Sour Times - Aidan Finn - E-Book

Sour Times E-Book

Aidan Finn

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Beschreibung

Haveldelta 2058. Gluthitze, Gestank und ein gestrandeter Wal. Nicht die besten Voraussetzungen für einen Flirt mit RoAdie Adenauer, aber schließlich hat Lina sich ja ein Abenteuer gewünscht. Nur dass die Bergungsmission sich unerwartet als Anfang einer Irrfahrt entpuppt, die sie immer weiter hinein nach Berlin verschlägt, in die von Glut, Flut, Drogen und Straßenkriegen zerstörte Stadt. Hier trifft sie, mal wieder auf der Flucht, auf Quinn, die außergewöhnliche Frau mit der verstörenden Vergangenheit. Und erstmals wird Lina, die immer wieder Gerettete, zur Retterin.

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Sour Times

Sour Times1 Something just like this2 Quinnsland3 Finally4 Quinnsland5 Suspicious minds6 Quinnsland7 Too late8 Quinnsland9 Come as you are10 Quinnsland11 I think I found hell12 Quinnsland13 Welcome to the new age14 Quinnsland15 Scared about the future16 Quinnsland17 Beast of a burden18 Quinnsland19 Ain't life unkind20 Quinnsland21 Past 100.000 miles22 Quinnsland23 Where is my mind24 Elle l'a25 Scare your daughter26 Hot town27 I’m afraid there’s no aid28 No man's land29 Keep your head up30 In my average home31 KWS0532 Not an ordinary girl33 Devil inside34 I'm prepared to look you in the eye35 Don't believe in fear36 No one's around to judge me37 KWS0538 Roads to follow39 I am nothing40 Sour times41 Anstelle eines Nachworts ...Impressum

Sour Times

1 Something just like this

Der verdammte Wal hätte ruhig näher an Spandau stranden können. Lina lehnte sich an die Schiffswand, rückte die Wayfarer zurecht, nahm das Basecap ab und pustete. „Setz das Ding lieber wieder auf.“ Roman ragte vor ihr in den milchigweißen Himmel. Sofort bereute sie, die Mütze abgenommen zu haben. Bestimmt hatte sie Abdrücke auf ihrer Stirn und platte Haare. So konnte sie keinen Blumentopf gewinnen. „Du siehst gut aus“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Dann plumpste er neben ihr auf das Deck. „Abenteuerlich. Wie Lara.“ „Eine deiner Exen?“ Sein Grinsen vertiefte sich und ein Kribbeln breitete sich in ihrem Unterleib aus. Roman war ein echter Hingucker. Einzig die markante Nase störte die Perfektion des Gesichtes. Andererseits verlieh sie ihm das gewisse Etwas. „Lara Croft? Tomb Raider?“ Als sie ihn verständnislos anstarrte, lachte er. „Ein Game. Lara war verdammt heiß. Lange Beine, solche Boobs.“ Mit den Händen deutete er ballonartige Brüste an. „Du stehst also auf Pixelfrauen.“ Er nahm seine Mütze ab und fächelte sich Luft zu. Sein blondes Haar glänzte dunkel vor Schweiß. „Keine Angst. Echte sind mir lieber. Man kann sie anfassen.“ Spielerisch kniff er sie in die Hüfte. Quiekend wehrte sie ihn ab. Gleichzeitig schoss ein neuer Schwall Hitze in ihren Unterleib. Oh ja. Das hier entwickelte sich definitiv in die richtige Richtung. Er schnippte gegen ihr Cap. „Setz es wieder auf. Die Sonne ist hart hier draußen.“ „Ich dachte, im Delta riecht es frischer.“ „Da muss eine Million Viecher unter uns sein.“ „Die haben sich doch längst aufgelöst.“ „Tja. Da drüben! Siehst du das Schloss?“ Sie streckte sich neben ihn über den Bootsrand. Das Gebäude zerfloss in der Hitze. Schwer zu sagen, wo es aufhörte und das Wasser anfing. „Ganz schön groß.“ „Rheinsberg. Ich hoffe, wir sind vor den Trashern da.  Diese Lady bringt es nicht, wenn es um Geschwindigkeit geht.“ Abschätzig klopfte er gegen die Bootswand. „Sind die Trasher schneller als wir?“ „Ein paar von ihren Plavlots sind nicht schlecht.“ „Und was ist die Regel? Wer zuerst kommt, mahlt zuerst?“ „Es gibt keine Regeln.“ Lina blinzelte. „Sind wir in Gefahr?“ „Pff. Peacer sind besser ausgerüstet als die Mülltrottel.“ „Na ja. Euer Dampfer hat nicht einmal ein Dach.“ „Das sind arme Spinner aus der Stadt. Halb verhungert und zugedröhnt. Wir haben Waffen, sind organisiert und ausgebildet.“ „In was?“ „Einsätzen. Don’t worry. Wir passen auf unsere Mädels auf.“ „Eure Mädels?“ „Du weißt, was ich meine.“ Er boxte ihr auf den Arm. „Wir bergen den Wal und verziehen uns. Heute Abend feiern wir.“ „Hier?“ „Nee. Keine Privatsphäre.“ Er wackelte mit den Augenbrauen, doch diesmal reagierte Linas Unterleib nicht. Besorgt kreisten ihre Blicke über die schillernde Wasserfläche, die halb versunkene Schlossruine, die Bauminseln. „Östlich von hier gibt’s noch Dörfer. Die Bewohner werden uns keinen Ärger machen. Es hat sich herumgesprochen, dass man sich mit Peacern nicht anlegt.“ „Ironie“, murmelte Lina. „Hä?“ „Ach, nichts.“ „Setz es lieber auf.“ Romans Stimme wurde sanfter. „Ich würde die gelbe Seite nehmen. Schwarz kocht dein Gehirn weich.“ „Aber es sieht cooler aus als Pinkelgelb.“ Sie seufzte. Roman lächelte. „Sorry, wenn das alles nicht so ist, wie du es dir vorgestellt hast. Aber ich dachte, du wolltest mal raus, ein Abenteuer erleben.“ Der Satz zerfaserte zweideutig in der Luft. „Schade, dass der Wal sich ausgerechnet den Sommer ausgesucht hat.“ Beide lachten auf, stießen mit den Schultern zusammen. „Hey RoAdie!“, unterbrach eine Stimme ihr Gelächter. „Komm mal!“ „On my way!“ Roman seufzte theatralisch. „Alles gut, RoAdie“, sagte Lina, den Spitznamen betonend. „Ich hab’s mir ja selbst ausgesucht. Und du hast recht: Ich musste mal raus. Überleg schon länger, mich den Peacern anzuschließen.“ „Würde mich freuen. Ein Mädchen wie du wertet eine Unternehmung enorm auf.“ Nun war er eindeutig im Flirtmodus. „RoAdie muss jetzt an die Arbeit“, raunte er und hauchte einen Kuss auf ihre Wange, der eine Hitzewoge durch sie sandte. „Jogga ablösen, bevor er in den Wal hinein rauscht. Er ist nicht gerade der hellste Stern am Firnament.“ „Firma“, sagte Lina, von der Intimität wie hypnotisiert. „Mit m.“ Für einen Sekundenbruchteil verdunkelte sich sein Blick. „Sorry. Klugscheißerin. Ich arbeite daran.“ Er hob das Kinn zum Abschied und ging zu der metallenen Treppe, die in den Bauch des ehemaligen Ausflugsschiffes führte, wo Jogga hinter dem Steuer stand, Romans Unteroffizier. Unablässig trällerte er Popsongs aus der Zeit der Jahrtausendwende. Überrascht hatte sie feststellen müssen, dass der schmuddelige Bursche eine angenehme Stimme besaß und die Melodien mühelos mitsang. Nur mit den Texten haperte es. Immer wieder verzog sie das Gesicht, wenn er die Verse rein nach Gehör schmetterte. Sie verlor sich in ihren Gedanken, betrachtete die Umgebung und das Schiff, selbst ein Liedchen in den Ohren.How much you wanna risk? I’m not looking for somebody with some superhuman gifts. Ihre Augen wanderten zum Himmel. Warum die Peacer es nicht hinbekamen, wenigstens Tücher gegen die Sonne zu spannen, blieb ihr schleierhaft. Nach unten durfte man nicht gehen, obwohl der Rumpf leer war. „Bergungsraum“, hatte Jumper, der zweite Unteroffizier, sie angeschnauzt. „Aber hier ist doch nichts.“ „Nur für Ware und Offiziere.“ „Draußen sind 36 Grad.“ „Ware und Offiziere.“ Verdrießlich war sie den anderen auf das Deck gefolgt. Kurz nach der Abfahrt war Roman zu ihr gekommen, ein entschuldigendes Lächeln im Gesicht und ein Handtuch auf dem Arm. „Sorry, aber bei Missionen gibt es Regeln. Jumper macht nur seinen Job. Setz dich auf das Handtuch, das Metall wird ziemlich heiß.“ Halbwegs besänftigt hatte sie ihren Hintern gehoben. Seine Hilfsbereitschaft und Zerknirschtheit gefielen ihr, ebenso die Berührungen, als er ihr half, das Tuch unter ihre Beine zu schieben. Dann war er verschwunden und hatte sie sich selbst überlassen. Hinter den dunklen Gläsern musterte sie die sieben Passagiere auf dem Deck. Achtern saßen ein Mädchen und zwei Jungen, zweifellos die Jüngsten an Bord. Sie hatten sich ihr in Caputh vorgestellt, wo die Ortsgruppen aufeinandergetroffen waren. Lina hatte ihren Namen gemurmelt und die der drei sofort wieder vergessen. Blöde Nicknames waren es gewesen. Schien bei den Peacern üblich zu sein. Die Kids saßen mit dem Rücken zu ihr, ließen die Beine vom Deck baumeln und suchten aufmerksam die Umgebung ab. Lina taufte sie die drei Fragezeichen, nach einer Kinderbuchreihe, die sie früher zum Einschlafen gehört hatte. Ein Stückchen weiter links, auf der ihr gegenüberliegenden Seite, schliefen zwei Männer. Der Größere hieß Feo. Sie fragte sich, ob er sich den Spitznamen selbst gegeben hatte oder ob seine Kumpels das besorgt hatten. Passend war er, denn der Typ war hässlich wie die Nacht. Statt einer Sonnenbrille hatte er die obere Hälfte seines Gesichts mit Motoröl eingerieben. Feos Körperdunst, ein Konglomerat aus Klebstoff, Kotze und kaltem Schweiß, ließ sie verächtlich das Gesicht verziehen. Ein Schnüffler, der vermutlich alles inhalierte, was ihm unter die Nasenlöcher kam. In der City, so hörte man, hatten sich ganze Viertel das Hirn weggeschnieft. Der Mann neben ihm roch nicht nach Glue. Er hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt, einen Strohhut ins Gesicht gezogen und schnarchte laut. Wie Jumper trug er einen Pullover, auf dem sich Schweißflecken abzeichneten. Im Geiste titulierte sie ihn Sombrero. Die beiden Frauen, die im Schneidersitz auf der gegenüberliegenden Seite saßen, hatten ihr giftige Blicke zugeworfen, wann immer Roman mit ihr geplaudert hatte. Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Von all den Typen an Bord sah Roman mit Abstand am besten aus. Er spielte einfach in einer höheren Liga. Das gute Elternhaus ließ sich nicht verleugnen. Kleidung, Haarschnitt, Umgangsformen, Sprache - all das stellte die anderen in den Schatten. Roman war nicht nur ein Schnittchen, er war ein reiches Schnittchen. Einflussreich, charmant, bekannt. Außerdem war er hier der Boss. Autorität machte sexy, selbst wenn sie sich nur auf ein Dutzend Leute erstreckte. Ansonsten hatten die Frauen Lina ignoriert, ihre Gesprächsversuche abgeblockt. Lina hatte sie die Schnepfen getauft. Die braune Schnepfe - eine Schädelseite kahl rasiert, die andere mit Zöpfchen verziert - sah aus, als könne sie Linas 57 Kilo einarmig über Bord werfen. Die blonde Schnepfe, deren Arme von Sommersprossen und Leberflecken übersät waren, trug eine Art Doppelgürtel mit zwei Schnallen, Armeehosen und klobige Stiefel mit zu vielen Ösen. Eine Gewichtheberin und eine Soldatenbraut. Lina fand, dass Letztere gut zu Russki passte, dem stämmigen Mann, der nicht aus Russland stammte, sondern aus Holland, allerdings aussah wie ein waschechter Russe. Sie seufzte und streckte sich. Das Handtuch fühlte sich feucht an. Sie fischte die kleine Tube Sonnenmilch aus ihren Shorts. Höhnisch schauten die Schnepfen zu ihr herüber, als sie die Creme auf Gesicht, Schultern und Armen verrieb. Lina musterte die Leberflecken der hellhäutigen Soldatin.Selbst schuld, Hautkrebsmädchen. Sie hasste die klebrige Schicht, doch wenigstens überdeckte der Duft den Schweißgeruch. Egal, wo sie heute Nacht stranden würden, Hauptsache, es gab einen Wasserhahn und vielleicht noch ein Stück Seife. So konnte sie Roman unmöglich an sich heranlassen. Sie lehnte den Kopf gegen die Schiffswand und schloss die Augen. Selbst mit der Wayfarer auf der Nase stach das Sonnenlicht grell durch die Lider. Die Schnepfen tuschelten und kicherten. Ein Anflug von Heimweh piesackte sie. „Hey, Blondie“, drang eine Stimme durch ihre Gedanken. Lina blinzelte die braune Schnepfe an, die sich vorgebeugt hatte und sie über ihre gelben Gläser anstarrte. „Was ist dein Job heute? Abgesehen davon, RoAdie schöne Augen zu machen?“ „Ich mach ihm keine schönen Augen.“ „Ja, genau“, prustete die Schnepfe und sah ihre Freundin an. „Also. Was hat der Coronel für dich ausgesucht?“, übernahm die Soldatenbraut. „Coronel?“ „RoAdie. Bist du blöd oder was?“ Der aggressive Ton ärgerte Lina. „Ich kenn mich mit euren Bezeichnungen nicht aus.“ „Dienstgrade“, korrigierte die blonde Schnepfe. „Aha. RoAdie ist Coronel? Ich wusste nur, dass Jogga und Jumper seine Unteroffiziere sind.“ „Lieutenants“, berichtigte die braune Schnepfe. „Ist das so was wie ein Leutnant?“ Die Schnepfen sahen sich an, bevor die Gewichtheberin sich zu einer Antwort entschloss. „Klingt so.“ „Was ist dann ein Coronel? Ein Oberleutnant? Oberst?“ „Willst du uns provozieren?“ Die Schultermuskeln der braunen Schnepfe stellten sich auf wie der Nackenschild einer Kobra. Lina schüttelte schnell den Kopf. „Nein, das war eine echte Frage.“ „Scheißfrage. Er heißt Coronel, basta.“ „Okay. Gibt’s jemanden, der über ihm steht?“ „Einige. Peacock zum Beispiel.“ „Das ist der, der heute alles leitet?“ „Genau. Er ist der General.“ „Nicht Admiral?“ „General“, betonte die braune Schnepfe mit drohendem Unterton. „Verscheißer uns nicht. Wir sind nicht blöd.“ „Ich dachte nur, weil wir auf einem Schiff sind. Navy, Marines und so.“ Lina wich an die Bordwand zurück, als die braune Schnepfe aufsprang und zu ihr herüber stapfte. „Noch mal, Blondie, wir sind nicht blöd. ‘Ne große Klappe hast du, aber ist da auch was dahinter? Also, was ist dein Job?“ Die Brillengläser der braunen Schnepfe stießen an Linas Wayfarer. „Du zerkratzt mir die Gläser“, sagte sie, während sie versuchte, ruhig zu klingen. Die Schnepfe lachte auf. „Du bist echt ‘ne Marke. Also?“ „Roman meinte, ich solle mir erst mal alles anschauen.“ „Warst du schon mal bei einer Bergung?“ „Nein.“ „Eine Jungfrau.“ Die braune Schnepfe drehte sich nach der blonden um. Lina nutzte die Gelegenheit, ihre Brille gerade zu rücken. Sie versuchte, das Zittern ihrer Lippen zu unterdrücken, als die Gewichtheberin sich wieder ihr zuwandte. „RoAdies Hirn ist wohl nach Süden gewandert. Normalerweise läuft das hier anders. Strategisch.“ Lina nickte. „Wie beim Militär.“ Sofort verengten die Augen der anderen Frau sich. Lina stellte ihr Lächeln ab und schrumpfte ein paar Millimeter weiter. „Kannst du irgendwas?“, fragte die Schnepfe. „Was denn?“ „Kämpfen, Entern, Ausschlachten.“ „Entern?“ „Den Wal. Andere Boote, falls es Stunk gibt.“ „Ich hab ein paar Jahre MMA gemacht. Früher.“ „Und das ist was?“ „Mixed Martial Arts.“ „So ein Karatescheiß?“ „Auch.“ „Warst du gut?“ „Ging so.“ „Aber ‘ne Waffe abfeuern kannst du nicht.“ „Noch nie probiert.“ „Mit einer Klinge umgehen?“ „Zählt Zwiebeln schneiden?“ Diesmal lachte die braune Schnepfe auf. Die blonde gab eine Art Wiehern von sich. Lina wartete, bis die beiden sich wieder eingekriegt hatten. „Ich dachte, wir schippern hierher, holen einen Wal, binden den hinten ran und fahren zurück. Und jetzt erzählst du mir was von Waffen, Kampf und Stunk. Und Roman was von Streit mit Trashern. Ich bin ein bisschen beunruhigt.“ Die braune Schnepfe grunzte. „Tja, manchmal gibt’s halt Stress. Wale sind superselten. Wenn einer auftaucht, sind alle zur Stelle. Peacer, Trasher, die Leute aus der Umgebung. Wobei die sich meist vom Acker machen, sobald sich Ärger anbahnt.“ „Dann wird gekämpft?“ „Sicher. Mamba und ich gehen am liebsten in den Nahkampf.“ „Bist du Mamba?“, wandte Lina sich an die blonde Schnepfe, die nickte. „Und ich Kelli“, sagte die braune Schnepfe. „Die drei am Heck halten sich raus. Die schlitzen den Wal auf, bergen die Sachen, bringen sie auf die Schiffe. Am besten hilfst du denen.“ „Steckt denn so viel in einem Wal?“ „Der Rekord der letzten Jahre liegt bei 26 Kilo. Ein Pottwal in Skandinavien. Die Exemplare hier haben 10 bis 15, plus das Fleisch und so. Wenn wir ganz großes Glück haben, finden wir mehrere Wale. Die schwimmen in Schwärmen.“ „Schulen.“ „Das wäre auf jeden Fall der Hauptgewinn.“ „Verstehe. Eine Menge Zeugs.“ „Wirst du merken, morgen. Das ist kein Tussi-Scheiß.“ Ihr Blick wanderte an Lina hinunter. „Richtig anstrengende Arbeit ist das.“ „Dann ruhe ich mich mal lieber noch ein bisschen aus.“  „Mach das“, grunzte die braune Schnepfe, bevor sie zurück zu ihrer Freundin stapfte. Lina schloss die Augen. Vielleicht hätte sie doch Zuhause bleiben sollen. In ihre düsteren Gedanken quäkte das Schiffshorn. Die Fragezeichen sprangen auf. Mamba rannte bereits nach unten, während Kelli Sombrero und Feo mit ihrem Basketballstiefel anstieß. „Die Trasher sind da.“ „Mach halblang, Kel.“ Sombrero gähnte, stupste Feo an und zog sich in die Höhe. „Bekannte?“, fragte er, während Feo sich mit der Geschwindigkeit einer Amöbe in die Senkrechte brachte. Auch Lina rappelte sich auf und trat mit eingeschlafenen Beinen zu den anderen. Kelli sah die Fragezeichen an, die brav die Klappe gehalten hatten, so lange die Erwachsenen redeten. „Vier Plavlots“, sagte einer der Jungen. „Das große könnte dem Polen gehören.“ „Krys?“ Sombrero kratzte sich im Nacken. Schweißgeruch breitete sich aus. „Okay. Alarmbereitschaft.“ Mit einem Mal wurde es an Deck lebendig. Mamba kehrte mit den Lieutenants im Schlepptau zurück. Russki übernahm das Reden. „Same procedure as every year.“ Sein Englisch klang genauso seltsam wie sein Deutsch. „KaWe, die Mädels und ich springen rüber. Sunny und Feo, ihr schaut von oben.“ Russki reichte den beiden Männern je ein Gewehr. Sombrero und Feo verzogen sich ans Heck, wo sie durch die Visiere die Umgebung absuchten. „Jogga, Jumper, ihr vorn.“ Die Angesprochenen kamen dem Befehl ebenso widerspruchslos nach wie die anderen. „Chazza, MacBig und H-Dog, ihr verzieht euch nach unten und wartet ab. Du“, wandte Russki sich an Lina, „bleibst bei den Kleinen.“ „Zum Babysitten?“ „Anordnung vom Coronel.“ „Was macht er?“ „Steuert den Kahn, kommuniziert mit Peacock und den anderen Coronels.“ „Wie viele kommen denn noch?“ „Peacock und noch ein Berger. Vielleicht ein, zwei Jets.“ „Sind wir in der Überzahl?“ Ein wenig ängstlich sah Lina den Holländer an. „Schwer zu sagen. Wale und Robben locken Trasher von überall an. Egal. Wenn wir auftauchen, verkrümeln die sich ganz schnell.“ „Die hinter uns nicht.“ „Die versuchen, uns zu überholen und abzustauben, bevor wir ankommen. Keine Chance, Peacock wartet schon. Seine Jungs sind unsere Sturmtruppe. Und jetzt verzieh dich.“ Sie hielt sich am Geländer fest, als sie nach unten stieg. Nach den Stunden in der Helligkeit sah sie im Schiffsbauch zunächst gar nichts. Erst nach und nach schälten sich Umrisse heraus. Chazza, das weibliche Fragezeichen, MacBig und H-Dog hatten sich in die hintere Ecke verkrümelt und starrten durch die halb blinden Fensterscheiben nach außen. Direkt neben ihnen machte Lina eine handtuchbreite Metalltür aus. Roman klopfte gegen das kleine Kabinenfenster und winkte sie zu sich hinein. Er thronte auf einem durchgesessenen Autositz, den irgendwer notdürftig auf den Bodenplatten befestigt hatte. Sie rutschte neben ihn. „Alles klar?“, fragte er, ohne den Blick vom Wasser zu heben. „Yep.“ „Bereust du, dass du mitgekommen bist?“ „Hm. Ich stehe kurz vorm Sonnenstich, es stinkt nach faulen Eiern und wir kämpfen gleich um einen toten Wal. Nein.“ Grübchen erschienen auf seinen Wangen und seine Hand legte sich wie zufällig auf ihre. „Funny.“ „Sorry. Hab mir das Ganze wohl ein bisschen anders vorgestellt.“ „Du und ich auf einem romantischen Floß?“ „Übertreib nicht.“ Spielerisch schlug sie ihm auf die Hand. „So ein toller Hecht bist du nun auch nicht.“ „Als Lügnerin bist du so eine Niete.“ Er nahm die Augen vom Wasser. „Ich mach’s wieder gut. Versprochen.“ „Ach ja? Wie denn?“ Lina registrierte, dass seine Hand wieder auf ihrer lag, spürte den Ring um seinen Finger. Ein Bruderschaftsband. Seine Leute und er trugen es als eine Art Talisman. „Mir fällt schon was ein. Ein Ausflug zu zweit. Leckeres Essen.“ „Bei der Hitze? Oje.“ „Wir könnten bis Oktober warten. Stell dir einen schönen Regensturm in einer kuscheligen Hütte irgendwo auf den Inseln vor.“ „Während die Bäume aufs Dach krachen?“ „Spielverderberin.“ Er nahm seine Hand weg. „Sorry.“ Mit klopfendem Herzen und ein wenig steif lehnte sie sich gegen ihn. Zu ihrer Erleichterung legte er den Arm um sie, steuerte das Schiff einhändig. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine ziemlich freche Person sein kannst?“ „Wieso?“ „Na ja, du widersprichst ganz schön oft, korrigierst einen, bist ironisch und so.“ „Und das ist ein Problem für dich?“ „Weiß noch nicht.“ Er versenkte die Nase in ihren verschwitzten Nacken. „Aber du bist so verdammt hübsch.“ Er blickte auf sie nieder und in dieser Sekunde wusste sie, dass er sie küssen würde. Zu ihrem Bedauern dauerte der Kuss nur zwei Lidschläge, denn Roman richtete sich wieder auf und entließ sie aus der halben Umarmung. „Tut mir leid, aber wir sind da. Da liegt der Fisch.“ Lina glotzte aus dem Fenster. „Säugetier. Ich hätte nicht gedacht, dass die Dinger so riesig sind. Passt der überhaupt hier rein?“ „Nicht am Stück“, erwiderte Roman, der sich darauf konzentrierte, möglichst nahe an die Sandbank zu steuern. „Deshalb zerteilen wir ihn ja. Miss Besserwisserin weiß offensichtlich doch nicht alles.“ „Ist das Peacock? Der Typ mit dem Bart und dem Bandana?“ „Unschwer zu erkennen, hm?“ Halb aus dem Sitz gereckt und über die Armaturen gebeugt, kurbelte Roman an dem Steuerrad. „Er ist barfuß.“ „Immer. Im Winter trägt er Flip Flops.“ „Sieht aus wie eine Mischung aus Waldschrat und Surfer.“ „Vorsicht! Du redest über meinen Boss.“ „Den General, ich weiß.“ Er warf ihr einen raschen Blick zu. „Uns bedeutet das was. Für Missionen wie diese ist eine Befehlskette wichtig.“ „Haben die Trasher die auch?“ Lina beobachtete, wie mehrere Plastikboote um den Wal schaukelten, die meisten in sicherer Entfernung. Manche der Boote waren kaum größer als Badewannen. „Trasher sind unorganisierte Penner. Dreckiger Abschaum, zugedröhnt und von Krankheiten zerfressen. Die haben auch keine Frauen dabei. Die halten sie in ihren Camps als Sklavinnen.“ „Quatsch.“ Lina brachte nur ein halbes Lachen heraus. „Kannst ja hingehen und nachsehen, was die mit ihren Weibern so treiben.“ Lina erwiderte nichts mehr. Auf ihrer Stirn erschienen zwei steile Falten. Romans Ansichten waren in den Vororten weit verbreitet. Flüchtlinge hatten sich in den letzten 50 Jahren über Europa ausgebreitet wie ein Flächenbrand und mit ihnen viele Probleme. Die Erde schrumpfte, spülte einen Ozean Verzweifelter ins Innere der Kontinente. Grenzen, Zäune und Mauern waren hochgezogen worden, um sie in Schach zu halten. Auch sie fürchtete sich vor der Menschenflut, mochte an den Fremden eine Menge nicht: die verunstaltete Sprache, die Sitten und Gebräuche, die Reste ihrer Religion. Aber sie fühlte keinen Hass. Manchmal taten sie ihr leid, empfand sie ihr Schicksal als ungerecht. Romans offene Verachtung enttäuschte sie. Sie verzog sich in den hinteren Teil des Schiffes, trieb so tief in ihren Grübeleien, dass sie nicht mitbekam, wie der Kampf begann. Plötzlich trappelten Stiefel über ihr, hallten Schüsse, schrien Menschen. Motoren heulten auf und Körper klatschten ins Wasser. Sie duckte sich unter eins der Fenster und spähte hinaus, sah Plavlots, die die Flucht ergriffen oder um das Schiff kreisten, von den Wellen hin- und hergeworfen. Backbord bot sich ein anderes Bild. Um den Wal kurvten Peacocks Motorboot und zwei Jets. Sie versuchten, die Plavlots in Schach zu halten, die sich immer wieder näherten. Lina verstand die Strategie nicht. Wohin sollten die Trasher mit ihrer Beute fliehen? Im Umkreis von vielen Kilometern gab es nur Seen und Flüsse, die sich mit der Ostsee vereint hatten. Ein paar Inseln, ehemalige Hügel und Berge, waren das einzige Land, auf das man einen Fuß setzen konnte. Zu winzig, um sich zu verstecken. Drei kleinere Plavlots formierten sich zu einer Pfeilspitze und schossen auf die Jets zu. Doch bevor sie die wendigen Wassermotorräder erreichten, fielen Schüsse. Zwei der Plastikflöße gerieten ins Schlingern. „Treffer!“, hörte sie Joggas Stimme. Erschrocken sah sie zu den Fragezeichen. „Haben sie sie abgeschossen? H-Dog kaute auf der Innenseite seiner Wange, bevor er antwortete. „Die Lenker, ja. Deshalb treiben sie ab.“ „Sind sie tot?“ „Keine Ahnung.“ Gemeinsam beobachteten sie, wie die Männer auf den Plavlots die Lenker vom Steuer zogen, Gas gaben und abdrehten. „Die kommen nicht weit“, murmelte Chazza. „Peacocks Leute fangen sie ab.“ „Und dann?“, hauchte Lina. „Schlachten sie die Boote aus. Alles, was wir noch gebrauchen können.“ „Und die Trasher?“ „Nehmen wir mit bis Neustrelitz. Dort werden sie bestraft. Die Leutnants stehen auf so was.“ Das dritte Plavlot änderte die Richtung, schoss nun direkt auf Peacock zu. Der barfüßige General brüllte Anweisungen und erneut krachten Schüsse. Das Plavlot schlingerte auf die Sandbank zu, wo es knirschend aufsetzte. Drei Männer sprangen von dem Fahrzeug, Messer in ihren Händen. Zwei hetzten auf Peacocks Boot zu, während der dritte die Klinge in den Wal rammte. Von oben fielen Menschen ins Wasser. Die Nahkampftruppe, erriet Lina. Sie schwammen zum Ufer, stürzten sich auf die Trasher, Russki und KaWe vorweg, Kelli dicht hinter ihnen. Das Gemetzel, das nun folgte, blendete Lina aus, indem sie die Augen schloss. Neben ihr keuchte Chazza. „Das war’s.“ Lina öffnete die Augen wieder. MacBig stand am Fenster, zog mit dem Zeigefinger drei Striche auf die dreckige Scheibe. Ihr Blick schwenkte zur Sandbank. Die Nahkampftruppe hatte sich um den Wal postiert, ihre Körper ein Bollwerk gegen weitere Angreifer. Drei Männer lagen zu ihren Füßen. Blut färbte Sand und Wasser rot. „Die lassen wir hier“, sagte Chazza leise. Vom Rest des Kampfes bekam Lina nicht mehr viel mit. An die schmale Tür gelehnt, starrte sie auf Romans Rücken. Er war auf den Sitz zurückgesunken, betrachtete konzentriert das Treiben draußen. Offenbar gab es immer noch Ausfälle der Trasher gegen die Fahrzeuge der Peacer, aber sie wirkten halbherzig und verzweifelt. „Wir könnten ihnen einfach was abgeben“, murmelte Lina. Chazzas Kopf zuckte hoch. „Bist du bescheuert?“ Lina erwiderte nichts. Sie fühlte sich ausgelaugt. „Es ist fast vorbei“, sagte das Mädchen. „Wenn sie schlau sind, hauen sie ab, bevor Peacock beschließt, sie zu versenken. Dann holen wir den Wal. Stehst du das durch?“ „Kann ja nicht schlimmer sein als das da.“ „Deswegen bleiben wir drinnen“, gestand Chazza. Plötzlich waren Lina die Kids sympathisch. „Habt ihr auch was gegen Gewalt?“ „Die gehört halt dazu“, brummte MacBig. „Uns geht nur keiner ab dabei.“ Linas Augen flackerten zu Roman, der die Faust triumphierend in die Luft reckte. Als er die Kabine verließ und sie ansah, strahlte Euphorie aus seinen Augen. Grinsend rannte er die Treppen hoch. „Adrenalinkick“, erklärte H-Dog. Lina stöhnte. „Die kommen wieder runter“, beruhigte Chazza sie. „Nachher gehen sie schwimmen, dann sind sie wieder normal.“ „Fahren wir dann nach Hause?“ „Morgen.“

2 Quinnsland

05.12.2036 Ab heute bin ich 8. Du bist mein Geschenk von Mama. Ein 100-Wörter-Heft. Ich habe mir gewünscht, dass Opa mich mit aufs Dach nimmt und ich die alte Bertha bedienen darf, aber ich habe dich bekommen. Ich freue mich, weil Mama sich so viel Mühe gegeben hat und niemand sonst ein leeres Buch hat. Trotzdem ärgere ich mich, dass Ton, Manu und Sascha immer alles dürfen. Laura war neidisch auf dich und hat geheult. Sie durfte dich ausmalen, alle Buchstaben. Laura hat nicht kapiert, was du bist, aber sie malt gerne und ich nicht. Winwin sagt Logan zu so was.

3 Finally

Lina lehnte den Kopf gegen die Kirchenmauer und betrachtete das Treiben um sich. Sie wirkten so aufgeputscht, so lebendig nach diesem elend langen Tag, sangen, lachten, quatschten, fummelten. Unauffällig sah sie auf ihre Uhren. Die Smartwatch zeigte Hieroglyphen an, wie meistens. Die Urgroßmutteruhr hingegen versah zuverlässig ihren Dienst. Sie musste nur daran denken, sie aufzuziehen. Kurz nach zwölf. Seit 15 Stunden war sie auf den Beinen, fühlte sich ausgeknockt. Die Hitze, Roman, der Kampf. Das Ausweiden des Wals, das sie am liebsten aus ihrem Gedächtnis getilgt hätte. Unglaublich, wie viel Flüssigkeit aus einem 13 Meter langen Buckelwal glitschte, wenn man ihn seitlich aufschlitzte. Die Berger hieben ihre sensenartigen Klingen in die zentimeterdicke Fettschicht, hackten viereckige Stücke heraus, wateten dabei buchstäblich in Blut. Schicht für Schicht legten sie die Innereien des Wals frei, eine schauderhafte Ansammlung von mannsgroßen Gedärmen, sackartigen Ausstülpungen und kotschwarzen Eingeweiden, angefeuert von Alco schlürfenden, grölenden Peacern. Zuletzt öffneten sie die Magenkammern und Darmschläuche. Gestank strömte ins Freie, vermischte sich mit dem Blutgeruch, vertrieb die meisten Zuschauer. Lina, die beim Stapeln der Fleischstücke geholfen hatte, hatte sich die Hände auf Mund und Nase gepresst, während ihr Magen sich umdrehte. Die Strapazen lohnten sich. 20 Kilo Plastik und Metall holten sie aus dem Kadaver heraus. Vieles, was sie fanden, war ein halbes Jahrhundert alt, doch noch zu gebrauchen. Allerdings musste man es schrubben, mit chemischen und mechanischen Mitteln aufbereiten. Fleisch und Fett gingen an Fleischereien und Kochereien. Das Fleisch würde man salzen, räuchern, braten oder kochen, das Fett zu Tran verarbeiten. Er diente als Lampenöl und Brennstoff und in dürregeplagten Jahren als Nahrungsquelle. Auch Knochen, Sehnen, Haut, Walrat und Organe nahmen sie mit. „Ein Cent für deine Gedanken.“ Sie sah hoch. Roman stand vor ihr, eine Dose Bier in der Hand. „Einen.“ Er verdrehte die Augen. „Einen Cent.“ „Ist so ein Tick von mir, sorry. Nicht böse gemeint.“ „Nervt trotzdem.“ Er hockte sich neben sie und hielt ihr die Dose hin. Lina rümpfte die Nase. „Woher habt ihr das Zeug?“ „Von Sammlertrupps.“ „Ist da nie was verdorben?“ „Falls ja, kippst du es weg.“ Roman zuckte mit den Schultern und trank einen weiteren Schluck. „Willst du jetzt was?“ Lina bemerkte den gereizten Unterton. Sie lehnte sich an ihn. „Ein Schlückchen.“ „Genau. Mach dich mal locker.“ Das Bier schmeckte schal und erdig. Sie würgte es hinunter, reichte Roman die Dose zurück. „Mehr nicht?“ „Ich stehe nicht so auf Bier.“ Er sah sie von der Seite an. „Du bist doch keine von diesen Zugeknöpften?“ „Was?“ „Frauen, die keinen Spaß verstehen. Die nie was trinken, nie was nehmen, keinen an sich ranlassen.“ „Na ja, der Tag war anstrengend. Hatte ich so nicht erwartet.“ Roman trank einen Schluck. „Ist hart beim ersten Mal. Ging mir genauso.“ „Wirklich?“ „Hab gekotzt. Heimlich. Erzähl’s nicht weiter.“ „Dann war ich tougher als du. Mein Mageninhalt ist noch drin.“ „Ich glaub auch, dass du ganz schön tough bist.“ Er rutschte einen Zentimeter näher. „Macht mich irgendwie an.“ „Ach ja?“ Sie lehnte sich vor. Seine Augen wirkten verschleiert; schwer zu sagen, ob von dem wässrigen Bier oder vor Erregung. „Mhm“, brummte er, sich ihrem Ohr nähernd. „Tough und süß. Wie Lara.“ Er beugte sich vor und küsste sie. Lippen, Zunge, eine Menge Bierspeichel. Das ganze Programm. Linas Herz klopfte, aber es galoppierte nicht. Der heiße, allseits beliebte und angeschmachtete Roman Adenauer knutschte mit ihr. Sie hatte von diesem Moment geträumt, ihn ersehnt und gefürchtet, hatte Schiss gehabt, dass sie seine Erwartungen nicht erfüllen, er sie nicht begehren würde. Und jetzt? Sie erwiderte die Küsse, spürte, wie seine Hände an ihre Taille wanderten, an ihre Brust, wollte mehr fühlen als eine milde Aufregung. Aber da war nicht mehr. Er bemerkte ihren Rückzug. „Was ist?“, fragte er mit belegter Stimme. „Keine Ahnung.“ „Zu viele Leute?“ Sie betrachtete den von Bäumen gesäumten Platz. Ein schöner Ort, einladend, friedlich, sauber. Die Kirche mit dem roten Dach stand noch. Neustrelitz hatte überlebt. Es gab Häuser und Straßenzüge, wenngleich sie unbewohnt schienen. Jogga hatte ihr erklärt, dass Einheimische sich oft versteckten, wenn Fremde nahten. „Was ist jetzt?“, raunte Roman, den Kopf in ihrer Halsbeuge. „Verziehen wir uns nach drinnen?“ Er stand auf, zog sie hoch und an sich. Oh ja, er war erregt, kein Zweifel. Nicht gerade schüchtern, der gute Roman. Willenlos ließ sie sich mitziehen, fragte sich kurz, ob er ihr was ins Bier geschüttet hatte, aber das war Unsinn. Schließlich hatte er fast alles allein getrunken. Nein, es lag an ihr. An ihrer Unentschlossenheit, diesem verdammten Tag, den Peacern, dem Wal, der Höllenhitze. Seinen Bemerkungen. Feo lag benebelt auf dem Pflaster, die Hose besudelt von Urin. Mamba und Kelli soffen mit Russki und KaWe aus einem Plastikkanister, lallten ihnen Zoten hinterher. Die drei Fragezeichen saßen am Kircheneingang, hatten die Beine durch das Geländer gesteckt. Sie schienen nüchtern, verfolgten Lina und Roman mit wachen Blicken. Chazzas Augen ruhten eine Sekunde länger auf ihr. Drinnen war es düster wie in einer Höhle. Aus einer Ecke tauchten Jogga und Jumper auf, die Körper angespannt. „Relax“, warf Roman ihnen lässig zu. „Wir sind’s. Sonst noch jemand hier?“ „Nö“, gähnte Jogga. „Was macht ihr hier? Fummelt ihr?“ Roman prustete. „Red keinen Scheiß!“, sagte Jumper scharf. „Wir passen auf die Beute auf.“ „Gut. Lina und ich suchen uns mal ein ruhiges Plätzchen.“ Jogga grinste breit. „Alles klar. Viel Spaß, Jefe.“ „Wehe, ich erwische euch beim Lauschen.“ Jumper schnaubte. „Bin doch nicht pervers. Hab‘ eigene Weiber.“ Lina fühlte sich mit jeder Sekunde unwohler. Roman zog sie weiter in einen Raum, in dem außer Konturen nichts zu erkennen war. „Hey“, flüsterte er. „Entspann dich.“ Dann fiel er sie an wie ein Wolf. Sein Mund schmatzte über ihr Gesicht, seine Nase strich über Hals, Ohren, ihr Haar, stupste ihr Basecap vom Kopf. Seine Hände fuhren über ihren Körper, schoben ihre Kleidung hoch, ergriffen Besitz von ihrer Haut. Er drängte sich an sie, erst seitlich, dann von hinten. Sie rang nach Luft. Das schien ihn nur anzustacheln. Sein Glied drückte sich gegen sie, rieb an ihr. Auch sie wurde steif. Es war zu viel. Zu schnell, zu hart, zu dunkel. Er überall. Sie versuchte, ihn abzuwehren; Arme, Körper, Mund, Schwanz, alles, aber er hielt sie fest. „Hör auf“, keuchte sie in seinen Mund. „Stopp! Hör auf!“ Keine Schreie, eher gestöhnte Satzfetzen, niedergerungen von Atemnot und Enge. Sie wurde rabiater, als Panik sie ergriff, trat nach ihm, stieß ihm beide Hände gegen die Brust, drückte ihn weg, bückte sich heftig atmend nach dem Basecap. „Schluss.“ Er legte den Kopf auf die Seite, musterte sie. Seine Hände strichen die eigenen Beine hoch und runter, als bräuchten sie etwas, an dem sie die Energie ableiten konnten. „Spinnst du?“, fragte er schließlich. „Bin ich plötzlich nicht mehr dein Typ?“ „Keine Ahnung. Ich ... fühl dich nicht. Du machst mir Angst.“ „Du fühlst mich nicht?“, explodierte er. „Was ist das denn für ein Scheiß? Den halben Tag baggerst du mich an und jetzt so was? Mann, du bist echt bekloppt. Zicke!“ Sie biss sich auf die Zunge. „Ich gehe wohl besser.“ Zornig zerschnitt er mit den Armen die Luft. „Ja, hau ab! Zum Ficken find ich genug andere Huren hier.“Finally I can see you crystal clear. „Kein Grund, eklig zu werden.“ „Sag du mir nicht, wie ich mich zu benehmen habe.“ Er trat einen Schritt auf sie zu und sofort wich sie zurück. Etwas Neues war aufgeflammt in seinem Gesicht, eine Härte, die nichts mit Enttäuschung wegen der Abfuhr zu tun hatte. „Stopp!“, warnte sie ihn. „Leck mich!“, fuhr er sie an. „Das nervt mich schon den ganzen Tag. Eine Nutte, die sich aufführt, als hätte sie mir was zu sagen. Hat mich so abgetörnt, deine Klugscheißerei. Schon beim ersten Treffen.“ „Warum hast du mich dann eingeladen?“ „Geile Titten, geiler Arsch. Sah vielversprechend aus.“ Ihr war klar, dass er sie verletzen wollte, trotzdem tat es weh. Am meisten die Kälte in seiner Stimme. „Tja“, brachte sie heraus. „Dachte ich auch. So kann man sich täuschen.“ „Hure!“ „Mehr fällt dir nicht ein?“ Ihre Angst wich heißer Wut. „Du bist so ein Schlappschwanz. Ein Muttersöhnchen, das keine Abfuhr erträgt. Mach’s gut!“ Verärgert ergriff sie die Flucht nach vorn. Er drückte sie zurück, machte sich breit. Genauso gut konnte sie versuchen, einen Schrank zu verschieben. „Ich zeig dir gleich, wie schlapp mein Schwanz ist.“ Angst loderte in ihr auf wie eine Stichflamme. „Lass mich durch.“ „Sonst was?“, höhnte er. „Schreist du dann nach Hilfe? Ich glaube, das würde mich noch mehr anmachen.“ „Lass mich vorbei.“ „Schrei doch. Vielleicht wollen Jogga und Jumper sogar mitspielen. Jumper nagelt ziemlich hart, wie man so hört.“ Ein Klumpen bildete sich in ihrem Magen. „Hast du’n Ei am Wandern? Lass mich durch, ja? Ich nerv dich nie wieder.“ Seit wann krächzte sie so? „Verdammt richtig. Du nervst mich nie wieder.“ Und dann explodierte seine Faust auf ihrer Wange. Reflexartig verpasste sie ihm eine Ohrfeige, noch bevor der Schmerz ihr Bewusstsein erreichte. Er zuckte zurück. Seine Augen verengten sich, die Stirn schob sich zusammen, der Mund wurde zu einem dünnen Strich. „Letzte Chance zu schreien.“ Ein grausames Lächeln erschien in seinen Mundwinkeln und ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Er würde ihr wehtun. Richtig weh. Ohne zu zögern trat sie ihm brachial gegen das Schienbein. Als er mit einem Grunzen nach vorn klappte, hieb sie ihm ihr Knie unter die Nase und er sackte benommen zu Boden. Sie wollte noch einmal zutreten, doch ihre Sinne registrierten Geräusche von draußen. Sie sprang in die Ecke hinter der Tür, machte sie sich so unsichtbar wie möglich. Das Glück war auf ihrer Seite. Jogga und Jumper hatten keine Taschenlampe dabei, tappten blind in die Mitte des Raumes. Geräuschlos glitt sie hinaus, huschte den Gang hinunter, die Wand zu Hilfe nehmend. Gerade, als sie den Eingang erreicht hatte, hörte sie das Brüllen der Männer und erstarrte. Die Fragezeichen wandten sich nach ihr um. H-Dog und MacBig sprangen auf und schauten sie unschlüssig an. Chazza reagierte am schnellsten. „Hau ab!“, flüsterte sie, ihre Freunde zurückhaltend. „Mach schon!“ Lina blieb keine Zeit für ein Danke. Sie rannte ins Dunkel hinein.

4 Quinnsland

14.03.2041 Nach fast zwei Wochen ist Sascha wieder da. Er hat seinen Freund Yianni mitgebracht. Zum Glück war er so schlau, Yianni die Augen zu verbinden und nur bis zu C zu bringen, sonst hätte Logan ihn erschossen. Geschimpft hat er trotzdem. Dann hat er Yianni ein Messer an die Kehle gehalten und danach Sascha. Daraufhin ist er mit Kevin und Ileana aneinandergeraten. Ileana hatte beinahe einen Tobsuchtsanfall. Yianni hat Sascha draußen gerettet. Vor einem Haufen Typen, die wohl mit Klebstoff handeln. Abends habe ich gesehen, wie Sascha und Yianni in D saßen. Ich bin mir sicher, sie hatten Drogen dabei.

5 Suspicious minds

Eine Hand presste sich auf ihren Mund. Panik überflutete ihren ohnehin überhitzten Verstand. Aufgelöst schlug und trat sie nach allen Seiten. Ein zweiter Mann trat vor sie. „Sh. They’ll hear you.“ Lina würgte gegen die salzigen Finger an. Rotz rann aus ihrer Nase. „We’re not going to hurt you. Be quiet.“ Lupenreines Englisch. Der erste Mann zog sie von der Straße weg. Der Sprecher lief neben ihnen, passte auf, dass sie nicht stolperte. Entsetzt erkannte sie einen dritten Mann, der voraus huschte. Drei Fremde. In stockfinsterer Nacht nahe einer gottverlassenen, von Wasser umspülten Stadt im Nirgendwo des Haveldeltas. Linas Verstand setzte aus, ebenso ihre Gliedmaßen. Wie eine Puppe ließ sie sich von den Männern wegtragen; tief in brackige Buschpfade hinein. Irgendwann hielten sie an, zwangen sie in die Hocke, duckten sich hinter eine Art Deich. Dann erst verschwand die Hand von ihrem Mund. „What happened?“, flüsterte der stämmige Mann, der versucht hatte, sie zu beruhigen. „I don’t know“, gab sie zittrig zurück. Ihre Augen fühlten sich so wässrig an wie ihre Muskeln. „What’s with your face?“ Sie erschrak, als er sich über sie beugte. „I am not going to hurt you“, betonte er. „Relax.“ Ein gequetschtes Kichern drang über ihre Lippen. „Karim! Malek!“ Die beiden anderen Männer erhoben sich und schwärmten aus. „Better?“, fragte der Mann. Unschlüssig nickte sie. Er hielt den Kopf schief, wartete. Sie musste ein paar Mal schlucken, bevor sie sprechen konnte. „Verstehst du Deutsch?“ „Ja.“ Sie gab ihm eine gestammelte Kurzversion ihres Abends, die er sich mit konzentriert gerunzelter Stirn anhörte. „Ich heiße Len“, stellte er sich anschließend in grauenhaftem Deutsch vor. „Malek und Karim arbeiten für mich.“ „Seid ihr Trasher?“ „Ja. Hatten Probleme mit dem Plavlot.“ „Seid froh. Es gab Verletzte. Tote.“ Bei der Erinnerung legte sie fröstelnd die Arme um ihre Knie. „Dieser Peacock mit seiner Kampftruppe machte kurzen Prozess.“ „Woher kommst du?“ „Spandau.“ „Aus der Kolonie? Nicht schlecht.“ „Und du? England?“ Er nickte. „Angeschissen, nicht wahr? Wollte nach Schottland, aber am Hadrianswall war Endstation. No Brits. Wie überall.“ „Ein paar Staaten hätten euch mit Kusshand genommen.“ „Niemand nimmt mehr irgendjemanden mit Kusshand. Jeder sieht, wo er bleibt. Europa hat ausgedient.“ „Und Amerika?“