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Weihnachten allein zu verbringen, kommt für Mary nicht in Frage. Es gibt nichts und niemanden mehr, wofür es sich zu leben lohnt. Bis sie auf einen Mann trifft, dessen Feiertage, Familie und Leben sie gehörig durcheinander wirbelt. Eine romantische Komödie rund um Weihnachten und den Jahreswechsel, Familiengeheimnisse und die Liebe, die einem völlig unerwartet begegnet, wenn man schon längst mit allem abgeschlossen hat.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Inhaltsverzeichnis
Impressum
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
Impressum
Das war es also. Das Ende.
Karl faltete das letzte, unsorgfältig herausgerissene A5-Blatt und schob es zu den anderen Zetteln ins Handschuhfach. Dabei fiel sein Blick auf die bedruckte Rückseite: Dienstag, 14. Jänner – Zahnarzt Dr. Weimar 11:30 Uhr! Welche Ironie des Schicksals!, dachte er, Vor Kurzem erst gekauft, um auf die kommenden 365 Tage terminlich bestens vorbereitet zu sein, und jetzt brauche ich dieses Ding gar nicht mehr!
Zumindest hatte er doch noch eine Verwendung für das edle Papier gefunden. Milde lächelnd lehnte er sich kurz in den teuren, blitzsauberen beigen Ledersitz seines wintertauglich gemachten silbernen Porsches zurück. Dann starrte er durch die Scheibe hinaus in die vom Vollmond erhellte, klare Nacht. Karl steckte den Stift mit seinen Initialen – ein pragmatisches und liebloses Geburtstagsgeschenk seines Vaters zu seinem 29er vergangenen Juni – zurück in die dafür vorgesehene Lasche seines eleganten, ledernen schwarzen Timers, den seine stilvolle Mutter für ihn ausgesucht hatte. Schließlich schloss er den Terminkalender für immer und ließ ihn achtlos auf den Beifahrersitz fallen. Er würde dieses Utensil, ein Symbol des Stresses, nie wieder verwenden!
Ein befreiendes Gefühl!
Danach ließ er sich sein Vorhaben noch einmal durch den Kopf gehen: Sein Entschluss stand fest, doch das Wie war noch fraglich. Auf der Herfahrt hatte er kurz mit dem Gedanken gespielt, in den Gegenverkehr zu rasen, sobald er die Autobahn verlassen hatte. Doch erstens herrschte auf dieser Bundesstraße nachts wenig Verkehr und zweitens wollte er nicht das Leben Unschuldiger riskieren.
Karl konnte den Bahnübergang und die schmale, ungesicherte Stelle auf der Brücke direkt dahinter erkennen. Zuerst wollte er auf den Gleisen auf einen herannahenden Zug warten, aber von einer tonnenschweren Lokomotive gerammt zu werden, wäre ein zu brutaler und schmerzhafter Abgang. Also hatte er sich für das Ertrinken im Auto entschieden. Diese Variante war für seinen Geschmack spektakulär genug. Er und sein liebstes Spielzeug würden gemeinsam sterben, obwohl es ihm besonders um den Porsche Leid tat. Ein so schöner Wagen hätte ein besseres Ende verdient.
Karl startete sein Fahrzeug, dessen nasses Schicksal er heftig bedauerte, und reihte sich vom Parkplatz aus wieder in die leere Bundesstraße ein. Die Klänge von Chris Rea’s Driving Home for Christmas hallten durch das Innere des Autos. Doch die weihnachtlichen Töne raubten ihm nicht den Mut, denn er freute sich nicht darauf, die Gesichter seiner Familie zu sehen. Das alljährliche pseudo-fröhliche Getue konnte er sich endlich ersparen – bis in alle Ewigkeit!
Karl drehte das Radio noch lauter und drückte das Gaspedal ganz durch. Der Wagen beschleunigte.
„… denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. In Ewigkeit, Amen“, murmelte Mary, „Vergib’ mir! Ich weiß, dass das Leben ein Geschenk ist, aber ich will nicht mehr! Ist denn ein Umtausch ausgeschlossen?“
Dass die breite, beschädigte Stelle im Brückengeländer seit dem Unfall des Mühlhofer Gerds vor fast zehn Jahren niemals repariert worden war, sah die junge Frau als Zeichen an. Gott unterstützte ihr Vorhaben nicht nur, sondern bot ihr sogar eine Riesenchance, ihrem glücklosen Dasein ein Ende zu setzen. Jetzt war es so weit. Trotzdem entschuldigte sie sich vorsorglich für die folgenschwere Sünde. Schließlich wollte sie nicht für alle Ewigkeit im Fegefeuer der Verdammnis schmoren.
Mary musste nur noch das kalte Geländer loslassen. Zu ihrer Linken konnte sie sich nirgends festhalten, denn der Rost hatte eine große Lücke in das alte Metall gefressen. Wenn sie sich fallen ließ, würde sie in die Salzach stürzen. Dann wäre alles vorbei – endlich! Doch ihre Finger gehorchten ihr nicht und klammerten sich weiter fest. Sie schloss die müden Augen und schwor sich, loszulassen, wenn sie diese wieder öffnete.
Als Mary ihre dunkel geschminkten Lider hob, war es plötzlich hell – heller als zuvor. Vorhin hatte der Vollmond, welcher sich im schwarzen, langsam fließenden Wasser spiegelte, ihre Umgebung in sanftes Licht getaucht. Die wenigen Straßenlaternen spendeten bloß spärliche Beleuchtung. Doch nun war sie in einen grellen Schein getaucht. ER hieß sie willkommen! Wobei, womöglich handelte es sich bei Gott um eine Frau. Wer konnte das denn mit Sicherheit ausschließen?
Egal, ob Mann oder Frau, dort oben hieß sie jedenfalls jemand willkommen! Die Himmelspforten waren weit für sie geöffnet. Alles stand für sie bereit!
Das viel zitierte weiße Licht existierte tatsächlich. Es kam näher. Sie war nur noch einen simplen Schritt ins Nichts vom paradiesischen Jenseits entfernt. Ein riesiger Schuhladen, ein kulinarisches Schlaraffenland oder ein großes pinkes Himmelbett, auf dem man bis in alle Ewigkeit reglos faulenzen konnte. So könnte es aussehen, das Elysium.
„Rühren Sie sich nicht vom Fleck! Ich hole Sie! Bleiben Sie ganz ruhig!“, rief ihr eine sympathische Männerstimme von hinten zu.
Ein seliges Schmunzeln breitete sich auf ihrem fülligen Gesicht aus, aber sie traute sich nicht, sich umzudrehen. Das musste ein Engel sein. Mary war neugierig und wollte unbedingt wissen, wie ein solches himmlisches Wesen wohl aussah, doch sie wagte es nicht, den Urheber des Rufes anzuschauen. Das war ein Service, den der Vater im Himmel seinen Schäfchen bot, wenn sich die Pforten der Ewigkeit öffneten! Oder lockte sie der Teufel mit losen Versprechungen in die Hölle? Mary durchdachte ihre Verfehlungen kurz, merkte aber bald, dass sie zum Aufzählen sämtlicher Vergehen wohl länger brauchen würde: Lügen, Lästereien, Völlerei… die Liste zog sich endlos hin.
Plötzlich packte sie etwas wohlig Warmes am Handgelenk und zog sie rasch, aber sanft vom ungesicherten Brückenrand weg. Komisch, aber es würde schon wissen, was es zu tun hatte, dachte sie. Erst jetzt merkte Mary, dass sie in ihrem dünnen Kleidchen, das sie unter dem geöffneten pinken Mantel trug, fror.
Als sie der gute Engel losließ, wandte sie sich dem Wesen zu und erschrak. Vor ihr stand jemand oder etwas, das sie an einen echten Mann aus Fleisch und Blut erinnerte – einen sehr attraktiven sogar: groß; dunkelbraune, fast schwarze, dichte, kurze Locken, die nach hinten gegelt waren, um sie wenigstens ein bisschen zu bändigen; vollmichschokoladenfarbene, große Augen.
Dennoch war sie enttäuscht. „Ich dachte immer, ihr hättet langes, glattes blondes Haar“, bemängelte Mary.
Das Wesen legte verdutzt seine Stirn in Falten. „Haben Sie etwas eingeworfen oder zu viel getrunken? Vielleicht sogar beides?“
„Die Freundlichkeit ist euch im Laufe der Jahrhunderte wohl auch abhandengekommen, hm?“, meinte sie amüsiert, „Hast du einen Namen?“
„Ja, sicher!“, antwortete er oder es – was auch immer – irritiert.
„Jasicha, ein schöner Name.“, philosophierte die kleine, mollige Blondine, die das Wort völlig anders betonte, und musterte ihn mit schief gelegtem Kopf näher, „Ich dachte immer, man nennt euch Gabriel oder Raphael oder…, aber Jasicha ist schön. Außerdem glaubte ich stets, ihr hättet alle langes, glattes blondes Haar. Oh, ich wiederhole mich.“ Sie kicherte verlegen. „Du bist das beste Beispiel dafür, wie wenig wir Sterblichen von eurer Welt wissen.“
„Auf die Gefahr hin, dass ich mich ebenso wiederhole: Sind Sie high?“, fragte es erneut. Mary lachte nur wirr. „Ich deute das als ein Ja. Verraten Sie mir, wie Sie heißen?“
„Das weißt du nicht?!“, prustete sie zwischen winzigen Kicherpausen mühsam hervor, „Du wirst zu mir geschickt und kennst nicht einmal meinen Namen?! Eine Schande! Eigentlich heiße ich Maria, aber alle nennen mich Mary.“
„Charly“, entgegnete er kühl.
„Hah, Scherzkeks!“, brüllte Mary lachend und schlug ihrem vermeintlichen Engel auf die rechte Schulter, die sich täuschend real anfühlte, „Jasicha, du bist soooo lustig! Wir werden uns blendend verstehen!“
Wortlos näherte sich sein perfektes Antlitz ihrem und sie erhaschte einen Blick auf sein markantes, eckiges Kinn, das raue Bartstoppeln zierten, ehe er seinen Kopf ruckartig entfernte. „Ihre Pupillen sind normal. Hauchen Sie mich mal an!“
„Oh, bitte! Ich habe nichts getrunken! Darf man denn nicht rein, wenn man etwas beschwipst ist? Wieso habt ihr dann den Mühlhofer Gerd zu euch geholt, als er mit fast zwei Promille durch das Geländer gebraust ist? Oder lebt er noch? Das wäre ja eine Sensation! Ein Weihnachtswunder! Immerhin wurden weder er noch sein Wagen jemals gefunden! Ich habe das allerdings nicht nötig. Ich muss mich nicht besaufen, um mutig zu werden!“, verteidigte sie sich erbost. Der schöne Engel nervte sie inzwischen. Er sollte gefälligst seinen Job machen und sie ins Himmelreich bringen. Stattdessen spielte er sich als Moralapostel auf.
„Was hatten Sie dort drüben eigentlich vor?“ Er deutete auf die Stelle, an der sie vorhin sprungbereit gestanden war. Hätte sie nicht auf seinen Ruf reagiert, wäre sie längst gefallen. Allmählich dämmerte ihr, dass womöglich ein echter Mensch vor ihr stand und kein göttliches Wesen.
„Sie sind aus Fleisch und Blut – so wie ich, oder?“, vergewisserte Mary sich dennoch.
„Gestatten, Charly Rudolf, 29, aus der Stadt Salzburg“, stellte er sich förmlich vor, ohne ihr die Hand zur Begrüßung entgegen zu strecken, „Sie haben wohl endlich begriffen, dass ich kein…“
„Engel sind“, vervollständigte sie seinen Satz flüsternd und beschämt, weil ihr dieser Irrtum peinlich war. „Ich wollte die Aussicht genießen“, erläuterte sie und stemmte erbost beide Hände in die breiten, massigen Hüften.
Bevor er ihr Vorwürfe machte, kam sie ihm lieber zuvor.
„Natürlich“, säuselte er süffisant, „In diesem Outfit? Ist Ihnen denn nicht kalt?“
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie zitterte. Schnell schloss Mary den Reißverschluss und die Zierknöpfe ihres pinken, fast knielangen Mantels und schlang ihre Arme wärmend um ihren fülligen Körper. Doch er hatte ihre festliche Kleidung längst bemerkt. Schließlich war sie lange genug in ihrem knappen, kurzen, kleinen Schwarzen, einer dunklen, dünnen Strumpfhose und ihren Lieblingsschuhen – silbern glitzernde High Heels mit Zehn-Zentimeter-Absatz und drei Zentimeter dickem Plateau – vor ihm gestanden. Die billige figurformende Unterwäsche erzielte bei so großen Größen wie ihrer leider die erwünschte Wirkung kaum, doch auf ihr perfektes, sexy Make-up und die hübsche Frisur war sie stolz. Mary sah aus, als hätte sie ein Date: mit dem Tod.
Sie schmunzelte, als ihr ein bekannter Film in den Sinn kam. Ihr Joe war zwar nicht blond, aber eine mindestens ebenso gutaussehende, dunkelhaarige Alternative zu Brad Pitt.
„Haben Sie noch etwas vor? Soll ich Sie hinfahren?“, bot er höflich an, obwohl er längst ahnte, was sie geplant gehabt hatte. Ihre Idee wich vermutlich nur geringfügig von seiner ab. Ein gewisser Ausdruck in seinen dunklen Augen verriet ihr, dass er sie inzwischen durchschaut hatte und nur anstandshalber fragte. Da änderte sich ihre Stimmung schlagartig, denn die zickige Mary ließ sich nicht gern zum Narren halten. „Tun Sie nicht so scheinheilig!“, fauchte sie Furcht einflößend, „Sie wissen genau, wovon Sie mich abgehalten haben!“
„Falsch! Wovor ich Sie bewahrt habe!“, korrigierte er sie ebenso forsch, „Warum wollten Sie Ihr Leben denn so achtlos wegwerfen?!“ Seine raue Stimme klang vorwurfsvoll, obwohl er eigentlich selbst im Glashaus saß und kein Recht dazu hatte, mit Steinen zu werfen, doch das wusste sie ja nicht.
„Ich will immer noch, also mischen Sie sich nicht ein und fahren Sie weiter, damit ich endlich springen kann.“
„Das hätten Sie längst hinter sich bringen können. Sie möchten weiterleben, sonst hätte ich Sie gar nicht erst aufhalten können. Und jetzt stiegen Sie ein. Ich fahre Sie nach Hause.“ Mit einer einladenden Geste präsentierte er ihr seine protzige Karosse, aber Mary schüttelte angewidert den Kopf.
„Sie können überhaupt nicht beurteilen, wie ich mich fühle. Wagen Sie es deshalb auch nicht, mich zu verurteilen“, meinte sie etwas leiser als zuvor und schlang die Arme fester um sich.
Unschlüssig trat der junge Mann von einem Fuß auf der schneefreien Straße auf den anderen. Er hatte ihre Pläne genauso durchkreuzt wie sie seine. Inzwischen hatte er seine absurde, überstürzte Idee, sich das Leben durch einen freiwillig herbeigeführten Unfall mit dem Auto, bei dem er in der Salzach landen würde, zu nehmen, aufgegeben. Jetzt konnte er nicht einfach weiterfahren und die offensichtlich verzweifelte Mary ihrem Schicksal überlassen. Obwohl er sie nicht kannte, fühlte er sich für ihr Wohlergehen verantwortlich. Seine Gutmensch-Gene waren zwar nicht sehr ausgeprägt, aber ein wenig Moral bewohnte sogar seine dunkle Seele. Ob er wollte oder nicht: Diese Begegnung hatte ihre Schicksale miteinander verwoben. Wenn er sie jetzt springen ließ, würde Blut an ihm kleben. Er wäre ein Mörder, auch wenn er niemanden mit seinen eigenen Händen getötet hatte!
„Dann weihen Sie mich ein“, forderte Charly sanft, aber bestimmt.
„Als ob Sie das wirklich interessieren würde“, bemerkte sie abfällig.
„Ich muss nicht unbedingt hier in der Kälte herumstehen und mit Ihnen diskutieren! Eigentlich sollte ich längst bei meiner Familie im Warmen an einem reichlich gedeckten Tisch sitzen und mir den Bauch vollschlagen oder den endlosen Monologen meines fehlerlosen Bruders über sein perfektes Berufs- und Privatleben lauschen. Warum bin ich also noch hier?“
„Sie wollen nur nicht nach Hause. Ihr Bruder scheint ein echter Kotzbrocken zu sein.“
„Ach, Sie kennen ihn?“
„Zum Glück nicht.“ Sie schmunzelte.
Er freute sich, dass sie ihren Humor wiedergefunden hatte, wobei er eigentlich gar nicht wusste, was oder ob sie überhaupt etwas witzig fand. Vielleicht steckte in ihr die ernsteste und traurigste Seele des gesamten Planeten. „Ich warte“, drängte er.
Eventuell versteht er meine prekäre Situation und lässt mich springen!, versprach sich Mary von ihrem Geständnis.
Ein kurzer Abriss ihres trostlosen Daseins würde ihm hoffentlich vieles erklären, obwohl er so aussah, als ob über ihm stets die Sonne schien. Probleme kannte er wahrscheinlich gar nicht: Ein Kratzer im wohl polierten Lack seines Protzschlittens war vermutlich das schlimmste Übel, das ihm je widerfahren war. Vielleicht hatte ihn eines Tages auch seine aktuelle Freundin erwischt, als er sich am engen Rücksitz des Porsches mit einer anderen vergnügt hatte. Aber all das waren keine echten Probleme! Sie hingegen war ein Einzelkind und hatte ein inniges Verhältnis zu ihrer Familie, die genau genommen nur aus ihren Eltern bestand. Der Rest der Verwandtschaft stand ihr nicht besonders nahe. Ihre Mutter hatte sich an genau dieser Stelle erfolgreich das Leben genommen, als Mary drei war. Seither plagten ihren Vater furchtbare Schuldgefühle und er hütete seine Tochter wie einen kostbaren Schatz. Seit diesem tragischen Vorfall lebte der trauernde Michael Richter monogam: Sein einziges Kind wurde für die nächsten zwanzig Jahre zur einzigen Bezugsperson. Im August hatte der erst Zweiundfünfzigjährige seine Augen für immer geschlossen. Der Krebs hatte schlussendlich doch gesiegt.
Wieder einmal triumphierte der Tod über das Leben.
Bisher hatten die beiden immer gemeinsam Weihnachten verbracht, doch dieses Mal war sie allein und ihr war nicht nach Feiern zu Mute. Das Haus gleich neben dieser Brücke fühlte sich trotz des festlichen Dekors, Keksen und schon geschmückter Tanne leer an. Von Einsamkeit, Trauer und Verzweiflung getrieben, wollte Mary deshalb springen.
„Oh.“ Dieser Ton – eine Mischung aus Überraschung und Mitleid – kam als einziger aus seinem Mund. Eine Weile standen sie sich in der kühlen, klaren, hellen Vollmondnacht schweigend gegenüber, ehe Charly die Stille durchbrach: „Dann wollen Sie also diese zweifelhafte Tradition fortsetzen und Ihrer Mutter in die eisigen, reißenden Fluten folgen. Sie halten sich vielleicht für mutig, aber in Wirklichkeit sind sie einfach bloß schwach und verachtenswert. Nur Feiglinge stellen sich ihren Problemen nicht“, urteilte er streng und richtete somit gleichzeitig gnadenlos über sich selbst.
Marys Augen weiteten sich. Sie fühlte sich von diesem Fremden beleidigt und angegriffen. „Probleme nennen Sie das?!“, giftete sie und ihre dicken Wangen zogen sich vor Zorn nach oben, bis ihre großen Kulleraugen nur noch bedrohlichen, schmalen Schlitzen glichen, „Klar, dass so ein Schnösel wie Sie das nicht versteht! So lange kein Kratzer den Porsche versaut, ist die Welt doch in Ordnung, oder? Außerdem tragen Sie teure Klamotten, sind attraktiv und schlank. Jedes Problemchen lässt sich in Ihrer Welt doch mit Geld oder einem charmanten Lächeln lösen! Bei mir ist das anders, völlig anders: Ich kann mir nicht besonders viel leisten, bin hässlich und fett!“
Was sollte ein Mann darauf erwidern? Zugeben, dass sie Recht hatte? Sie war weder recht hübsch, noch schlank und keinesfalls stilvoll. Durfte man das ehrlich aussprechen?
Da Charly nur selten ein Blatt vor den Mund nahm, entschied er sich für die unsanfte Wahrheit: „Tja, sie haben Recht. Dünn sind Sie wirklich nicht, aber manche Typen bevorzugen füllige Mädchen.“
Mary stand der Mund offen. Ihre weinroten Lippen formten ein überraschtes, ersticktes, lautloses Ah. Der Kerl besaß Mut!
„Sie stehen darauf, Frauen zu beleidigen, hm?“
Doch sie war ihm nicht böse, denn Mary sprach auch immer ungeniert aus, was sie dachte. Egal, wie sehr ihr Gegenüber ihre Ehrlichkeit schmerzen mochte. Lügen flogen früher oder später sowieso auf. Er war offenbar ihr männliches Pendant.
„Sind Sie etwa einer von denen, die dicke Frauen mögen?“, fragte sie interessiert.
Er verzog angewidert das attraktive Gesicht.
„Eben“, stellte Mary bitter fest, „Mein Liebesleben ist nicht enttäuschend, sondern seit Langem gar nicht mehr existent.“
Schlagartig wurde Charly wieder bewusst, warum er vor Kurzem einen ähnlich radikalen Entschluss wie Mary gefasst hatte: Sein Liebesleben war deprimierend. Es mangelte ihm zwar nie an Gelegenheiten oder willigen Damen, aber die eine, die er unbedingt wollte, wollte ihn nicht mehr. Das war tragisch – jetzt, momentan. Aber sollte er deswegen einer anderen Kandidatin die Chance nehmen, vielleicht doch irgendwann erneut sein selbstverliebtes, egozentrisches Herz zu erobern? Auch wenn er derzeit bezweifelte, dass jemandem diese große Aufgabe je gelingen würde, konnte er doch den Rest seines Lebens schöne Stunden mit hübschen Frauen verbringen. Er würde definitiv Spaß haben!
Das waren jedoch nicht die Hauptgründe, weshalb er gekniffen hatte. Charly war einfach zu feige gewesen, um das Gaspedal voll durchzudrücken, bis ihn kein Hindernis mehr aufhalten konnte.
„Manche Männer mögen mollige Frauen.“ Es fiel ihm sichtlich schwer, dieses abscheuliche Adjektiv über die Lippen zu bringen und wiederum verzog er dabei abgeneigt das Gesicht.
„Oh, ja!“, redete sich Mary in Rage, „Natürlich, wenn sie sich davon Vorteile versprechen: einen guten Job zum Beispiel! Als mein Ex keinen Sex mit mir haben wollte, hätte ich eigentlich merken müssen, dass er garantiert nicht meinetwegen oder aufgrund meiner üppigen Figur, die er angeblich so anziehend fand, mit mir zusammen ist. Tja, manchmal bin ich eben zu blond, um zu durchschauen, was alle anderen längst wissen.“ War es überhaupt gerechtfertigt, Gerald als ihren Ex zu bezeichnen, obwohl es nie zum Äußersten gekommen war?, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn nicht, lag ihre letzte Beziehung nämlich erschreckender Weise noch weiter als drei Jahre zurück. Als sie sechzehn war, ging sie fast zwei Jahre lang mit Richard aus, bis er für sein Medizinstudium nach Wien übersiedelte und der Kontakt langsam abbrach. Was wohl aus ihm geworden ist? Ohne Zahnspange küsst es sich bestimmt besser und unter den vielen Pickeln befand sich garantiert ein bildhübsches Gesicht. Sein Charakter war ohnehin vorbildlich. Ein großes Herz hatte der angehende Herr Doktor ja schon immer besessen! Sie schmunzelte bei dem Gedanken an den blonden Hünen im weißen Kittel mit dem nun bestimmt perfekten Zahnpastastrahlelächeln und dem freundlichen Antlitz. Brad Pitt in seinen guten Jahren konnte ihrem Richard heute garantiert nicht mehr das Wasser reichen – weder optisch noch fachlich!
„Mag sein“, urteilte er kühl, „Trotzdem sind das keine ausreichenden Gründe, um sich zu töten.“ Jetzt klang er heuchlerisch wie sein Mathe-Lehrer im Internat, der die meisten Jungs – Charly inklusive – nachsitzen ließ, weil sie heimlich die Mädchen in den Umkleidekabinen beobachtet hatten, obwohl jeder genau wusste, dass Professor Stiel demselben Vergnügen frönte.
Charly wunderte sich über ihr dümmliches Grinsen. Sie hatte seinen unsensiblen Einwand offenbar unerwartet gelassen aufgenommen. Das bestärkte ihn. Lässig fuhr er sich durch seine nach hinten gekämmte und so gebändigte, dunkle Lockenpracht, ehe er vorschlug, sie die paar Meter zu ihrem Haus zu begleiten. Dann würde er noch einige Kilometer weiter fahren, bis er das Feriendomizil seiner Familie erreichte – spät, aber doch.
„Sie wollen in den Nachbarort? Wieso fahren Sie dann diesen Umweg? Die Bundesstraße ist doch problemlos passierbar! Schnee ist derzeit noch Mangelware.“ Mit dem Kopf deutete Mary in die Richtung, aus der er ursprünglich gekommen war, bevor er abgebogen war. Abschätzend löcherte sie ihn mit intensivem, zweifelndem Blick.
„Äh…ahm..ich habe Sie hier am Brückenrand stehen sehen.“
„Wow, haben Sie Adleraugen? Der Vollmond erhellt die Nacht heute zwar, aber so weit konnten Sie bestimmt nicht sehen! Also?“ Als er nicht antwortete und stattdessen schweigend an ihr vorbei auf die leere, fast schneefreie Straße starrte, fuhr sie herrisch fort: „Na, los! Sie kennen meine Geschichte! Jetzt will ich Ihre hören…Moment mal, nachts kann man nicht einmal die schönere Umgebung am Umweg genießen und im Winter sowieso nicht mit offenem Verdeck fahren. Was hat Sie dazu bewogen, abzubiegen?“ Nachdenklich senkte sie ihre stark geschminkten, schweren Lider.
„Los! Ich bringe Sie heim, damit auch ich endlich nach Hause kann“, wich er ihr aus und steuerte auf das einsame Haus unweit der Brücke zu.
Mary war zwar blond, naiv und leichtgläubig, aber definitiv nicht doof und plötzlich keimte in ihr ein schlimmer Verdacht auf. „Sie hatten dasselbe vor wie ich.“
„Oh, nein!“, erwiderte er mit einem kehligen Lachen ohne seine Schritte zu bremsen. Das war nicht einmal gelogen. Ungeduldig und verzweifelt auf eine umfassendere Antwort wartend sah Mary ihm zu, wie er stolz und erhobenen Hauptes an ihr vorbeimarschierte. Doch da folgte nichts mehr. Vielmehr entfernte sich der Unbekannte immer weiter von ihr! Das bestärkte ihre Vermutung und erzürnte sie zugleich, denn dieser heuchlerische Moralapostel hatte ihren Plan, ihrem erbärmlichen Leben ein verfrühtes, längst überfälliges Ende zu setzen, vereitelt. Wegen ihm atmete sie immer noch. Sie hätte längst tot am Grund des Flusses liegen sollen!
„Feigling!“, rief sie ihm hinterher.
Charly blieb abrupt stehen, drehte sich um und kam eilig zurück. Mit jedem Schritt nahm sein Zorn zu. Kurz vor Mary machte er Halt, sodass sie erschrocken einen Tritt zurück wich.
„Sie sollten mir eigentlich dankbar sein!“ Drohend fuchtelte er mit erhobenem, rechtem Zeigefinger vor ihrem schreckstarren Gesicht herum. „Ich habe Sie vor einer riesigen Dummheit bewahrt! Und ja, ich hatte das Gleiche vor, aber ich habe es nicht getan, weil ich mutig bin. So mutig, mich dem Leben mit all seinen Schattenseiten zu stellen! Nach jedem Tief kommt ein Hoch und darauf warte ich jetzt, während ich mich durch den alltäglichen Schlamassel kämpfe. Sie sollten meinen Rat beherzigen. Wenn wir erst einmal in einem Sarg unter der Erde liegen und verfaulen, können wir diese Chance nicht mehr nützen. Warum sollen wir nicht irgendwann wieder glücklich werden? Weshalb soll ich keine neue Frau finden? Bis dahin versüße ich mir die Wartezeit eben mit ein paar Schönheiten. Ich werde mein Leben wieder genießen! So wie früher, vor Babs.“
„Sie wurden verlassen?“, murmelte Mary ungläubig, denn für sie war es unvorstellbar, dass auch attraktive Menschen Beziehungsprobleme plagten und Enttäuschungen hinnehmen mussten.
„Oh, ja“, knurrte er bedrohlich leise, „Ich wollte sogar heiraten. Bevor ich in unsere Wohnung gefahren bin, war ich beim Juwelier.“ Er klopfte auf seine linke Jackentasche. „Sie möchten gar nicht wissen, wie viel mich dieser Ring gekostet hat, aber das war sie mir wert…bis ich Babs auf unserem Küchentisch, an dem wir heute Morgen noch gemütlich gemeinsam gefrühstückt haben, mit meinem besten Kumpel Andi erwischt habe. In flagranti, versteht sich. Ich erspare Ihnen und mir die ekelhaften Details! Welch Klischee, hm? Ich wollte mich wirklich mit Babs niederlassen – für immer und ewig, was eigentlich total untypisch für mich ist. Sie war meine längste Beziehung. Es sah alles so gut aus für uns beide. Wir waren ein grandioses Team.“
Mary fiel auf, dass er in seinem Monolog nicht erwähnt hatte, dass er sie liebte. Tat er das denn nicht oder war im Moment die Wut über den Verrat größer als die Zuneigung?
„Wenn meine Eltern erfahren, dass es vorbei ist, werde natürlich ich schuld daran sein – wie immer! Wissen Sie, ich bin das schwarze Schaf in meiner Familie. Alle, auch die kleinen Kinder meines perfekten Bruders sind großartig, makellos, bezaubernd. Ich bin der Taugenichts. Vor allem mein Vater hätte sich einen anderen Sohn gewünscht, einen zweiten Christian. Stattdessen hat er mich am Hals. Also wollte ich das Problem für ihn beseitigen. Sind Sie jetzt zufrieden?“
Im gleichen Moment bereute er seinen Gefühlsausbruch, denn nun wusste sie zu viel über ihn. Er war angreifbar, was für eine Persönlichkeit des öffentlichen Interesses fatale Konsequenzen haben konnte. Charly musste sicherstellen, dass sie ihr vorlautes Mundwerk hielt. Sofort wog er rational sämtliche Möglichkeiten ab, um seinen Fehler zu beheben: Entweder er ließ sie springen, was er niemals mit seinem Gewissen verantworten könnte, oder er bestach sie. Aber war ein Mensch, der sich vor ein paar Minuten noch das Leben nehmen wollte, überhaupt an Geld interessiert? Wenn er sie allerdings mit zu seinen Eltern nähme, würde er drei Fliegen mit einer Klappe schlagen: So könnte er kontrollieren, wem sie was erzählte; sichergehen, dass sie nicht wieder versuchte, sich zu töten; und seine unerwartete Trennung von Babs wäre über die Feiertage nicht das allgegenwärtige Gesprächsthema.
Ihre mitleidsvolle Miene verwandelte sich bald in einen bedauernden, zornigen Gesichtsausdruck. Charly trat vorsorglich einen Schritt zurück, bevor das verbale Unwetter losbrach. Nach einer wüsten Welle der Beschimpfungen folgte: „Sie wollten dasselbe tun wie ich! Wieso halten Sie mich dann auf?! Idiot! Wie dumm muss man eigentlich sein, so eine Gelegenheit verstreichen zu lassen! Gemeinsam wäre es doch viel einfacher gewesen!“ Ihre Vorhaltungen endeten abrupt, als sich ein lauter werdendes Motorengeräusch näherte. Schon tauchte auf der benachbarten B 311 ein dunkler Kombi auf. Wenn der oder die FahrerIn jetzt auf die kleine Seitenstraße abbog, würden die beiden frierenden Menschen im Lichtkegel des Porsches ein seltsames Bild abgeben. Würde es sofort auffallen, dass sich die zwei noch bis vor Kurzem das Leben nehmen wollten?
Natürlich würden die beiden Passanten so dicht neben dem kaputten Brückengeländer skeptische Blicke auf sich ziehen. Erst recht, wenn man im Dezember nachts so leicht bekleidet in der Gegend herumstand wie Mary. Unter ihrem cremefarbenen, nicht wintertauglichen Trenchcoat trug sie nämlich nur ein enges tiefschwarzes Abendkleid, das nicht einmal bis zu ihren massigen Knien reichte und daher auch ihre fülligen Unterschenkel nicht bedeckte. Ansonsten schmeichelte die samtig glänzende Robe ihrer runden Figur. Es zauberte eine zarte Silhouette. Die dunkle Netzstrumpfhose machte es sogar irgendwie sexy.
Mary konnte ihr übertrieben heftiges Atmen hören und sah die weißen Rauchwölkchen aus ihrem Mund aufsteigen – so pulsierend wie der Dampf aus einer Lokomotive. Charly hingegen hielt seinen Atem an, da er fürchtete, ertappt zu werden, weil ihn die kleinen Wolken verraten könnten, was – wie er wusste – völlig verrückt war. Erst als das Auto nicht abbog, sondern auf der entfernten Bundesstraße geradeaus weiterfuhr, holte er erleichtert Luft.
Marys Brust hob und senkte sich ebenso erlöst. Der tiefe Ausschnitt betonte ihre zwei bestgeformtesten Körperstellen. Derart wohlproportionierte, üppige und vor allem höchstwahrscheinlich echte Brüste hatte Charly noch nie gesehen, obwohl ihm schon vieles vor Augen und auch in den Händen gelegen war.
„Starren Sie etwa auf meinen Busen?“, fragte sie ruppig, „Das ist wieder so typisch! Kein Kerl will mit mir schlafen, weil ich fett bin, aber in meinen Ausschnitt glotzt jeder! Der Schwachkopf in der Bäckerei hat mich das letzte Mal sogar gefragt, ob er meine Krapfen anfassen darf!“
Charly konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, hob den Blick und sah direkt in ihr vor Zorn gerötetes Gesicht. Besonders ihre pausbäckigen Wangen hatte die Kälte verfärbt.
„Und?“
„Was und? Wenn er mich je auch nur mit dem kleinen Finger berührt, schiebe ich ihm einen Kornspitz in den Hintern. Das habe ich ihm auch so gesagt! Jetzt traut er sich nicht mehr, mich zu bedienen, ha! Weichei!“
„Sie können Männern manchmal Angst einjagen, hm? Vielleicht würde es beziehungstechnisch klappen, wenn Sie ein wenig netter wären.“
Sprachlos schnappte Mary nach Luft. Sie ärgerte sich über seine maßlose Frechheit. „Sagt ein Mann, der ungeniert auf meine Brüste gafft. Das ist auch nicht gerade höflich, aber naja: Ihr Kerle dreht euch sowieso immer alles, wie ihr es gerade braucht. Wir hätten schon vor Minuten gemeinsam springen können, aber Sie ziehen es ja vor, mich zu beleidigen.“
„Jetzt geht das wieder los“, seufzte er theatralisch, „Eigentlich wollte ich Ihnen eben sagen, dass Sie großartig aussehen, wirklich.“
Mary beäugte ihn misstrauisch. Meinte dieses Sahneschnittchen sein Kompliment tatsächlich ernst? Vielleicht log er wirklich nicht, denn heute fühlte sie sich ausnahmsweise einmal attraktiv. Sie hatte sich für diesen besonderen Tag – das Datum ihres Todes – extra schick gemacht. Sie wollte schön sein, wenn man sie fand.
„Ich finde Ihre Schuhe zauberhaft“, fuhr Charly fort. Wenn man von Kindesbeinen an dazu erzogen wurde, einer Frau nicht zuerst in die Augen oder auf das Dekolleté zu starren, sondern auf ihr Schuhwerk zu achten, konnte man diese sorgfältig antrainierte Gewohnheit mit der Zeit nicht einfach ablegen.
Die nachtschwarzen Plateau-Pumps mit den dünnen zehn Zentimeter hohen Pfennigabsätzen streckten ihre kurzen, fülligen Beine optisch. Die silbernen und weißen Strasssteinchen glitzerten und funkelten auf den edel wirkenden, aber für Expertenaugen eindeutig billigen Tretern und bildeten einen erstklassigen Kontrast zu ihrer dünnen, dunklen, ebenfalls schimmernden Strumpfhose.
„Hatten Sie heute Abend ursprünglich etwas anderes vor und haben sich dann kurzerhand umentschieden?“, erkundigte er sich und dachte dabei an seinen eigenen dummen, überstürzten Entschluss.
Ein dröhnendes Lachen drang aus ihrer Kehle. „Quatsch! So etwas überlegt man sich doch lange und gut! Man springt nicht einfach so aus einer Laune heraus! Wollten Sie das etwa?“ Die Frage war rhetorisch gemeint, aber Charly fühlte sich ertappt und starrte auf den finsteren Fluss hinaus, in dem das Mondlicht auf den sanften Wellen glitzerte. Mary musterte ihn skeptisch. Doch bevor sie ihr Misstrauen in Worte fassen konnte, meinte er lapidar: „Sie wollten schön sein.“
Die Blondine stimmte dieser Feststellung nickend zu. „Ich wollte einmal in meinem bedauernswerten Dasein richtig attraktiv sein und der Nachwelt so in Erinnerung bleiben. Ich habe fast mein halbes Monatsgehalt in dieses Outfit investiert.“
„Das hat sich gelohnt“, entgegnete er charmant grinsend und zwinkerte ihr frech zu.
„Danke“, hauchte sie leise und vollführte einen majestätischen Knicks.
„Sich in einem solchen Outfit zu töten, wäre total absurd. Das muss man Leuten vorführen.“
„Das werde ich – den Menschen, die mich finden.“
Charly stieß einen triumphierenden Laut aus: „Ihr Plan ist also doch nicht völlig durchdacht.“
Mary setzte eine fragende Miene auf und legte den Kopf schief.
„Wenn Sie dort hinunter hüpfen, werden Sie garantiert keine schöne Leiche sein. Auch wenn dieser Winter nicht sonderlich schneereich ist, ist das Wasser trotzdem eiskalt. Falls Sie nicht der immens harte Aufschlag tötet, werden Sie erfrieren, bevor Sie ertrinken. Ihr Körper wird sich in der Salzach so furchtbar anfühlen, wie wenn tausend Messerstiche Ihr Fleisch durchbohren. Ihr Gesicht wird schmerzverzerrt und vom Todeskampf entstellt sein. Wahrscheinlich werden die dunklen Fluten Sie auf ewig verschlucken. Niemand wird Sie jemals finden.“ Mit einer dramatischen Geste deutete auf den friedlichen Fluss unter ihnen. „Oder Ihr Korpus wird vielleicht doch eines Tages an Land gespült. Dann wird das aber kein herrlicher Anblick sein: hässlich, furchteinflößend und abstoßend wie Wasserleichen nun eben einmal ausschauen. Ihre traumhaften Schuhe tragen Sie bestimmt nicht mehr an den Füßen, von denen sich schon die Haut in Fetzen lösen wird. Ihr Kopf wird riesig sein, igitt!“ Es schauderte ihn.
„Haben Sie denn schon einmal eine gesehen? Eine Wasserleiche, meine ich?“, erkundigte sich Mary angewidert.
Er nickte ebenso angeekelt. „An der Côte d’Azur wurde so ein Ding mal an unseren Privatstrand gespült, nachdem die Leiche wochenlang durchs Mittelmeer getrieben war. Meine Schwägerin wollte nach diesem schaurigen Anblick tagelang nichts essen…aber, naja…genau genommen will sie eigentlich nie etwas essen. Dauerdiät, quasi.“ Er wollte noch hinzufügen, dass dieses Problem wohl jede Frau kannte. Doch nach einem Blick auf Marys üppige Rundungen verkniff er sich diesen Kommentar.
Da die Blondine schwieg, dachte sie vermutlich über seine Argumente nach, während er unruhig von einem Fuß auf den anderen trippelte. Langsam fuhr ihm der Frost in die Glieder. Konnten sie diese sinnlose Diskussion nicht bald beenden und jeder ging seines Weges? Aber dann tat sie sich vielleicht doch etwas an, sobald er in seinen Wagen gestiegen war und die erste Kurve passiert hatte. Wenn er sie im Rückspiegel nicht mehr beobachten konnte, sprang sie höchstwahrscheinlich sofort in die nasse, kalte, dunkle Tiefe. Konnte er das verantworten? Sein Vater hätte sie schon längst springen lassen, denn eine Dicke weniger war in seinen Augen eine Person weniger, die den Hunger leidenden Menschen der Dritten Welt das spärliche Essen wegfraß – so dachte Ludwig Rudolf. Sein jüngster Sohn war jedoch nicht ganz so herzlos und kühl. Er rang mit seinem Gewissen, ob er sie allein, einsam und verzweifelt hier zurück lassen durfte. Wollte er das überhaupt?
„Dann nehmen wir einfach Ihr Auto!“
Ihr Vorschlag riss ihn zu abrupt aus seinen Gedanken. „Was? Ich soll Sie heimfahren? Ausgezeichnete Entscheidung!“
Sie runzelte ihre Stirn und ihr Groll schlug sich auch in ihrer Stimme nieder: „Nein! Wir setzen uns jetzt in Ihren Wagen, dann fahren wir ein paar Meter rückwärts, steigen aufs Gas und gehen gemeinsam unter. Das Auto schützt unsere Körper bestimmt besser und wir bleiben länger gut konserviert. Wenn Sie sich nicht trauen, fahre ich. Ich wollte schon immer Mal einen Porsche lenken. Dann würde mein mieses Dasein wenigstens mit einem Highlight enden.“ Ein verrücktes, aber seliges Lächeln breitete sich auf ihrem runden Gesicht aus.
Dieser wirre Ausdruck ängstigte Charly. Er entschloss sich, seine Taktik zu ändern, ehe er mit der Tür ins Haus fiel. „Wollen wir uns nicht langsam duzen? Wir teilen etwas, was die meisten hoffentlich nie erfahren müssen. Ich bin offiziell Karl, aber alle nennen mich Charly.“
Er streckte ihr seine große, kräftige Hand entgegen. Sie musste einige Schritte auf ihn zu gehen, um sie zu ergreifen. „Ich bin Maria – also Mary“, stellte sie sich vor, „Das müssten wir eigentlich begießen. Ach, egal! Ein Wangenküsschen sparen wir uns auch. Wozu noch diese Förmlichkeit? Kann’s endlich losgehen? Wer fährt? Du oder ich, Karli?“
„Charly, bitte! Ich verabscheue andere Kosenamen und derartig altmodische mag ich schon gar nicht.“
„Ach, die letzten zehn Minuten deines kurzen Lebens wirst du das schon verkraften. Mir gefällt Karli!“ Trotzig verschränkte sie die Arme vor ihren üppigen Brüsten.
Also gab er seufzend nach, um sie zu besänftigen: „Wenn du mich nicht küssen willst, in Ordnung. Normalerweise reißen sich die Frauen darum, mir möglichst nahe zu kommen und sich an diese Position dann für lange, lange Zeit zu klammern. Das Begießen sollten wir allerdings nachholen. Meine Eltern laden stets zu einer großen Familienweihnachtsfeier. Dort wollte ich eigentlich heute hin. Begleite mich doch!“
Diese Aufforderung glich mehr einem Befehl als einem Angebot. Momentan fühlte sich Mary überrumpelt, weil dieser Unbekannte, der ihr dennoch irgendwie vertraut vorkam, so abrupt ihre Pläne durchkreuzte, doch dann erwachte das Luxusweibchen, das tief in ihr schlummerte und schon viel zu lange geruht hatte. Wenn dieser Typ einen Porsche fuhr, wie reich musste dann erst seine Familie sein? Wie ein Selfmade-Millionär wirkte Charly nämlich keinesfalls. Er sah eher nach einem faulen Genießer aus. Sein Familiensitz glich daher vermutlich einer Villa und man bewohnte dort anstatt von Zimmern geräumige Suiten. Auch wenn die 25-Jährige ihrem tristen Leben eigentlich ein Ende setzen wollte, könnte sie sich zum Abschluss doch noch etwas gönnen und sich so richtig amüsieren. An Silvester starb es sich garantiert stilvoller. Während der ausgiebigen Knallerei um Mitternacht würde ein Schuss gar nicht auffallen. Aber woher sollte sie eine Waffe nehmen? Naja, dieses Problem ließ sich bestimmt auch irgendwie lösen.
Sie sah ihren Gönner so unschuldig wie möglich an und willigte auf seinen Vorschlag ein. Erstaunt, aber sichtlich erleichtert stolzierte er auf die Beifahrerseite seines protzigen Wagens und hielt ihr die Tür des silbernen Flitzers galant auf. Nachdem er den auf dem Sitz liegenden Timer eilig im Handschuhfach verstaut hatte, ließ sie sich protestlos auf das komfortable Leder sinken.
„Ich darf also nicht fahren“, stellte sie grimmig fest.
„So sehr vertraue ich dir noch nicht.“ Schmunzelnd schloss er kavaliersgleich die Autotür.
Als Charly schließlich neben ihr saß, sagte sie bedeutungsschwer: „Das war Schicksal, dass wir uns jetzt und hier begegnet sind. Immerhin hättest du auch die Autobahnstrecke wählen können, dann wäre ich nun am Grund der Salzach anstatt in diesem Bonzen-Mobil. Schick, schick übrigens.“
Der Porsche konnte seine ganze Geschwindigkeit gar nicht erst entfesseln, denn schon nach wenigen Metern hielt Charly vor Marys Eingangstür an. Vorsichtshalber begleitete er sie ins Innere ihrer Bleibe, damit sie nicht heimlich nach dem erstbesten Messer in der Küche griff und ihren Plan doch noch in abgeänderter Form vollendete.
Das hatte er nun davon – wäre er nur im Auto geblieben. Er war Ken, der im Barbie-Haus einer leibhaftigen, etwas übergewichtigen, blondierten Puppe gefangen war. Charly saß auf einem vergoldeten, zitronengelben Hocker, der am Fußende ihres riesigen Himmelbettes platziert war. Skeptisch betrachtete er den seidig weichen Stoff der durchsichtigen nachtschwarzen Gardinen, die an alle vier rustikalen, dunklen Eckpfeiler der pompösen Schlafmöglichkeit gebunden waren. Die pinken Wände erinnerten ihn sowohl an ein Mädchenspielzeughaus als auch an ein billiges Bordell. Er war hier der Gast, der nervös nahe der Bettkante saß und darauf wartete, dass er für sein Geld endlich etwas geboten bekam. Das dumpfe Dämmerlicht der Nachttischlampen rief einige Assoziationen hervor, die beiden grell beleuchteten Stufen, die zur Liebesstätte führten, muteten bordellhaft an. Gleichzeitig musste Charly an ein Fernsehstudio denken. Beides hatte schon mehrmals besucht. In dem flauschigen, wolkengleichen Teppich, auf dem das prunkvolle Bett thronte, ließ er seine kalten, lila besockten Füße kuschelnd verschwinden. Der Rest des rustikalen Holzbodens ringsherum glänzte schwarz und kühl. Fröstelnd erinnerte sich Charly an die Fluten, in die sich seine Gastgeberin noch vor Kurzem hatte stürzen wollen.
„Gefällt es dir?“, wollte Mary wissen, weil sie merkte, wie er ihr Schlafzimmer inspizierte. Während sie genügend Kleidung in ihren auf dem großen Bett platzierten pinken rollbaren Koffer packte und regelmäßig zwischen ihrem hohen dunklen Schrank und dem prunkvollen Schlafplatz hin und her eilte, hatte sie ihn aus den Augenwinkeln beobachtet. Er fühlte sich in ihrem mädchenhaften Märchenzimmer sichtlich unwohl.
Wie viel Kleidung brauchte man bis Silvester? Was würden sie bis dahin alles unternehmen? Welches Outfit sollte sie an ihrem Todestag tragen? Wie wollte sie der Welt in Erinnerung bleiben: als einfaches Mädchen von nebenan, das zufällig durch schicksalhafte Fügung in einer Villa gelandet war, oder als perfekt inszenierte Diva? Tausende Fragen schwirrten der Blondine durch den Kopf. Gerade als sie ihre rosaroten Plüschhausschuhe mit dem süßen Schweinegesicht von den Füßen streifte und in den Koffer packen wollte, drehte er sich zu ihr um.
„Was ist das?“ Seine Miene schwankte irgendwo zwischen Ekel und Belustigung – so, als könnten sich seine Muskeln noch nicht entscheiden, welche Emotion sie ausdrücken wollten.
Peinlich berührt hielt sie mitten in der Bewegung inne. „Meine Hausschuhe“, gab sie grinsend zurück und presste sie schützend an ihre üppigen Brüste.
„Das ist Tierquälerei!“, meinte er.
Mary runzelte die Stirn. „Die sind aus Plüsch. Das ist kein echtes Fell.“
„Das weiß ich doch“, stöhnte er genervt, weil sie ihn offenbar für so blöd hielt – wenn sie bloß wüsste, wer er war! „Trotzdem ist es ein Verbrechen, so scheußliche Dinger herzustellen.“
„Ich mag sie!“, verteidigte Mary ihre rosaroten Lieblinge, „Sie sind soooo flauschig und warm und – nicht zu vergessen – auch verdammt niedlich.“ Dann legte sie ihr Eigentum behutsam in den annähernd gleichfärbigen Koffer.
„Und rosa wohlgemerkt. Das ist wohl der Hauptgrund. Mädchen mögen alles, was pink ist oder glitzert. Ein ungeschriebenes Naturgesetz. Diese schaurigen Fußwärmer passen ideal zu dieser Mischung aus Barbiehaus und Sadomaso-Kammer. Also lass‘ sie hier, wo sie hingehören. Du wirst sie bei mir nicht brauchen. Pack‘ lieber genügend High Heels ein. Das trägt man bei uns. So etwas besitzt du doch?“
Mary starrte ihn vorwurfsvoll an und legte den runden Kopf beleidigt etwas schief. „Natürlich! Ich bin und bleibe eine Frau, auch wenn ich ein bisschen fülliger bin als die Damen, die du näher kennst.“ Widerwillig stellte sie ihre Pantoffeln auf der ebenso flauschigen grauen Decke ab, die sie während des Tages über das zartrosa Bettzeug gebreitet hatte. Dann öffnete sie die Schiebetür des niedrigen Schränkchens, das nah neben ihrem Kleiderkasten stand. Dicht gestapelt drängte sich ihr gesamtes Schuhwerk nach Farbtönen geordnet darin aneinander. Charly war erstaunt – mehr über die unerwartete Ordnung als über die Masse.
„Der Schrein meiner 29 Heiligtümer. Ich vergöttere sie alle.“
Charly ließ einen ruhigen Blick über das teils schrille, teils aber auch recht geschmackvolle Sortiment schweifen: Von Ballerinas über Peep Toes bis hin zu Ankle Boots besaß sie eine umfassende Sammlung, die sich Frauen mit einem gewöhnlichen Durchschnittseinkommen eben leisten konnten. Anderes kannte er aus seinem Umfeld. Die Damenwelt, die er schätzte, zeichnete sich durch einen Hang zu Luxus und größere Quantität als auch Qualität aus, doch Marys spärlicher Bestand entzückte ihn. Charly erhob sich und traf eine Auswahl jener Stücke, die sie mitnehmen sollte.
In einem unbeobachteten Moment stopfte die Blondine ihre heiß geliebten, kindlichen Schweinchen-Hausschuhe dennoch in den Koffer.
Mit seinem linken Zeigefinger folgte Charly seiner Unterlippe und suchte überlegend die Regale ab. Nach und nach reichte er ihr die elegantesten und höchsten Paare. Widerspruchslos packte sie ein, was er ihr in die Hand drückte.
„Wieso interessierst du dich für Schuhe?“, konnte sie ihre Neugier schließlich nicht mehr unterdrücken, „Ich meine, du bist ein Mann. Das ist unnatürlich.“ Sie betonte das letzte Wort abfällig.
„Ach, Familienerbe. Väter prägen uns doch mehr, als wir wollen. Du ähnelst deinem alten Herrn bestimmt auch, oder?“ Als ihm bewusst wurde, was er soeben gesagt hatte, tat es ihm leid, aber die ausgesprochenen Sätze ließen sich nicht so einfach wieder rückgängig machen. Vermutlich hatte er nun erneut Wunden aufgerissen, die noch nicht einmal richtig verheilt waren.
Statt den erwarteten Tränen in ihren Augen breitete sich ein seliges Lächeln auf Marys Gesicht aus, als er sich ihr zuwandte. „Oh, ja. Er liebte Süßes genauso sehr wie ich. Kuchen oder Torten haben in unserem Haus nie lange überlebt.“
Charly wollte soeben anmerken, dass man ihr diese kalorienreiche Vorliebe ansah, konnte sich diese Beleidigung jedoch gerade noch verkneifen. Seine Vernunft hatte sein vorlautes Mundwerk zum Glück rechtzeitig gebremst. Still suchte er weiter. Diesmal dauerte es länger als zuvor, weil die Auswahl an geeigneten Stücken abnahm. Zwei bis drei Paare wollte er allerdings mindestens noch mitnehmen. Mary hatte inzwischen eine eigene Reisetasche nur mit ihrem Schuhwerk befüllen müssen, da kein Platz mehr im Koffer war.
„Dann brauchst du noch Stiefel, weil mit diesen hochhackigen Teilen kannst du im Winter draußen nicht herumlaufen“, erklärte er abschließend oberlehrerhaft.
„Tatsächlich?“, erwiderte sie süffisant und zog beide Augenbrauen amüsiert nach oben, „Wozu nehme ich dann all diese Schuhe, die nicht schlechtwettertauglich sind, mit?“
Das wunderte sie wirklich. Wozu benötigte frau im Dezember dermaßen viele High Heels? Selbst, wenn jeden Tag eine Party, ein Galadinner oder eine sonstige Veranstaltung stattfinden würde, könnte sie ihre Fußbekleidung mehrmals täglich wechseln. Sie hatten mehr als genug eingepackt. Weshalb begriff sie als Frau das und der Mann neben ihr nicht?
„So etwas trägt man bei uns anstelle von Hausschuhen – selbstverständlich immer passend zum aktuellen Outfit. Mein Vater ist in diesem Fall ein wenig eigen. Also, wo hast du deine Stiefel? Ich sehe hier keine. Ankle Boots sind nämlich nicht besonders wintertauglich. Du bist ein Landei. Du musst doch welche besitzen.“
„Im Flur“, antwortete sie knapp.
Charly nickte nur und verließ dann wortlos das Schlafzimmer. Mary blickte ihm belustigt hinterher. Er trug dunkelblaue Jeans und ein weißes Hemd, das er salopp in die Hose gesteckt hatte. Die rote Krawatte hatte er inzwischen gelockert und sie hing nur noch schlaff um seinen Hals. Dieses elegante Accessoire war genauso ein Stilbruch wie die lila Socken. Wollte Charly edel sein oder cool? Musste er jemand anderen darstellen, als er tatsächlich war oder tat er das freiwillig? Liebte er nur den ungewöhnlichen Mix oder war er sich selbst nicht ganz bewusst, wie er sein wollte? Wer war dieser Mann? Er kam Mary unglaublich bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher. Schon im spärlichen Licht auf der Brücke hatte sie sich eingebildet, ihren vermeintlichen Retter zu kennen. Jetzt, bei starker, elektrischer Beleuchtung hatte sich dieses Gefühl noch verstärkt. Ihr fiel jedoch nicht ein, wo sie ihn schon einmal gesehen haben könnte.
Nachdem Mary das letzte Paar Pumps in der etwa zur Hälfte gefüllten schwarzen Reisetasche verstaut hatte, wartete sie ab, bis Charly mit einigen Stiefeln zurückkehrte. Es dauerte eine Ewigkeit. Währenddessen überlegte sie, ob sie für wenige Tage des Verreisens auch wirklich alles Nötige eingepackt hatte: Zahnbürste, Kosmetikartikel jeglicher Art und genügend Klamotten für alle Fälle! Ja, das hatte sie alles dabei. Vorsichtshalber warf sie nochmals einen prüfenden Blick durch ihr Schlafzimmer. Dabei blieben ihre Augen auf der Zeitschrift haften, die auf ihrem Nachttischchen lag. Eine Woche ohne Stars, Mode und Beautytipps wäre der absolute Super-GAU für eine schrille, experimentierfreudige, junge Frau wie sie. Immerhin wollte sie schick und gut informiert abtreten. Eventuell hatte ein Star nur wenige Tage vor ihr das Zeitliche gesegnet. Womöglich traf man sich auf dem Weg nach oben sogar. Wie lange brauchte man wohl für den Aufstieg in den Himmel?
Sie hielt es für eine kluge Idee, das Magazin auch noch mitzunehmen. Weil sie zu bequem war, um zwei Schritte nach links zu gehen, streckte sie sich und hielt sich dabei am noch geöffneten Koffer fest. Tatsächlich erreichte sie die Zeitschrift und griff danach, als ein High Heel unter dem Gewicht, das sie nun beinahe völlig auf den rechten Arm verlagert hatte, nachgab und umkippte. Mary konnte nur unter großer Mühe und Anstrengung verhindern, dass sie mit dem Gesicht auf die Matratze krachte oder sich einen bordeauxrot lackierten Fingernagel abbrach. Offenbar schlummerte in ihren Knien, die sie fest gegen die hölzerne Bettkante drückte, genügend Kraft, um einen Sturz zu vermeiden. Nur das Magazin entglitt ihren Fingern und landete am Boden – unter ihrer Schlafstätte. Genervt stellte Mary fest, dass sie sich nun noch mehr bewegen und verbiegen musste. Sie bereute, vorhin nicht einfach zwei Schritte zur Seite gegangen zu sein. Stöhnend bückte sie sich, ging immer tiefer in die Hocke, bis sie unter ihr Himmelbett spähen konnte. Als sie ihr Lieblingsblatt entdeckte, tastete sie mit der einen Hand ungeschickt danach, während sie mit der anderen das dunkle Holz ihres Bettes umklammerte, um nicht umzukippen und bäuchlings am Teppich zu landen. Diesen humorvollen Anblick gönnte sie Charly, den sie jeden Moment zurück erwartete, nämlich nicht. Sie wollte nicht wie ein gestrandeter Wal zu seinen Füßen liegen.
Endlich bekam sie das Magazin zu fassen und zog es hervor. Erschöpft ließ sie sich dann daneben auf dem flauschigen Teppich nieder. Sie wollte die Zeitschrift gerade zuklappen, weil sie beim Fallen auf einer beliebigen Seite aufgeschlagen war. Blitzartig weiteten sich ihre Augen, als sie einen Blick auf die bebilderte Story warf. Die Geschichte handelte von den Partyeskapaden eines reichen Sprösslings, der sein sorgenfreies Leben mit dem Geld seines Vaters finanzierte. Dieser Kerl übte zwei Berufe aus: Erbe und Sohn. Genau genommen war es vielleicht doch nur ein zeitintensiver Job: ein sein Erbe leichtsinnig verprassender Sohn! Charly, ihr Karli, torkelte ihr breit grinsend und mit glasigem Blick auf den Fotos entgegen.
Jetzt fiel ihr auch wieder ein, warum ihr ihr Retter so bekannt vorkam. In ihrem bescheidenen Häuschen hielt sich der Stammhalter eines millionenschweren Schuhherstellers auf: Charly Rudolf! Nüchtern und ohne weiße Rückstände diverser verbotener Substanzen oder halb verdauter Speisereste auf seinen edlen Klamotten sah er in natura noch viel besser aus als auf den Bildern in der Klatschpresse. Der heißeste Österreicher unter 30 suchte soeben in ihrem Flur nach passendem Schuhwerk für die Feiertage, die man gemeinsam miteinander verbringen würde! Und Mary wusste bereits, dass er wieder Single war. Seine Partymaus Barbara Kirchmaier, das bekannteste Topmodel des Landes, das ebenfalls angeheitert und berauscht auf fast keinem der Bilder fehlte, hatte ihm das Herz gebrochen. Tausende Frauen hassten sie, weil sie ihre perfekte Figur und makellose Schönheit beneideten und alle am liebsten an ihrer Stelle mit Charly zusammen wären. Jede, Mary inklusive, war felsenfest überzeugt davon, nur sie allein könnte ihn aus dem trostlosen Partysumpf befreien und bis an sein Lebensende glücklich machen. Nun war er hier – ohne sein lästiges Anhängsel Barbara!
Mary musste ein euphorisches, hysterisches Quietschen unterdrücken. Diese typisch weiblichen Laute, welche die Kehlen der Damenwelt verließen, sobald sie ein Sexsymbol in anfassbarer Nähe sahen, bekam Charly vermutlich oft zu hören. Mary wollte sich ihre Chance durch eine derartig unnötige Dummheit nicht verbauen. Sie bemühte sich also, still zu bleiben und ruhig zu atmen, um nicht hyperventilierend in seinen starken Armen zusammenzubrechen. Wobei diese Option womöglich durchaus vielversprechend sein könnte.
Bald würde er sie sogar seiner noblen Familie vorstellen! Auf den Gesichtsausdruck des alten Rudolf war sie gespannt. Würde der Patriarch sie noch erkennen? Grinsend versank sie kurz in einem Tagtraum: Sie reichte dem entsetzt dreinblickenden Ludwig die Hand. Er würde sie ausschlagen, oder? Ja, so oder zumindest so ähnlich könnte ihr Wiedersehen ablaufen. Die letzten Tage ihres irdischen Daseins würde Mary noch voll auskosten. Oh, ja! Alles sollte genial werden. Definitiv! Sie würde sich kein Blatt vor dem Mund nehmen und jedem offen ihre Meinung kundtun. Das hatte sie zwar bisher auch immer gemacht, doch in der kurzen, ihr verbleibenden Zukunft würde sie sich noch weniger zurückhalten und keinesfalls um Konventionen scheren.
„Es war nicht einfach, sich in dieser Unordnung zurechtzufinden“, entschuldigte sich Charly vorwurfsvoll, als er erneut ihr prunkvolles Schlafzimmer betrat, „Heißt es nicht, Frauen seien ordentliche Wesen?“
Ertappt klappte Mary hastig die Zeitschrift zu und rutschte einige Zentimeter nach rechts, um das Magazin unauffällig unter ihrem Hintern verschwinden zu lassen. Es gab auch seltene Momente, in denen es vorteilhaft war, kein magersüchtiger Hungerhaken in Größe XXS zu sein. Das war nun einer davon. Immerhin sollte Charly nicht sofort erfahren, dass sie inzwischen wusste, wer er war.
„Manche“, entgegnete sie unsicher und lenkte ab, „Du bist allerdings doch fündig geworden. So chaotisch kann es in meinem Flur also nicht aussehen.“
Charly kam aufs Bett zu und verstaute die vier Paar wärmespendenden Stiefel in unterschiedlichen Farben in der Reisetasche. „Bist du nun in einen Sitzstreik getreten? Willst du etwa nicht mehr mitkommen?“ Als er sie kurz abschätzend musterte, las sie Unsicherheit in seinen braunen Augen.
„Oh, ich freue mich wahnsinnig darauf, mit deiner Familie die Feiertage verbringen zu dürfen.“
Skeptisch beäugte er sie, sagte jedoch nichts. Ihre plötzliche Fröhlichkeit kam ihm komisch vor.
Schwerfällig erhob sich Mary und ließ dabei ihr Lieblingsklatschblatt mit dem Fuß möglichst unauffällig unter ihrem Bett verschwinden. Wer würde es wohl irgendwann entdecken? Was hatte sich bis dahin in der Welt der Reichen und Schönen verändert, während ihr eigenes längst beendet war? Was sollte eigentlich mit ihrem Haus geschehen, wenn sie erst einmal freiwillig den Löffel abgegeben hatte? Darüber hatte sie sich bislang keine Gedanken gemacht. Nicht einmal ein Testament hatte sie aufgesetzt, das ihren spärlichen Nachlass regeln sollte. Genau genommen gab es nichts zu organisieren, denn Erben hatte sie keine. Sie war kinderlos. Ihre einzigen Verwandten waren ihr Pantoffelheld-Onkel und seine alles beherrschende, bösartige Ehefrau. Beide mochte sie nicht besonders. Wahrscheinlich würde sich die gierige Tante Johanna das Haus unter den Nagel reißen und dann so bald wie möglich verkaufen, um an Geld zu gelangen. Nur Bares war Wahres. Was wollte sie mit einem Haus, das saniert, und einem kleinen Gärtchen, das gepflegt werden musste? Sollten sich doch die neuen Eigentümer darum kümmern, nachdem sie ihnen ein nettes Sümmchen entlockt hatte. Innerlich darüber sinnierend, aber äußerlich kichernd half sie Charly, den Reißverschluss der überfüllten Tasche zu schließen.
„Was ist so lustig?“ Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn.
„Ich hatte gerade ein Bild vor Augen: Ich gebe Petrus an der Himmelspforte seinen Löffel zurück. Man muss den Löffel abgeben, verstehst du?“
Charlys Humor zählte zu einer völlig anderen Gattung. „Ich bin eigentlich mitgekommen, um zu verhindern, dass du dir ein Küchenmesser ins Herz rammst oder eine andere schwachsinnige Idee in die Tat umsetzt. Ich dachte eigentlich, dieses leidige Thema wäre endgültig erledigt“, sagte er ernst.
Marys Grinsen fror ein und ihre Miene verdüsterte sich. Sie musste sich entschuldigen und ihn beruhigen, sonst hätte sie in den nächsten Tagen keine einzige ungestörte Minute und somit auch keine Gelegenheit, ihren Plan zu vollenden.
„Sorry, das kam einfach so über mich. Blöder Gedanke! Es wird nicht mehr vorkommen, versprochen!“, antwortete sie überzeugend unschuldig. Um ihm nicht länger in die Augen, die sie förmlich durchbohrten, sehen zu müssen, kümmerte sie sich erneut um ihr Gepäck. Und tatsächlich – mit genügend Gewalt und Verbissenheit ließ sich jeder Reißverschluss schließen. „So, fertig!“, stöhnte sie atemlos und stemmte ihre kräftigen Hände in die üppigen Hüften.
„Gut, dann können wir endlich losfahren“, meinte er erleichtert und spazierte aus dem Zimmer.
„Hey! Muss ich das ganze Zeug alleine schleppen?“
„Tja, der Koffer verfügt über Räder, das heißt man kann ihn rollend fortbewegen. Die Reisetasche ist nicht schwer und wie viel unnützen Kram du in deiner Handtasche unnötig mitschleppen willst, ist allein deine Entscheidung“, rief er ihr aus dem Flur zu.
Erbost schnaubte Mary auf und wartete einige Sekunden, doch Charly kam nicht zurück. „Mistkerl!“, schrie sie ihm hinterher, „Das hätte ich eigentlich gleich wissen müssen: Wer einen Luxusschlitten fährt, hat eine miesen Charakter!“
Weitere Beleidigungen und Verwünschungen murmelnd folgte sie ihm mit all ihrem Gepäck nach unten. Als Mary die alte, hölzerne grüne Haustür hinter sich schloss, wusste sie, dass es das allerletzte Mal sein würde. Nie wieder würde sie hierher zurückkehren. Ein kleiner, wehmütiger Abschiedsschmerz durchzuckte sie.
Er hievte wenigstens das gesamte Gepäck in den Kofferraum. Das war wohl das Mindeste, fand Mary. Immerhin hatte sie alles ganz alleine bis zu seinem Bonzen-Auto schleppen müssen.
„Zu einem Gentleman haben dich deine Eltern nicht erzogen“, kommentierte sie sein knappes Maß an Hilfsbereitschaft kühl.
„Nein, aber die Kindermädchen. Allerdings endet die Kavalierszeit eines Mannes um 23 Uhr. Dann darf man sich bis sechs Uhr morgens so richtig gehen lassen und versaute, unhöfliche, freche Dinge tun. Ach, ich liebe diese paar Stunden.“ Charly strich sich den Saum seiner dunklen Jacke nach hinten, um auf seine große Uhr zu schauen, bevor er den Kofferraum seines silbernen Schmuckstücks sanft schloss. „Jetzt ist es 23:11 Uhr. Tja, Pech für dich.“
„Was ist das? Der Ehrenkodex reicher Erben?“, konterte sie boshaft, „Soll ich mir etwa ein Taxi rufen?“
Einen Moment lang fixierte er sie verdutzt durch das inzwischen dichte Schneetreiben. Der Mond hatte deswegen längst an Strahlkraft verloren. Mary wurde schlagartig bewusst, dass sie sich beinahe verraten hatte, und entschärfte die Situation, denn noch sollte Charly nämlich nicht erfahren, dass sie seinen gesellschaftlichen Status kannte. Womöglich hielt er sie für eine Schmarotzerin, die seine privilegierte Position nur ausnutzen wollte.
„Was ist?! Du wirkst wie ein verwöhnter, selbstverliebter, egoistischer, aber manchmal auch charmanter, vermögender Schnösel. Deine Kleidung deutet darauf hin: alles nur vom Feinsten. Ich sehe vielleicht billig aus, aber ich erkenne Markenklamotten. Außerdem fährst du einen sauteuren Flitzer. Welcher Kerl unter dreißig kann sich so etwas leisten? Entweder man ist selbst reich geworden oder man wurde so geboren. Du erweckst eher den Eindruck eines faulen Sohnes.“
Alles, was sie aus seinem Erscheinungsbild schlussfolgerte, klang logisch. Das Altersargument interessierte ihn näher. „Du denkst, ich bin noch nicht dreißig?“
„Du siehst jung aus“, schmeichelte sie ihm, „Täusche ich mich denn?“
„Neunundzwanzig, gut geschätzt! Im Oktober feiere ich meinen runden Geburtstag“, lobte er sie schmunzelnd, ließ sie jedoch dann einfach so stehen und stieg in seinen Wagen.
„Ich bin übrigens fünfundzwanzig, falls es dich interessiert.“ Mary ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder.
Charly wirkte überrascht. Die Blondine sah wesentlich älter aus. Er hatte bisher geglaubt, sie wäre schon in seinem Alter, wenn nicht sogar ein paar Jährchen darüber. Zu viel Make-up konnte Frauen täuschend umgestalten – zum Negativen.
Nachdem sich beide angeschnallt hatten, ließ er den Motor an und der Wagen beschleunigte. Mary verkrampfte sich im edlen Ledersitz, während aus dem Radio ununterbrochen Weihnachtshits tönten.
„Äh, das ist ein Ortsgebiet. Hier gilt eine 50-km/h-Beschränkung“, erinnerte sie ihn so laut, wie ihre ängstliche Stimme es zuließ. Am liebsten hätte sie sich im Sitz festgekrallt, aber sie fürchtete, ihre perfekt gefeilten, langen, lackierten Nägel abzubrechen. Wenn sie schon noch ein paar Tage weiterleben musste, dann wenigstens mit hübschen Fingern. Außerdem wollte sie keinesfalls in einen Autounfall verwickelt werden. In einem Wrack zu sterben oder womöglich darin zu verbrennen, musste wohl zu den grausamsten Todesarten überhaupt zählen.
„Angst?“ Er drehte den Kopf in ihre Richtung und grinste diabolisch.
„Kannst du bitte auf die Straße schauen? Die Sicht ist bei diesem Schneetreiben ohnehin schlecht genug!“, flehte Mary blass. Ihre Stimme piepste panisch.
„Na, dann will ich deinen neu gewonnen Lebenswillen nicht gleich zerstören“, sagte Charly ruhig und drosselte das Tempo.
Mary bedankte sich mit geschlossenen Augen und entspannte sich allmählich wieder. Sie wollte sterben, aber nicht jetzt und schon gar nicht so: eingeklemmt in einem Wagen, der von der Fahrbahn abgekommen, gegen einen Baum geprallt war und eventuell noch Feuer fing. Qualvoll enden wollte sie keinesfalls, doch Charlys Messer-Befürchtung war eine Überlegung wert. Passend zu ihren Gedanken informierte eine männliche Radiostimme gerade, dass nur fünfzehn Minuten Bewegung pro Tag das Leben um drei Jahre verlängern konnten. Zum Glück verabscheute sie Sport!
Eine Weile fuhren sie schweigsam nebeneinander sitzend dahin, bis die Blondine die Stille nicht mehr länger ertrug. „Lass‘ uns ein Spielchen spielen“, schlug sie vor.
Charlys Augenbrauen schnellten entsetzt nach oben, aber er heftete seinen Blick weiterhin starr auf die verschneite Straße. „Bist du Kindergärtnerin oder Volksschullehrerin?“
„Weder noch. Ich arbeite im Cateringservice meines Onkels. Dort bin ich für die Desserts zuständig. Kreativität nützt nicht nur beim Kinderbespaßen, sondern auch beim Torten backen.“
Das bezweifelte Charly aufgrund ihrer üppigen Figur kaum, dennoch lehnte er ab.
„Ok, dann sprechen wir über deine Ex. Wenn dir das lieber ist, gerne. Reden musst du mit mir. Ich hasse Stille! Barbara ist doch deine Ex? Die Beziehung ist gescheitert, oder?“
„Müssen tu ich überhaupt nichts!“, stellte er vehement klar, „Du sitzt in meinem Auto. Ich kann dich jederzeit irgendwo absetzen.“
„Oh, das wagst du nicht! Schließlich willst du nicht dafür verantwortlich sein, dass sich eine junge Frau am Heiligabend in einem Wald mit Hilfe einer Strumpfhose oder eines BHs an einem massiven Ast erhängt. Darauf würde sich die Presse stürzen: Weihnachtsdrama im winterlichen Märchenwald! Tragische Schlagzeile, hm? Und wer wäre mitverantwortlich?“
„Das ist Erpressung! Ich halte fest, dass die Waffen einer Frau doch nicht nur ihre wohlgeformten Brüste sind. Manche sind äußerst kriminell veranlagt und bereiten einem ein schlechtes Gewissen.“
„Tja, Pech für dich!“, zitierte sie seine Worte von vorhin.
„Na, gut! Der Klügere gibt nach“, zog er den Sieg doch noch auf seine Seite, „Wie lauten die Regeln? Ich seh, ich seh, was du nicht siehst ist für eine Autofahrt ebenso ungeeignet wie Es fliegt, es fliegt.“
„Ich finde, wir sollten uns besser kennen lernen. Wie willst du deiner Familie erklären, dass du auf einer Brücke eine wildfremde Todesmutige getroffen und sie kurzentschlossen eingeladen hast, die Weihnachtsfeiertage mit euch zu verbringen? Wir müssen mehr über uns wissen – die kleinen Details, die gute Freunde eben voneinander kennen.“
Das klang tatsächlich plausibel.
„Stimmt, man zieht nie unvorbereitet in den Krieg“, gab er zu, „Leg‘ los, meinetwegen. Was interessiert dich an mir?“
Widerwillig kapitulierte er. Hatte er denn eine andere Wahl?
„Was ist deine schönste Kindheitserinnerung?“
Verwirrt legte Charly kurz seine Stirn in Falten. Er hatte eigentlich gedacht, sie wollte seine Lieblingsfarbe, -speise wissen oder herausfinden, welchen Musikgeschmack er hatte, stattdessen stellte Mary ihm eine derart persönliche Frage. Sollte er ehrlich sein und ihr sein Herz und seine Seele öffnen oder unnahbar bleiben? Immerhin kannte er die Frau neben sich überhaupt nicht. Nachdenklich konzentrierte er sich auf die winterliche Straße und umklammerte das Lenkrad fester.
„Ich habe Schuhe mit Absätzen schon früh geliebt. Mama auch, also bin ich als Zwerg, der kaum allein anständig laufen konnte, schon immer mit ihren durchs Haus gestapft. Meine winzigen Füßchen steckten in übergroßen Schuhe, aber mir war egal, dass kein einziges Paar passte. Als sie…“ Mary schluckte und räusperte sich, „…nicht mehr da war, durfte Papa zwar keinen einzigen Schuh wegwerfen, obwohl ich sie nie wieder angefasst habe. Heute lagern sie irgendwo am Dachboden.“
Ihre Offenheit brach das Eis zwischen den beiden Unbekannten.
Charly erkundigte sich: „Jede Frage, die ich stelle, muss ich auch selbst beantworten?“ Das wäre ein fairer Deal.