Maji - Aidan Finn - E-Book

Maji E-Book

Aidan Finn

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Beschreibung

"Maji ist ein Monstrum, das Körper, Verstand und Seele zerfetzt." Zweieinhalb Jahre nach dem Kampf gegen den Blaukopf und seine magischen Geschöpfe bedroht ein neuer Gegner die Gefährten von einst. Erneut nehmen sie den Kampf auf, während eine viel größere Gefahr heraufdämmert.

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Seitenzahl: 735

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Maji

MajiAus allen Himmelsrichtungen123456789101112131415161718192021222324252627282930Vereint3132333435363738394041Ardannas Residenz42434445464748An allen Fronten49505152535455565758596061626364656667686970Verluste71727374In alle Himmelsrichtungen757677Leseprobe aus "Feindin Magie"Impressum

Maji

Aus allen Himmelsrichtungen

1

Südwestküste. Kânegg Ein gewöhnlicher Mensch wäre ertrunken. Sie erwachte, weil Wasser ihr in Nase und Mund lief. Hustend schlug sie die Augen auf. Um sie herum tobte das Meer. Aus schwarzem Himmel fielen schwere Tropfen. Sie trommelten auf ihren Kopf, schäumten das Salzwasser auf. Alles Licht war hinter Wolkengebirgen verschwunden, alle Wärme von Wellentälern verschluckt. Unmöglich, die Tageszeit auszumachen, doch die Regenstürme setzten in dieser Jahreszeit gewöhnlich am späten Nachmittag ein. Wie dumm von ihr, im Meer einzuschlafen. Die Natur bestrafte Dummheit. Sie geriet in Zorn, so wie jetzt, entfesselte ihre Kräfte. Sie peitschte das Meer auseinander, entfachte die Winde, lud die Luft auf. Donner grollte über sie hinweg, Blitze zuckten über den Horizont. Kaltes Wasser hüllte sie ein. An Land hätte sie die Abkühlung als erfrischend empfunden nach den langen Stunden der Hitze, doch in der Nässe begann sie schnell zu frieren. Sie musste ans Ufer, bevor die Kälte ihre Gliedmaßen betäubte, Wirbel sie in die Tiefe sogen, ein Blitz in ihrer Nähe einschlug. Bevor sie sich in den wütenden Elementen verirrte. Schon jetzt fiel es schwer, den Kopf oben zu halten. Die tanzenden Brecher verzerrten die Wirklichkeit, raubten die Sicht. Immer wieder schluckte und atmete sie Wasser. Sie reckte den Kopf in den Nacken, trank das Regenwasser, um das Salz zu verdünnen, wandte ihn anschließend in alle Richtungen, die Arme ausgebreitet, um den Wogen standzuhalten. Der Strand war nicht zu sehen. Ein gewöhnlicher Mensch wäre ertrunken. Spätestens jetzt. Orientierungslos auf dem Meer. Panik, Kälte und Erschöpfung würden ihn umbringen, Wellenberge ihn fortspülen, hinaus in die Weiten des Ozeans. Möglicherweise würde auch sie ertrinken. Die Natur bestrafte Nachlässigkeit. Angst spürte sie nicht. Angst entstand, wenn man sich hilflos fühlte; Panik, wenn man sie nicht kontrollierte. Sie war kein gewöhnlicher Mensch. Das Wasser war Teil ihres Lebensraumes. Sie vertraute ihrem Verstand, ihren Instinkten. Hustend und spuckend befreite sie ihre Atemwege von Wasserresten, saugte Luft in ihre Lungen, tauchte zum Meeresgrund. Auch hier unten tobte der Sturm, lautlos und gespenstisch. Wellenwirbel kreiselten über den Sand, Algen schwankten geistergleich. Sie hielt die Augen geöffnet, die Pupillen bis auf einen winzigen Punkt zusammengezogen, die Iriden verschwunden hinter einem Überzug, der ihr Sehvermögen auf Grautöne reduzierte. Sie schwamm über den Grund, vermied es jedoch, ihn zu berühren, um nicht noch mehr Sand aufzuwirbeln. Ein gewöhnlicher Mensch wäre verloren gewesen in der stillen Dämmerung. Nach wenigen Minuten hätte er entkräftet auftauchen müssen, zurück in die aufgewühlte See. Sie glitt über den Meeresboden, verglich die Muster des Sandes, hielt Ausschau nach Quallen und Fischen, überprüfte das Schwingen der Meerespflanzen, die Öffnungen der Riesenmuscheln, den Bewuchs auf den Kalkformationen. Die Schatten stoben von zwei Seiten auf sie zu. Ihr erster Gedanke war, sie zu rammen, doch dann sah sie langes Haar wie einen Schleier im Wasser schweben, entspannte sich, ließ sich in die Mitte nehmen. Die beiden waren im Meer zu Hause. Ihre Arme gestikulierten, dass sie ihre Richtung korrigieren musste, nicht viel, nur wenige Meter. Sie folgte ihnen, ohne zu zögern. Sie flogen wie auf unsichtbaren Linien. Zielstrebig und ohne sichtbare Anstrengung trieben sie dem Strand zu, anders als sie, deren Lungen zu brennen begannen. Als der Mangel an Sauerstoff überwältigend wurde, schoss sie durch die Wasseroberfläche, schlang regenschwangere Luft in sich. Noch immer konnte sie kein Ufer ausfindig machen, doch sie war nicht beunruhigt. Sie spürte das Wasser flacher werden. Dann stieß sie erneut nach unten. Sie langte als Letzte am Strand an, ließ sich auf das feuchte Sandbett spülen, blieb liegen, bis ihr Atem wieder regelmäßig ging. Ihre Begleiter saßen neben ihr, stumm, ohne Anzeichen von Erschöpfung. Schließlich setzte sie sich auf, schüttelte Wasser aus Ohren und Haaren und blickte hinaus aufs Meer. „Wie habt ihr mich gefunden?“ „Wärst du im Wald gewesen, wärst du bei den ersten Vorboten des Unwetters zum Lager gekommen. Wir haben gewartet, dann haben wir uns gesorgt. Es blieb nur das Wasser.“ Gillok sprach ruhig, ohne Vorwürfe. „Wie habt ihr mich inmitten des Meeres gefunden?“ „Ciycain wusste, wo sie suchen musste. Ich bin ihr gefolgt.“ Sie wandte sich an ihre Tochter. „Woher wusstest du, wo ich bin?“ Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Ich sehe es, wenn ich die Augen schließe.“ Syriakin erwiderte nichts, nickte nur zum Zeichen ihrer Dankbarkeit. „Du warst weit draußen“, sagte Gillok. Er sprach eindringlicher als vorhin. Sie wandte ihm den Kopf zu. Seine Augen glänzten trüb, anders als ihre, die bereits ihr dunkles Grün wieder angenommen hatten, wenngleich es noch matt schimmerte; bewölkt wie der Himmel über ihnen. „Ich war nicht auf der Flucht“, zerstreute sie seine Befürchtungen. „Was ist geschehen?“ „Ich war in Gedanken.“ „So tief, dass du das Unwetter nicht herankommen sahst?“ Sie rollte sich auf die Füße. „Offenbar. Wo sind meine Stiefel?“ „Im Lager. Das gab uns einen weiteren Hinweis auf das Meer. Im Wald hättest du sie getragen.“ „Schlaukopf“, murmelte sie, mehr zu sich selbst, und ging zu den Steinen, die noch Sonnenglut gespeichert hatten. Der Schauer ließ bereits nach, so schnell, wie er über sie gekommen war. In Kürze würden Körper und Kleidung trocknen. Gillok und Ciycain hockten sich links und rechts neben sie. Ciycain legte einen Arm auf ihr Knie, schmiegte sich an sie. „Ich wollte dich warnen, aber du warst schon weg.“ „Mir war heiß in der Mittagshitze. Ich brauchte Abkühlung.“ „Ich hatte Angst um dich.“ Sie strich dem Mädchen über das lange Haar. „Das musst du nicht. Ich kann auf mich aufpassen.“ „Du hättest ertrinken können“, mischte Gillok sich ein. „Du solltest nicht immer allein aufbrechen.“ „Ich werde in Zukunft sagen, wohin ich gehe“, versprach sie. „Nicht mehr so weit hinausschwimmen. - Das Wasser überlasse ich besser euch“, fügte sie hinzu und betrachtete die Finger ihrer Tochter, zwischen denen hauchdünne Schwimmhäute trockneten. „Du warst heute nicht jagen“, sagte Gillok. „Ich werde Fische fangen. Nach Stürmen verbergen sie sich in Scharen bei den Korallen. Übernachten wir am Wasser?“ „Wenn ihr mögt“, versetzte sie und machte Anstalten, sich zu erheben. Ciycain drückte sie zurück. „Ruhe dich aus. Ich hole unsere Sachen. Es ist nicht weit.“ „Ich muss mich nicht ausruhen.“ „Bitte. Du siehst müde aus.“ Sie setzte zu einer Entgegnung an, verstummte jedoch angesichts der flehenden Blicke ihrer Tochter. „Ich werde hier warten.“ Sie hielt Wort. Blieb auf den Steinen sitzen, sah Ciycain nach, die den Strand entlang rannte, beobachtete Gilloks Körper, der vom Wasser verschluckt wurde, streckte ihr Gesicht in die Sonne, die sich durch die Wolkenschichten schob und ihre Iriden in leuchtende Smaragde verwandelte. Sie spürte, wie angenehme Trägheit in ihre Glieder kroch, Müdigkeit sie einspann, ihr die Augen zufielen. Gleich darauf zuckte sie heftig zusammen, weil sie glaubte, dass das Wasser erneut über ihr zusammenschlug. Dann war das Gefühl vorbei und sie fand sich auf dem Stein wieder. An Land. Trocknend in der Sonne. Erwärmt von ihren Strahlen, die wie warme Finger über ihr Gesicht krabbelten.Krabbelten? Irritiert tastete sie nach ihrer rechten Gesichtshälfte. Mehr als zwei Jahre, und ihre eigene Wange kam ihr immer noch fremd vor, zerklüftet, taub unter Berührungen. Verwirrt blinzelte sie das Blut auf ihren Fingern an und schlagartig setzte die Erinnerung ein. Blut, das auf den Boden tropfte. Blut, das brannte. Das durchsetzt war mit schwarzem Geifer. Zweieinhalb Jahre waren sie fort gewesen, nicht mehr als ein sachtes Pochen unter der Oberfläche. Der Riss war verheilt, hatte sich verschlossen, und mit ihm die Erinnerungen. Nun hatte er sich geöffnet und die Vergangenheit strömte heraus. Sie sprang auf und rannte ans Meer. Es war noch aufgewühlt; ihr Spiegelbild ein Durcheinander aus Ringen und Kreisen. Sie schöpfte Wasser in ihr Gesicht, eine Handvoll nach der anderen, begrüßte das scharfe Brennen, mit dem das Salz die Wunde auswusch. Allmählich ließ das Bluten nach, kam ihr Herz zur Ruhe. Doch sie wusste, dass die Vergangenheit sie eingeholt hatte, hier, eine ganze Welt entfernt, am äußersten Zipfel ihrer Insel, wo niemand sie finden würde, wenn sie nicht gefunden werden wollte. Die Erinnerungen hatten sie aufgespürt. Und sie ahnte, dass es noch nicht vorbei war, im Gegenteil. Es fing gerade erst an.Renengu kinu. Dunkle Zeiten.

2

Guyut. Staleph Mannero mochte der hässlichste Kerl unter der Sonne sein, aber er verstand sein Handwerk. Von der Matte aus beobachtete Jonoy den stämmigen Burschen, der sich mit den Blasebälgen abmühte. Manneros nackte Brust und sein haarloser Kopf glänzten vor Schweiß, obwohl es noch Morgen war. Auch ohne die sommerliche Hitze, die bald schon durch die offene Schmiede fegen würde, war der Raum aufgeheizt durch die essha. „Mehr Luft. Die Kohle ist noch nicht heiß genug.“ „Ich weiß, Meister, Ihr sagt es mir jeden Tag.“ Manneros Ton blieb respektvoll und sein Vollmondgesicht strahlte freundlich weiter. Dennoch hörte Jonoy Verdruss aus den Worten und schalt sich selbst einen unverbesserlichen Knurrkopf. „Verzeih einem alten Hornochsen. Diese Hitze bringt mich um den Verstand.“ „Ihr seid sie doch gewohnt“, erwiderte Mehlau, der mit einem Korb Holzkohle zwischen den Pfählen der offenen Wand hereintrat. Er ging gebückt, seiner schweren Last und ungewöhnlichen Körpergröße wegen. „Oi“, bestätigte Jonoy, sich die Hüfte reibend. „Aber es gibt einen Unterschied zwischen der Hitze eines Schmiedefeuers und der Sonnenglut in dem heißesten Sommer seit Menschengedenken.“ „Ich weiß nicht“, entgegnete Mehlau, sich auf ein Bein knieend und den Korb vom Rücken stemmend. „Beides ist schweißtreibend. Ich sehe aus wie ein Tampeodon.“ Jonoy und Mannero blickten zu dem jüngeren Gesellen und lachten. Der Schweiß hatte Streifen über Mehlaus rußbedeckten Körper gezogen. Das lange Gesicht mit den tief liegenden Augen erinnerte tatsächlich an das scheue Steppentier. Die struppigen Haare, die sich hinter den Ohren wegrollten, verstärkten die Ähnlichkeit. Mehlau schaufelte zwei Hände voll Holzkohle auf die Glut, die unter Manneros behutsamen Balgstößen hellrot aufflackerte. In wenigen Minuten würde das Feuer die erforderliche Temperatur erreicht haben. Gerade genug Zeit, um einen Krug Wasser zu trinken. „Ist dies wirklich der heißeste Sommer aller Zeiten?“, fragte Mannero zwischen zwei durstigen Schlucken. „Ich lebe noch nicht lang genug, um das zweifelsfrei zu bestätigen“, gab Jonoy augenzwinkernd zurück. „Auch wenn ich so aussehe und mich manchmal so fühle. Aber es ist ein verflucht heißer. Kaum auszuhalten. Wir werden heute erneut die Arbeit bis zum späten Nachmittag unterbrechen müssen.“ „Fein. Zeit zum Schwimmen“, freute sich Mehlau. Mannero wischte sich Wasser vom Mund. „Das ist alles, woran du denkst?“ „Nein. Aber der Gedanke an ein kaltes Bad ist verführerisch.“ „Was ist mit unserer Arbeit?“ Mehlau winkte ab. „Brandzeichen für die Jungtiere in Rottos Herde. Die Viecher laufen uns nicht weg.“ „Die Brandzeichen, zwei Sätze Hufeisen für Enols Pferde, ein Messer für die Hochzeit seines Sohnes, daneben Nägel und Gatterstäbe. Reichlich Arbeit.“ „Dann müssen die Nägel warten. Wir haben nur vier Hände.“ „Sechs“, entgegnete Mannero scharf mit einem Blick auf den alten Mann in der Hängematte. „Du weißt so gut wie ich, dass der Meister…“ „Dass der Meister was?“, fragte Jonoy. Mehlau zögerte, die Augen gesenkt unter Manneros ungehaltenem Blick. „Nun sprich schon, Junge. Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen.“ „Dass Ihr nicht mehr schmiedet.“ Nun stand Trotz in Mehlaus Antlitz. Trotz und Mitleid. Jonoy hasste Mitleid. „Mehlau! Wie kannst du nur so undankbar sein!“, herrschte Mannero den Freund an. „Meister Jonoy hat uns alles beigebracht. Siehst du nicht, dass die Hüfte ihn schmerzt? Wie soll er den Hammer schwingen?“ Jonoy zuckte zusammen und nahm die Hand von der Hüfte. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie noch immer dort lag. Bei allen Schmiedefeuern! Womöglich hatte er dazu ein klägliches Gesicht gezogen. Kein Wunder, dass Mannero ihn für einen Weichling hielt. Mühsam hievte er sich aus der Hängematte. Sofort standen beide Gesellen an seiner Seite. Mannero reichte ihm die Hand, doch Jonoy wischte sie brummend beiseite und richtete sich vor Mehlau auf, der ihn um fast zwei Haupteslängen überragte. Der dürre Kerl schrumpfte in sich zusammen, als der weißbärtige Meister ihn fixierte, aber er wandte die Augen nicht ab.Wohltuend, befand Jonoy im Stillen. Nicht so besorgt wie Mannero. Leider auch nicht so begabt. „Du hast recht“, sagte er mit fester Stimme. „Ein Schmied, der nicht mehr schmiedet, ist kein Schmied mehr. Noch weniger darf er sich Meister nennen.“ Mehlaus Augenbrauen schnellten in die Höhe. „Ihr wollt uns doch nicht entlassen? Nur wegen einer dummen Bemerkung von mir? Es tut mir leid. Natürlich habt auch Ihr zwei Hände, die nützlich sind.“ „Gleich redest du dich um Kopf und Kragen“, knurrte Jonoy. „Hör sofort auf! Und entschuldige dich nicht! Ich sagte, dass du völlig recht hast. Ich habe mich gehenlassen.“ „Ihr wart verwundet“, wandte Mannero sanft ein. „Schwer verletzt. Ihr habt Euch nicht gehenlassen. Ihr habt Euch erholt.“ „Ja, nun, vielleicht“, räumte Jonoy brummig ein. „Trotzdem: Damit muss Schluss sein. Ich kann wieder stehen und laufen. Krumm und schief zwar, aber immerhin. Es zwackt hier und zwickt da, doch welcher Mann meines Alters kennt das nicht? Ich brauche eine Aufgabe. Stillstand ist der Tod. Ich könnte mich genauso gut in ein Grab legen.“ „Was habt Ihr vor?“ Manneros graue Augen glitten über Jonoys gebeugte Gestalt. Er gab sich Mühe, den Zweifel aus seiner Miene herauszuhalten, aber Jonoy sah die gerümpfte Nase deutlich. „Ich brauche eine Aufgabe“, wiederholte er und blickte in der Schmiede umher. „Vielleicht bediene ich den Blasebalg. Erledige kleinere Arbeiten.“ Mannero nickte zustimmend, doch Mehlau nahm die Lederkappe von seinem Kopf und kratzte sich an der rußigen Stirn. „Das scheint mir unziemlich. Diese Tätigkeiten sind eines Meisters unwürdig.“ „Alle Arbeiten in der Schmiede sind wichtig“, belehrte Jonoy den Jüngling mit den ascheverklebten Haaren. „Und du, lieber Mehlau, solltest langsam anspruchsvollere Dinge tun. Mache dich mit dem Feuer vertraut. Schmilz Metall! Bearbeite es! Schmiede! Du weißt längst, wie es geht! Mannero mag missmutig schauen, weil er auf das Vorrecht des Älteren pocht, aber das ist Unsinn. Alle Arbeiten zusammen ergeben ein gutes Stück Eisen.“ „Also entlasst Ihr uns nicht?“ Kleinlaut zog Mehlau die Kappe zurück auf den Kopf. Jonoy hieb ihm lächelnd die Faust in den Bauch. „Im Gegenteil. Ab morgen geht es richtig zur Sache. Heute beugen wir uns der Hitze. Ich befehle Schwimmen am Mittag.“ Der Lehrling grinste. „Das trifft sich gut. Die Mädchen werden am Fluss sein. Ciana!“ Verzückt verdrehte er die Augen. „Freie Zeit und Frauen“, grummelte Mannero. „Mehr hast du nicht in deinem dummen Schädel.“ „Von wegen dumm. Nur, weil du noch nie eine Frau angefasst hast. Und das bei deinen dicken Brüsten. Oh, ich vergaß deine Mutter und deine Schwestern. - Aua!“ Mehlau brüllte auf, als Manneros Pranke ihn in die Rippen traf. „Das war Spaß. Sei nicht so empfindlich.“ „Sei du nicht so empfindlich. War doch nur ein Streicheln.“ Die beiden maßen sich mit aufgebrachten Blicken. Jonoy humpelte zu ihnen, die Arme beruhigend erhoben. „Kinder“, setzte er an, aber er sollte seinen Satz nie beenden, denn in diesem Augenblick glitten vier Männer und eine Frau in die Schmiede, leise wie Schlangen und genauso tödlich, wie er sofort feststellte. Sie trugen dunkelgraue Lederkleidung, die so eng an ihren Körpern anlag, dass sie wie eine zweite Haut wirkte. Ihre Gesichter waren mit Tüchern verhüllt. Die fünf traten von allen Seiten an ihn und die Gesellen heran, rasch, geschmeidig, ohne überflüssige Bewegungen. Mannero und Mehlau erhielten einen Stoß in die Kehle, gefolgt von einem Schlag auf den Hinterkopf. Sie kippten um, ohne auch nur ein Stöhnen von sich zu geben. Zwei der grauen Männer fingen sie auf, ließen sie lautlos zu Boden gleiten; eine beachtliche Leistung angesichts von Manneros Körpermasse und Mehlaus Größe. So beängstigend, dass Jonoy entsetzt die Augen schloss. In diesem Moment bekam auch er einen Hieb in die Kehle, der ihm den Atem nahm. Während er nach Luft rang, traten zwei Männer hinter ihn und hielten ihn fest. Ihr Griff war eisern. Selbst früher, als die Muskeln in seinen Armen noch nicht geschrumpft waren, hätte er Mühe gehabt, sich aus einer solchen Klammer zu befreien. Die Frau und ein weiterer Mann drängten ihn zurück an die Wand, an der die essha stand; die Kohle nunmehr schwimmend in den Flammen. „Was wollt ihr?“, brachte er heraus. Statt einer Antwort legte sich eine behandschuhte Faust um seinen Mund. Eine zweite drückte den Kehlkopf zusammen, bis seine Gedanken blubberten und fauchten wie die Holzkohle. Hände rissen das Hemd entzwei und über die Schultern zurück, entblößten die weißbehaarte Brust. „Narben“, raunte einer der Grauen unterdrückt. „Viele.“ Jonoy meinte, Respekt aus der Stimme herauszuhören. Die anderen sagten nichts. Ihre Augen blickten ohne jedes Gefühl. Seine eigenen begannen zu tränen, als der Mann, der unmittelbar vor ihm stand, ein Messer aus dem Ärmel zog; schmal und biegsam wie sein Besitzer. Spitz und barbiermesserscharf, erkannte Jonoys geschultes Auge auf Anhieb. Ein hervorragender Schmiedemeister musste es gefertigt haben. Gewiss ein Meisterstück, eine Sonderanfertigung, unbezahlbar, unersetzlich, geraubt vermutlich von einem Höfischen. Die Spitze senkte sich auf die Brust, bohrte sich mühelos in sein Fleisch. Er biss die Zähne zusammen, schnaufte durch die Nase. Ruhig bleiben, ermahnte er sich. Die Luft reicht nicht für Panik. „Warte“, zischte die Frauenstimme. Der Mann hielt sofort inne und wandte sich zu ihr um. Die Frau wies mit dem Kinn auf die Haken neben dem Schlot, an denen verschiedene Werkzeuge hingen. „Der Stempel rechts.“ Jonoy stöhnte unter der Faust auf, während der Mann sein Messer wieder in den Ärmel schob und das Brandeisen von der Wand nahm. „R“, sagte er leise. „R“, wiederholte sie. Jonoy schauderte. Er hatte genug Zeit, sich das Kommende in allen grausigen Einzelheiten auszumalen, während Rottos Brandeisen im Feuer zu glühen begann. Als das Eisen sich auf seine nackte Brust zubewegte, fing er an, verzweifelt mit den Beinen zu strampeln. Doch er zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die Frau und drei Männer hielten ihn fest, dieweil der vierte sich zu ihm hinunterbeugte. „Mehr Narben“, sagte er. Jonoy wich vor dem bitteren Geruch, den der Mann ausströmte, zurück. Die Wand stoppte ihn. Dann senkte sich das glühende Eisen. Brusthaare kräuselten sich, als sie versengten, und seine Haut platzte auf, noch bevor das Metall sie zerbiss. Er schrie nicht lange. Der Schmerz war so gewaltig, dass er beinahe sofort das Bewusstsein verlor. Kaltes Wasser spritzte ihn zurück ins Leben. „Meister?“, hörte er eine angstvolle Stimme. Er schlug die Augen auf und war erstaunt, dass sie noch immer tränten. Dann verschluckte er Wasser und bemerkte, dass er im Fluss lag. Er prustete und würgte. Starke Arme richteten ihn auf. Gleich darauf sah er in Mehlaus rehbraune Augen. Der Geselle hatte einen Bluterguss am Hals, wo die Handkante ihn getroffen hatte. Er war klatschnass. Asche und Ruß liefen an Körper und Gesicht hinunter, bildeten schwarze Schlieren im seichten Flusswasser. Haare klebten in der Stirn, die Kappe trieb einige Meter neben ihnen am Ufer. „Geht es ihm gut?“, ertönte Manneros dunklere Stimme. Jonoy hörte, wie er hinter ihm durch den Fluss watete und sich zu ihm hinunterbeugte. „Er lebt“, antwortete Mehlau. „Natürlich lebt er, Dummkopf“, gab Mannero barsch zurück. „Er war nur ohnmächtig.“ „Ich weiß“, murmelte der Jüngere, offensichtlich unter Schock stehend. Mannero setzte sich neben ihnen in den Fluss. Sein nackter Oberkörper glänzte rot und rauchte. Auch er hatte einen Bluterguss am Hals. An den Armen entdeckte Jonoy frische Brandblasen und Striemen. „Was ist passiert?“, ächzte er. „Die Kerle haben die essha umgestoßen“, stieß Mannero aus. Seine Zähne mahlten wütend. „Die Glut hat die Schmiede in Brand gesetzt. Vorher haben sie die Werkzeuge ins Feuer geworfen. Einige haben sie mitgenommen. Sie sind verschwunden. Außer uns hat niemand sie gesehen. Außer Euch, vielmehr. Für mich ging alles viel zu schnell.“ „Es war gutes Werkzeug. Bringt eine Menge Gold auf den Märkten.“ „Ja“, knirschte Mannero. „Die Schmiede ist zerstört. Was sollen wir nun tun?“ „Das ist doch unwichtig“, sagte Mehlau leise. „Wir sind noch am Leben. Habt Ihr Schmerzen, Meister?“ „Es … geht“, stöhnte Jonoy. „Wer waren die Leute? Was wollten sie von Euch?“ Mehlaus sanfte Augen glommen mitfühlend. „Darauf weiß ich keine Antwort.“ „Habt Ihr Euch Feinde gemacht?“ „Jeder Mensch macht sich Feinde, vor allem, wenn er ein so langes Leben geführt hat wie ich. Allerdings fällt mir niemand ein, der zu solch extremen Maßnahmen griffe. Helft mir auf, ja?“ Die Lehrlinge zogen ihn auf die Füße. Tropfend und mit wackligen Knien stützte er sich auf sie und sah zu der rauchenden Schmiede hinüber. Dorfbewohner rannten aufgeregt schreiend zwischen dem Fluss und der Werkstatt hin und her. Sie schwenkten Eimer mit Wasser. In der Schmiede selbst gab es nur wenige Gegenstände, die brannten, aber der Waldrand war nahe, Bäume und Gras trocken wie Zunder. „Geht es euch gut?“, fragte er mit vor Durst und Rauch geschwollener Zunge. „Seid ihr verletzt?“ „Mir brummt mein Schädel“, erwiderte Mannero. „Die haben ganz schön zugehauen.“ „Ärgere dich nicht. Gegen diese Hinterhalttaktik kann man nicht viel ausrichten. Egal, wie dick deine Muskeln sind.“ „Wir hätten uns Schwerter schmieden sollen.“ „Du bist doch kein Kämpfer“, entgegnete Mehlau. „Jeder vermag mit einem Schwert zuzuhauen.“ „Unsinn! Du kannst vielleicht auf einen Amboss dreschen oder Männern deine Fäuste in den Magen. Ein Schwert zu führen ist etwas anderes.“ „Aber du? Du kannst es? Du konntest uns auch nicht retten. Oder die Schmiede.“ „Du denkst immer nur an die Schmiede. An Dinge. Gegenstände.“ „Ich habe Meister Jonoy zum Fluss getragen.“ „Ich wohl nicht?“ „Schluss“, sagte Jonoy entschieden. „Hört auf zu streiten. Ihr habt mir das Leben gerettet. Meinen Dank dafür. Ihr seid selbstlose Menschen, so unterschiedlich ihr sein mögt. Gute Handwerker. Baut euch die Schmiede wieder auf.“ Damit machte er sich los und stapfte mühsam ans Ufer. „Was habt Ihr vor?“, rief Mehlau ihm nach. „Weggehen.“ „Wohin?“ „Zu einem Freund.“ Er spürte, wie die Gesellen sich anschauten. „Zu welchem? Wo ist er?“ Manneros Stimme. „In der Wüste.“ „Welche Wüste?“ „Die auf Berlen, Trottel. Wo sonst?“ Mehlau stapfte, viel Wasser aufspritzend, hinter ihm her. „Ihr wisst, dass die Sande ziemlich groß sind, Meister?“ „Sicher. Ich war bereits in ihnen. Mehrfach.“ „Geht Ihr dort immer hin, wenn Ihr für Tage verschwindet? Wo genau werdet Ihr Euern Freund finden?“ „Wenn ich großes Glück habe, in Puard. Wenn ich weniger Glück habe, auf dem Weg nach Puard. Wenn ich Pech habe, irgendwo zwischen Ranand, Prant, Yruish und der Langen Küste.“ „Das ist ein weites Gebiet.“ „Hm.“ „Warum wollt Ihr zu Eurem Freund?“ Jonoy blieb stehen und wandte sich um. Mannero und Mehlau sahen ihn neugierig an. Plötzlich spürte er, dass er sie vermissen würde, und lächelte innerlich. Normalerweise raubten sie ihm nach höchstens zwei Stunden den letzten Nerv. Er riss sein Hemd auseinander und streckte die verschandelte Brust in die Sonne. „Deswegen.“ Die Gesellen rissen den Mund zu einem stummen Entsetzensschrei auf. Es war das erste Mal, dass sie die Wunde so offen sahen. Schwarz verbrannte Haut auf rohem Fleisch. „Hat Rotto etwas gegen Euch?“, fragte Mehlau schließlich. „Rotto hat nichts damit zu tun. Das Eisen war Zufall. Aber es passte ihnen gut in den Kram.“ „R“, überlegte Mannero laut. „Weshalb R?“ „Das weiß ich nicht. Ich kenne niemanden, dessen Name mit diesem Buchstaben beginnt. Zumindest niemanden, den ich so verärgert hätte.“ „Dann ist es eine Abkürzung“, schlug Mehlau vor. „Logisch, Halbhirn. Was sonst? Doch wofür? Und in welcher Sprache?“ „Vieles kommt in Betracht“, sagte Jonoy. „Und da ich nichts Genaueres weiß, gehe ich.“ „Ihr flieht“, stellte Mehlau richtig. „Er ist doch nicht feige.“ Manneros flaches Gesicht war aufgebracht, das freundliche Vollmondantlitz verschwunden. „Ich fliehe“, kam Jonoy Mehlaus Antwort zuvor. „Ich kenne die Angreifer nicht. Ihren Beweggrund. Ich möchte niemanden in Gefahr bringen. Ich gehe.“ „Jetzt gleich?“ Mehlau war bestürzt. „Einfach so? Ruht Euch wenigstens noch bis morgen aus. Meine Tante packt Euch Proviant ein. Und Umschläge für die Wunde.“ Nach kurzem Nachdenken nickte Jonoy. „So soll es sein.“ „Was ist mit der Schmiede?“, fragte Mannero. „Mit Eurer Aufgabe?“ „Ich habe eine neue, scheint es.“ „Euern Freund finden?“ „Ja.“ „Und Euer Freund - bei dem seid Ihr in Sicherheit?“ „Ich glaube nicht, Mehlau.“ „Kennt er die Antwort auf das, was heute passiert ist?“ „Ich denke nicht.“ „Warum, bei allen Schmiedefeuern, wollt Ihr dann den  Weg auf Euch nehmen?“ „Weil wir uns das geschworen haben. Wenn einem von uns etwas zustößt, egal was, warnen wir die anderen.“ „Die anderen? Gibt es mehr als diesen einen Freund?“ Jonoy lächelte. „Du kannst ja zuhören, Mannero. Ja. Die gibt es. Ich muss sie warnen. Mit Akim fange ich an.“ „Es hat etwas mit der Reise in den Norden zu tun, nicht wahr? Der Reise auf die Insel?“ Mehlau war ganz leise geworden. „Ich hoffe nicht.“ „Was ist damals passiert? Man hört die ungeheuerlichsten Geschichten. Nur von Euch hört man nie ein Wort.“ „Es ist viel zu viel geschehen, um alles zu erzählen.“ „Jetzt habt Ihr ja Zeit dafür.“ „Qa?“ Verwirrt strich Jonoy über den nassen Bart. „Denkt Ihr, wir ließen Euch allein gehen? Meine Tante würde mir den Hintern versohlen, bis er stärker qualmt als die essha. Und Ciana würde mich nie wieder ansehen. Ta tu luo e, Meister.“ „Nein, Mehlau. Deine Tante würde mir den Hintern versohlen, wenn ich ihren einzigen Neffen in Gefahr brächte.“ „Dafür bin ich ja da. Die Gefahren sollen nur kommen.“ Mannero rieb sich die schwieligen Fäuste, als könne er es kaum abwarten.

3

Fedaj. Kânegg Im Norden war der Sommer ein Besucher auf der Durchreise. Gewöhnlich schleppte er sich im Anschluss eines verregneten Frühlings herbei, verweilte zwei oder drei Wochen in der Stadt, bevor er sich nach Westen und Süden verzog und dem stürmischen Herbst das Feld überließ. Von den Einwohnern wurde er jedes Jahr wie ein lange vermisster Freund begrüßt, doch wenn er sich über Nacht davonmachte, atmeten sie auf, öffneten Fenster und Türen, ließen stickige Luft ins Freie und hofften, dass die Hitzeglocke über den Straßen rasch in Richtung Meer verwehte. Seit fünf Tagen weilte der Sommer in der Stadt und heute war der erste gewesen, an dem er seine unangenehme Seite gezeigt hatte. Bereits am frühen Vormittag war es so heiß, dass die Einwohner sich in ihre Häuser zurückzogen, die Werkstätten schlossen, die Märkte verwaist lagen, die Bettler im Schatten Zuflucht suchten, Hunde und Katzen hechelnd nach Luft schnappten. Die Hitze flimmerte über den Gassen und ein Gestank nach Fäulnis und Urin breitete sich aus. Einzig die Fischer verrichteten ihr Tagwerk. Ihre Boote schaukelten auf den Wellen, sanft bewegt von einer Brise, die von den ersten Häuserreihen erstickt wurde. Kinder rannten halb nackt zum Meer, warfen sich in die Fluten. Er hatte ihr Lachen bis auf den Hügel gehört und Neid verspürt. Doch der Weg zum Wasser führte durch die gesamte Stadt, die menschenleer in der Hitze dampfte. Zu gefährlich für einen Jungen wie ihn. „Die nächsten Wochen werden ein Albtraum.“ Yvain drehte sich um. Thrageshs Büffelschädel ragte durch die Luke. Schnell rutschte er hinüber und nahm ihm den Beutel ab, sodass sein Leibwächter sich durch die enge Öffnung zwängen konnte. „Wieso Albtraum?“, fragte er zurück, während er den Beutel durchwühlte und zwei Äpfel zutage förderte, von denen er einen an seinen Freund weiter reichte. „Die Hitze, was sonst?“ Thragesh verschlang die Hälfte der Frucht mit einem Biss. „Sie wird noch mehr zunehmen. Ich schwitze schon bei dem Gedanken daran.“ „Geh doch schwimmen. Dir ist es erlaubt.“ „Sehe ich aus wie ein Frâgg?“, nuschelte der Braunschopf mit vollen Backen. „So zottig? Nein, wahrlich nicht.“ Der Knabe lachte. „Liebe Güte, Shesh, wann hast du zuletzt einen Barbier aufgesucht?“ Thragesh schüttelte sich und stieß ein Schnauben aus, das Apfelstückchen durch die Hütte schickte. „Ich lasse keinen Mann mit einem scharfen Messer an meinen Kopf.“ „Kein Wunder, dass du schwitzt unter all dem Fell.“ „He!“ Shesh stupste ihn an, dass er zur Seite kippte. „Keine Beleidigungen. Du weißt, wie eitel ich bin.“ „Der hässlichste Eitle, den ich kenne“, gab der Junge lachend zurück und ächzte, als der massige Leibwächter sich auf ihn warf und ihn in einen Kampf verwickelte, der damit endete, dass sein Haar zerzaust wurde, bis es ihm vom Kopf abstand. „Im Ernst. Du solltest schwimmen gehen“, sagte er, als sie sich wieder beruhigt hatten. „Ich kann nicht schwimmen“, brummelte Thragesh. „Ich bringe es dir bei.“ „Ich bin nicht so verrückt nach Wasser. Gegen einen kräftigen Regenguss hätte ich allerdings nichts einzuwenden. Er würde die Hitze hinfort spülen.“ „Schimpfe nicht. Es ist so selten warm hier. Immerfort Regen und Wind und Schnee. Genieße den Sommer.“ „Ah!“ Der Leibwächter schüttelte sein langes Haar. „Ich mag die Sonne nicht. Zumindest nicht so viel davon. Die Hitze weicht mein Hirn auf.“ „Welches Hirn?“, fragte Yvain und fing sich einen Hieb in die Seite ein, dem er nur teilweise ausweichen konnte. „Nun, ich glaube, ich kann dir eine Freude machen. Es wird regnen.“ „Wann? Im Herbst?“ „Heute Nacht noch. Ein Gewitter.“ In Sheshs Augen stand Skepsis. „Dann muss es sich aber beeilen, denn die Nacht ist bald vorbei. Was mich zum Grund meines Besuches bringt.“ „Du bist nicht meinetwegen gekommen?“, gab Yvain mit gespielter Empörung zurück. „Weshalb sollte ich sonst hier heraufklettern? Dein Bett war unberührt. Geh schlafen. Es ist spät.“ „Ich bin nicht müde.“ „Das dachte ich mir.“ Thrageshs gutmütiges Gesicht wurde ernst. Seine nussbraunen Augen glitten besorgt über das Antlitz des Jungen. „Es ist nicht der Gedanke an ein kommendes Unwetter, der dich wachhält.“ „Nein“, gab Yvain zu. Er schlang die Arme um die Knie und stützte das Kinn auf. „Hat Mutter dich geschickt?“ „Du weißt, dass sie sich sorgt.“ „Ich bin kein Säugling mehr.“ „Aber ein Kind. Kinder muss man beschützen. Dich besonders.“ „Ich kann auf mich aufpassen.“ „Dennoch.“ „Will sie, dass ich in meine Gemächer zurückkehre?“ „Das hat sie nicht ausdrücklich gesagt, doch es stand in ihren Augen.“ Er erwiderte nichts, vergrub das Kinn in seinen Armen. Thragesh stupste ihn an, legte einen Arm um ihn. „Du verstehst das?“ „Ja, ich verstehe es“, grummelte der Blondschopf. „Ich verstehe sie. Meine Gemächer sind sicher. Verstärkte Wachen, verschlossene Fenster und Türen.“ „Ganz richtig.“ „Aber hier draußen ist die Luft angenehmer. Ich kann die Sterne sehen und später dem Regen lauschen. Vielleicht wird er mich müde machen.“ „Der Blitz könnte einschlagen.“ „Wird er nicht. Die Bäume rund herum sind höher.“ „Sie könnten auf dein Baumhaus stürzen.“ „Ja, das Leben ist voller Gefahren.“ „Hör auf“, bat Shesh. „Zeig dich besonnen. Sei…“ „…einsichtig. Ich weiß.“ Yvain seufzte und nickte. „Ich werde gleich kommen. Wartest du in meinem Zimmer?“ „Warum kommst du nicht sofort mit? Deine Mutter ist noch wach. Es würde sie beruhigen, wenn sie dich in der Sicherheit deiner Gemächer wüsste.“ „Gleich.“ „Warum? Was ist los? Du warst schon den ganzen Tag so seltsam.“ Plötzlich wirkte Thragesh alarmiert. „Es ist nichts. Nur das Unwetter.“ „Unsinn“, widersprach der Braunschopf, sprang auf die Füße und spähte durch das ausgelassene Stück Bretterwand. „Wenn ich eins gelernt habe während der Zeit mit dir, dann, deinen Vorahnungen zu trauen. Oft genug liegst du richtig.“ Er zuckte vor dem grellen Blitz zurück, der gleich darauf die Nacht erleuchtete. „Zu früh“, hauchte der Knabe. „Also? Klärst du mich jetzt auf? Was befürchtest du noch? Warum suchtest du Zuflucht in dem Baumhaus?“ „Zu zeitig.“ Yvains Stimme klang abwesend, verwundert. „Ein Versteck“, begriff Shesh. „Ein gutes. Alt, seit langer Zeit unbenutzt, überwuchert, weit genug von der Residenz entfernt, nah genug am Waldrand. Hoch oben, über den Dingen.“ Thragesh wandte sich um, musterte den Blondschopf. „Wovor verkriechst du dich?“ „Es ist nur eine Ahnung“, wich Yvain aus. „Mehr nicht.“ „Sprich endlich.“ „Ein Gefühl von Gefahr. Eine Bedrohung.“ „Welcher Art?“ „Das vermag ich nicht zu sagen. Ich bin nicht hellsichtig, Shesh.“ „Könnte es tatsächlich nur das Unwetter sein? Ein außergewöhnlich heftiges möglicherweise?“ „Das Gefühl war … ist stärker“, flüsterte Yvain. „Dann sollten wir die anderen warnen. Deine Mutter vor allem.“ „Wovor denn? Ich dachte, wenn ich hier oben sitze, kann ich Ausschau halten. Nach allem Möglichen.“ „Glaubst du, dass dir Gefahr droht?“ „Ist das nicht immer so?“ Der Junge sprach mit tauben Lippen. Beherrscht, gefasst. „Gut“, beschloss der Leibwächter. „Wir halten gemeinsam Ausschau. Das sollte uns leichter fallen, jetzt, da wir Licht haben.“ „Licht?“ „Die Blitze. Wir gewöhnlichen Sterblichen sehen nicht so gut im Dunkeln.“ „Was ist das?“, rief Yvain in Thrageshs Satz hinein. Shesh schob zwei dicke Finger zwischen die Ritzen der Holzwand und duckte sich. Gleichzeitig drückte er seinen Schützling zu Boden und legte den Zeigefinger vor die Lippen. „Sh! Kein Mucks!“ „Was ist das?“, murmelte der Junge trotz des Verbotes. Thragesh fluchte still und lugte weiterhin nach draußen. Weiße Blitze zuckten in schneller Folge über den Himmel, so grell, dass sie ihn blendeten und er von der Umgebung kaum mehr wahrnahm als in stockfinsterer Nacht. Nur mit Mühe erkannte er die Feuerbälle, die an ihnen vorbei, über sie hinweg, rasten, geradewegs auf die Residenz zu. „Brandpfeile“, zischte er. Dröhnender Donnergroll verschluckte das Wort, zerriss es in der aufgeladenen Luft. „Wir müssen die anderen warnen!“, rief der Junge, der ihn trotz des Donnerns verstanden hatte. „Schnell!“ Er machte Anstalten, sich zu erheben, doch Thragesh drückte ihn erneut in die Ecke hinunter. „Bleib, wo du bist. Und höre! Die Glocke läutet bereits. Die Soldaten deiner Mutter wissen, was zu tun ist. Im Augenblick bist du hier sicherer.“ „Aber…“ „Der Palast besteht aus Steinmauern. Brandpfeile können ihnen nichts anhaben.“ „Das Dach! Und die Fenster!“ „Ich weiß. Die Soldaten wissen es auch. Sie passen auf.“ „Wo es Pfeile gibt, gibt es Schützen. Wir werden angegriffen.“ In Yvains Augen stand mehr Verwunderung als Schrecken. „Dies ist das am besten gesichertste Haus im Norden. Vermutlich auf der gesamten Insel. Die Angreifer sind entweder tollkühn oder dumm. Sie hätten sich besser ein Bürgerhaus für ihren Raubzug gewählt.“ „Was, wenn es keine Räuber sind? Wir müssen helfen, Shesh. Bitte!“, flehte der Junge. „Nein.“ „Aber ich kann kämpfen. Ich bin dafür ausgebildet.“ „So wie ich. Doch die Befehle deiner Mutter sind unmissverständlich: deine Sicherheit vor allem. Wir bleiben.“ „Shesh!“ „Runter! Verbirg dich in der Ecke! Sollten wir hier oben angegriffen werden, kannst du immer noch kämpfen.“ Thrageshs bärbeißiges Gesicht hatte sich in die Fratze eines Raubtieres verwandelt. Um Augen und Mund wehten Zorn und Entschlossenheit. Yvain wusste, dass weiterer Widerspruch an ihm abprallen würde und gab nach. Er duckte sich in die Ecke neben der Leiter, befühlte den kalten Stahl an seinem Gürtel, verschmolz mit der Dunkelheit, beobachtete den Freund und Leibwächter, der seine widerspenstige Haarpracht in einen Zopf zwang und abwechselnd durch Wandlücke und Bodenluke starrte, kampfbereit auf den Beinen wippend, während draußen die Welt unterging. Donner, Blitz und Regen prasselten auf das Dach der Hütte. Äste und Zweige schlugen gegen die Wände, Kieferzapfen explodierten. Das Baumhaus schwankte und knarrte erbärmlich. Durch den Lärm hindurch hörten sie das Zischen weiterer Pfeile, die warnenden Rufe der Soldaten und Bediensteten. Yvain hockte am Boden und starrte mit trockenem Mund auf die Luke. Unbewusst leckte er sich über die Oberlippe, schmeckte Salz. Normalerweise schwitzte er nicht, höchstens nach einem besonders anstrengenden Übungstag im Kampfrund. Furcht brachte Menschen zum Schwitzen. Er war kein Angsthase, hatte Gefahrensituationen überlebt, wusste, was er in solchen Zeiten empfand. Nervosität. Anspannung. Erschrecken. Aber keine Angst. Er vertraute auf sich, seine Ausbildung, seinen Verstand. Seinem Leibwächter. Dem Schicksal. Er schwitzte nicht. Die Hitze kam nicht aus seinem Inneren. Vorsichtig richtete er sich auf. Auf Thrageshs Gesicht stand der Schweiß. Feuerschein spiegelte sich auf Wangen und Stirn. „Das sind keine einfachen Brandpfeile“, murmelte Yvain. „Nein. Sie verwenden irgendein Dämonenzeug, um das Feuer zu verstärken. Die Residenz steht in Flammen.“ „Ein Brandpulver?“ „Das Dach ist weg. Als hätte ein Sturm es hinweggefegt. Die Gemächer brennen.“ „Wir müssen hinunter!“ Kreischende Schreie brachten den Jungen zum Verstummen. Mit weit aufgerissenen Augen lauschte er in die fauchende Nacht, kroch zur Wandlücke und starrte hindurch. Augenblicklich bereute er seine Neugier. Über den Rasen, der an die Rückseite der Gebäude grenzte, taumelten Menschen. Sie hatten die Arme in die Luft gestreckt und schrien, wie Yvain noch niemals jemanden hatte schreien hören. Reflexartig drückte er beide Hände vor die Ohren, aber das unmenschliche Gebrüll hatte seinen Geist längst berührt. Auch die Augen schloss er zu spät. Er hatte sie gesehen. Sie brannten lichterloh. Thragesh war versucht, einen Arm um den Jungen zu legen, doch er unterließ es. Er musste gewappnet sein. Seine Fäuste umklammerten die beiden Kurzschwerter an den Hüften, während er beobachtete, wie die lebenden Fackeln wahnsinnige Tänze auf dem Rasen vollführten, bevor sie zusammenbrachen und verrauchten. Die Baumhütte lag ein gutes Stück entfernt, aber der Geruch verbrannten Fleisches zog bereits eine unsichtbare Spur bis hinauf in die Wipfel. Der Junge neben ihm wiegte sich hin und her, die Hände auf den Ohren, die Augen fest zusammengepresst. Selbst jetzt wirkte er beherrscht, unterdrückte die Regungen, die jedes andere Kind in dieser Situation verspürt hätte. Er weinte nicht, er schrie nicht, er jammerte nicht. Wiegte sich nur still hin und her. „Yvain“, flüsterte der Leibwächter. „Du musst dich vorbereiten. Vergiss nicht: Du bist Soldat.“ Der Junge hielt augenblicklich inne, schluckte. Dann öffnete er die Augen, nahm die Hände herunter. „Meine Mutter“, sagte er langsam. „Wir müssen sie da herausholen. Es ist unsere Pflicht.“ Seine Stimme zitterte leicht. „Nein. Es ist genau das, worauf sie warten. Sieh hin! Sie haben alles in Brand gesetzt. Wer nicht drinnen in Qualm und Hitze erstickt oder verbrennt, rennt nach draußen.“ „Und?“, fragte Yvain tonlos. „Pass auf. Wappne dich.“ Weitere Menschen kamen aus dem Palast gelaufen. Männer, Frauen, Kinder. Bedienstete. Soldaten. Yvain erkannte die roten Uniformen der Lakaien. Ein Hagel von Pfeilen streckte sie nieder, sobald sie aus dem Schatten des Gebäudes traten. „Sie löschen uns aus.“ Yvain sprach laut und überdeutlich. „Bis zum letzten Mann.“ Thragesh zuckte zusammen, als er die Stimme des Knaben hörte. Sie klang tiefer als sonst, fast wie die eines Erwachsenen. Er biss sich auf die Innenseite der Unterlippe. „Ja“, sagte er schließlich. „Wo sind sie? Die Angreifer? Wo lauern sie?“ Der Leibwächter überlegte. Durch den Schlitz hatte er nur einen sehr begrenzten Ausschnitt von der Umgebung. Er versuchte, sich das weitläufige Gelände rund um die Residenz in Erinnerung zu rufen und gleichzeitig die Reichweite der Pfeile zu berechnen. „Überall und nirgends. Mein Eindruck ist, dass sie das Gelände von verschiedenen Seiten aus beschießen. Selbst von der Straße aus. Bestimmt haben sie sich auf den Dächern verschanzt und auf den Bergen ringsum. Vielleicht hocken sie in den Bäumen. Deshalb bleiben wir hier. Dein verwittertes Baumhaus ist im Moment der sicherste Platz.“ „Sie verbietet mir ständig, hier herauf zu klettern“, sagte Yvain dumpf. „Ich weiß.“ Thrageshs Augen schauten mitleidig. „Die Hütte ist alt und baufällig. Sie findet sie gefährlich, hat immer Sorge, ich breche mir den Hals.“ „Leise jetzt! Sie haben aufgehört zu schießen.“ „Und nun?“ „Beobachten wir.“ Thragesh senkte die Bassstimme zu einem kaum wahrnehmbaren Flüstern. „Nimm dein Schwert. Wir werden nicht kampflos aufgeben.“ Der Junge gehorchte und lauschte. In die Nacht genauso wie in sein Inneres. Er horchte auf sein galoppierendes Herz und auf die Trauerstimmen, die sich in ihm erhoben hatten. Seine rechte Hand umfasste das Schwert, die linke klammerte sich an Thrageshs muskulösen Unterarm. Sehr lange Zeit geschah nichts. Das Feuer prasselte, zischte und dampfte, als das Gewitter sich in strömenden Regen ergoss. Blitze beleuchteten grell, was die Flammen in flackerndes Licht tauchten: leblose Körper auf dem Rasen, viele von ihnen unförmig verkrümmt, das Glas zerborstener Fenster, zersplitterte Tore, das zerstörte Dach. Darunter brennende Räume. Über den lärmenden Naturgewalten lag eine gespenstische Ruhe. Niemand schrie mehr. Niemand stöhnte oder rief um Hilfe und die Trauerstimmen flüsterten dem Knaben zu, dass es keine Seele gab, die überlebt hatte. Keine einzige. Tränen liefen seine Wangen hinab. Er wischte sie nicht ab, schniefte leise, schluckte die Gram hinunter. Shesh wagte es nicht, den Jungen anzuschauen. Auch in seinen Augen brannten Tränen, doch er musste stark bleiben. Später würde er Zeit finden zu trauern. Sanft fasste er nach Yvains Schulter, zog ihn von dem Loch weg und drehte sich nach der Bodenluke um. Yvain wehrte sich, schüttelte den Kopf, riss sich los. Thragesh blieb stehen, plötzlich hilflos. Das Trösten eines Neunjährigen gehörte nicht zu seinen Aufgaben. Doch Trost war es nicht, was Yvain wollte. Mit tränenüberströmtem Gesicht hob er den Zeigefinger. „Horch! Die Bürger kommen, um zu helfen. Sie wollen den Brand löschen.“ Undeutlich vernahm Thragesh die Stimmen von Männern und Frauen, das Getrappel von Hufen auf der Straße, das Rumpeln der schweren Wasserwagen. Die Fedaj-i des oberen Stadtviertels lebten entfernt vom Meer und hatten bereits vor langer Zeit eine Brandwache gegründet. Shesh atmete auf. „Das ist gut. Wir mischen uns unter sie.“ Yvain hielt ihn zurück. „Nein. Vielleicht warten die Angreifer. Beobachten weiter.“ „Sie würden uns nicht inmitten der vielen Menschen angreifen“, setzte Shesh entgegen. Yvain fasste nach seiner Hand. „Sie hatten keinerlei Skrupel, die gesamte Residenz auszurotten. Wir verschwinden heimlich“, befahl er ohne Schärfe in der Stimme. „Durch den Wald. Sobald es auf dem Gelände vor Menschen wimmelt. Die Angreifer werden abgelenkt sein, sich vielleicht als Helfer tarnen, nach uns suchen. Mit ein wenig Glück werden sie glauben, wir sind unter den Verkohlten.“ „So willst du nicht nachsehen? Deine Mutter suchen? Abschied nehmen?“ Yvain sah ihn traurig an. „Sie ist tot, Shesh. Ich möchte sie als Lebendige in Erinnerung behalten, als Mensch. Mein Zuhause ist weg. Jemand trachtet uns nach dem Leben. Ich bleibe nicht hier.“ „Was hast du vor?“ „Wir müssen Ylaiy in Kenntnis setzen. Wenn wir in Gefahr sind, sind die anderen es vielleicht auch.“ „Welche anderen?“ „Meine Freunde. Ich erzähle dir alles unterwegs. Wir müssen nach Südwesten. Dort setzen wir nach Staleph über.“ „Warum so weit?“ „Weil, wenn wir kein Glück haben, sie uns verfolgen werden. Und Bantafej wäre die nächste logische Wahl.“ „Dazu müssen wir durch die Sümpfe.“ „Und zwar unerkannt. Wir kennen unsere Angreifer nicht. Besser, wir trauen niemandem.“ Thragesh musterte den Blondschopf, der ihn betrübt anblinzelte. Dann nickte er schwer. „Ich habe geschworen, dein Leben zu schützen. Ich komme mit dir.“ Statt einer Antwort drückte Yvain die behaarte Hand des Leibwächters. Dieser verzog die Lippen und warf einen letzten Blick durch die Bretterwand. „Schau!“, flüsterte er. „Dort! Auf dem Rasen!“ Yvain schob sich neben ihn. „Was ist das? Ein Symbol?“ „Ein R? Sieht es nicht aus wie ein R? Wie geht das?“ „Irgendein Brennstoff“, murmelte Yvain, jählings kreideweiß. „Sie haben das Symbol auf den Rasen gemalt. Mit Pech oder etwas Ähnlichem. Was beweist, dass sie schon einmal hier waren. Das Ganze war von langer Hand geplant.“

4

Gut Vanstetten. Yruish Den Kopf an ihre Brust geschmiegt, schlummerte er ein, geborgen unter einem Tuch, welches ihn gegen Hitze und Insekten abschirmte. Die Frau, die ihn auf dem Arm trug, lächelte. Ihn an ihrer Schulter wiegend, ging sie weiter. Sie genoss das Gefühl der Wärme, die duftende Pracht der Blumen, das Erdreich unter ihren Füßen. Am meisten genoss sie den Duft ihres Enkels. Sie hielt ihre Nase an seinen Kopf und atmete ihn ein, diesen betörenden Säuglingsduft. Bald würde er anfangen zu plappern und die Welt erkunden. Er krabbelte jetzt schon schneller fort, als ihr lieb war. Der Geruch würde schwinden und mit ihm die Unschuld. Doch noch war Zeit. Die Wiese, die unter ihren Leinenschuhen federte, schimmerte in saftigem Grün. Drei, vier Wochen noch, bis der Spätsommer einsetzte. Drei Wochen, um die unbeschwerte Süße zu genießen, über die Weiden und Felder zu wandern, mit Talin zu planschen, unter rauschenden Baumkronen zu ruhen, an nichts zu denken. Dann rückte die Erntesaison heran und Zeit würde knapp werden. Die erste Ernte auf Vanstetten. Im nächsten Jahr konnte Talin bereits mithelfen. Das Plätschern des Baches lenkte sie ab. Um diese Jahreszeit führte er wenig Wasser, aber Ivson sorgte dafür, dass der Damm aus Steinen, Moos und Ästen unversehrt blieb, sodass sie in dem aufgestauten Wasser sitzen und sich abkühlen konnten. Ihre Füße eskortierten sie wie von selbst zum Wassergraben. Am Ufer angekommen, legte sie den Tochtersohn höher an ihre Schulter, damit sie einen Arm frei behielt. Am schlammigen Ufergelände wuchsen hauptsächlich Nesselgewächse, an denen sich schlecht Halt finden ließ. Vorsichtig tastete sie sich über die schlüpfrigen Stellen. Die wenigen Meter ins Wasser strengten an, dafür belohnte sie erfrischende Kühle. Minutenlang stand sie still da, ihren schlafenden Enkel auf der Schulter, mit dem Arm Libellen verscheuchend, bis ihre Knöchel von der Kälte zu schmerzen begannen. Sie konzentrierte sich auf die wohligen Schauer, die Wärme und Kälte gleichermaßen durch ihren Körper schickten; verwundert, wie wenig es brauchte, glücklich zu sein. Als ihre Füße gefühllos wurden, erklomm sie die gegenüberliegende Uferseite. Dort betrat sie eine Wiese, die einer Insel glich, denn sie war eingeschlossen von dem Bächlein, das einen weiten Bogen um das Grasland zog, und dem Fluss, von dem es abzweigte. Der Strom trug den Namen Bene. Evart hatte ihr erklärt, dass er aus dem Dialekt der hiesigen Bauern stamme und „Grün“ bedeute. In der Tat schimmerte das Wasser drei Viertel des Jahres in Grüntönen, hervorgerufen von den Spiegelungen der Baumreihen an den Ufern und den Mineralien, die sich im Flussbett abgelagert hatten. Auch die Ausscheidungen einer Krebsart, die nur in den Westländern Yruishs beheimatet war, trugen zur Färbung bei. Für gewöhnlich ging sie nicht bis zum Bene. Der Bach markierte die Grenze des Anwesens. Es war nicht verboten, sie zu übertreten, aber man hatte das Gefühl, sich auf fremdes Territorium zu begeben. Ihrer Tochter machte das nicht viel aus, doch sie selbst beschlich stets eine leise Empfindung von Unheil, wenn sie das Bächlein hinter sich ließ, obwohl die Gegend als ungefährlich galt. Eine Handvoll Bauern hatte das Land seit Urzeiten unter sich aufgeteilt und bestellt. Sie lebten in Frieden miteinander, was leicht erschien angesichts der Tatsache, dass sie mehrere Wegstunden voneinander entfernt siedelten. Die Wälder waren klein, licht und wildarm, die Gewässer zwar reich an Krebsen und Fischen, doch zu weit im Westen, abgeschnitten von Äckern. Ein zu langer Weg für Wilddiebe. Hin und wieder stahlen Fremde von den Feldern, aber wegen eines ausgehungerten Landstreichers nahm niemand die Reise in die Hauptstadt auf sich, um vor Gericht zu erscheinen. Die Bauern und ihre Knechte, auch ihre Frauen und Töchter, waren stark von der Knochenarbeit, wortkarg und sonnenverbrannt, bewaffnet mit Sensen und Beilen. Erwischten sie einen Dieb, verprügelten sie ihn oder lasen ihn auf, damit er sein Essen mit ehrlicher Arbeit verdiente. Nicht wenige Stallburschen, Mägde und Bauersfrauen waren auf diese Weise auf die Höfe gelangt. Ihrer Tochter hatte sie geraten, den Kleinen vom Fluss fernzuhalten. Schließlich war der Bene ein ausladender Strom, der vor allem im Frühling beachtliche Wassermassen mit sich führte. Unter der träge wirkenden Oberfläche verbargen sich Stromschnellen und tückische Strömungen. Jetzt, in den letzten Tagen des Hochsommers, sah der Bene aus, als wäre er unbeweglich; ein langer See mehr denn ein Fluss, umrahmt von Spalieren hoher Bäume, deren Kronen Schatten spendeten und flirrende Muster auf das Wasser zauberten. Ein gleichmäßig klatschendes Geräusch ließ sie innehalten und die Ohren spitzen. Weitere Töne mischten sich unter das Platschen, leiser und ungleichmäßiger. Töne, die sie sofort erkannte. Seufzend setzte sie sich in Bewegung. Nach wenigen Schritten erreichte sie die Baumreihe am Flussufer. Die Geräusche waren nun unmittelbar vor ihr. Dichtes Buschwerk verbarg ihre Ursache. Behutsam zerteilte sie die Sträucher, Talin schützend an sich gedrückt, damit er von den stacheligen Zweigen nicht zerkratzt wurde. Wie aufgescheucht fuhr die junge Frau herum, sprang auf die Beine, die Augen aufgerissen, tropfende Wäsche wie eine Waffe vor sich gestreckt. „Willst du mich mit einem Hemd erschlagen?“ „Himmel! Wieso erschreckst du mich so?“ „Das war nicht meine Absicht.“ „Mein Herz ist fast stehengeblieben.“ „Ich dachte, meine nassen Schuhe schlappten laut genug, um uns anzukündigen.“ Rana hielt ihrer Tochter das schlafende Bündel hin. Augenblicklich verwandelte sich der entsetzte Ausdruck in Liebe und Fürsorge. „Schläft er?“ „Endlich. Ich musste lange mit ihm laufen und summen, bis er sich beruhigte.“ „Wahrscheinlich bekommt er ein Zähnchen.“ „Oder hat Bauchkrämpfe. Obwohl er über die Koliken hinaus sein sollte.“ Sila lächelte, während sie ihr Kind betrachtete. Die Wäsche tropfte auf ihre bloßen Füße. „Wird er dir nicht langsam zu schwer?“ „Ach was. Er macht mir nichts aus.“ „Wirklich nicht? Wenn es dir zu viel wird…“ „Damit du ihn ganz für dich hast? Nein, nein, ich genieße mein einziges Enkelkind. Sorge du dich um deine Aufgaben, ich kümmere mich um Talin. - Ich wusste gar nicht, dass heute Waschtag ist.“ Der abrupte Themawechsel überraschte ihre Tochter. „Nein. Ja. Ich meine, es ist keiner. Aber mir war danach.“ „Du hast geweint.“ Sila senkte die Augen zu Boden. „Ich war wütend.“ „Hast du die Wäsche gewaschen oder entzweigeschlagen?“ „Beides.“ Sila sah auf und lächelte, doch frische Tränen schimmerten in ihren Augen. „Und auf was warst du wütend?“ „Weiß nicht. Auf mich. Ihn.“ „Ylaiy?“ Ihre Tochter zog die Nase hoch. Dann schleuderte sie das nasse Hemd zu Boden, ungeachtet der Tatsache, dass es wieder schmutzig wurde. „Das gehört Ivson. Er kann doch sicherlich nichts für deinen Kummer“, rügte Rana. „Ich bin nicht traurig. Ich bin wütend.“ Rana seufzte und ließ sich vorsichtig auf einem Flecken Gras nieder. „Ach, Kind, das ist doch dasselbe. Mit Wut können die meisten nur besser umgehen.“ Sila kaute eine Weile auf dieser Antwort herum, bevor sie neben ihre Mutter sank. Sie bettete ihren Kopf auf ihre verschränkten Arme. „Es ist so lange her. Talin wird seinen Vater nicht mehr erkennen.“ „Das wohl nicht.“ „Wahrscheinlich würde Ylaiy ihn auch nicht erkennen. Als er ihn das letzte Mal gesehen hat, hatte er noch nicht einmal Haare und war so lang wie sein Unterarm. Ist das nicht furchtbar?“ Neue Tränen quollen aus Silas Augen. Sie machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. „Du weißt, dass er nicht kommen kann.“ „Ja, ich weiß. Seine Heirat und all das.“ „Er hat eine Gemahlin“, sprach Rana sanft, aber eindringlich. „Sie ist die zukünftige Kaiserin, Herrscherin über die Inseln. Sie trägt sein Kind in sich.“ „Ich habe auch sein Kind in mir getragen! Bedeutet das nichts?“ Brocken von Uferschlamm landeten im Wasser, geschleudert aus ungebremstem Zorn. „Nicht in dieser Welt“, sagte Rana ernst. „Und das musst du begreifen. Er ist der Thronfolger. Du warst seine Kammerzofe.“ „Ich war mir sicher, er liebt mich.“ Sila schluchzte. „Er braucht eine Frau an seiner Seite, die die Hohen Häuser gutheißen. Liebe hat damit nichts zu tun. Sie wird seinen Erben zur Welt bringen. Talin ist nur sein Bastard.“ „Mutter!“ „Er hat ein gutes Leben hier, Sila. Auch ohne Vater. Ein besseres als am Hof. Intrigen, Verleumdungen, Spott. Ylaiy wollte seinem Sohn das alles ersparen.“ „Ich hasse ihn dennoch dafür.“ „Er tat, was er konnte. Du erwartest zu viel. Das hast du immer.“ „Ich hatte gehofft, dass…“ „Was denn? Dass der Kaiser eine Dienstmagd zur Frau nimmt? Mit ihr regiert? Kinder zeugt, die nicht von Hohem Blut sind? So naiv kannst du nicht gewesen sein.“ Silas Mund presste sich fest zusammen. Auf ihren Wangen glitzerten Tränen. Rana ergriff sie am Arm und zwang sie, sie anzusehen. „Du hast enormes Glück gehabt. Du hast überlebt. Einen Sohn zur Welt gebracht. Du lebst ein schönes Leben. Genieße es. Nutze die Gelegenheiten, die Ylaiy dir gab. Verschwende sie nicht.“ „Ich vermisse ihn. Schrecklich.“ „Du wirst über ihn hinwegkommen.“ „Niemals.“ Rana lächelte wehmütig und streichelte Silas Wange. „Ganz sicher. Das tun wir immer.“ „Und dann?“ „Bist du wieder frei.“ „Frei wofür?“ „Das Leben.“ „Glaubst du, ich sehe ihn jemals wieder?“ Rana schob Talin behutsam in ihre andere Armbeuge, während sie über eine Antwort nachdachte. „Nein“, sagte sie schließlich. „Er könnte uns besuchen. Trotz seiner Verpflichtungen und seines … Rufes.“ Das letzte Wort schleuderte sie so zornig von sich wie den Schlammbatzen. „Nicht in dieser heiklen Zeit.“ „Später?“ Sila klang verzagt wie ein Kind. „Er leidet unter der Trennung genau wie du. Stärker. Er wird versuchen, euch zu vergessen, Halt in seiner Familie zu finden. Versuche das auch. Du musst ihn verdrängen, Sila, verbannen aus deinen Gedanken. Ylaiy hat getan, was er tun konnte. Du solltest darauf hoffen, ihn nicht wiederzusehen.“ „Wie kannst du so etwas sagen?“ „Es würde alte Wunden aufreißen, neue schaffen. Es ist besser, wenn du ihn vergisst. Wenn die Leute dich vergessen. Es ist sicherer so.“ Ein heller Schrei zerriss die Nachmittagsstille. Talin war erwacht. „Er ist Thronfolger“, murmelte Sila und nahm ihrer Mutter das Kind ab, um es an ihre Brust zu schieben. „Das ist mir gerade aufgefallen. Talin ist Thronfolger. Nach Ylaiy.“ „Schlag dir das gleich aus dem Kopf“, tadelte Rana, die Wange ihres Enkels tätschelnd. „Er ist ein Bastard. Er hat keine Rechte. Verstehst du? Keine.“ Auf dem Rückweg zum Gut ruhte Talin schlummernd an Silas Brust. Rana hatte sich den Korb tropfender Wäsche auf die Hüfte geschoben und beneidete im Stillen ihre Tochter, die das leichtere Gewicht trug. Nachdem sie den Bach durchquert hatten, wandten sie sich nach Süden, der abgemähten Kleewiese zu. Die Sonne würde noch einige Stunden auf die Wiese scheinen, unbehindert von Bäumen und Sträuchern, und die Wäsche vor dem Abend trocknen. „Sie stehen immer noch da“, brummte Sila, während ihre Mutter damit begann, die Wäschestücke auf dem Boden auszubreiten, sorgfältig die Stellen vermeidend, auf denen die Schafe gegrast hatten. „Sie sind immer da.“ Rana richtete sich aus ihrer gebückten Haltung auf. „Warum klingst du so ungehalten? Sie sorgen für unseren Schutz.“ „Ich fühle mich von ihnen beobachtet. Und unwohl, so lange ich weiß, dass ich beschützt werden muss. So viel zu deiner Freiheit.“ „Sie werden dich nicht aufhalten, egal, in welche Richtung du gehst.“Nur verfolgen. Der Gedanke behagte ihr nicht. Bestimmt hatte einer der Männer sie auch am Fluss gesehen. Im nächsten Monat machte die Geschichte vom heulenden Prinzenliebchen vermutlich am Hof die Runde. „Ylaiy hat sie ausgewählt“, sagte Rana, als wolle sie die Befürchtungen ihrer Tochter zerstreuen. „Sie sind diskret. Ich nehme sie kaum noch wahr, so sehr halten sie sich im Hintergrund.“ „Wo nächtigen sie?“ Sila bückte sich nach Steinen, um die Wäsche zu beschweren. „In einem Zeltlager.“ „Woher weißt du das?“ „Ida und ich bringen ihnen bisweilen Brot, Käse und Äpfel. Ein Fässchen von Evarts Rotem zu den Festtagen. Um Fisch und Fleisch kümmern sie sich selbst.“ „Mhm.“ Ihre Mutter, die noble Seele. „Sie patrouillieren rund um das Gut“, fuhr Rana fort und stemmte die Hände in den Rücken. „Ein größeres Gebiet, als man denkt.“ „Tatsächlich?“ Langsam drehte Sila sich im Kreis. Ausgedehnte Wiesen und Felder, einige brachliegend, die meisten mit buschigem Gemüse bewachsen. Koppeln für die Pferde, Ställe, ein Hof, der immer schlammig zu sein schien. Um ihn herum in einem unregelmäßigen Halbkreis das Wohnhaus, die Scheunen, die Werkstätten. Weitläufig, ja. Und über allem hingen die Ausdünstungen der Tiere. Anfangs hatte sie sie als durchdringend empfunden, mittlerweile nahm sie sie nur noch an Regentagen wahr, und an den Tagen, bevor ihre Monatsblutung einsetzte. Dann sank ihre Stimmung und alles störte sie. Die Gerüche. Die Fliegenschwärme um die breiten Hintern der Rinder, das Blöken der Schafe, das Gackern der Hühner. Sie war nicht zur Bauersfrau geboren, so viel stand fest. Der Palast fehlte ihr.

5

Palast. Yruish „Meine Tante und mein Vetter sind wohlauf.“ Der Thronfolger schloss den Brief und betrachtete das gebrochene Siegel. „Das sind erfreuliche Nachrichten.“ Er warf seiner Gemahlin einen prüfenden Blick zu. Sie schien sich ehrlich zu freuen. Noch immer war er verwundert über ihre unverstellte Art. „Ihr ahnt nicht, wie erfreulich“, erwiderte er. „Nun, Ihr scheint jedes Mal von Grund auf erleichtert, wenn die Nachrichten aus Fedaj gute sind. Eure Verwandten liegen Euch am Herzen.“ „Ihr seid eine tüchtige Beobachterin. Muss ich mir Sorgen machen?“, scherzte er. „Ist es nicht Aufgabe einer Gemahlin, die Belange ihres Gatten im Blick zu behalten? Auf seine Befindlichkeiten einzugehen?“, fragte sie ernst zurück. Ylaiy seufzte innerlich. Sie war so brav. Nüchtern, bemüht, bis zur Verbissenheit, angepasst. „Ihr macht Euch zu viele Gedanken, Paíre. Entspannt Euch. Genießt die Sommertage. Ich kümmere mich um die gewichtigeren Angelegenheiten.“ „Ich möchte nur helfen, von Nutzen sein.“ „Das werdet Ihr. Ich verspreche es. Es gibt etliches zu lernen, aber alles zu seiner Zeit, nach und nach. Gewöhnt Euch ein. Lernt alles kennen. Lernt mich kennen.“ „Ich kenne Euch doch. Mehr als die meisten“, gab sie zurück. Ein Hauch von Anzüglichkeit hing in ihren Mundwinkeln. Er warf einen Blick auf die deutliche Wölbung ihres Bauches. Ein Herbstkind. Gezeugt in einer der ersten Nächte, möglicherweise in der Hochzeitsnacht. Sie verlor keine Zeit. „Ihr wisst, was ich meine. In etwa einem Monat wird das Kind zur Welt kommen. Schont Euch. Ruht Euch aus.“ „Schonen?“ Sie schob ihre Unterlippe vor. „Ihr wisst so gut wie ich, Ylaiy, dass das nicht meine Art ist. Bereits mein Vater musste das einsehen. Das geruhsame Leben einer höfischen Gemahlin liegt mir nicht.“ „Bislang gebt Ihr eine hervorragende Ehepartnerin ab.“ Sie nahm das Lob hin, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ylaiy.“ „Ich meine das ernst. Ihr seid klug, wortgewandt, interessiert und - ganz nebenbei – eine wunderschöne Frau. Die Kaiserin schätzt Euch als Schwiegertochter, die Räte habt Ihr bezaubert. Mehr kann ein Mann sich nicht wünschen.“ „Ihr seid zu gütig.“ Sie verneigte sich unbeholfen, da die Rundung des Bauches ein natürliches Hindernis bildete. Doch es waren nicht Komplimente gewesen, die sie im Sinn gehabt hatte. Er sah es an ihrem Mund. Enttäuschung kerbte sich um ihn. Er seufzte. „Also gut. Wie kann ich Euch glücklich machen?“ „Lasst mich an Eurer Vergangenheit teilhaben.“ Argwohn stieg in seine Karamellaugen. „Warum?“ „Sie macht Euch zu dem, was Ihr seid. Ich möchte Euch besser kennenlernen. Schließlich sind wir vermählt, sind bald eine richtige Familie. Leider sprecht Ihr nie über frühere Zeiten. “ „Das Vergangene ist unwichtig. Das Jetzt zählt.“ „Ihr seid unvollständig ohne eine Geschichte.“ „Meinen Werdegang kennt jeder.“ „Die offiziellen Daten, ja. Sie sind in den Palastdokumenten festgehalten, Punkt für Punkt. Ich habe sie gelesen.“ „Seht Ihr.“ „Glaubt Ihr wirklich, ich interessiere mich für Euer erstes Wort? Euren ersten Zahn? Eure Erfolge an der Akademie?“ „Was wollt Ihr dann? Den Hofklatsch? Die Gerüchte über mich sind delikater und saftiger, das könnt Ihr mir glauben.“ Sie winkte ab. „Ich weiß von Eurer ehemaligen Zofe, Eurer Liebschaft zu ihr. Den anderen Frauengeschichten.“ „Andere Frauengeschichten?“, fragte Ylaiy, ehrlich erstaunt. „Ihr seid ein Mann. Habt Euch – wie sagt man so schön? – die Hörner abgestoßen. Es spielt keine Rolle. Und natürlich weiß ich von der Großen Reise in den Norden, Euren Heldentaten, Euren Abenteuern. Ihr habt die Kinder aus den Fängen dieses Wahnsinnigen befreit, Euren Stiefvater ins Gefängnis gebracht, Mittäter enttarnt. Den Krieg auf Kânegg beendet. Nun seid ihr dabei, Reformen durchzuführen.“ „Wenn Ihr das alles schon wisst, was wollt Ihr dann noch hören?“ Paíre schritt zu den mannshohen Fenstern, äugte auf den Palasthof hinunter. Ihre Hand spielte mit dem Samtvorhang. „Die Wahrheit. Seht Ihr, all diese Dinge kursieren nur über Euch. Die Dienerschaft tuschelt, die Dokumente sind lediglich Protokolle, die Große Reise ein Gemisch aus Heldendichtung und Halbwahrheiten derer, die mit den Schiffen zurückkehrten, die Berichte über Vei unvollständig.“ „Befragt Euren Vater. Er hat ihn und seine Komplizen verhört.“ „Mein Vater spricht nie über die Arbeit. Auch mein Bruder hüllt sich in Schweigen.“ „Gut“, sprach Ylaiy seinen Gedanken laut aus. „Das macht beide zu vertrauensvollen Untergebenen, ganz so, wie meine Mutter und ich gehofft – geahnt – hatten.“ Er biss sich auf die Lippen, bevor er zu seiner Frau trat und über ihre Schulter nach draußen starrte. „Urdat Vei ist ein schlechter Mensch. Was auch immer Ihr über ihn hört, stimmt vermutlich. Er hat Menschen getötet, für Einfluss und Reichtum gemordet, Frauen geschändet, Leben zerstört. Ich hoffe, er verfault in der Boragha.“ „Lebt er noch?“ „Nach allem, was meine Boten mir zutragen, ja.“ „Sind nicht viele Gefangene von ihm eingekerkert worden?“ „Er hat Freunde, alte Verbündete. Vergesst nicht, dass er der Befehlshaber aller Militärs war, also auch der Wachen auf Kaadaa. Sicherlich fürchten ihn immer noch viele. Kommandant te Sant war ihm einst unterstellt. Der Kodex der Soldaten sitzt tief. Sie verraten keinen ihrer Leute.“ „Er ist keiner der ihren mehr.“ „Einmal Soldat, immer Soldat.“ „Man hätte ihn hinrichten sollen.“ „Das Dran’bara bestraft. Es richtet nicht hin. Außerdem ist das Leben hinter Gittern eine fortwährende Demütigung für Vei, schlimmer als der Tod. Genauso wie die Furcht vor Anschlägen, die ihm ständig im Nacken sitzt. Vei ist gestraft. Härter als ein Richterschwert es vermocht hätte.“ „Ein sauberer Kopfstreich scheint mir menschlicher.“ Ylaiy betrachtete ihren Hinterkopf, das glatt anliegende, glänzende Haar. „Mit diesem Gedanken seid Ihr nicht allein“, sagte er und dachte an Adiv. Langsam drehte sie sich zu ihm um, blickte erst auf seine Brust, dann in sein Gesicht. „Ich hoffe, das Kind sieht Euch ähnlich. Ihr seid ein attraktiver Mann, Ylaiy.“ „Oh, das sind nur die prunkvollen Kleider und die Aura von Macht, die mich umgibt.“ „Glaubt Ihr?“ Sie beherrschte den neckischen Tonfall nicht. Aus ihrem Mund klang alles ernst, unverstellt und ehrlich. „Genug Wahrheiten für heute?“, umging er die Antwort und wich ihrem Blick aus. Sie betrachtete ihn eine Weile schweigend, bis er sich räusperte und ihr zu verstehen gab, dass das Gespräch unangenehm zu werden drohte. „Eure Zofe“, sagte sie gedehnt. „Seht Ihr sie noch?“ Flammende Röte kroch seinen Hals hinauf. „Eine der Bedingungen Eures Vaters war, dass ich meine Beziehung zu ihr einstelle.“ „Das fiel Euch schwer, nicht wahr?“ Er tauchte die Zunge in die Wange. „Sila“, erwiderte er langsam, jedes Wort betonend, „war mir eine gute Freundin.“ „Eine Gespielin“, stellte sie fest, die Stirn gerunzelt. „Mehr als das. Sie war mit meinem Leben verbunden.“ Ihre Augen wurden eine Spur dunkler. „Wie das?“ „Ihre Mutter - meine Amme - rettete mir das Leben, als ich noch ein Säugling war. Sila wurde bereits als Mädchen meine Zofe.“ „Und später mehr.“ „Ich nahm es als gegeben. Erst als ich sie beinahe verlor, wurde mir klar, dass sie nicht selbstverständlich war.“ „Ihr verliebtet Euch in sie?“, hakte sie nach, die Stimme eine Spur tiefer. „Hört, Paíre, ich respektiere Euren Wunsch, mehr über mich zu erfahren, doch ich möchte Euch nicht verletzen. Sila war ein wichtiger Mensch in meinem Leben, aber sie gehört der Vergangenheit an.“ „Was ist mit Eurem Sohn?“ Sie stieß die Frage aus wie ein Stück verdorbenes Fleisch. „Talin.“ Ylaiy fuhr sich durch das schmutzigblonde Haar. Innerlich ächzte er. Sila war wie ein Dorn, der in seiner Haut saß. Talin war der Pflock durch sein Herz. „Er ist Euer Erstgeborener.“ „Das bedeutet nichts für die Thronfolge“, entgegnete Ylaiy schroff. „Euer Kind ist das rechtmäßige. Genug Wahrheiten für einen Tag. Ich muss mich um die Geschäfte kümmern. Speist Ihr mit meiner Mutter?“ Sie nickte. „Wir sehen uns beim Abendmahl?“ „In der Haupthalle. Der Leitende Inquisitor ist zurück. Möglicherweise bringt er Neuigkeiten aus Kaadaa und Kânegg.“

6

Perth. Prant Sie war schön. Nicht hübsch wie das Balg der Magd. Nicht anziehend wie die Magd selbst. Nicht attraktiv, wie seine Schwiegertochter es gewesen war. Diese Frau war auf eine atemberaubende, spektakuläre Art schön. Ihr Gesicht erinnerte ihn an die Reliefs der Göttinnen, die die Tempelmauern in der Stadt zierten. Ausgeglichen, harmonisch, von nahezu vollkommener Symmetrie. Ihre Haut hell und ohne Makel. Selbst die Sommersprossen auf ihren Wangen fanden die Menschen entzückend, genau wie sie ihre Art, die Nase zu rümpfen oder den Mund trotzig zu verziehen, entzückte. Ihre Augen, von einem strahlenden Blau, umkränzt von kräftigen Brauen und dichten Wimpern, zogen andere in ihren Bann. Zu allem Überfluss verfügte sie über sinnliche Lippen, ein schadloses Gebiss, ein sanft geschwungenes Kinn und kleine Ohren, an denen so mancher Mann Perths lustvoll geknabbert hatte. Oder zumindest damit prahlte, es getan zu haben. Rotgoldene Locken fielen über Schultern und Rücken. Wenn sie im Licht stand, so wie jetzt, verfing sich die Sonne in der Mähne und es schien, als stünde ihr Kopf in Flammen. Er hasste sie. Von ihrer Wirkung auf andere, Männer und Frauen gleichermaßen, ahnte sie nichts. Das machte sie über alle Maßen begehrenswert. War das nur Schein? Gleichgültigkeit? Er tippte auf Letzteres. Als sie ins Haus gekommen war, sie anstelle seines Sohnes und seines Enkels, war sie verschreckt gewesen, gefangen in Erinnerungen, erstickt in Gram, benommen von unbekannten Menschen und einer neuen Heimat. Doch es lag nicht in ihrer Natur, sich zu vergraben. Bald schon fand sie Freunde; die Magd und ihr Balg, den Jungen, den sie mitgebracht hatte. Sabyns Enkel. Sohn der Tochter, die es nicht hatte geben sollen. Danach waren die Männer gekommen, einer erst, dann noch einer, dann eine ganze Reihe von ihnen, im Abstand von wenigen Wochen, manchmal nur Tagen. Sie trugen keine Namen, hatten keine Gesichter. Sie kamen und gingen.