Sümpfen hierher kamen, erschien er uns wie ein Bienenstock. Nun ist er verstummt.“ „Als wäre das Leben zum Stillstand gekommen“, stimmte Sila vom Tisch aus zu. „Keine Zecherei, keine Bankette. Schwer zu glauben, dass es so friedlich sein kann nach dem Lärm jener Nacht.“ Sie fuhr mit dem Finger den Rand ihres Bechers entlang. Rana senkte den Kopf. Graue Strähnen sprenkelten neuerdings das dichte Haar. Ihr Essen hatte sie kaum angerührt.Jorgen, dachte Akim und schüttelte sich. Der Schlächter. Adivs Albtraum. „Sind Veis Schergen gefasst?“, wandte er sich an den Kaiser. Ylaiy sah von seinem Teller auf. Er war der Einzige, der noch aß. „Soweit wir wissen. Falls es einigen gelungen ist, zu fliehen, haben wir sie nicht gefunden. Richtig gesucht haben wir allerdings nicht.“ „Das hat Elphen übernommen“, warf Sila ein. Überrascht drehte Nou sich um. „Chausselles?“ „Als sie den Palast verließen, streckten sie ein paar von Veis Hunden nieder, die sich bei den Handwerkern herumtrieben. Rasch und leise, ohne Erklärungen. Dann verschwanden sie. In den folgenden Tagen fand man in Yruish immer mal wieder getötete Ehemalige.“ Nou runzelte die Stirn. „Ich dachte, sie waren Verbündete?“ „Zweckverbündete“, erläuterte Ylaiy. „Nicht mehr von Nutzen für Elphen. Sein Ziel war ein anderes.“ „Er hat es nicht erreicht“, entgegnete Akim. „Die Kinder leben.“ Rana hob den Blick. „Ivson und Mannero nicht.“ „Nein“, erwiderte Akim leise und senkte sein Haupt. „Man hat sie gefunden“, fuhr Rana mit brüchiger Stimme fort. „Evart und Ida. Die ganze Familie Vanstetten. Die Welt ist nicht gerecht.“ Schweigen senkte sich über die kleine Tafelrunde. Schließlich schob Rana ihren Stuhl zurück. „Ich lege mich hin. Akim, Nou, es ist schön, dass ihr hier seid. Bleibt ihr ein paar Tage?“ Akim nickte. „Wir werden uns noch sehen.“ „Ich freue mich darauf.“ Rana zwang sich zu einem flüchtigen Lächeln, legte die Handflächen aneinander und verabschiedete sich. „Ich sorge mich um sie“, seufzte Sila, sobald ihre Mutter zur Tür hinaus war. „Bestimmt holt sie Talin wieder zu sich ins Bett. Sie lässt ihn kaum mehr aus den Augen.“ „Sie muss alles verarbeiten“, erwiderte Akim. „Das dauert.“ Ylaiy nahm einen weiteren Schluck. „Von manchen Schlägen erholt man sich nicht.“ „Hoffen wir das Beste.“ Ylaiy stellte den Becher ab und räusperte sich. „Konzentrieren wir uns auf die Gegenwart, deshalb seid ihr schließlich hier. Also: Elphen geht über Leichen. Er ist zielstrebig und gnadenlos, aber er meidet sinnlose, brutale Gewalt. Keiner seiner Männer hat geplündert oder wahllos Leute abgeschlachtet wie Veis Meute. Im Thronsaal sprach er von Ehre. Er folgt einem Kodex. Räumte sogar hinter Vei auf. Was noch?“ Akim dachte nach. „Er und Kalphon führen die dritte Familie in der Hierarchie der Majestes an.“ „Chausselles. Shey‘sil. Bland fand etwas über sie in Adivs Codex.“ „Wovon sprecht Ihr?“ „Ein Buch, das höchstwahrscheinlich Adivs Vater gehörte. Ihr solltet ihn für sie mitnehmen. Er ist sehr wertvoll, vor allem die Aufzeichnungen darin.“ „Shey‘sil ist ein Wort meiner Sprache“, warf Nou ein. „Es bedeutet Wurm. So nannte sie auch der Älteste.“ „Bland vermutete, dass der Name Chausel sich davon ableitet. Es sieht so aus, als hätten die Fraga-í und die Chausselles gemeinsame Vorfahren.“ „Sie ähneln sich auch äußerlich“, bestätigte Akim. „Woher wusste Adivs Vater das?“ „Er erforschte die alten Geschichten, genau wie Bland. Die beiden hätten sich hervorragend verstanden. Der Codex berichtet von heftigen Kämpfen vor tausenden von Jahren auf Kaadaa. Die Chausselles wurden von Maji infiziert. Sie krochen unter die Erde, um eine Quelle zu schützen - oder auch zu erobern, je nach Standpunkt.“ „Dort steht jetzt die Boragha“, sagte Nou. „Die Magie befiel alle, die ihr zu nah kamen. Sie machte die Menschen mächtig, dann brachte sie sie um. Dennoch lechzten die Infizierten nach ihr. Die Kloake sollte die magische Quelle verschließen.“ „Dieselbe Magie, die die Kinder in sich tragen“, murmelte Ylaiy. „Die Götter stehen uns bei.“ „Seit wann glaubst du an Götter?“, fragte Sila. „Mythen werden wahr, Magie überflutet die Welt. Schamanen und Propheten sehen die Zukunft voraus, das Schicksal verwebt ganze Generationen. Legenden erwachen zum Leben. Warum nicht auch Götter?“ „Davon kriege ich Gänsehaut“, murmelte Sila. „Weiter“, sagte Ylaiy. „Elphen erzählte von den drei Familien. Die Himmlischen bekamen K’yr, die Novíes die Meeresquelle, die Chausselles die im Norden. Die ist verschlossen, deshalb will er nach Ki akku ninu. Erinnerst du dich, Sila?“ „Er wollte die Kinder, um die Wüste umzuformen.“ „Hirnrissig“, stieß Akim aus. „Mehr wissen wir nicht“, stellte Ylaiy fest. „Weder kennen wir Einzelheiten ihrer Pläne noch ihren Aufenthaltsort. Die Kinder sind verschwunden und irgendwo im Untergrund lauern die Majestes. Dazu noch der Einfluss der Magie. Fantastisch!“ Frustriert schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. „Elphen dürfte kaum mehr als eine Handvoll Kämpfer haben. Vielleicht hat er aufgegeben.“ Akim versuchte, hoffnungsvoll zu klingen. „Das glaubst du doch selbst nicht“, schnaubte Sila. „Pat“, murmelte Ylaiy.
Kerker. Perth Die Geräusche waren dumpf, schienen aus weiter Ferne zu kommen. Sie horchte auf, stemmte sich in ihre Fessel und zog sich am rechten Arm nach oben, bis sie aufrecht stand, den Kopf leicht geneigt, nach der Tür lauschend. Trotzdem erschrak sie, als der Schlüssel die Pforte entriegelte und diese von außen aufgedrückt wurde. Zwei Männer glitten hinein. Einer verharrte an der Tür, nachdem er mit einem Blick das Innere der Zelle überflogen hatte, der zweite kam auf sie zu. „Man erzählt sich, Ihr hättet einen Mann getötet“, sagte Elphen Chausselles. Er redete in ihrer Sprache. Klar, präzise, aber in Wörtern und Wendungen, die längst außer Gebrauch waren. Eine altertümliche Version ihrer Muttersprache. „Wer erzählt das?“ Sie hatte nicht geredet, seit Ardanna hier gewesen war. Ihre Stimme klang rau und unbeteiligt. „Die Leute.“ Neugierig musterte er sie von oben bis unten. „Warum?“, fragte er dann. „Das ist meine Sache.“ „Persönliche Gründe, eh?“ Sie antwortete nicht. Er legte den Kopf schief und begutachtete sie erneut. Sie ertrug die Inspektion mit geradezu gelangweilter Gelassenheit, selbst, als er um sie herum ging und sie von allen Seiten in Augenschein nahm. „Ihr habt Euch erwischen lassen. Wie eine Anfängerin.“ Ein Augenaufschlag in seine Richtung, mehr nicht. „So ist das mit persönlichen Gründen. Sie lenken nur ab. Jetzt seid Ihr hier.“ Der Blick der rauchgrauen Augen verließ sie nicht. Sie erwiderte ihn ausdruckslos. „Fragt Ihr Euch, warum ich hier bin?“ „Nein.“ „Verspürt Ihr Furcht?“ „Nein.“ „Ehrlich nicht? Ihr seid ganz allein. Nur wir und Ihr.“ Eine winzige Regung huschte über ihr Gesicht, entlockte ihm die Andeutung eines Lächelns. „Sie waren nur zu dritt. Der Kommandant war am einfachsten zu töten. Große Menschen trifft man besser.“ Er schob sich näher an sie heran. „Ihr seid auch groß, größer als ich, größer sogar als Kalphon, wenn Ihr Euch streckt. Unter der Erde gedeiht man nicht richtig. Aber Körpergröße bedeutet nicht viel, nicht wahr?“ Sie erwiderte nichts, blickte an ihm vorbei auf den Zwilling, der neben der Tür stand und mit dem Mauerwerk zu verschmelzen schien. „Denkt nicht einmal daran“, warnte Elphen freundlich. „An uns scheitert Ihr. Ihr seid gut. Wir sind besser.“ Er formulierte die Behauptung ohne Stolz. Eine Tatsache. Eine Wahrheit. Dann legte er zwei Finger unter ihr Kinn und drehte ihren Kopf. „Kalphon mag Frauen nicht sonderlich. Ich schon. Keine Angst, ich weiß mich zu beherrschen.“ „Ich habe keine Angst.“ „Das sagt Euer Mund. Eure Augen sagen etwas Anderes. Faszinierende Augen. Man kann sich verlieren in diesem Grün. So grün wie Eure Heimat. Ich war dort. Wälder und Moore. Auch das Grün des Graslandes auf Staleph ist schön, aber nicht so intensiv wie das Eurer Insel. Haben sie alle diese grünen Augen? Unsere Nachfahren in den Sümpfen?“ „Nein.“ „Unter der Erde sind alle Augen grau. Grau wie das Gestein, bei manchen sogar gelbgrau wie der Lehm. Farblos, versteht Ihr? Nicht so wie oben.“ Seine Finger lagen um ihr Kinn, bewegten es hin und her. Sie leistete keinen Widerstand, ging die Bewegung mit. Sie wusste, wie schnell ein Kiefer ausgerenkt war, ein Genick gebrochen. Er nickte, als lese er ihre Gedanken. „Schöne Augen habt Ihr. Oben sagt man, sie seien ein Fenster in das Innere. Stimmt das?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Hm. Nun, in Euren sieht man Kraft. Stärke. Verachtung. Ein wenig Furcht.“ „Ich habe keine Angst.“ „Dann nennen wir es Vorsicht. Sie passen zu Euch, die Augen. Es wäre ein Jammer, sie Euch zu nehmen.“ Blitzschnell sauste sein Finger durch die Luft. Reflexartig kniff sie die Lider zusammen, während sie mit der Linken ausholte. Er schlug auf ihr Handgelenk und anschließend gegen ihre Hüfte, achtlos und unfassbar schnell. Sekunden später spürte sie, wie ihre Hand taub wurde und ihr Bein zu kribbeln begann. Sie öffnete die Augen und sah den Finger vor ihrer Pupille stehen. Er hatte sich keinen Millimeter bewegt. „Ich überlege noch, ob ich das linke oder das rechte nehme. Ich tendiere zum linken. Rechts habt Ihr bereits diese wunderschöne Narbe.“ Der Finger glitt an dem verblassenden Wundmal entlang. „Möchtest du auch?“, fragte er, an seinen Bruder gewandt, doch Kalphon grunzte nur. „Er liebt Narben“, flüsterte Elphen ihr zu. „Aber er hasst Frauen. Wärt Ihr ein Mann, würde er sie streicheln wie ich.“ Sein Zeigefinger wanderte über den verheilten Schnitt nach oben, legte sich auf ihre Wimpern. Diesmal war sie vorbereitet und behielt die Augen offen. Er fuhr über beide Augen, zärtlich und vorsichtig, strich über ihre Brauen und über ihre Stirn, fasste in das Haar, kämmte es nach hinten. Sie hielt die Berührungen aus. Längst hatte sie ihr Bewusstsein abgestreift, ihren Körper verlassen. Er gehörte einer anderen Frau. „Ihr seid sehr schön“, sagte er. „Ihr wisst es nicht. Man spürt, dass Ihr es nicht wisst. Eine schöne Frau, innen und außen. Stark, kämpferisch, unbeugsam. Schwarzes Haar. Tiefschwarz. Seht meins an, das meines Bruders. Braun wie die Erde, dünn und farblos. Wir haben Frauen unter der Erde. Auch sie sind stark, stärker als Ihr. Bessere Kämpferinnen. Tijua tötet Euch mit einem Schlag, wenn sie will, aber sie ist nicht schön. Nicht von außen. Ihr Haar ist farblos. Nicht wie Eures. Duftet es? Bestimmt duftet es.“ Er ging um sie herum, trat hinter sie, fasste ihr Haar mit beiden Händen und versenkte seine Nase darin. „Ich bin seit zweieinhalb Tagen in diesem Loch. Es wimmelt von Ungeziefer“, hörte sie sich sagen. „Ich denke nicht, dass ich dufte.“ „Oh, keine Sorge“, sprach er gegen ihren Nacken. „Ihr riecht himmlisch. Zwei Tage unter der Erde sind ein Wimpernschlag.“ „Seid Ihr deshalb gekommen? Um mir Komplimente zu machen?“ Sie hörte, wie er auflachte, spürte, wie er ihr Haar über ihren Nacken legte, über ihre Schultern streichelte, die Körperzeichnungen berührte. „Gefallen sie Euch nicht? Ich nahm an, Frauen hörten sie gern. Oder sind sie ungewohnt für Euch? Macht Euer Gefährte Euch keine?“ „Lasst ihn aus dem Spiel.“ Seine Bewegungen brachen abrupt ab. Sie blinzelte und biss sich auf das Innere ihrer Wange. „Oh“, hauchte er und setzte die Wanderung seiner Finger fort, die nun die Rückseite ihrer Arme hinunterglitten. „Hier haben wir ihn, Euren wunden Punkt. Euren Gefährten. Wisst Ihr, wo er sich gerade aufhält?“ „Nein.“ „Wir schon. Keine Angst, es geht ihm gut.“ „Ich habe keine Angst.“ „Oh, aber das solltet Ihr. Denn seht Ihr, ich kann Euch töten. Jetzt sofort. Schnell, langsam, ganz, wie ich will.“ Der Zeigefinger rammte in ihr Schulterblatt, bohrte sich gleich darauf in ihren Trizeps. Stechender Schmerz jagte ihren Arm entlang, ließ sie die Luft anhalten und die Zähne zusammenbeißen. „Handgelenk“, sagte er. „Schulter, Oberarm. Drei von sechs möglichen Punkten. Die anderen brechen Eure Hand. Finger und Daumen.“ „Das tötet mich nicht.“ „Aber es tut weh, nicht wahr? Setzt den Arm für Minuten außer Gefecht. Hättet Ihr eine Waffe gehalten, hättet Ihr sie fallenlassen. Der Nachteil von Waffen. Man verliert sie rasch.“ Sie antwortete nicht. Schweiß war auf ihre Stirn getreten. Ihr Arm zitterte. „Ich hörte, die Nachfahren in den Sümpfen seien brauchbare Kämpfer. Beherrschen sie die Todespunkte noch?“ „Ein paar“, stieß sie aus. „Wir kennen mehr Tricks, nicht wahr?“ „Sieht so aus. Bringt es endlich hinter Euch!“ „Was meint Ihr?“ „Weswegen Ihr hier seid. Tötet mich. Vergnügt Euch, aber lasst die Spielchen.“ Sie versuchte, sich zu ihm zu drehen. Die Fessel um ihre rechte Hand verhinderte es. „Haltet Ihr mich für einen Frauenschänder?“ Er ging um sie herum, sah sie an. Über sein ausdrucksloses Gesicht zuckte ein Schatten. „Ihr solltet mich fürchten. Aber nicht deswegen. Ich muss Euch wehtun, doch nicht … so. Die Frauen kommen freiwillig zu mir. Ich zwinge sie nicht. Das würde ihnen ihre Schönheit nehmen. Ihre Stärke.“ „Weshalb seid Ihr dann hier?“ „Ich wollte Euch kennenlernen. Meine Gegnerin einschätzen. Euch nach Euren Plänen fragen. Und natürlich will ich wissen, wo die Kinder sind.“ „Niemand weiß, wo sie sind.“ Er schnalzte mit der Zunge, während sein Blick sie absuchte. Anschließend machte er eine undeutliche Bewegung. Sie schaffte es, ihr Knie anzuwinkeln und sich zur Seite zu drehen, aber die Handkante erwischte ihre angeschlagene Niere so wuchtig, dass ihre Beine nachgaben. „Schreit Ihr nie?“, fragte er erstaunt und zog sie wieder hoch. Sie lehnte schwer in der Fessel, atmete den Schmerz weg. „Ihr wisst nicht, wo die Kinder sind? Denkt gut nach. Einen zweiten Nierenhieb haltet Ihr nicht aus.“ „Sie sind von selbst gegangen. Ich vermute, sie haben sich getrennt.“ Er klopfte mit den Knöcheln auf seine Lippen, während er nachdachte. „Glauben sie so, uns zu täuschen?“ „Bis jetzt klappt es ganz gut.“ Mehr bekam sie nicht heraus, denn sein Fuß zuckte hoch und traf ihr Knie seitlich. Ein zweiter schneller Tritt landete knapp oberhalb des ersten, noch bevor sie wegknickte. Erneut zog er sie auf die Beine. „Nicht keck werden“, warnte er. „Treffe ich Eure Kniescheibe frontal, kämpft Ihr nie wieder. Und ich freue mich auf echte Kämpfe mit Euch. Könnt Ihr stehen?“ Statt einer Antwort straffte sie sich, streckte die Beine und sog die Luft ein, als sie das rechte belastete. „Sie haben sich also in alle Himmelsrichtungen verteilt“, stellte er fest. „Anzunehmen. Sie sind schlau, alle vier.“ „So wie Ihr. Schlaue Gegner sind gefährlich. Eine Herausforderung.“ Er bleckte die Lippen. „Ist ihre Magie gewachsen?“ „Was fragt Ihr mich? Hat der Alte Euch nicht alles erzählt?“ Der nächste Hieb war eine Ohrfeige, die ihren Kopf herumriss. „Ich mag keine Frechheiten. Kalphon auch nicht.“ Der Zwilling tauchte auf, ohne dass sie ihn gehört hatte. Sein Schlag war härter, mit der Faust geführt, traf Nase und Mund gleichzeitig. Danach glitt er wieder zur Tür und verschmolz mit der Wand. „Kalphon“, sagte Elphen tadelnd. „Du zerstörst sie.“ Er bückte sich nach einem von Ardannas Päckchen, wickelte das Fleisch aus, roch daran und probierte es. „Gut“, befand er. Kauend wischte er Syriakin mit dem Tüchlein über die aufgerissene Lippe. „Die Narbe ist unversehrt“, beruhigte er sie. „Und die Wunden halb so schlimm. Kalphon mag keine Frauen. Ihn berührt ihre Schönheit nicht.“ Erneut fasste er unter ihr Kinn und tupfte das Blut unter der Nase weg, „Aber Ihr seht immer noch gut aus.“ Ihre Augen sandten Blitze in seine Richtung. Unvermutet hob sie den verletzten Arm, rammte ihn in seine Seite, schoss mit dem Kopf nach vorn, traf ihn an der Schläfe. Er taumelte, fing sich jedoch rasch. Den Hieb auf ihr Hinterhauptbein sah sie nicht kommen. Sekundenbruchteile später explodierte der Schmerz hinter ihren Augen. Sie japste und sackte gegen Elphens Brust. Der hielt sie fest wie ein Liebhaber und streichelte ihren Nacken, dieweil sie in seine Schulter biss und gegen das Zittern in ihren Gliedmaßen ankämpfte. „Ich bin beeindruckt“, flüsterte er. „Ihr erholt Euch schneller als andere Menschen. Rasche Regeneration ist ein Merkmal mancher Magiebegabter. Seid Ihr eine von uns?“ „Ihr seid nicht magiebegabt“, nuschelte sie. „Ihr wisst nur zu kämpfen.“ Zum dritten Mal richtete er sie auf. „Ihr auch. Wärt Ihr nicht in Fesseln, würden wir ernsthaft miteinander ringen.“ „So macht mich los.“ „Nein“, lächelte er kalt. „Ihr seid angeschlagen, keine ernst zu nehmende Gegnerin. Trainiert erst einmal. Dann werden wir kämpfen. Ich freue mich darauf.“ „Ich werde Euch töten.“ Elphen sah sie an. „Bis dahin kann ich Euch noch viele Schmerzen zufügen. Was glaubt Ihr, wie viel Ihr aushaltet?“ „Findet es heraus.“ Er strich ihr das Haar aus der Stirn, musterte die Narbe auf ihrer Wange, klemmte ihr Haar in seine Faust und zog es zurück, zog ihren Kopf in den Nacken, bis sie an der Fessel zerrte. „Gleich werden Tränen fließen“, sagte er leise. „Wollt Ihr wirklich, dass ich Euch weinen sehe?“ Sie ächzte. „Wenn Ihr sie finden wollt, müsst Ihr sie aufstöbern. Eins nach dem anderen. Doch wisset, dass sie sich zu verbergen wissen. Sie sind gewitzt, tapfer und viel stärker als Ihr. Ihr werdet sie nicht töten.“ Er zuckte zurück, ließ ihr Haar los, warf seinem Bruder einen Blick zu. „Sie töten? Warum sollten wir das tun?“ Sie zog die blutende Nase hoch. „Wozu solltet Ihr sie sonst suchen?“ „Um von ihnen zu lernen, wie man Magie gebraucht.“ „Dazu braucht es besonderer Orte wie der Boragha. Aber die ist Euch versperrt, nicht wahr? Die Majestes lassen Euch nicht mehr an sie heran. An die Quelle.“ Sie zog das Wort in die Länge. „Ihr habt sie Euch wegnehmen lassen. Und gegen die Alten kommt Ihr nicht an. Ihr seid nur die Würmer.“ Sein Knie schmetterte in ihr Becken. Diesmal half er ihr nicht zurück auf die Beine. Von oben beobachtete er, wie sie sich krümmte, das unverletzte Knie an den Körper gezogen, den freien Arm gegen ihren Unterleib gepresst.