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Was passiert, wenn die Braut die Hochzeit während der Zeremonie platzen lässt? Sie – Bettina – begibt sich trotzdem auf Hochzeitsreise: gemeinsam mit ihrem Halbbruder, den sie kaum kennt, und ihrer wortgewandten Oma, die sie alle drei in mehr als eine peinliche Situation führt. In Venedig trifft das ungleiche Trio auf einen chaotischen Gastgeber, Omas geheimnisvolle Vergangenheit und den attraktiven Glasbläser Mattia. Bettina muss sich fragen, wie man Entscheidungen trifft. Mit Herz oder Kopf? Aus Leidenschaft oder Pflichtgefühl?
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
PROLOG: Bettina
KAPITEL 1: Bettina
KAPITEL 2: Bettina
KAPITEL 3: Oliver
KAPITEL 4: Bettina
KAPITEL 5: Marianne
KAPITEL 6: Bettina
KAPITEL 7: Oliver
KAPITEL 8: Marianne
KAPITEL 9: Bettina
KAPITEL 10: Bettina
KAPITEL 11: Bettina
KAPITEL 12: Bettina
KAPITEL 13: Marianne
KAPITEL 14: Bettina
KAPITEL 15: Oliver
KAPITEL 16: Bettina
KAPITEL 17: Bettina
KAPITEL 18: Bettina
KAPITEL 19: Bettina
KAPITEL 20: Marianne
KAPITEL 21: Bettina
KAPITEL 22: Oliver
KAPITEL 23: Bettina
KAPITEL 24: Bettina
KAPITEL 25: Oliver
KAPITEL 26: Bettina
KAPITEL 27: Bettina
KAPITEL 28: Oliver
KAPITEL 29: Bettina
KAPITEL 30: Bettina
KAPITEL 31: Marianne
KAPITEL 32: Bettina
KAPITEL 33: Oliver
Impressum
Für alle Großeltern, die aktiv am Leben ihrer Enkel*innen teilhaben, und alle Enkel*innen, die das zu schätzen wissen!
Für eine Oma, mit der mir leider viel zu wenig Zeit blieb!
Für eine Uroma, für die dasselbe gilt!
Für einen Opa, den ich ganz schrecklich vermisse!
Mit spätestens dreißig Jahren muss eine Frau verheiratet sein! Das sage nicht ich, sondern das behauptet meine Mutter. Seit eineinhalb Jahren bin ich verlobt, seit dem dreizehnten Dezember dreißig. Mit meiner Hochzeit im Mai sollte ich die Kurve – sehr zur Freude meiner Mutter – noch rechtzeitig kratzen. Endlich! Von mir aus hätte ich schon früher heiraten können, aber eine große Hochzeit benötigt eben viel Vorlaufzeit und Vorbereitung. Schließlich geht nicht irgendwer den ewigen Bund fürs Leben ein, sondern es verbinden sich zwei bedeutende Salzburger Familien. Blablaba …
Meine Mutter legt auf all das Tamtam und schicken Schnickschnack wert. Mir ist das nicht wichtig, aber ich war auch nie das typische Mädchen. Ein Mädchen, das sich mit Puppen spielerisch auf das Mamasein vorbereitet. Ein Mädchen, das eine zauberhaft bekleidete Barbie in einer märchenhaften Zeremonie ihrem Ken ewige Treue schwören lässt. Ein Mädchen, das sich ihre eigene Hochzeit in den schillerndsten Farben ausmalt.
All das war ich nie. Ich war das Mädchen, das ihren Papa in die Tischlerei begleitet und ihm begeistert zugesehen hat, wie er mit Holz hantiert. Sobald ich alt genug war, durfte ich selbst „basteln“, wie Papa meine Arbeiten, meine Leidenschaft bis heute nennt. Klar, wir stellen Möbelstücke, Fensterrahmen und Küchen her, aber ich liebe es, mich dabei kreativ austoben zu können. Holz bietet so unendlich viele Möglichkeiten, etwas Großartiges zu erschaffen!
Eine großartige Zukunft sollte auch David und mir bevorstehen. Wir waren das ideale Paar. Nach zwölf gemeinsamen Jahren müsste man doch annehmen, dass es passt. Dass man endlich den nächsten Schritt wagen kann, oder?
Tja, es kommt eben oft anders, als man denkt.
Vielleicht liegt es wirklich daran, dass ich nicht gerne koche. Ich esse lieber und entwerfe (ausgefallene!) Küchen, als selbst stundenlang in einer zu stehen. Meine Mutter versteht das nicht. Sie ist felsenfest davon überzeugt, dass die Kochkünste einer Frau sie erst attraktiv machen und einen Mann dauerhaft an sie binden. Gute Köchinnen kriegen einen Ehemann ab, schlechte bleiben Single. Womöglich ist meine Ehe tatsächlich daran gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hat.
Mein Name ist Bettina Seller und ich bin eine unbegabte, lustlose Köchin. Noch bin ich dreißig Jahre alt, quasi im spätberufenen Heiratsalter. Ich habe Schande über meine Familie gebracht, genau genommen hauptsächlich über meine Mutter, die immer und überall auf ihren makellosen Ruf bedacht ist.
Denn ich bin die Braut, die nicht heiraten wollte.
Ich hätte nie gedacht, dass eine Hochzeit einem so viel abverlangte, so viel Zeit, Geld und Nerven kostete. Es war nicht damit getan, dass ich ein Brautkleid gefunden hatte oder wir uns für eine Location und die Musikauswahl entschieden hatten. Blumenschmuck, Hochzeitstorte, Tischkarten, Einladungen, Menü (für normale Menschen und jene mit Sonderwünschen, also Vegetarier, Veganer, Paleo-Verfechter, Glutenun(v)erträgliche, Zuckermeider, Kohlenhydratehasser, …). Endlos lang könnte ich diese Liste fortsetzen.
Morgen war dieser Spuk endlich vorbei!
Langsam machte sich in mir Nervosität bemerkbar. Lange Zeit war ich die Gelassenheit in Person geblieben, aber jetzt … Huch! Warum, fragte ich mich. Was würde morgen anders sein als heute? David und ich kannten uns schon ewig. Morgen um diese Zeit würden wir – obwohl Ehemann und Ehefrau – immer noch dieselben sein: David und Bettina. Mein Nachname änderte sich zu Hirnsberger. Das war der einzige Unterschied!
Ganz ruhig, Bettina, sagte ich mir mehrmals im Stillen, Kein Grund zur Panik.
Dass meine Mutter rastlos durch das Hotelzimmer hetzte, war Gift für meine angespannten Nerven. Plötzlich stoppte sie vor dem Bett mit der geblümten Bettwäsche, auf dem ich saß und meine langen Beine zum Schneidersitz angezogen hatte, stemmte die Hände in die Hüften und schaute mich finster an. Ahnungslos zog ich eine Augenbraue nach oben und setzte eine unschuldige Miene auf. Doch das hatte schon früher nicht funktioniert, als ich noch klein war. Also … als ich noch weit von meinen 1,80 Metern entfernt war.
„Hm?“, machte ich.
Dani, die auf dem roten Sofa in der Ecke hockte, die geschwollenen, schweren Beine auf ein Kissen am Tisch vor ihr gelegt, strich über ihren riesigen Bauch und kicherte.
„Wie kannst du mir das antun?! Das ist eine Katastrophe!“, jammerte meine Mutter mit anstrengend schriller Stimme, die stets ein paar Oktaven höher kletterte, wenn sie aufgebracht war. So wie jetzt. „Warum hast du diesen Kerl eingeladen?“
Natürlich wusste ich genau, von wem sie sprach. Ich genoss es aber, sie zu ärgern. Daher antwortete ich: „Wen meinst du? Ich habe viele Kerle eingeladen.“
Dani presste sich eine Hand auf den Mund, um ihr Kichern zu ersticken, was nur notdürftig gelang.
„Spiel‘ nicht die Dumme, Bettina!“ Der kleine, drahtige Körper meiner Mutter bebte vor Wut und ihr roter Pagenkopf wippte wild, als sie mit dem Zeigefinger drohend durch die Luft fuchtelte. „Das wird in einem Skandal münden! Was sollen die Leute denken, wenn sie erfahren, wer … wer … er ist?!“
Sie sprach dieses eine Wort voller Abscheu aus, als würde es sich bei ihm um eine ansteckende Geschlechtskrankheit handeln. Bevor mir meine Mutter die lange und sorgfältig vorbereitete Hochzeit versaute, weil sie am Abend zuvor an einem Herzinfarkt starb, erbarmte ich mich.
„Mama, kaum jemand weiß, wer Oliver ist. Und die, die es wissen, werden es garantiert nicht verraten.“
Sie legte ihren Kopf schief und betrachtete mich argwöhnisch. „Ich traue ihm nicht. Wenn er …“
„Oliver wird nichts sagen!“, schnitt ich ihr das Wort ab, „Vertraue wenigstens mir!“
Sie presste ihre knallroten Lippen fest aufeinander, sodass nur ein hauchdünner Strich übrig blieb. Sie glaubte mir nicht, sagte aber nichts weiter dazu.
Es war heutzutage nicht mehr chic genug, einfach am örtlichen Standesamt zu heiraten. Schon zu viele Paare gingen den Bund fürs Leben im Schloss Mirabell ein, fand meine Mutter. Wenn sich zwei bedeutende Salzburger Unternehmerfamilien auf ewig verbanden, musste das auf standesgemäße, das hieß entsprechend besondere Weise geschehen: unter freiem Himmel am Ufer des Fuschlsees. Das hässliche weiße Regenzelt würden wir nicht brauchen, falls wir uns auf die hervorragende Wetterprognose verlassen konnten.
Um uns morgen Früh den Stress der Anfahrt zu ersparen, hatten sich die Familien und engen Freunde von Bräutigam und Braut bereits heute im Fünf-Sterne-Hotel, zu dem der entsprechende Uferabschnitt gehörte, einquartiert.
Ich benötigte die Anwesenheit all der Geschäftskontakte und Verwandten, die noch zur Trauung eintreffen würden, nicht. Eine intime Zeremonie hätte ich bevorzugt, aber meine Mutter und mein Verlobter standen zu gerne im Zentrum des Interesses und sonnten sich gierig in der Aufmerksamkeit, wie sich ein leerer Tank nach Benzin sehnte. Eine Hochzeit in malerischer landschaftlicher Kulisse war mein Wunsch. Diese Location war unser Kompromiss.
Nicht falsch verstehen! Ich freute mich auf meinen großen Tag, auf meinen Prinzessinnenmoment. Wenn es erforderlich war, warf ich mich gern in feminine Kleider und schlüpfte in High Heels. Die meiste Zeit über machte ich mir allerdings wenig Gedanken über meine Frisur und fühlte mich in alten T-Shirts und ausgewaschenen Jeans am wohlsten – so wie jetzt in einer hellen, durchlöcherten Röhrenjeans und einer weiten weißen Oversize-Bluse, die Ärmel über die Ellbogen hochgekrempelt. Morgen hingegen würde ich in einer traumhaften Robe vorbei an dutzenden Sesselreihen auf meinen Verlobten zu schreiten, begleitet von hingerissenen und vielleicht auch ein paar neidischen Ahs und Ohs. Diese Vorstellung versetzte mich in Vorfreude.
Meine Mutter und ich fochten unseren Kampf weiterhin mit Blicken aus. Wer sich zuerst abwandte, hatte verloren. Niemand siegte, denn Dani machte sich ächzend und stöhnend bemerkbar, als sie sich mühsam in eine halbwegs aufrechte Position wuchtete.
„Boah, ich bete, dass die nächsten drei Wochen wie im Flug vergehen.“ Zärtlich lächelnd strich sie über ihren kugelrunden Bauch, der sogar im Sitzen ein immenses Ausmaß hatte. „Und ständig diese Gelüste. Wisst ihr, was jetzt echt lecker wäre? Vanilleeis mit klein geschnittenen Essiggurken drin.“
Ich verzog angewidert das Gesicht, was ihr Lächeln breiter werden ließ. „Hab‘ ich schon probiert. Schmeckt super! Schokoeis passt weniger. Denkt ihr, dass der Zimmerservice mir das liefert?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Das ist ein Luxushotel. Der Gast ist König, oder? Sie schaffen es, für meine Hochzeit vier verschiedene Menüs zu kochen. Da muss eine Kleinigkeit wie Eis mit Gurken machbar sein.“
Meine Mutter musterte mich tadelnd und schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich Dani zu und meinte: „Daniela, ich kenne das. Die letzten paar Wochen sind schrecklich.“
Ach, meine allwissende Mutter!
Dani, meine beste Freundin seit der Volksschule, verzog die Lippen. „Na ja, schrecklicher als die Geburt? Ich weiß nicht. So scharf darauf bin ich auch nicht unbedingt.“
„Wird sich aber nicht vermeiden lassen, hm?“ Was sollte ich sonst antworten? Dieses Kind war in sie reingekommen, irgendwie musste es auch raus, oder?!
Jetzt war es Dani, die mir einen vernichtenden Blick zuwarf. Bevor meine Mutter auf blöde Ideen kam und mir riet, dass ich alles daran setzen sollte, gleich in der Hochzeitsnacht schwanger zu werden, musste ich das Thema wechseln. Aber auf meine Beste war Verlass.
„Für diesen Satz hasse ich dich, Bettina. Aber ich beneide dich auch um deine Bombenfigur. Ich bin unförmig, schaue aus wie ein viel zu groß geratener Kürbis und fühle mich tonnenschwer, egal ob ich sitze, liege, gehe oder stehe. Du wirst morgen toll aussehen, aber ich neben dir wie ein gestrandeter Wal, den man in roten Stoff gewickelt hat.“
Ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Schwachsinn! Du strahlst, Dani! Das ist dein Mami-Glow! Daneben können alle anderen, ich inklusive, einpacken.“
„Pfffff macht das Nilpferd“, konterte sie wenig überzeugt.
„Mir ist das liebenswerte Nilpferd an meiner Seite tausendmal lieber als die falsche Schlange.“
„Bettina!“, ermahnte mich meine Mutter. Da war er wieder, der fuchtelnde Zeigefinger!
Die falsche Schlange hatte einen Namen: Valentina, meine Cousine. Leider hatte sie auch eine Funktion: Brautjungfer. Wobei ich stark bezweifelte, dass die Bezeichnung Jungfer mit ihren dreiundzwanzig Jahren noch zutraf. Wir mochten uns schon als Kinder nicht und das hatte sich bis heute nicht geändert. Gerne hätte ich auf sie verzichtet, aber meine Trauzeugin benötigte aufgrund ihrer Schwangerschaft Unterstützung. Meine Mutter bestand darauf, dass ich ein Familienmitglied in die Vorbereitungen und Planungen einbezog. Viele Leute kamen dafür nicht in Frage, also fiel die Wahl notgedrungen auf Valentina, das Biest. Ihre Mutter, meine Tante Annika, wäre mir bei Weitem lieber gewesen, aber das wollte wiederum meine Mutter nicht. Eine Brautjungfer kann nicht fünfundfünfzig Jahre alt sein, lautete ihr Urteil über ihre kleine Schwester.
Danis Strahlen kehrte zurück. Sie freute sich auf ihr Baby, aber sie haderte auch mit den Schattenseiten der Schwangerschaft. Wer konnte es ihr verübeln? Wahrscheinlich würde es mir irgendwann in den nächsten Jahren genauso ergehen. Neun Monate waren eine verdammt lange Wartezeit!
„Gibt es noch irgendetwas Wichtiges zu besprechen?“, erkundigte sie sich, „Ansonsten würde ich gern zurück auf mein Zimmer watscheln. Ich sehne mich nach Michaels magischen Händen.“
Meine Mutter rollte mit den Augen, schwieg aber. Für sie gab es zahlreiche Tabu-Themen. Was Michael und Dani in ihrem Schlafzimmer anstellten, gehörte definitiv dazu. Ich wusste, dass es sich um eine harmlose Nacken-, Schulter- und Rückenmassage handelte, die sich Dani wünschte, aber selbst das wäre meiner prüden Mutter schon zu obszön, um sich darüber zu unterhalten.
„Alles geklärt. Oder, Mama?“
Sie nickte steif. „Ein, zwei Dinge noch, aber die können meine Tochter und ich alleine bereden.“
Ui, meine Tochter. So förmlich. Das konnte ja noch heiter werden!
Dani und ich sahen uns vielsagend an. Ich erhob mich und ging zu ihr, um meiner besten Freundin mit aktuell gut zwanzig Kilogramm mehr an Körpermasse auf die Beine zu helfen. Dankbar nahm sie meine Hand und ließ sich hochziehen.
„Vielleicht sollte ich mich bei Greenpeace bewerben. Erfahrung in Walrettung kann ich vorweisen“, neckte ich sie.
Grinsend schlug sie mir fest auf die Schulter. „Ich hoffe sehr, dass das ein ordentlicher blauer Fleck wird. Den hättest du verdient.“
Ich begleitete sie zu meiner Zimmertür, wo wir uns noch kurz flüsternd unterhielten.
„Ist es wirklich okay für dich, wenn ich jetzt gehe?“
„Klar“, beruhigte ich sie. „Genieße die Massage.“
„Schaffst du das allein mit Anna?“
„Sicher. Ich habe meine Mutter dreißig Jahre lang ertragen. Da kriege ich diesen einen Abend auch noch hin. Außerdem stelle ich sie morgen endlich zufrieden.“
Anna Seller hatte seit meiner Geburt darauf hingearbeitet, mich rechtzeitig vor den Alter zu bringen. Morgen hatte sie dieses langersehnte Ziel erreicht. Danach hatte sie bereits weitere Pläne. Sie erwartete Enkel: männliche Erben, keine weiblichen Enttäuschungen wie mich.
„Sei nicht so streng mit ihr. Anna meint es nur gut. Sie liebt dich, auf ihre ganz eigene Art eben“, verteidigte die werdende Mutter meine Mutter.
Im Grunde wusste ich, dass Dani Recht hatte. Meine Mutter liebte mich, ich sie ja auch, aber sie hatte eben eine spezielle Weise, das zu zeigen.
Wir umarmten uns kurz. Je runder sie wurde, traute ich mich nicht mehr, Dani allzu fest und allzu lange anzufassen.
„Schlaf‘ gut“, sagte ich.
Dani lächelte schief und deutete anklagend auf ihren Bauch. „Glaub mir, das würde ich sehr, sehr gerne. Das hängt aber von meinem Mitbewohner beziehungsweise meiner Mitbewohnerin ab. Noch nicht einmal geboren, doch schon jetzt bestimmt dieses Kind mein Leben. Und du, schlaf auch gut.“
„Ich werde mich bemühen.“
„Eine Schwangerschaft kann dir den Schlaf rauben, der Nervosität sollte das nicht gelingen.“ Sie zwinkerte mir zu.
Ich schaute meiner besten Freundin hinterher, wie sie – einer Ente ähnlich – den Gang entlang ging.
Kaum hatte ich die Tür geschlossen, fiel meine Mutter über mich her: „Iss heute Abend ja nichts mehr. Zu spätes Essen schlägt sich sofort auf den Hüften nieder. Dein Kleid sitzt wie angegossen. Denk daran, du kannst dir kein Gramm zu viel erlauben!“
Selbstverständlich, was sollten denn die Leute denken?! Schwanger vor der Hochzeit? Deswegen heirateten sie also! Welch‘ lotterhaftes Paar!
Dieser Rat war vollkommen unnötig. Mein Gewicht hatte mir noch nie Probleme bereitet. Ich war eine jener wenigen Frauen, die von den meisten Geschlechtsgenossinnen gehasst wurden. Ich konnte essen, was ich wollte, nahm aber kaum zu. Sport betrieb ich selten und nicht allzu exzessiv. Mein Stoffwechsel funktionierte ausgezeichnet und – wenn ich meine dürre Mutter betrachtete – war ich mit den besten Genen gesegnet. Ich könnte im Schlaraffenland die ganze Nacht über hemmungslos futtern und würde morgen dennoch mühelos, einer Elfe gleich in mein Hochzeitskleid passen.
„Ja, Mama“, sagte ich dennoch artig. Wenn man sie loswerden wollte, durfte man ihr nicht widersprechen.
Sie kam auf mich zu, nahm meine Hände und musterte sie prüfend. Lautstark sog sie Luft ein, ehe sie meinte: „Daran muss morgen noch intensiv gearbeitet werden. Warum hast du dich noch nicht darum gekümmert? Ich habe dir so oft eine Maniküre empfohlen. Ob man das so übereilt schafft …“
Sie ließ meine Hände los und ich sie beschämt in den hinteren Jeanstaschen verschwinden. Wenigstens war mein Po rund und knackig, wenn schon meine Hände nicht vorzeigbar waren. Ich war Tischlerin. Was erwartete sie? Die Haut war rau und rissig, meine Nägel waren praktisch kurz geschnitten und nur ganz, ganz selten lackiert. Ich war eine Handwerkerin, kein modebewusstes Hausmütterchen. Mich interessierte, ob ein Stück Holz für eine Tür, einen Fensterrahmen oder einen Stuhl geeignet war, nicht ob die Farbe des Nagellacks zu meinen Schuhen passte.
„Wenn David meine Hände stören würden, hätte er mich längst verlassen. Immerhin hatte er zwölf Jahre dafür Zeit“, stellte ich fest.
Sie strich mir sanft über die Wange, eine unnatürlich liebevolle Geste für meine Mutter, und musste sich dabei ordentlich strecken. Was meine Größe betraf, hatten sich die Gene meines Großvaters väterlicherseits durchgesetzt. Meine Mutter war nicht einmal 1,60 Meter groß, mein Vater auch kein Riese. Ich überragte beide deutlich.
„Stimmt. Es tut mir … ach, egal. Ich will, dass deine Hochzeit perfekt wird.“
„Ich doch auch, aber an meinen hässlichen Fingern wird sich niemand stören.“
Sie nickte halbherzig und zog ihre Hand zurück. Dabei fiel ihr Blick auf ihren goldenen Ehering. Oh, je! Ich ahnte, was jetzt folgen würde.
„Wo ist er?“
Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen. „Oliver?“
„Was? Wer? Nein! Der Ring!“
„Ach, der Ring.“ Mehr sagte ich nicht dazu.
Mein Schweigen brachte sie auf die Palme. „Treib es nicht zu weit, Bettina! Wieso trägst du deinen Verlobungsring nicht?!“
„Aus demselben Grund, aus dem ich ihn fast nie trage.“
In Österreich war es üblich, sich schon bei der Verlobung die schlichten Eheringe zu schenken. Die trugen Braut und Bräutigam zunächst an der linken Hand, ab dem Zeitpunkt der Hochzeit an der rechten. So hätte auch ich mir das gewünscht. Doch meinem David reichte das nicht aus. Er wollte mehr, das volle Programm. Er hatte mir einen riesigen, prachtvollen Klunker an den Finger gesteckt. Ich konnte mir nie merken, wie viel Karat das schwere Ding hatte, obwohl er nicht müde wurde, es stolz zu betonen. Anfangs war er enttäuscht gewesen, weil ich mich geweigert hatte, das Schmuckstück zu tragen. Inzwischen akzeptierte er meine Entscheidung. Ich tat es ja nicht, weil ich ihn nicht liebte, sondern weil mir der Ring lästig war und mich bei meiner Arbeit störte. Außerdem hatte ich Angst, ihn kaputt zu machen. In meiner Schmuckschatulle war das teure Stück bestens und vor allem sicher aufgehoben.
Meine Mutter sah das anders.
Sie seufzte. „Trage ihn bitte morgen. Nichts ist peinlicher als eine Braut ohne Ring. Was sollen die Leute denken?“
Ich nickte brav. „Wird erledigt.“
Sie strich mir flüchtig über den Oberarm und wünschte mir eine gute Nacht. Sie hatte die Türklinke schon in der Hand, als sie sich noch einmal umdrehte und mich erinnerte: „Mach‘ mir keine Schande, Bettina. Benimm‘ dich und verbringe diese letzte Nacht allein.“
Für sie war es unwichtig, dass David und ich uns seit etwa acht Jahren eine gemeinsame Wohnung (inklusive Schlafzimmer) teilten. In der Nacht vor der Hochzeit nächtigten Braut und Bräutigam getrennt voneinander. Das entsprach dem konservativen Weltbild meiner Mutter.
„Morgen werde ich deiner Meinung nach also entjungfert. Hast du ein paar Tipps parat?“
Meine Mutter war nie darum verlegen, ungefragt Ratschläge zu erteilen. Es sei denn …
„Pfui, Bettina!“ Sie schüttelte sich. „Das ist ein widerliches, abstoßendes Thema. Darüber sprechen Damen nicht! Merk‘ dir das!“
Ich grinste, weil sie voller Ekel die Flucht ergriff. Endlich hatte ich meine Ruhe.
Ich hörte selten auf meine Mutter.
Die Zähne waren geputzt, ich lag im Pyjama im Bett. Statt endlich einzuschlafen, wälzte ich mich unruhig hin und her. Weit kam ich nicht, denn es handelte sich um ein Einzelbett. Ein klein wenig mehr als ein mickriger Meter trennte die Bettkante von der Wand auf der anderen Seite.
Wahrscheinlich schlief Dani längst – trotz lästiger Begleiterscheinungen einer Schwangerschaft – besser und tiefer als ich, denn ich schlief gar nicht. Warum breitete sich unnötige Aufregung in mir aus? Ich würde morgen zum Altar schreiten, also vor den Standesbeamten treten, mir stand kein Gang zur Guillotine bevor! Man würde mich nicht köpfen, sondern mir einen Ring an den Finger stecken. Was daran machte mich so unfassbar nervös?!
Genervt seufzend setzte ich mich auf, schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle. Um diese Zeit, nach dreiundzwanzig Uhr, wurde nirgends etwas geboten, das es wert wäre, dranzubleiben.
Was mich lockte, befand sich zwei Stockwerke über mir.
Vermutlich war es der besondere Reiz des Verbotenen, der mich anzog. Mein Sexualleben gestaltete sich weder aufregend noch prickelnd. Dani berichtete mir regelmäßig von Wunderdingen aus ihrem Schlafzimmer (oder von anderen … ahm … Schauplätzen), die ich nicht kannte. Die ich aber sehr gern kennenlernen wollte! War ihr Michael vielleicht einfach der bessere Liebhaber als mein David? Na gut, eventuell lag es auch ein bisschen an mir, was bei meiner außerordentlich prüden Mutter niemanden verwundern sollte. In ihren Augen war Geschlechtsverkehr ein notwendiges Übel, das eine Ehefrau gelegentlich über sich ergehen lassen musste, um schwanger zu werden und so den Fortbestand der Familie zu sichern. Diese Erziehung prägte einen. Lust, Leidenschaft, die Gier nach dem Körper des Partners und seinen Berührungen waren mir fremd. Hin und wieder schliefen David und ich miteinander, aber spektakulär war das nicht. Berauschend, erfüllend? Fehlanzeige. Leider.
Ich war der Meinung, dass das Liebesspiel keine lästige Pflicht sein sollte. Ich wollte endlich das erleben, wovon meine beste Freundin seit Jahren schwärmte. Daher beschloss ich, mein überschaubares, langweiliges Sexualleben zu ändern. Und ich wollte nicht auf die Hochzeitsnacht warten. Vermutlich würden wir morgen Abend ohnehin zu müde sein, um überhaupt an Sex zu denken. Wann also, wenn nicht jetzt? Es war die ideale Gelegenheit. Was wäre spontaner und erotischer als unangekündigt in seinem Zimmer aufzutauchen?
„David und ich werden gleich den besten Sex unseres Lebens haben“, sprach ich mir selbst Mut zu, als ich voller Tatendrang den Fernseher ausschaltete und das Bett verließ. Das Leben war wie ein Kebab. Erst die Würze machte es besonders gut. Deshalb wollte ich endlich für die nötige Schärfe sorgen.
Ein Blick in den Spiegel, vor dem ich stand, ernüchterte mich. So würde das definitiv nicht klappen. Mich schaute eine Frau in einer bequemen, weit geschnittenen schwarzen Pyjamahose mit weißen Pünktchen darauf, dunklem Tanktop und mit zerzausten blonden Haaren an.
Ich grinste, als mir eine Idee kam. Ich ging auf meine halb gefüllte Reisetasche in der Ecke neben dem Sofa zu, hielt jedoch nach ein paar Schritten inne, weil es mir siedend heiß einfiel. Mein Lächeln erstarb.
Der Typ Frau, der sich in aufreizende Dessous zwängte, war ich nicht. Praktische, aber dennoch hübsche Unterwäsche war mir lieber als die verführerische, kneifende, einengende und pushende Variante. Nur ein einziges heißes Unterwäscheset hatte ich mit dabei. Das wollte ich mir für die Hochzeitsnacht aufsparen. Wer wusste schon, ob mir nicht morgen erneut eine berauschende Nacht bevorstand?
Dani hatte mich vor einigen Wochen dazu genötigt, mehr von dieser Sorte für unsere Flitterwochen in Venedig zu kaufen. Dort sollte die sündige Wäsche zum Einsatz kommen. Tja, jetzt lagen all diese sexy Teile verstaut in meinem Koffer, den ich bereits für die Hochzeitsreise gepackt hatte, in unserer Salzburger Wohnung.
Sollte diese Nacht des Vergnügens am fehlenden Outfit scheitern? Wirklich?!
Fehlend. Das war das richtige Stichwort.
Ich grinste breit, hielt diesen Einfall für genial!
Ich schlüpfte aus Hose und Shirt und ließ die Kleidungsstücke genau dort am Boden liegen, wo ich mich ihrer entledigt hatte. Dann ging ich ins Bad und band meine brustlangen Haare zu einem unordentlichen Knoten im Nacken. Perfekt! Nein, noch nicht ganz. Mein Blick fiel auf den weißen Hotelbademantel, der an der Tür hing.
Bisher hatte ich dieses flauschige Stück Stoff bewusst ignoriert, weil ich mich nach dem Duschen lieber in ein Handtuch wickelte, doch nun war er der ideale Begleiter für mein Vorhaben. Die Verpackung des Geschenks, quasi. Und dieses Geschenk wartete sehnsüchtig darauf, ausgepackt und verwendet zu werden.
Nur in den Bademantel gehüllt, der bei meiner stattlichen Größe sehr, sehr, sehr knapp unter den Pobacken endete, machte ich mich auf den Weg zur Tür. Als ich mit meiner ebenfalls nackten Hand nach der Klinke griff, kam mir eine weitere Idee. Eine ausgezeichnete Idee sogar!
Hin und wieder konnte es wider Erwarten doch ganz nützlich sein, die Ratschläge meiner Mutter zu befolgen. Voller Vorfreude streifte ich meinen Verlobungsring über den Finger. Ein kühler Lufthauch, den ich an meinem Hintern spürte, beförderte mich zurück in die Gegenwart. Ups, es war definitiv klüger, mich erst wieder in Davids Zimmer zu bücken. Diese weiße flauschige Hülle war wirklich kurz. Ich klappte die Schmuckschatulle zu und verstaute sie wieder in der Reisetasche.
Jetzt hinderte mich nichts mehr daran, mein Zimmer zu verlassen. Ich war bereit, mehr als bereit sogar.
Ich streckte den Kopf aus der Tür und lauschte. Absolute Stille. Barfuß trat ich in den Flur und schloss leise die Tür hinter mir. Zwei Stockwerke, die ich ungesehen überwinden musste, trennten mich von einer atem(be)raubenden, unvergesslichen Nacht. Der weiche rote Teppich erstickte meine Schritte. An jeder Ecke presste ich mich gegen die helle Wand und lugte um die Kurve. Ich fühlte mich wie ein weiblicher James Bond auf geheimer Verführungsmission. Ein grandioses Gefühl!
Meinen Körper an die Wand gedrückt, stand ich ungeduldig da. Ein leerer Gang erwartete mich. Trotzdem zögerte ich. Lift oder Treppenhaus? Ein Stockwerk zu überwinden, könnte ich im Aufzug riskieren, aber zwei? Wer befand sich bereits drin und wer würde eventuell einsteigen?
Was sollen die Leute denken?!, hörte ich die Stimme meiner Mutter.
Diesmal hatte sie ausnahmsweise Recht. So – barfuß und nur mit einem sehr knappen Bademantel bekleidet – wollte ich niemandem begegnen. Noch länger tatenlos hier rumzustehen, erhöhte allerdings auch die Gefahr, entdeckt zu werden.
Die meisten Menschen waren faul und nahmen den Aufzug. Oder? Ach, egal. Ich musste eine Entscheidung treffen und meine Wahl fiel auf das Treppenhaus. Noch einmal überzeugte ich mich davon, dass alles ruhig war, und hetzte dann auf leisen Sohlen los. Als ich die Tür zum Treppenhaus ohne einen Laut hinter mir schloss, traute ich mich, endlich tief durchzuatmen. Die erste Hürde hatte ich bravourös gemeistert.
Ich nahm zwei Stufen auf einmal, um schneller voranzukommen. Das war für meine langen Beine kein Problem, für meine Kondition schon. Ich keuchte wie eine Lungenkranke, der man das überlebenswichtige Beatmungsgerät entrissen hatte. Das kam mir so unfassbar laut vor. So, als würde eine Dampflokomotive durchs Stiegenhaus rattern.
Oben angekommen klammerte ich mich am Geländer fest und rang japsend nach Luft. Herrje, öfters joggen zu gehen, wäre gar keine so üble Idee!
Als sich meine Atmung einigermaßen normalisiert hatte, drückte ich die Tür zur Etage auf und sah mich zaghaft um. Nichts. Ich trat hinaus und schlich agentenhaft den leeren Flur entlang. Plötzlich gab der Lift einen leisen Ton von sich und die Türen glitten auf. Zum Wegrennen war es zu spät, als Versteck bot sich nichts – absolut nichts – an. Wie angewurzelt verweilte ich am Fleck und betete, dass niemand, den ich kannte, durch die mechanischen Pforten stieg.
Ein älteres Paar trat heraus und erstarrte: sie mit entsetztem, er mit amüsiertem Gesichtsausdruck. Wir standen uns gegenüber und sie musterten die junge Frau ohne Schuhe und im ultrakurzen Bademantel, also mich. Die Miene des Herrn erheiterte von Sekunde zu Sekunde mehr, während meine Wangen das Rot des Teppichs annahmen.
Peinlich, peinlicher, Bettina! Das konnte nur mir passieren!
Zumindest gab es eine positive Kleinigkeit, die diese Misere ein wenig erträglicher machte: Die beiden waren keine Hochzeitsgäste. Hier standen sich zum Glück drei Fremde gegenüber.
Mit demselben Geräusch, mit dem sie sich geöffnet hatten, schlossen sich die Lifttüren. Zeit für mich, aktiv zu werden.
„Guten Abend“, grüßte ich höflich lächelnd und schlenderte erhobenen Hauptes, aber mit brennenden Wangen an ihnen vorbei. Ich spürte ihre bohrenden Blicke in meinem Rücken, drehte mich aber nicht um, sondern beschleunigte meine Schritte. Gleichzeitig hoffte ich, dass der Bademantel beim Gehen nicht nach oben rutschte.
Ich hörte die Frau etwas sagen, konnte allerdings nicht verstehen, was. Der Tonfall klang nicht sehr freundlich. Dann vernahm ich noch ein Klatschen, eine Art Schlag, vermutlich eine Bestrafung für den lüsternen Blick des Herrn.
Entschuldigung, Herr Namenlos, leider zählt die Bekämpfung von häuslicher Gewalt nicht zu den Aufgaben einer Geheimagentin, sagte ich mir in Gedanken und schlich weiter.
Als ich vor Davids Zimmertür stand, fiel mir auf, dass mein Plan einen Haken hatte. Sie war abgesperrt. Natürlich war sie versperrt. Sollte ich klopfen? Schlief er schon oder wälzte er sich genauso rastlos hin und her wie ich vorhin?
Ohne Überraschungsmoment taugte mein Plan nichts. Klopfen kam daher nicht in Frage. Irgendwie musste ich auf andere Weise in dieses Zimmer gelangen. An diesem Hindernis sollte meine Verführungsmission nicht scheitern.
Fieberhaft suchte ich nach einer Lösung, als mich ein Räuspern neben mir erschrocken hochfahren ließ. Einen Aufschrei konnte ich gerade noch unterdrücken, denn der hätte die Überraschung zu Nichte gemacht.
Ach, manchmal hatte das Leben glückliche Fügungen parat.
„Oh, Sie sind das“, sagte der junge, dunkelhaarige, braun gebrannte Kerl in Lederhosen verblüfft, „Ich wollte Sie nicht erschrecken, tut mir Leid.“
„Sie schickt der Himmel“, flüsterte ich euphorisch. Es war der blutjunge Hotelangestellte, der eindeutig ein Auge auf mich geworfen hatte. Bei meiner Ankunft hatte er darauf bestanden, die überhaupt nicht schwere Reisetasche für mich auf mein Zimmer zu tragen.
Das Lächeln, das ohnehin immer auf seinen Lippen lag, wurde breiter. „Wirklich?“
„Ja, ahm …“ Ich suchte nach dem Namensschild auf seinem karierten Hemd. „Linus.“
„Sie haben sich ausgesperrt, oder? Sie haben sich verlaufen, denn Ihr Zimmer liegt im ersten Stock.“ Auch er sprach gedämpft.
Ich blinzelte verwirrt. „Was? Ah, nein. Ich …“
Ich will meinem Bald-Ehemann eine heiße, unvergessliche Nacht bescheren. Konnte, durfte ich das so formulieren?
„Ich bin echt froh, dass Sie das sind. Ich habe nämlich eine Verrückte erwartet. Betrunkene und Verrückte sind die schlimmsten Gäste.“
Ich runzelte die Stirn. Wovon sprach der Junge?
„Das Ehepaar Gernot aus Zimmer vierundachtzig war ziemlich aufgebracht. Na ja, sie deutlich mehr als er“, fuhr Linus redselig fort und ließ seinen Blick lächelnd über meinen spärlich bekleideten Körper schweifen, „Sie kamen mir entgegen und meinten, dass eine verwirrte, junge Frau ohne Schuhe, nur im Bademantel durch die Flure irrt.“
Linus hatte soeben die brennendste Frage meiner Mutter beantwortet. Das dachten die Leute. Man hielt mich für geisteskrank.
„Ich … ahm … also …“, stammelte ich unbeholfen. Wie sollte ich diesen – zugegeben – skurrilen Auftritt erklären?!
„Da drin wohnt der Kerl, den Sie morgen heiraten werden, hm?“ Linus nickte in Richtung Zimmertür.
Kluger Junge, ich nickte. Wieder schoss mir die Röte ins Gesicht. Ich war eindeutig die Tochter meiner Mutter. Dieses heikle, delikate Thema an- und auszusprechen, bereitete mir Unbehagen.
„Ich wollte die Hochzeitsnacht vorziehen. David weiß nichts davon. Darunter trage ich nicht sehr viel“, murmelte ich und deutete mit beiden Händen auf den weißen Stoff.
„Dachte ich mir“, entgegnete er breit grinsend.
„Linus, haben Sie eine Schlüsselkarte, die überall sperrt?“ Bitte, bitte, biiiiiitttteee!
Er zog eine schwarze Karte aus der Hemdtasche und wedelte damit verschmitzt lächelnd durch die Luft.
„Würden Sie mir damit die Tür öffnen? Bitte.“
„Ich würde Ihnen damit auch meine Tür öffnen, aber ja, wenn es diese sein soll, mache ich das natürlich. Das oberste Gebot in diesem Haus lautet: Tut alles, damit sich die Gäste bei uns wohlfühlen. Wenn ich dazu beitragen kann, helfe ich gerne. Das ist sozusagen meine Pflicht.“ Linus zwinkerte, steckte die Karte in den Schlitz und flüsterte: „Lassen Sie es krachen, Frau Seller. Wir haben dicke Wände. Aber verraten Sie dem Chef bloß nicht, dass ich das gesagt habe.“
Ich nickte ihm dankend zu, schlüpfte ins dunkle Zimmer und schloss leise die Tür hinter mir. Schwer atmend lehnte ich mich gegen das Holz und wartete, bis meine Wangen abkühlten. Dass mir morgen Früh dieser Spießrutenlauf erneut bevorstand, daran wollte ich im Moment gar nicht denken.
Vorsichtig und langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, tastete mich zaghaft voran. Es war finster im Zimmer, nur ganz vorne konnte ich ein wenig Licht erkennen. Und ich vernahm Geräusche. Das fiel mir erst jetzt auf, als ich mich beruhigt hatte.
Schätzungsweise waren alle Einzelzimmer im Hotel gleich aufgebaut und eingerichtet. Den schmalen Gang entlang, um die Ecke, dann sollte ich direkt vor Davids Bett stehen. Offenbar schlief er noch nicht oder er war bei laufendem Fernseher eingedöst.
Je näher ich dem Ende der Wand kam, die mir noch den Blick ins Schlafzimmer verwehrte, umso eindeutiger wurden die Laute. Erwachsenensender, so nannte meine Mutter solche Programme. Ein Hochgefühl durchströmte mich. Was David sich im Fernsehen ansah (oder auch nicht, sollte er wirklich daneben eingeschlafen sein), würde bald Realität werden – nur wusste er noch nichts davon. Welch‘ gelungene Überraschung!
Der Fernsehbildschirm war schwarz. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag in die Magengrube, vor allem, weil ich im spärlichen Licht der Nachttischlampe bemerkte, was sich am Bett abspielte. Das riss mir den Boden unter den Füßen weg.
Mein Verlobter lag am Rücken, meine Cousine saß auf ihm. Nein, sie saß nicht bloß auf ihm, sie ritt ihn. Eine Hand krallte David in ihren Hintern, mit der anderen knetete er ihre Brust. Valentina stützte sich auf seinem Bauch ab, mit dem freien Arm fuhr sie sich abwechselnd lasziv durch die fülligen Haare, die ihr wie ein blonder Schleier über die Schultern fielen, und wirbelte durch die Luft. So, als würde sie ein Lasso schwingen.
„Ja, ja, jaaaaaaa! Oh, jaaaaaaa! Oh, oh, gib’s mir, mein Hengst! Oh, ja! Besorg’s mir!“, feuerte sie meinen Verlobten an. Das nervtötende Piepsstimmchen von Valentina nahm zunehmend schrillere Töne an.
David gab in immer kürzeren Intervallen grunzende Laute von sich, die ich kannte. Er strengte sich an, um es meiner Cousine ordentlich zu besorgen. Er sollte es mir besorgen! Deswegen war ich gekommen. Stattdessen würden die zwei bald kommen.
Ich war kurz davor, auf das Bett zuzugehen, Valentina an ihren blonden Haaren zu packen und runter von meinem Verlobten zu reißen. Aber das tat ich nicht. Entsetzt verharrte ich im Schatten und schaute zu, wie meine seit Jahren stabile, heile Welt aus den Fugen geriet. Wie sie zerbrach, genauso wie mein Herz in diesem Augenblick.
Der Mann, den ich liebte, vergnügte sich wenige Stunden vor unserer Hochzeit mit der Frau, die ich am meisten verachtete. Konnte man Vertrauen auf schlimmere Weise missbrauchen? Wut, Trauer und Enttäuschung breiteten sich in mir aus. Dazu kamen Rachegelüste. Der Ring an meinem Finger fühlte sich unendlich schwer an. Im ersten Moment dachte ich daran, die Hochzeit abzusagen.
So leise, wie ich aufgetaucht war, zog ich mich zurück. Ich war überrascht, wie rational ich in dieser Situation denken konnte. Jetzt, am Rückweg auf mein Zimmer, war es mir völlig gleichgültig, ob ich jemandem begegnen würde oder nicht. Meine Gedanken kreisten darum, es den beiden heimzuzahlen. Valentina war eine hinterhältige Schlange, die meinen Verlobten in Versuchung geführt hatte, doch David war – offensichtlich sehr bereitwillig – auf sie hereingefallen. Das traf mich viel härter. Ich wollte ihn genauso verletzen, wie er mich verletzt hatte.
Sein öffentliches Ansehen war ihm wichtig. Ich sehnte mich danach, ihn vor allen zu demütigen. Das würde ihm mehr wehtun als alles andere.
Hier war ich unerwünscht. Das spürte ich vom ersten Augenblick an, auch wenn Bettina sich redlich bemühte, mir ein anderes Gefühl zu vermitteln. Ich war nicht willkommen, ein Fremdkörper, für manche sogar ein Eindringling. Sie war die einzige, die sich ehrlich über mein Erscheinen freute. Und Dani und ihr Mann Michael – die beiden hatten mich ebenfalls nett empfangen.
Dabei hatte ich mich wirklich gefreut, als Bettina vor ungefähr acht Monaten Kontakt zu mir aufgenommen hatte. Seither schrieben wir uns regelmäßig E-Mails und Nachrichten. Die Einladung zu ihrer Hochzeit kam dennoch überraschend. Heute wusste ich es besser. Bettina war ein herzlicher, harmoniebedürftiger Familienmensch. Sie mochte mich und wollte mich daher an ihrem großen Tag teilhaben lassen.
Damals, vor unserer ersten Begegnung, war ich verwundert, dass sie überhaupt von meiner Existenz wusste. Das war eines der Rätsel, das wir beide sofort gelöst hatten. Als Teenager hatte sie einen Streit ihrer Eltern belauscht, der mich zum Thema hatte. Danach hatte sie so lange nachgebohrt, bis man ihr von ihrem jüngeren Halbbruder erzählt hatte. Ich war das mittlerweile sechsundzwanzigjährige Ergebnis einer kurzen Affäre zwischen meiner Mutter und ihrem Vater.
Zunächst beließ sie es dabei, weil sie nicht wusste, was sie mit dieser Information anfangen sollte. Doch im Laufe der Zeit festigte sich in ihr der Wunsch, mich, der ich doch auch ein Teil ihrer Familie war, kennenzulernen.
Ich konnte diesen Drang nachvollziehen. Andere Kinder hatten einen Papa, ich nicht. Da ich Comic-Fan war, hatte ich aus meinem fehlenden Vater einen Superhelden gemacht. Er war nie da, weil er die Welt retten und die Menschheit vor Bösewichten beschützen musste. Natürlich war das ein naiver, dummer Gedanke, aber ich war ein kleiner naiver, dummer Junge. Mit der Pubertät endete die Glorifizierung meines Erzeugers schlagartig. Ich wollte die Wahrheit erfahren und erkundigte mich bei meiner Mutter. Beim Mann, der sie geschwängert und sitzen gelassen hatte, handelte es sich weder um Superman noch um Captain America oder wie meine Helden alle hießen. Er war ein simpler Tischlermeister aus Salzburg. Ja, er wusste von mir, aber mehr als finanziell für mich aufzukommen, kam für ihn nicht in Frage. Schließlich hatte er eine Familie. Eine Familie, die meine Mutter und mich nicht inkludierte.
Eines Tages nahm ich all meinen Mut zusammen und klingelte an seiner Haustür. Eine Frau, die Frau, die jetzt zwei Sessel weiter saß, öffnete. Auch er war anwesend und kam damals wie ein scheues Hündchen hinter ihr her getrottet. Man hatte mich nicht einmal hineingebeten, sondern direkt auf der Türschwelle wüst abgefertigt. Er zahlte für mich, ich sollte mich daher nicht beschweren.
Damals ärgerte mich seine Ablehnung und ich war traurig darüber. Mittlerweile hatte ich mich damit abgefunden, denn es stimmte: Ich konnte mich nicht beschweren. Dieser Mann hatte meine Ausbildung finanziert und die hatte wirklich einiges gekostet. Mehr konnte ich nicht erwarten, das wusste ich inzwischen. Mehr wollte ich auch gar nicht mehr.
Dass seine Tochter sich für mich interessierte, kam daher umso überraschender.
Gestern Abend beim gemeinsamen Familienessen hatten mir die Sellers ganz deutlich gezeigt, wo mein Platz war. Nämlich nicht neben Bettina, wohin sie mich platziert hatte, sondern ganz, ganz, ganz am Rande. Ihre Mutter behandelte mich wie Luft. Verpestete, um genau zu sein. Das kurze Gespräch mit David hatte sich einzig und allein darum gedreht, ob ich Ambitionen hegte, die Tischlerei zu übernehmen. Gottbewahre! Dieses Unternehmen wollte ich nicht einmal geschenkt! Das hatte ihn beruhigt und er mich seitdem links liegen lassen.
Bettinas Oma war eine zierliche, blasse, kleine Frau um die neunzig und hatte sich früh zurückgezogen. Sie hatte kein Wort mit mir gewechselt, mich aber immerzu aufmerksam gemustert. Ich konnte ihrem Blick nicht standhalten. Valentina fand ich von Anfang an unsympathisch. Ihre freundliche Art wirkte aufgesetzt. Bestimmt war sie eine von jenen Personen, die einem ins Gesicht lächelte, während sie dir ein Messer in den Rücken rammte. Ihre Mutter Annika hingegen machte einen gänzlich anderen Eindruck. Sie schien nett zu sein.
Am schlimmsten empfand ich die Begegnung mit Richard. Nach zehn Jahren traf ich wieder auf ihn. Sollten wir uns zur Begrüßung die Hand reichen? Nein, das war unpassend. Eine Umarmung? Komplett unangebracht! Abgesehen von belanglosem Smalltalk, worin ich nicht sonderlich gut war, hatten wir nichts zu besprechen. Wir beschlossen, uns aus dem Weg zu gehen, um für uns beide seltsame Situationen weitestgehend zu vermeiden.
Zumindest hatten wir uns darauf geeinigt, uns beim Vornamen zu nennen. Was denn sonst?! Papa? Das war zu persönlich und stand diesem Mann nicht zu. Erzeuger? Ja, das wäre die korrekte Umschreibung unserer Beziehung: Richard Seller war mein Erzeuger und ich, Oliver Ringmann, das unliebsame Produkt seiner außerehelichen Aktivitäten. Aber so konnte man niemanden in der Öffentlichkeit anreden.
Was sollen die Leute denken?!, würde Anna, seine Gattin, sofort meckern.
Obwohl wir Vater und Sohn waren, waren wir zwei völlig Fremde. Ein paar vererbte Gene machten längst keine Familie. Apropos, familiäre Gemeinsamkeiten. Alle meine Verwandten mütterlicherseits waren nicht sehr groß. Ich tanzte mit meinen 1,89 Metern deutlich aus der Ringmann-Reihe. Richard selbst war ein kleiner Mann, der grob geschätzt nur knappe 1,70 Meter maß. Bettina hingegen überragte ihn deutlich. Als sie mich zum ersten Mal sah, fiel ihr meine beachtliche Größe sofort auf. Mit einem breiten Grinsen hatte sie mir erklärt, dass wir das unserem Großvater, Richards Vater, zu verdanken hätten.
Abgesehen davon hatte ich meinen Erzeuger nicht nur größer, sondern ganz anders in Erinnerung. Gegen das Altern konnte sich niemand wehren. Dass die Jahre an ihm genagt hatten, merkte man Richard an. Vielleicht hatte sich ein falsches Bild in meine Erinnerung gebrannt, aber er erschien mir deutlich runder als vor zehn Jahren. Auch sein Haar war mittlerweile mehr grau als schwarz und schütter geworden. Er versuchte, die verbliebenen Strähnen über die kahlen Stellen zu kämmen, was jedoch nicht gelang und eher verzweifelt wirkte als mondän.
Wo bin ich da hineingeraten?, hatte ich mich gestern mehrmals gefragt und das fragte ich mich auch jetzt. Ich saß unter freiem, wolkenlosem Himmel, bei angenehm warmen Temperaturen, eingepfercht auf einem weißen unbequemen Stuhl zwischen Leuten, die ich kaum kannte. Nicht weit von uns entfernt erstreckte sich der Fuschlsee, idyllisch umrahmt von grünen Bergen. Vor uns warteten der Standesbeamte, der offenbar den Friseur mit Richard teilte, sowie David, die schwangere Dani, die Nähte ihres roten Kleides zum Zerreißen gespannt, und Valentina, die zwar dasselbe Kleid, aber einige Nuancen kürzer trug, auf die Ankunft der Braut. Manche Herren vertrieben sich die Wartezeit bestimmt mit dem Anblick der langen, schlanken Beine der Blondine und Fantasien, die damit angeregt wurden. Ich hatte vielmehr Angst, dass Ameisen, Käfer oder anderes Ungeziefer, das sich im Gras zu meinen Füßen tummelte, unter meine Hosenbeine kletterten. Das Gefühl, dass etwas über meine Haut krabbelte, bildete ich mir garantiert nur ein, aber ich wurde diesen ekelerregenden Gedanken nicht los. Also versuchte ich, mich abzulenken. Eine Trauung unter freiem Himmel war immer noch die bessere Lösung als in einer geschlossenen Kirche oder einer winzigen Kapelle. Dort hätten Viren und Bakterien nämlich wirklich freie Bahn. Ich hasste Insekten, aber noch mehr machten mir Krankheitserreger Angst.
Gerade wollte ich mich möglichst unauffällig mit einem Schuh kratzen, als die Musik einsetzte. Dieses eine typische Hochzeitslied, das man aus dem Fernsehen kannte, irgendein Streichkonzert. Die Gäste erhoben sich, ich natürlich auch, meine linke Wade juckte weiter wie verrückt. Es fühlte sich an, als ob darauf eine ganze Ameisenkolonie eine Hochzeit feierte!
Wow! Bettina war ohnehin eine hübsche Frau, aber hier und heute sah sie bezaubernd aus. Stolz – so stolz, wie er auf mich vermutlich nie sein würde – schritt Richard neben ihr her. Mit einer Hand hakte sie sich bei ihrem – unserem – winzigen Vater unter, in der anderen hielt sie einen bunten Strauß aus Wiesenblumen an ihren schmalen Körper gepresst. Begleitet von gerührten Ahs und Ohs, zu den Klängen der klassischen Musik schritten sie auf dem roten Teppich nach vorne. Nun ergab dieses Teil Sinn. Ohne den roten Stoffuntergrund wäre Bettina mit ihren hohen Absätzen in der weichen Erde versunken und der Saum des blütenweißen Kleides ruiniert, bevor sie ergriffen ihr Ja hauchen konnte.
Etwas anderes ergab für mich keinen Sinn. Bettina lächelte nicht. Das hier war die erste Hochzeit meines Lebens, ein Experte war ich wahrlich nicht, aber sollte eine Braut nicht lächeln? Vor Glück und Freude strahlen?
Wahrscheinlich war sie unglaublich nervös. Wer konnte es ihr verübeln? Hunderte Augenpaare waren allein auf sie gerichtet. Für mich wären diese paar Meter die Hölle auf Erden. Auch Bettina stand nicht gerne im Mittelpunkt. Sie konzentrierte sich vermutlich auf jeden einzelnen ihrer Schritte, um bloß nicht zu stolpern.
Vorne angekommen übergab Richard seine Tochter ihrem Bräutigam. Bettina lächelte David an. Eisig? Nein, ich musste mich täuschen. Dieses Jucken trieb mich noch in den Wahnsinn!
Dani nahm den Brautstrauß entgegen, Valentina richtete Bettinas lange Schleppe. Garantiert klebten viele männliche Blicke in dem Moment, als sie sich bückte, auf ihrer knackigen Kehrseite.
Die Musik verstummte und die Zeremonie begann. Es war langweilig. In Gedanken plante ich grob mein nächstes Spiel und ärgerte mich, weil mein Tablet in meinem Zimmer lag. Dort half es mir nicht, um meine geistigen Notizen schriftlich festzuhalten.
Annika kniff mich in die Seite und flüsterte aufgeregt: „Jetzt geht’s los.“
Ich nickte ihr verhalten lächelnd zu. Die Idee, wie man die Orks und ihre blutrünstigen Verbündeten niedermetzeln konnte, war mir entfallen. Zumindest näherte sich die Trauung dem Ende. Das tröstete mich ein wenig über Annikas Unterbrechung hinweg.
Der Standesbeamte stellte Bettina gerade die Frage aller Fragen. Jene Frage, die vermutlich jede Frau einmal in ihrem Leben hören und mit einem Ja beantworten wollte.
Was tat meine Halbschwester? Sie sagte laut und deutlich: „Nein.“
Darauf folgte ein kurzer Moment der Stille, in dem man die viel zitierte Stecknadel ins Gras fallen hätte hören können. Annika neben mir keuchte auf und griff sich an die Brust. Ihre Schwester, Bettinas Mutter, schnappte entsetzt nach Luft und hielt sich hilfe- und haltsuchend an Richard fest. Der wiederum verfolgte das Geschehen perplex mit offenem Mund. Ein Raunen ging durch die Menge, Getuschel setzte ein.
David lachte künstlich auf. Es klang auch ein wenig hysterisch. Zärtlich fasste er Bettina am Oberarm und meinte: „Ach, diese Nervosität! Falsche Antwort, mein Schatz.“
Er grinste dämlich in die Runde, was mit allgemeinem Gekicher quittiert wurde. Der Standesbeamte lächelte nachsichtig und wiederholte die Frage.
Bettina sah ihren Bräutigam an, der ihr aufmunternd zunickte. Sie sah ihm direkt in die Augen, als sie präzisierte: „Nein, ich will nicht.“
Anna jaulte auf, als hätte man ihr soeben eine ihrer Gliedmaßen bei vollem Bewusstsein amputiert.
Die Braut wandte sich dem verdutzten Publikum zu. Alle verstummten schlagartig, als sie zu sprechen begann: „Verehrte Gäste, es tut mir sehr leid, dass ihr umsonst gekommen seid. Es wird keine Hochzeit stattfinden.“
Das Wimmern der Brautmutter wurde vom zunehmenden Gemurmel der Anwesenden übertönt. Bettinas – unser – Vater nahm die Sache deutlich gelassener. Er starrte seine Tochter an, erstaunt zwar, aber äußerlich ruhig.
„Hast du so etwas schon einmal erlebt? Unglaublich! Das hätte ich meiner Nichte gar nicht zugetraut. Sie wirkt immer so gefasst und überlegt“, meinte Annika und legte ihre Hand auf meinen Oberarm.
Bettina fuhr fort, lauter diesmal, um sich erneut Gehör zu verschaffen: „Das war die richtige Antwort, David. Ich werde dich nicht heiraten, denn du bevorzugst es offenbar, mit meiner Cousine zu schlafen.“
Wie eine wütende Rachegöttin stand sie da in ihrer traumhaften Robe und deutete anklagend auf Valentina. Genau dieses Bild – kombiniert mit wallenden Röcken und Haaren, flammende Speere schleudernd – muss ich unbedingt in eines der Spiele einbauen, schoss es mir durch den Kopf.
Einige Gäste zückten ihre Handys. David wurde kreidebleich, ihm klappte der Mund auf. Valentina hielt das Ringkissen in zitternden Händen. Annika neben mir schnappte nach Luft und ließ mich los, weil sie ihr Gesicht in beiden Händen vergrub. Jetzt stand Anna endgültig kurz vorm Herzinfarkt. Dem Standesbeamten schien es ähnlich zu gehen. So einer Nicht-Trauung hatte er bestimmt noch nie beigewohnt!
„Aber … aber … Schatz …“, mehr brachte David nicht heraus.
Valentina sprang ihm zur Seite und sagte lapidar: „Wie kommst du nur darauf? Das ist …“
„Oh, ja! Besorg’s mir, mein Hengst!“, ahmte Bettina die piepsige Stimme ihrer Cousine nach und fügte dann in ihrer eigenen hinzu: „Deine Worte.“
Binnen Sekunden nahm Valentinas Kopf die Farbe einer Tomate an. „Woher …?“, zischte sie.
Bettina nahm der überrumpelten Dani den Brautstrauß aus den Händen und drückte ihn grob ihrer Cousine in die Hand. „Auf das Brautstrauß-Werfen verzichte ich. Ich gebe dir die Blumen gleich. Ihn kannst du auch haben.“
Meine Halbschwester warf ihrem Verlobten – stopp, Ex-Verlobten – einen vernichtenden Blick zu, raffte den Rock und stürmte davon. Oma Marianne stand auf, applaudierte und rief ihrer Enkelin hinterher: „Bravo, bravo! Eine gute Entscheidung! Ich mochte diesen arroganten Kerl sowieso nie!“
Ich rannte, rannte und rannte. So rasch und so weit mich meine hohen, dünnen Absätze trugen, was gar nicht so einfach war, weil sie sich bei jedem Schritt ein Stückchen tiefer in die Wiese gruben. Ich wollte die Welt hinter mir lassen, aber das klappte nicht.
Keuchend hielt ich an und drehte mich um. Die Entfernung zwischen der Hochzeitslocation und mir war geringer als erhofft. Verdammte Schuhe! Alle starrten in meine Richtung, ein paar setzten sich sogar in Bewegung – auf mich zu.
Ihnen allen, auch mir selbst, hatte ich eine Show geboten, die niemand so schnell vergessen würde. Es überraschte mich, dass ich meinen Plan souverän und rücksichtslos durchgezogen hatte. Die Wut in mir war stärker als jegliche Vernunft. Die machte sich erst jetzt langsam bemerkbar, als ich nach und nach begriff, was ich angerichtet hatte. Zweifel nagten an mir. David nicht zu heiraten, war die richtige Entscheidung. Wer einmal fremdging, tat es immer wieder, hatte es vielleicht gar nicht zum ersten Mal gemacht.
Ich wollte keinen untreuen Ehemann. Besser glücklicher Single, als unglücklich verheiratet.
Die Art und Weise, wie ich meine Hochzeit platzen ließ, bereitete mir Unbehagen. David hatte definitiv keine sanftere Variante verdient, unsere Verlobung zu lösen. Aber war es klug, Menschen, die mir am Herzen lagen, so vor den Kopf zu stoßen? Das tat mir nun leid. Sie taten mir leid: Papa, Dani, Oma, Tante Annika, Oliver, ja, sogar meine Mutter. Oh, je! Meine Mutter! Wahrscheinlich war der Krankenwagen längst unterwegs … diese Schmach würde sie nicht überstehen. Eine Braut sagte nicht Nein, eine dreißigjährige schon gar nicht. David war in den Augen meiner Mutter meine letzte Chance auf ein ehrenwertes Leben, wie es sich jede(r) vorstellen und erträumen sollte. Und ich hatte ihn abgewiesen, diese Gelegenheit ausgeschlagen.
Die Ungewissheit, die mich nun plagte, ließ meinen Groll steigen. War ich schuld daran, dass unsere Beziehung kurz vor dem Ja-Wort gescheitert war? Dass wir zwölf gute Jahre nicht bis an unser Lebensende gemeinsam fortsetzen konnten? Lag es an mir? Oder an Valentina? Wieso betrog man die Verlobte in der Nacht vor der Hochzeit?
Je mehr ich darüber nachdachte, desto unsicherer und gleichzeitig wütender wurde ich. Um ruhig zu werden, atmete ich tief durch, breitete die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken. Wie ein lebendiges Kreuz im Brautkleid stand ich am Ufer des Sees und saugte das Panorama in mich auf. Das Blau, an manchen Stellen Türkis des Wassers. Die Sonne, die in den leichten Wellen glitzerte. Der beinahe wolkenlose Himmel. Die bis oben hin bewaldeten Berge und die sattgrünen Wiesen, die den Fuschlsee umgaben. Ein paar Boote dümpelten im Wasser dahin, ich entdeckte einige Schwimmer. All diese Menschen genossen unbeschwert ihre Freizeit, ich hatte soeben meine eigene Hochzeit ruiniert und mir wahrscheinlich eine Menge Probleme aufgehalst.
Hätte eine simple Absage vor der Zeremonie nicht auch gereicht?
Dass ich mir überhaupt diese Frage stellte, ärgerte mich. Manchmal konnte ein Gewissen ein großer Nachteil sein.
„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“
Eine Frauenstimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich um und erkannte das ältere Paar von gestern Nacht. Die zwei starrten mich genauso überrascht an wie ich sie. Dann änderten sich ihre Mienen – sie hatten mich erkannt: die verrückte Bademantel-Lady. Die Verwirrte, die nachts durch die Hotelflure geisterte. Die Frau, die jetzt im Brautkleid aufgelöst am Seeufer stand. War ihr Bild von mir vorher schon schlecht, war es nun endgültig nicht mehr zu retten. Sie mussten mich für völlig durchgeknallt halten.
„Mhm.“ Ich rang mich zu einem Lächeln durch.
Sollte ich weiterlaufen? Weglaufen? Das würde mir auf diesem weichen Untergrund kaum gelingen. Irgendetwas musste ich aber tun. Hier konnte ich nicht dauerhaft stehenbleiben.
Ich hatte nie gewusst, was Leute damit meinten, wenn sie behaupteten, sich nicht spüren zu können. Jetzt verstand ich es. In diesem Moment spürte ich mich nicht. Zorn, Beklemmung, Enttäuschung, ja, aber ich spürte mich nicht.
Ich zog die Schuhe aus, an deren Absätze Erd- und Grasklumpen klebten. Auch die vormals strahlend weiße Schleppe und der Saum meines Kleides wiesen braune und grünliche Flecken auf. Es war mir egal. Barfuß trat ich von der warmen Wiese auf die noch wärmeren, spitzen Kieselsteine vor mir. Sie piekten in meine nackten Sohlen, doch ich ging weiter. Meine Zehen versanken im schlammigen Untergrund, die nassen Steine waren glitschig, doch ich setzte meinen Weg unbeirrt fort. Die Gernots hinter mir sagten etwas, weitere Stimmen mischten sich dazu, aber ich nahm sie nicht wirklich wahr. Es fühlte sich an, als hätte jemand meine Ohren mit Watte verstopft. Die Hintergrundgeräusche drangen nur gedämpft zu mir durch.
Erhobenen Hauptes stolzierte ich in den See. Das Wasser war angenehm kühl. Mit jedem Schritt vorwärts sickerte die Nässe durch den weißen Stoff und benetzte meine Haut. Als mir das Wasser bis zu den Brüsten reichte und bei leichtem Wellengang sogar einige Tropfen in mein spitzenbesetztes Dekolleté flossen, blieb ich stehen.
Dann schrie ich. Laut und lange. Es war ein Schmerzensschrei, ein verzweifelter, aber auch ein Befreiungsschlag. Endlich spürte ich mich wieder. Mir war kalt. Meine Zähne klapperten und ich zitterte. Ich streifte meinen Verlobungsring, ein Zeichen des blanken Hohns, von meinem Finger und versenkte ihn im See. Sofort fühlte ich mich leichter, als ob man mir mit diesem Ring eine tonnenschwere Last von der Seele genommen hätte.
Als ich mich umdrehte, starrte mich eine Menschentraube am Ufer benommen an. Die Gernots standen zwischen den Hochzeitsgästen. Nicht alle kannte ich. Vermutlich hatten sich auch weitere Spaziergänger unter die Schaulustigen gemischt. Dani, die sich an ihren Michael klammerte, Oliver, mit Oma im Schlepptau, meine Eltern und natürlich mein Bräutigam stachen mir ins Auge. Von Valentina oder Tante Annika war weit und breit nichts zu sehen.
Ich watete zurück ans Ufer, Papa kam mir entgegen und half mir aus dem Wasser. Der feuchte Rock wickelte sich um meine Beine und der Schleier legte sich wie eine nasse, kalte Stola um meine nackten Schultern. Es glich einer eisigen Umarmung.
Papa sagte nichts, das musste er auch gar nicht. Ich las Verständnis in seinem Blick und er drückte liebevoll meine Hand. Er war mein starker Fels in der stürmischen Brandung. Und dieser Sturm hatte eine immense Windstärke erreicht. Das Tief trug den Namen Anna.
Mit ihren Schuhen wollte sie die Kieselsteine nicht betreten. Also wartete sie, bis ich im Gras stand und entriss mich dann – mit unsicheren, wackeligen Schritten – dem Arm meines Vaters.
„Was ist in dich gefahren?!“, zischte meine Mutter leise, mit einem Lächeln auf den Lippen, um die Zuschauer zu täuschen.
„David hat mit Valentina geschlafen“, entgegnete ich ebenso leise.
„Und?“
Kein tröstendes Wort, keine Umarmung. Nichts.
„Wie und?“, hakte ich niedergeschlagen nach.
„Deswegen lässt du deine Hochzeit platzen? Vor allen? Was sollen diese Leute von uns denken? Das ist ein Skan …“
„Ist das nicht Grund genug?“
Mutter lächelte beharrlich weiter. „Männer gehen fremd. Je länger eine Beziehung dauert, umso öfter muss man damit rechnen. Es ist die Aufgabe von uns Frauen, das zu akzeptieren.“
„In welchem Jahrhundert lebst du, Mama?“ Ich hatte Mühe, mich zu beherrschen.
„Ich führe seit einunddreißig Jahren eine funktionierende Ehe. Dein Vater hat sogar ein außereheliches Kind. Das ist nicht schön, aber ich bin bei ihm geblieben und wir haben es gemeistert.“
„Ihr habt es unter den Teppich gekehrt.“
Sie zuckte mit den Schultern, als wäre Oliver ein lästiges Anhängsel, das keinen Schaden verursachte, solange man es ignorierte. „Das war keine Glanzleistung deines Verlobten, aber deshalb ruiniert man keine lang geplante und noch dazu sehr kostspielige Hochzeit. Redet in Ruhe darüber, sprecht euch aus. Wir verschieben die Trauung um ein oder zwei Stunden.“
„Vergiss es!“, sagte ich, entzog ihr meinen Arm und ließ sie stehen.
Ich spürte unzählige Blicke auf mir – forschende, verständnislose, amüsierte. Vermutlich hielten mich nicht nur die Gernots für verrückt. Weit kam ich nicht, denn David baute sich drohend vor mir auf.