Im Norden ist man dem Himmel näher - Hanna E. Lore - E-Book

Im Norden ist man dem Himmel näher E-Book

Hanna E. Lore

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Beschreibung

Sarah ist ein Workaholic. Ein Schicksalsschlag in ihrer Kindheit hat ihr den Glauben an Gott geraubt. Sie verabscheut nichts mehr als Kinder, weil sie Chaos in ihr strikt durchgeplantes Leben bringen. Ein Burn-out und der damit verbundene „Zwangsurlaub“ an der Ostsee treffen sie hart. Umso härter ist es, als man sie aufgrund eines Wasserschadens in ihrer Unterkunft beim örtlichen Pastor einquartiert. Und wäre all das nicht schon schlimm genug, hat dieser zwei Töchter. Doch bald merkt Sarah, dass das Leben mehr zu bieten hat als nur Arbeit. Einen attraktiven, verwitweten Pastor zum Beispiel.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

Impressum:

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

Kapitel 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

Impressum:

Hanna E. Lore // Sandra Klammer, MA

5620 Schwarzach im Pongau

https://hannaelore.wordpress.com/

[email protected]

Hanna E. Lore

Im Norden ist man dem Himmel näher

Für Mama

Danke, danke, danke. Für alles.

Diese Geschichte ist frei erfunden und fiktiv. Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig. Ich habe mich einzig und allein von meinem Masterarbeitsthema inspirieren lassen und ja, ich habe dasselbe studiert wie Sarah. Das sind jedoch die einzigen Parallelen zur Realität.

KAPITEL 1

Nicht einmal Sonnenschein konnte sie noch glücklich machen.

Kein Wölkchen in Sicht, das heute den strahlend blauen Himmel trüben könnte, und dennoch war Sarah unzufrieden. Weswegen, wusste sie selbst nicht genau. Sie wusste nur, dass sie sich früher über dieses traumhafte Wetter gefreut hätte. Sie hätte die Mittagspause draußen, vielleicht am nahen Mozartplatz, verbracht und sich bei den warmen Juni-Temperaturen ein Eis gegönnt. Nachdem sie abends das Büro verlassen hätte, wäre sie noch zu einer kurzen Joggingrunde entlang der Salzach aufgebrochen. Danach hätte sie es sich mit einem guten Buch auf ihrer Terrasse gemütlich gemacht und beobachtet, wie das Tageslicht schwand, während künstlich erzeugter Schein Salzburg bei Nacht erhellte.

Jetzt verspürte sie keine Lust dazu. Nichts von alledem interessierte sie. Schon seit Monaten nicht mehr.

Mit steif vor der Brust verschränkten Armen und mürrischem Gesicht schaute sie dem dichten Gedränge auf dem Residenzplatz zu. Manche Leute flanierten gemütlich über den Platz, andere legten auf den paar Bänken eine Rast ein, sofern man um diese Zeit überhaupt noch ein freies Plätzchen ergattern konnte. Touristen taten, was sie am besten konnten: abrupt stehen bleiben, staunen und fotografieren. Der Residenzbrunnen war ein beliebtes Motiv. Wie vielen Blitzlichtern die Meerrosse im Lauf der Jahrzehnte wohl schon ausgesetzt waren? Sie hatten alles stumm und wasserspeiend ertragen.

Straßenkünstler machten Musik oder hielten Szenen und Gesichter – Momentaufnahmen – ewig auf Papier gebannt fest. Über alldem warf der imposante Dom aus weißem Untersberger Marmor seinen Schatten. Sarah hatte ihren Vorgesetzten immer um diese prachtvolle Aussicht mitten ins historische Herz der Altstadt beneidet. Seit drei Jahren war sein Büro nun das ihre, seitdem sie die Leitung des Salzburger Stadtmuseums übernommen hatte. Doktor Sarah Hollmann, zweiunddreißig Jahre jung und überaus erfolgreich in dem, was sie tat. Sie hatte den Job, den sie unbedingt hatte haben wollen. Sie leitete das Museum, das sie schon seit Studienzeiten bewundert hatte. Nur Mozarts Geburtshaus in der Getreidegasse verzeichnete mehr Besucher als ihr Museum.

Ihr Vorgänger hatte das Potential der ehrgeizigen Geschichtsabsolventin erkannt und sie zu seiner Assistentin gemacht. Er hatte sie quasi von Anfang an darauf vorbereitet, die Lücke, die seine Pensionierung hinterlassen würde, zu schließen.

Doch Sarah merkte, dass seit ungefähr einem Jahr ihre frühere Leidenschaft für ihren Beruf kontinuierlich abnahm. Von Tag zu Tag kam sie schwerer aus dem Bett oder wäre am liebsten erst gar nicht aufgestanden. Sich allein in ihrer Wohnung zu verkriechen, war eine Verlockung, der sie bisher dennoch nie verfallen war. Aber die Versuchung wurde jeden Tag größer. Und genau das belastete sie. Wo war ihr Tatendrang geblieben? Was war aus ihrer blinden Arbeitswut, die sie jahrelang zu Höchstleistungen angetrieben hatte, geworden? Warum war sie ständig müde, erschöpft und antriebslos? Konnte sich ein grippaler Infekt derart lange hinziehen, wenn man sich die Zeit zum Auskurieren nicht gönnte?

Besonders heute fühlte sich Sarah überhaupt nicht wohl: schlapp, schwindelig und übel war ihr auch. Kopfschmerzen plagten sie und brachten ihren Schädel fast zum Bersten. Sarah wandte sich vom Fenster ab und ging auf unsicheren, wackeligen Beinen zurück zu ihrem Schreibtisch. Kraftlos ließ sie sich auf ihren Drehstuhl sinken und seufzte missmutig. Vor ihr türmten sich Papiere, die abzuarbeiten waren, und ihr E-Mail-Postfach war leider zu reichlich mit dringenden Aufgaben gefüllt. Einen Blick auf ihren übervollen Terminkalender wollte Sarah gar nicht erst werfen.

Rund um den Bildschirm und überall, wo die Tischplatte noch freie Flächen bot, klebten bunte Post-its, um sie in Stichworten an Dinge zu erinnern, die unbedingt und bald zu erledigen waren. Für einen kurzen Moment schloss Sarah die Augen und massierte sich die Schläfen. Doch es half nichts. Der Druck in ihrem Kopf und das beengende Gefühl überall in ihrem Körper ließen nicht nach.

Die Leitung des Museums erfüllte sie längst nicht mehr. Sie kümmerte sich um Leihverträge, Presseaussendungen und Personalfragen. Sie managte und verwaltete ein Haus, statt die Besucher durch die Ausstellung zu führen oder diese gar selbst zu organisieren und zu gestalten. Das übernahmen stattdessen ihre Mitarbeiter. All das, was sie sich von der Museumsarbeit erhofft und erwartet hatte, war in ihrem Leben nicht mehr präsent. Sie saß in ihrem kleinen Büro im Dachgeschoss und verwaltete, abgeschirmt vom bunten, spannenden Treiben in den Stockwerken unter ihr. Dort, wo die Geschichte lebendig gemacht wurde, hatte sie keinen Zugang mehr.

Ein Klopfen ließ sie erschrocken aus ihrem Stuhl hochfahren. Weil Sarah Angst hatte, dass ihre Beine nachgeben könnten, klammerte sie sich mit beiden Händen so stark an der Tischplatte fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

Gabriel, ihr Assistent, der nur ein paar Jahre jünger, aber bei Weitem weniger kompetent und fleißig war als sie, stand in der Tür. Ihr Herein hatte er wie immer erst gar nicht abgewartet.

„Deine Kopien sind fertig“, sagte er in gewohnt herablassendem Tonfall und wedelte mit dem Stapel.

Sarah nickte bloß. Er kam auf sie zu und warf die Blätter lässig auf ihren überfüllten Schreibtisch. Dann musterte er seine Chefin abschätzend. „Geht es dir gut?“, erkundigte er sich.

Stand da Besorgnis in seinen Augen? Eher nicht. Ihr Assistent fragte bloß anstandshalber nach, wie man es vom Neffen des Bürgermeisters zu erwarten hatte. Man konnte Gabriel viel vorwerfen – Faulheit, Egoismus und eine Vorliebe für teure Anzüge – aber höflich war er. Meistens jedenfalls.

„Natürlich!“, entgegnete Sarah scharf.

Abwehrend hob er die Hände und trat sarkastisch grinsend einen Schritt zurück. „Entschuldige, dass mir dein Wohlergehen am Herzen liegt.“

„Kümmere dich lieber ordentlich um deine Aufgaben anstatt um mich. Seit wann braucht man so lange, um ein paar Seiten zu kopieren?“

Seine lasche Arbeitseinstellung nervte Sarah. Wie sie damals gerackert hatte, um ihren Chef zu beeindrucken! Warum hatte man ihr nur einen derart unfähigen und faulen Assistenten zur Seite gestellt? Die Antwort war ebenso einfach wie ernüchternd: weil das Salzburger Stadtmuseum eine Einrichtung der Stadt war und unmittelbar in das Ressort des Bürgermeisters fiel, der leider auch Einfluss auf Personalentscheidungen nehmen durfte – zum Nutzen seines Neffen. So funktionierte Politik in Österreich. Familie und Freunde vor Leistung und Können.

„Ich habe nicht studiert, um für dich den Kopierburschen zu spielen.“

Sarah verkniff sich den Kommentar, dass es ein offenes Geheimnis war, wie er seine Abschlüsse in Geschichte und Kunstgeschichte erlangt hatte: mit Geld. Die Frage war nur, wer für seine Titel bezahlt hatte. Sein Onkel oder sein Vater? Irgendjemand von beiden musste Druck auf die Universität ausgeübt haben. Wie ein unfähiger Kerl wie Gabriel ansonsten zwei Studienabschlüsse mit ausgezeichnetem Erfolg meistern konnte, war Sarah schleierhaft.

„Alle müssen klein anfangen. Wenn du in dem, was du tust, gut wärst, könnte ich dir verantwortungsvollere Aufgaben übertragen, aber deine Einsatzbereitschaft lässt leider zu wünschen übrig.“ Sarah seufzte. Einerseits, weil sie diese Diskussion in letzter Zeit zu oft geführt hatte. Andererseits, weil sie inzwischen wirklich, wirklich erschöpft war. Dabei war es noch nicht einmal Mittag.

„Vor einiger Zeit hast du meinen Einsatz durchaus zu schätzen gewusst.“ Ein selbstgefälliges, eitles Grinsen machte sich auf Gabriels Gesicht breit.

Natürlich wusste Sarah, worauf er anspielte. Er hätte dieses eine Wort nicht extra betonen müssen. Aus heutiger Sicht hielt Sarah das, was damals vorgefallen war, für einen Fehler, aber auch sie hatte Bedürfnisse und zu wenig Gelegenheiten. Daran war sie sogar selbst schuld. Die Arbeit stand bei ihr immer an erster Stelle. Dass sie sich mit ihrem Assistenten während der Weihnachtsfeier auf der Toilette vergnügt hatte, beschämte sie inzwischen sehr. Seither versuchte Gabriel regelmäßig, ihre damalige Schwäche für seine Zwecke zu nutzen.

„Das ist über fünf Monate her. Die Sonderrechte, die du dir deswegen erhoffst, wirst du nicht bekommen. Deine Anstellung hier war nicht meine Entscheidung. Es gibt viele, die begeisterter, qualifizierter und kompetenter sind als du und die für deinen Job alles, wirklich alles geben würden“, erinnerte sie ihn schroff. „Wenn du in Zukunft mehr tun möchtest als Kopieren, musst du dich mehr anstrengen. Das hier muss für dich mehr als ein Beruf werden, Berufung nämlich.“

Sarah konnte selbst kaum glauben, dass sie diesen Satz wirklich gesagt hatte. Folgte sie denn noch ihrer Berufung? Hatte sie tagtäglich Lust dazu, ins Büro zu gehen?

Definitiv nicht.

Der dunkelhaarige Gabriel schenkte ihr ein charmantes Lächeln, das nicht hinter seine Fassade blicken ließ, ehe er ihr Büro mit den betont freundlichen, unterwürfigen Worten verließ: „Dann werde ich weiter intensiv an meiner Berufung arbeiten.“ Als er die Tür hinter sich schloss, schwor er sich, dass Sarah diese neuerliche Demütigung büßen würde. Bitter büßen.

Sarah war weder unsympathisch noch unattraktiv. Vermutlich hätte Gabriel auch mit ihr geschlafen, wenn sie nicht seine Vorgesetzte wäre. Er war ein Womanizer, der gern jede Gelegenheit nutzte, die sich ihm bot. Außerdem dachte er pragmatisch: Zusätzlich zum kurzweiligen Vergnügen könnte ihm dieses Tête-à-Tête am WC Vorteile bringen – zumindest einen Erpressungsgrund. Da Sarah ihm bisher keine Sonderstellung im Museum gewährt hatte, musste er sich also demnächst einen Plan B überlegen. Ihr Fehler war, dass sie auf seinem Posten saß. Noch. Es stand für ihn fest, dass er zu Höherem als zu diesem unwürdigen Assistenten-Dasein berufen war.

Als Gabriel auf dem Weg zu seinem winzigen Büro am Kopierer vorbeikam, bemerkte er, dass er ein paar Seiten im Ausgabefach vergessen hatte. Fluchend ergriff er die Blätter und ging zurück. Nach dem einmaligen Anklopfen riss er die Tür sofort auf. Verwirrt beobachtete er, wie Sarah ihn mit entrücktem Gesichtsausdruck anstarrte und es mit Mühe schaffte, ihren Ledersessel zu erreichen, ehe sie darin zusammensackte.

Das letzte, was Sarah sah, bevor ihr schwarz vor Augen wurde, war ein Lächeln auf Gabriel Gesicht. Vielleicht löste sich sein Problem gerade von selbst.

KAPITEL 2

Sarah trommelte mit ihren langen, nachtschwarz lackierten Nägeln ungeduldig auf die Bettdecke. Der Himmel war immer noch strahlend blau, selbst hier, am anderen Ende der Stadt. Man hatte sie nämlich nicht ins nahe Unfallkrankenhaus gebracht, sondern ins weiter entfernte Landeskrankenhaus verfrachtet. Verstehe einer diese Rettungssanitäter! Obwohl sie sich heftig gewehrt hatte, nachdem sie rasch wieder zu sich gekommen war, hatten sie darauf bestanden, sie zur näheren Untersuchung und Abklärung ihres Zusammenbruchs ins Krankenhaus einzuliefern. Angestachelt von Gabriel, dem ihre Unpässlichkeit gut ins Konzept zu passen schien.

Wenigstens hatte Sarah ein Zimmer für sich allein. Zumindest machte sich ihre Zusatzversicherung bezahlt. Die Gegenwart von kranken Fremden und belanglose Gespräche hätte sie erst recht nicht ertragen. Es war schon schlimm genug, dass man sie gegen ihren Willen hier festhielt.

Sie überschlug die Beine unter der Decke, seufzte genervt und ließ den Kopf ins Kissen sinken. Nicht einmal aufstehen konnte sie, obwohl es ihr schon wieder deutlich besser ging. Man hatte sie an irgendeinen Tropf gehängt, um ihren Kreislauf zu stabilisieren. Wegen eines kleinen Zusammenbruchs, pah! Sogar Gefängnisinsassen gewährte man mehr Bewegungsfreiheit! Das grenzte an Freiheitsberaubung! Dabei hieß es immer, Österreich wäre ein demokratischer Rechtsstaat. Von wegen!

„Guten Tag!“

Sarah war innerlich so aufgewühlt und verärgert, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass ein Arzt das Zimmer betreten hatte.

Wahnsinn! Verdammt attraktiv!, dachte sie, Sehen Ärzte nicht nur in Fernsehserien so aus?!

Dieser Typ machte jedem TV-Weißkittel heftige Konkurrenz: sehr groß, braun gebrannt – was durch den Kontrast zu seiner Arbeitskleidung natürlich zusätzlich verstärkt wurde – kurze braune Haare, glatt rasiert. Und irgendwie kam er ihr vage bekannt vor.

Er musterte sie amüsiert und sein Lächeln wurde breiter. So breit, bis es beinahe von dem einen hintersten Backenzahn zum anderen reichte. Jetzt fiel es Sarah wie Schuppen von den Augen.

„Die männliche Julia Roberts!“, platzte es aus ihr heraus.

Breiter konnte sein Grinsen nicht mehr werden. „Du kannst dich an meinen alten Spitznamen erinnern. Dann muss ich mich also nicht vorstellen.“

„Jens! Was machst du hier?“

Er deutete mit beiden Händen auf sein weißes Outfit. Damit hatte sich ihre Frage erübrigt. An seiner rechten Hand blitzte ein goldener Ehering auf, was Sarah sofort ins Auge stach.

„Du bist wirklich Arzt geworden“, sprach sie das klar Erkennbare aus.

„Doktor Hauser. Klingt doch nicht schlecht, oder?“ Er lächelte auf seine unnachahmliche und unwiderstehliche Weise.

„Ich leite das Salzburger Stadtmuseum.“ Natürlich konnte sie sich diesen Satz nicht verkneifen. Wenn man im Leben etwas erreicht hatte, sollte man damit auch entsprechend prahlen dürfen. Die Leute sollten wissen, mit wem sie es zu tun hatten.

„Chapeau!“ Er zog einen imaginären Hut. „Dann ist aus uns beiden tatsächlich etwas geworden. Tja, bei dir und deinem unbändigen Ehrgeiz war ohnehin nichts anderes zu vermuten.“

Er zog einen Stuhl heran und ließ sich mit überschlagenen Beinen darauf nieder. Sarah zuckte lächelnd mit den Schultern.

„Wir arbeiten beide in derselben Stadt“, fuhr Jens fort, „Warum haben wir uns aus den Augen verloren?“

Peinlich berührt senkte Sarah den Blick. Sie war der Grund. Sie hatten sich während des Studiums kennengelernt und angefreundet, diversen Studenten-Partys sei Dank. Mit Jens hatte man sich im Vergleich zu den vielen Alkoholleichen immer angeregt unterhalten können. Er war der Mensch, der wohl am meisten über sie wusste. Und genau das hatte Sarah Angst eingejagt. Viel hatte sie ihm anvertraut. Nach ihrem Abschluss hatte Sarah den Kontakt absichtlich einschlafen lassen. Jens Anrufe und Nachrichten hatte sie häufig ignoriert und seine Einladungen abgelehnt, bis er irgendwann aufgegeben hatte. Sie hatte sich einzig und allein auf ihre Karriere konzentriert. Das war damals alles gewesen, was für sie gezählt hatte. Und ihre Prioritäten hatten sich bis heute nicht verschoben.

Manchmal gab es wirklich seltsame Zufälle im Leben. Ausgerechnet ihn hier wiederzutreffen, hatte sie nicht erwartet.

„Wahrscheinlich war ich nicht beharrlich genug“, sagte er jetzt, „In einem Krankenhaus anzufangen, ist fordernd. Es bleibt wenig Zeit für anderes. Da kam es mir ehrlich gesagt gerade recht, dass du mich dauernd abgewiesen hast. Später kam Andrea, meine Frau. Wir haben drei kleine Mädchen. Da verschieben sich die Prioritäten.“

„Gratuliere!“ Sein privates Glück freute Sarah aufrichtig. Er hatte das erreicht, wovon er schon zu Studienzeiten geträumt hatte.

„Du bist vermutlich mit deinem Job verheiratet?“

Sarah nickte knapp.

„Dachte ich mir.“ Er sagte das in keinster Weise abfällig, weil er wusste, wie sehr sie ihre Freiheit liebte und stolz auf ihre Unabhängigkeit war. Alles, was mit Kindern zu tun hatte, war weder vorhersehbar noch planbar. Kinder bedeuteten Chaos und Kontrollverlust. Beides konnte Sarah nicht ausstehen. Es gab nichts Schlimmeres für sie, als die Kontrolle zu verlieren oder ein Leben, das außerhalb ihrer geregelten Bahnen verlief. Kinder und eine dauerhafte Beziehung, in die man investieren und für die man eventuell auch Kompromisse eingehen musste, kamen in Sarahs Lebensplanung nicht vor.

„Du warst immer schon unnahbar“, meinte Jens breit grinsend.

„Pah!“ Sarah schnaubte. „Blödsinn.“

„Nein, wirklich! Ich weiß nicht, ob du es je bemerkt hast, aber ich stand total auf dich. Aber du hast jeden Versuch meinerseits, aus unserer Freundschaft mehr werden zu lassen, sofort abgeblockt.“

Das war Sarah neu. Tatsächlich war ihr das nie aufgefallen. Sie hatte nie mehr als Freundschaft für Jens empfunden. Dass er gerne mehr gewollt hätte, überraschte sie. Über Gefühle zu sprechen, war ihr generell unangenehm. Ein Themenwechsel musste her, aber rasch.

„Tja, inzwischen ist dieser Zug sowieso abgefahren.“ Sie deutete auf seinen Ehering.

Er betrachtete das goldene Schmuckstück und lächelte. „Stimmt.“

„Dann kommen wir zu meinem unfreiwilligen Aufenthalt hier. Warum bin ich da und – viel wichtiger – wann darf ich endlich gehen?“ Mit jedem schroffen, herrischen Wort kehrte Sarahs Selbstsicherheit zurück. „Außerdem bist du gar nicht mein Arzt. Mich hat ein Kollege von dir untersucht.“

„Doktor Hofer, ja. Er hat mich zu Rate gezogen.“

„Toller Arzt“, meinte Sarah zynisch, „Kann nicht einmal selbstständig eine Diagnose treffen.“

„Du bist kein leichter Fall.“

Jetzt wurde Sarah doch etwas mulmig zu Mute. Unruhig rutschte sie im Bett hin und her.

„Du hast über Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit geklagt. Dazu kommt noch allgemeine Erschöpfung. Außerdem warst du einige Minuten lang ohne Bewusstsein.“

„So viel Tam-Tam wegen einer klitzekleinen Ohnmacht?“, spielte sie ihre Symptome herunter.

„Das kann alles ganz harmlos sein oder auf eine ernsthafte Erkrankung hindeuten. Und da komme ich ins Spiel. Wir haben deinen hübschen Dickkopf durchleuchtet. Doktor Hofer wollte mich dabei haben, weil ich ein Experte auf diesem Gebiet bin. Abgesehen davon hatte er ein bisschen Angst vor dir. Du musst ihn ziemlich eingeschüchtert haben. Er wollte sich absichern und keine Fehldiagnose stellen.“

„Das sollten Ärzte grundsätzlich nie“, konterte Sarah schnippisch.

„Stimmt, aber manchmal kann das eben passieren. Wir sind auch nur Menschen und keine Götter in Weiß. Vier Augen sehen mehr als zwei. Das ist doch auch für die Patienten besser, oder nicht?“

„Was habt ihr denn gesehen?“, drängte Sarah.

„Nichts. Alles in bester Ordnung da oben.“ Jens tippte sich seitlich an den Kopf.

Erleichtert atmete Sarah aus und merkte erst jetzt, dass sie vor Anspannung die Luft angehalten hatte.

„Wir warten noch auf die Blutergebnisse, aber auch die werden keine Klarheit bringen, vermute ich.“

„Dann ist doch alles super“, sagte Sarah fröhlich.

„Nein, ist es nicht. Wir wissen nämlich nicht zu hundert Prozent, was dir fehlt“, entgegnete er.

„Nichts. Mir fehlt nichts. Das hast du selbst gesagt.“

„Wir haben nichts gefunden. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Ein gesunder Mensch leidet nicht einfach so an Kopfschmerzen und Übelkeit. Man kippt auch nicht einfach so vom Stuhl.“

Ganz unrecht hatte der Arzt damit nicht, obwohl Sarah das natürlich nie zugeben würde.

„Ich habe eine Theorie“, fuhr Jens fort, „Deine Symptome sind nicht physischer, sondern psychischer Natur. Psychosomatisch, quasi. Ich habe mit einem Psychologen gesprochen, der…“

„Bitte nicht!“ Sarahs attraktives Gesicht nahm einen schmerzverzerrten Ausdruck an. „Ich habe in meiner Kindheit viel zu viel Zeit mit diesen Seelenklempnern verbracht. Ich habe genug davon!“

Abwehrend hob Jens die Hände. „Ich weiß. Und du hasst Krankenhäuser. Das kann ich dir nicht verübeln. Ich kenne deine Geschichte. Daher weiß ich auch, dass du keine Minute länger bleiben wirst, als unbedingt nötig ist. Und, dass du eher auf mich hören wirst als auf irgendeinen Kollegen.“

„Du kennst mich wirklich gut“, gestand Sarah kleinlaut.

„Du hast dich einfach nicht verändert. Ich möchte dir ein paar Fragen stellen. Bitte tu‘ dir und deiner Gesundheit den Gefallen und antworte ehrlich. Okay?“

Mürrisch stimmte Sarah zu. Was blieb ihr denn anderes übrig? Andernfalls würde man sie hier wohl nicht so schnell rauslassen. Oder man schickte wirklich nach einem Psycho-Doktor. Da war Jens die bessere Alternative, um einer baldigen Entlassung näherzukommen.

Er zog einen Kugelschreiber und einen kleinen Notizblock aus seiner Brusttasche. Die Fragen, die er ihr stellte, klangen wie aus einem Psychologie-Lehrbuch. Damit kannte sich Sarah bestens aus. Leider.

Jens erkundigte sich nach ihren Hobbys und ob ihr genügend Zeit dafür blieb. Er wollte wissen, ob sie öfters grundlos erschöpft war und morgens leicht in den Tag startete. Hatte sie noch Freude an ihrem Job? War das ihr einziger Lebensinhalt? Empfand sie noch Lust und Leidenschaft für irgendetwas, das sie tat? Warum hatte sie keine Beziehung? Fehlte ihr die Zeit dazu oder hatte sie Angst, sich auf jemanden einzulassen? Vertraute sie nur sich selbst? Hielt sie sich für eine Perfektionistin?

„Unternimmst du viel mit Freunden?“

„Nein.“

„Hast du viele Freunde?“

Genau genommen hatte Sarah überhaupt keine Freunde. Diese Erkenntnis entsetzte sie zwar nicht, aber keine Sozialkontakte zu pflegen, warf in den Augen eines Arztes bestimmt kein gutes Licht auf sie. Sie überlegte – einmal mehr – Jens anzulügen, tat es aber dann doch nicht. Er hätte es sofort gemerkt, wenn sie geflunkert hätte.

„Sehr wenige“, sagte sie gedehnt.

„Wie wenige?“

„Null.“

Er sah von seinen Notizen auf und lächelte das breite Julia-Roberts-Lächeln. „Du hast einen Freund. Den hast du zwar heute erst wieder gefunden, aber hey, das war nicht die Frage. Außerdem wird ein zu großer Freundeskreis sowieso völlig überbewertet.“

Er zwinkerte ihr zu und ein schmales Schmunzeln stahl sich auf Sarahs Gesicht.

„Ich glaube, ich habe sie alle vergrault so wie dich. Bei mir steht eben der Job an erster Stelle“, rechtfertigte sie sich.

Jens nickte wissend, aber nicht verständnisvoll. „Hast du einen E-Reader?“

„Was?“

„Eine Art Mini-Computer, auf dem du digital tausende Bücher speichern und lesen kannst.“

„Ich weiß, was ein E-Reader ist“, antwortete Sarah spitz, „Ich frage mich nur, was das mit meinem Gesundheitszustand zu tun hat.“

„Beantworte einfach nur die Frage.“

Sarah zog argwöhnisch beide Augenbrauen nach oben und runzelte die Stirn.

„Hast du einen?“

„Nein, habe ich nicht.“

„Warst du inzwischen schon einmal dort in Norddeutschland? Wie hieß der Ort nochmal? Da, wo dein Diplomarbeitsthema-Typ gelebt hat.“

„Gelting“, sagte Sarah sofort. „Nein, ich habe es bisher nicht geschafft. Warum willst du das wissen?“

„Es war immer dein großer Traum, irgendwann auf den Spuren dieses Kerls zu wandeln.“

„Jakob Hansson hieß er“, unterbrach Sarah ihn.

Sie hatte sich in ihrer Magisterarbeit mit dem Reisebericht dieses Seemanns auseinandergesetzt. Jens hatte Recht. Sie hatte damals unbedingt in seine Heimatgemeinde gewollt. Einfach so, um zu sehen, was Jakob gesehen hatte. Um die Luft zu atmen, die auch er eingeatmet hatte. Und um den Wind zu spüren, den auch Jakob gespürt haben musste, damals zu seinen Lebzeiten zwischen 1755 und 1830.

„Man hat nicht immer genug Zeit, um Träumen hinterherzujagen.“

„Blödsinn! Auch ein Workaholic wie du muss irgendwann Urlaub machen.“

„Das kommt sehr selten vor“, gab sie zähneknirschend zu.

Jens musterte sie lange. Sein Lächeln war verschwunden. „Wenn das so ist, wundert es mich nicht, dass du hier liegst.“

„Was soll das heißen? Was fehlt mir? Du vermutest doch etwas!“ Jetzt wurde Sarah ungeduldig.

„Wir müssen deine Blutwerte abwarten. Wenn auch diese ohne Befund sind, was ich glaube, gibt es nur eine plausible Erklärung für deine Symptome.“

„Nämlich?!“ Sarah erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder, so schrill klang sie.

„Burn-out“, meinte Jens sachlich, erhob sich und schnippte gegen ihren Infusionsbeutel, um den Durchlauf zu überprüfen, „Zumindest bist du auf dem besten Weg dorthin. Aber mach dir keine Sorgen. Das wird schon wieder.“ Jens schenkte ihr ein beruhigendes Ärzte-Lächeln. Vermutlich lernte man das während der Ausbildung als allererstes. Egal, wie übel die Diagnose ausfiel, immer aufmunternd lächeln. Auch, wenn man ein Todesurteil überbrachte. Bei Jens fiel dieses Lächeln selbstverständlich breiter aus als bei seinen Kollegen. Die männliche Julia Roberts konnte gar nicht anders.

Mit dieser unerfreulichen Neuigkeit ließ er sie allein. Wieder ein typisches Ärzte-Verhalten. Wenn man sie bräuchte, weil man sie mit Fragen löchern wollte, gingen sie einfach.

Als er schon bei der Tür angekommen war, hatte Sarah das verhängnisvolle Wort Burn-out verdaut. Erstens war es bisher nur eine Vermutung, mehr nicht. Zweitens war es immer noch eine bessere Option als ein Gehirntumor oder eine unheilbare Nervenkrankheit oder … oder … Oder?!

Plötzlich traf sie eine andere Erkenntnis siedend heiß. Es war nur logisch, immerhin arbeitete er hier.

„Hast du mich nackt gesehen?“

Die Panik und das Zittern in ihrer Stimme waren nicht zu überhören. Sarah hasste sich selbst für die Schwäche, die sie jetzt nicht verbergen konnte. Auch wenn sie früher zu Studienzeiten befreundet gewesen waren, änderte es nichts daran, dass Jens ein Fremder für sie war. Sarah ließ prinzipiell niemanden näher an sich heran. Gefühle, Freundschaften oder gar Liebe sorgten nur für Probleme und Ablenkung von den wirklich wichtigen Dingen im Leben.

„Ich habe dich nicht untersucht. Daher kann ich dich beruhigen: Ich kenne dich nur bekleidet.“

Sarah konnte ein erleichtertes Ausatmen nicht unterdrücken. So sehr sie auch immer nach Perfektion strebte – es gab Stellen an ihrem Körper, die nicht perfekt waren. Sie würden nie makellos sein, egal was sie tat. Deshalb vermied sie es, diese Regionen anderen zu präsentieren. An ihren eigenen Anblick im Spiegel hatte sie sich im Lauf der Jahre gewöhnen müssen.

„Wäre es denn so tragisch, wenn ich einen Blick darauf geworfen hätte?“, fragte Jens ruhig, „Ich kenne deine Geschichte. Du hast sie mir selbst erzählt. Und ich bin Arzt. Ich kann mir vorstellen, wie dein Körper aussieht.“

„Nein! Niemand kann das!“, fiel sie ihm schroff ins Wort und schwieg dann, bis er das Zimmer verlassen hatte.

Einige Stunden später kehrte Jens mit ihren Blutwerten zurück. „Wie erwartet ohne Auffälligkeiten. Rein physisch betrachtet, fehlt dir nichts.“

„Burn-out?“, wiederholte sie seine Vermutung und er nickte.

„Das ist keine Erkrankung, sondern eine Modeerscheinung der Gegenwart“, sagte Sarah spöttisch. Wer seinen Urlaub längst aufgebraucht hatte, aber sich noch mehr freie Zeit erschleichen wollte, ließ sich von irgendeinem Quacksalber Burn-out bescheinigen. Sie hatte das wirklich nicht nötig!

„Du bist ausgebrannt, Sarah. Und du bist klug. Du kannst mir nicht erzählen, du hättest in letzter Zeit nicht bemerkt, dass etwas mit dir nicht stimmt.“

Ertappt kaute Sarah auf ihrer Unterlippe. Er hatte Recht, aber das würde sie nicht laut aussprechen.

„Was bedeutet das für mich? Wie geht es weiter?“, erkundigte sie sich stattdessen.

„Es gibt keine einheitliche Therapie. Ich bin kein Psychologe, aber ich habe mich mit einem beraten. Weil ich dich kenne, weiß ich, dass du keine Sekunde freiwillig länger hier bleiben wirst.“

„Richtig!“

„Schonung, Erholung, Entspannung. Kein Stress.“

Sarah lachte höhnisch. „Sehr witzig. Ich leite das am zweithäufigsten besuchte Museum hier in Salzburg. Wie soll das gehen?!“

„Du wirst es mindestens ein Monat lang nicht leiten. Mindestens, hörst du?“

Ihre braunen Augen weiteten sich vor Entsetzen. Die Aussicht, ein Monat lang nichts zu tun und bloß auf der faulen Haut zu liegen, machte sie erst richtig krankt. „Das würde meine Psyche eher zerstören, als sie zu heilen.“

„Das denkst du jetzt. Sarah, du brauchst dringend Erholung. Dein Körper schreit förmlich danach. Du musst deine Akkus aufladen.“

Sarah lächelte spöttisch. „Wie stellst du dir das vor? Urlaub?! Wie soll man im Museum ohne mich klarkommen? Nichts wird klappen ohne mich!“

„Jeder ist ersetzbar“, sagte Jens schulterzuckend, „Zumindest kurzzeitig. Vier Wochen sind keine Ewigkeit, Sarah. Das wird ohne dich schon gehen. Und du kannst dich endlich erholen. Das hast du bitter nötig. Sonst wirst du irgendwann viel länger ausfallen.“

Sarah war nicht überzeugt. Sie prustete verächtlich.

„Vier Wochen Urlaub – das hast du dir verdient und – so, wie ich dich kenne – noch nicht aufgebraucht. Ich kann dich auch krankschreiben, aber ich glaube, dir ist die Urlaubsvariante lieber. Schonender für deinen Ruf, hm?“

Sie widersprach ihm nicht. Unglaublich, wie gut dieser Mann sie kannte!

„Machst du so weiter wie bisher, werden wir uns zukünftig öfter sehen. Ich schätze, dass sich deine Zusammenbrüche häufen werden. Es würde mich zwar sehr freuen, dich häufiger zu sehen, aber nicht auf diese Weise.“ Er schenkte ihr sein breites, aufheiterndes Julia-Roberts-Lächeln.

Pragmatisch wog Sarah die Möglichkeiten, die ihr blieben, ab.

„Das Krankenhaus regelt diese Angelegenheit mit meinem Arbeitgeber, damit mein Ansehen in der Öffentlichkeit nicht leidet?“, erkundigte sie sich, doch es klang mehr nach einer Forderung.

„Niemand, der es nicht unbedingt wissen muss, wird je erfahren, dass auch du manchmal Schwäche zeigen darfst“, versicherte er ihr. „Abgesehen davon, ist das nichts, wofür man sich schämen müsste.“

Sarah bedachte ihn mit einem bösen Blick.

Kapitulierend hob er beide Hände. „Okay, okay! Schon verstanden.“

Erst jetzt fiel Sarah die blaue Papiertüte in seiner rechten Hand auf. Die Zeit war reif für einen Themenwechsel.

„Was ist da drin?“, fragte sie und bemühte sich, desinteressiert zu klingen.

„Das ist für dich.“ Jens stellte das Sackerl zwischen ihren Füßen auf dem Bett ab.

„Aha.“ Argwöhnisch hob Sarah beide Augenbrauen und verschränkte die Hände vor der Brust.

Da sie keine Anstalten machte, einen Blick auf sein Mitbringsel zu werfen, hielt Jens es nicht länger aus. „Wenn du irgendwann Lust verspürst, dir den Inhalt dieser Tasche näher anzusehen, wirst du unter anderem einen E-Reader finden.“

„Wozu soll ich so etwas brauchen? Wenn ich Bücher lese, will ich umblättern, die Seiten und das Gewicht spüren. Außerdem riechen frisch gedruckte Bücher außerordentlich gut. Ist dir das eigentlich schon einmal aufgefallen?“

„Ich lese weder gern noch viel. Aber gerade, wenn man Bücher regelrecht verschlingt wie du, ist so ein Teil praktisch: tausende von Büchern mit im Gepäck, dennoch leicht und handlich. Ideal, wenn man verreist.“ Er machte eine Pause, um den letzten Satz sacken zu lassen.

„Ich verreise ganz bestimmt nicht!“, stellte sie klar.

„Denkst du etwa, du kannst dich entspannen und erholen, wenn du in Salzburg bleibst? Ich habe alles organisiert und schon für dich gebucht. Überraschung!“

Sarah musterte ihn so finster, als würde sie ihn am liebsten gleich töten. Dennoch wagte er es, sich lässig mit einem Bein zu ihr aufs Bett zu setzen. „Alle nötigen Unterlagen findest du da drin, genauso wie einen Reiseführer für die Ostseeküste.“ Er nickte breit grinsend in Richtung der blauen Papiertüte. „Diesmal ausnahmsweise nicht digital. Das Format ist handlich und irgendwie finde sogar ich es komisch, beim Erkunden eines Urlaubsziels ständig auf einen Bildschirm zu starren.“

„Ostseeküste“, wiederholte sie nachdenklich.

„Mhm, Schleswig-Holstein.“

„Du willst mich nach Gelting schicken. Dorthin, wo Jakob einst gelebt hat“, schlussfolgerte Sarah.

„Du hast nicht nur ein hübsches, sondern auch ein überaus schlaues Köpfchen.“ Jens zwinkerte ihr frech zu. „Wenn du deine Haare nicht so streng aus dem Gesicht kämmen würdest, wärst du bestimmt lockerer. Es sieht so aus, als würde es weh tun. Meinst du nicht, du…“

„Das konntest du in der kurzen Zeit nicht alles organisieren“, unterbrach sie ihn.

„Stimmt.“

Sarah atmete erleichtert aus und ließ sich ins Kissen sinken.

„Ich hatte Unterstützung“, fuhr Jens munter fort, „Viele Patienten sind der Meinung, dass sie uns Ärzten etwas schulden. Das ist Schwachsinn. Erstens ist Helfen unser Beruf und zweitens helfen wir gerne. Normalerweise nutze ich solche Angebote des Entgegenkommens nicht, aber dieses Mal habe ich eine Ausnahme gemacht. Ein ehemaliger Patient von mir hat ein Reisebüro und wollte sich unbedingt erkenntlich zeigen.“

„So hoch in den Norden willst du mich verbannen? Was ist, wenn ich das nicht will? Es ist mein Leben und ich habe keine Lust, stundenlang im Auto zu sitzen.“

„Musst du auch nicht.“

Misstrauisch runzelte Sarah die Stirn. „Willst du mich chauffieren?“

„Ich nicht, aber ich kann dich beruhigen. Du wirst nicht selbst fahren müssen. Das übernimmt ein Lokführer.“

„Ich soll mit dem Zug anreisen?!“ Wäre Sarah nicht in einem Krankenhausbett gesessen, wäre sie jetzt umgekippt. Die Art der Beförderung machte ihr nichts aus. Was sie daran störte, war die Dauer. „Wie lange werde ich im Zug sitzen? Neun, zehn Stunden?“

„Ungefähr elf Stunden, dreimal Umsteigen und danach noch eine einstündige Busfahrt von Kappeln aus“, antwortete Jens kleinlaut.

„Das ist unzumutbar!“, beschwerte sich Sarah und verschränkte wieder trotzig die Arme vor der Brust. Sie erinnerte ihn an seine Töchter, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen konnten. „Das kann gar nicht entspannend sein: mit Gepäck von einem Bahnsteig zum anderen hasten, Verspätungen, nervende Mitreisende.“

„Du musst eben lernen, dich trotzdem zu entspannen. Es darf dich nicht jede Kleinigkeit belasten und aufregen. Außerdem geht es bei dir in erster Linie darum, beruflich abzuschalten. Eine Anreise per Bahn ist bestimmt stressfreier als mit dem eigenen Auto.“

Argwöhnisch starrte sie ihn an. „Was kostet dieser Spaß eigentlich? Hast du daran gedacht, dass ich mir das vielleicht gar nicht leisten möchte?“

„Das soll nicht deine Sorge sein.“

„Was soll das heißen?“

„Betrachte dich als eingeladen.“

„Sicher nicht!“ Sie stützte sich mit den Händen auf der Matratze ab und stemmte sich hoch. Dennoch war Sarah in ihrer aufrecht sitzenden Position immer noch deutlich kleiner als Jens, der ebenfalls saß. „Ich kann mir meinen Urlaub sehr wohl selbst finanzieren, auch wenn es ein Zwangsurlaub ist!“

„Das weiß ich doch“, beruhigte er sie, „So war das auch gar nicht gemeint …“

„Wie denn dann?“, fuhr sie ihn schnippisch an.

„Leider gibt es viel zu viele todkranke, hoffnungslose Fälle. Wir Ärzte können nicht überall Wunder vollbringen. Aber es gibt auch Menschen, denen man helfen könnte, die das jedoch nicht wollen. Weil sie zu stolz sind oder weil sie sich selbst längst aufgegeben haben. Ich finde, das Leben ist zu kostbar und wertvoll, um es wegzuwerfen. Wenn ich irgendeine winzige Möglichkeit sehe, diese Leute zwangszubeglücken, tue ich das.“

„Ich schmeiße also mein Leben weg, ja?!“ Sarah lachte kalt, als Jens überzeugt nickte.

„Vielleicht sollte man es in deiner Situation nicht ganz so drastisch ausdrücken. Du lässt dein Leben an dir vorbeiziehen, weil du dich zu sehr auf die falschen Dinge konzentrierst. Karriere ist nicht alles. Es gibt daneben so viel mehr, das du verpasst.“

„Jaja, schon klar. Meine Karriere umarmt mich nachts im Bett nicht. Hast du noch mehr von diesen abgedroschenen Kalendersprüchen auf Lager?“, meinte sie abfällig.

„Das hast jetzt du gesagt, aber es stimmt. Niemand will allein schlafen. Jeder sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit. Selbst du, auch wenn du es niemals zugeben wirst. Keiner will allein sterben. Glaube mir, ich weiß, wovon ich rede. Wir erleben hier viele Abschiede mit.“

„Aber ich sterbe ja nicht“, konterte sie.

„Wenn du so weitermachst – ohne Pause, höher, schneller, weiter – kann ich in den nächsten Jahren für nichts garantieren. Man sollte die Psyche niemals unterschätzen. Irgendwann wirst du einfach nicht mehr können, obwohl du rein körperlich betrachtet in Ordnung bist.“

Sarah wusste nicht, ob stimmte, was Jens behauptete. Konnte Burn-out wirklich zum Tod führen? Sterben wollte sie so bald jedenfalls nicht. Nicht, solange ihr Museum nur das am zweithäufigsten besuchte war.

Ja, sie fühlte sich müde und ausgebrannt und das schon seit Monaten. Sarah wollte unbedingt wieder fit werden – und das so rasch wie möglich, um dann erneut durchzustarten. Wenn das eine vierwöchige Zwangspause voraussetzte, musste sie sich wohl oder übel darauf einlassen.

„Okay, du hast gewonnen. Ich gönne mir diese Auszeit in Gelting.“

Jens‘ Grinsen nahm erneut Julia-Roberts-Ausmaße an.

„Unter einer Bedingung: Du gibst mir deine Kontodaten. Ich werde dir das Geld für diesen Urlaub überweisen. Keine Widerrede, verstanden?!“

Jens hob kapitulierend beide Hände und nickte artig. „Allerdings habe ich auch ein paar Bedingungen.“

„Welche?“, fragte Sarah genervt.

„Du nimmst dir keinerlei Arbeit mit in den hohen Norden. Genieße es einfach, dort oben ungestört tun zu können, was du dir damals vorgestellt hast.“

Sarah beäugte ihn kritisch. Seine Forderungen gefielen ihr nicht. Während sie abwog, ob sie unter diesen Umständen überhaupt noch zustimmen sollte, fuhr Jens fort: „Es wäre ideal, wenn du dein Smartphone und deinen Laptop zu Hause lassen könntest.“

Sarah schnappte entsetzt nach Luft und wollte widersprechen, doch er kam ihr zuvor. „Aber ich fürchte, dann wirst du dich weigern, überhaupt zu fahren. Können wir uns wenigstens darauf einigen, dass du nur private Telefonate führst und keine Mails checkst – es sei denn, um mit mir in Kontakt zu bleiben? Versprochen?“

Sarah überlegte, wie er herausfinden wollte, ob sie sich tatsächlich an diese Abmachung hielt.

Jens hob Zeige- und Mittelfinger in V-Form zum Schwur. „Großes Prinzessinnenehrenwort?“

So rang er also seinen Mädchen Versprechungen ab. Sarah schmunzelte über dieses kindliche Verhalten. Sie folgte seinem Beispiel, formte ein V und sagte feierlich: „Großes Prinzessinnenehrenwort.“

Sie lächelte ihn beruhigend an, während sie dieselben Finger der anderen Hand unter der Bettdecke überkreuzte.

„Tu es für dich, nicht für mich“, redete der Arzt ihr ins Gewissen. Oder wäre es zielführender an Sarahs Vernunft zu appellieren? Weder noch. Vermutlich malte sie sich ohnehin längst aus, wie sie sein Verbot umgehen konnte.

„Es ist alles vorbereitet. Ich kümmere mich gleich um deine Entlassung und den Papierkram.“

Ein zufriedenes Lächeln huschte über Sarahs Gesicht.

„Ich sage einer Schwester Bescheid, damit man dir ein Taxi ruft. Dann musst du zu Hause nur noch deine Koffer packen. Nicht vergessen: langsam angehen. Du sollst dich schonen.“

Sarahs erfreute Miene verdunkelte sich.

KAPITEL 3

Wenn Jens eine Sache in Angriff nahm, dann gründlich und vor allem schnell. Schon zwei Tage nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus fand sich Sarah in Gelting wieder. Ihr war gar keine Zeit geblieben, zwischendurch kurz im Museum nach dem Rechten zu sehen. Der Kultur-Landesrat, sprich Gabriels Onkel, hatte sie telefonisch darüber informiert, dass sie sich ausgiebig erholen sollte und ihr eine baldige Genesung gewünscht. Sein Neffe würde während ihrer Abwesenheit das Salzburger Stadtmuseum interimistisch leiten. Ihr persönliches Erscheinen war ausdrücklich nicht erwünscht.

Glücklicherweise hatte Sarah noch andere – fähige – Mitarbeiter. Die würden schon dafür sorgen, dass Gabriel das Museum in den nächsten dreißig Tagen nicht in den Ruin wirtschaften konnte. Sie müsste die Misere nämlich danach ausbaden, weil sich Gabriel und sein Onkel sicher keiner Schuld bewusst wären. Naja, für Notfälle war Sarah während ihres Zwangsurlaubs zumindest telefonisch erreichbar.

Das wusste Jens selbstverständlich nicht. Er war nach wie vor der Meinung, sie würde ihr Smartphone ausschließlich privat nutzen. Wie leichtgläubig und naiv manche Menschen doch waren. Jens hatte ihr übrigens angeboten, dass seine Frau sich um Sarahs Blumen kümmern könnte. Welche Blumen? In Sarahs Wohnung gab es keine Pflanzen. Die Raumluft konnte man auch durch richtiges Lüften regulieren. Wozu dieser zusätzliche Aufwand? Für ihre Post hatte sie ein Urlaubspostfach angemietet – pragmatisch – wie sie war. Und jetzt war sie genervt.

Die letzten zwölf Stunden hatten es gewaltig in sich gehabt. Bahnreisen sollten weniger anstrengend sein als mit dem eigenen Auto zu fahren und stundenlang konzentriert hinter dem Steuer zu sitzen? Pah, völliger Unfug!

Sarah hatte dreimal umsteigen müssen und zweimal davon blieben ihr dafür wegen Verspätungen weniger als fünf Minuten Zeit. Sie hatte mit ihrem Gepäck zig Treppen nach unten hasten, sich einen Weg durch trödelnde Fahrgäste bahnen und dann wieder atemlos genauso viele Stufen nach oben rennen müssen. Das sollte erholsam sein?!

Lifte schienen an deutschen Bahnhöfen nicht zu existieren. Auf die Suche nach einem zu gehen, hätte sie ihren Anschlusszug gekostet und mehrere Stunden Wartezeit auf einem völlig überfüllten Bahnhof beschert.

Entspannung? Fehlanzeige! Dabei sollte sie sich auf ärztliche Anweisung hin eigentlich erholen. Das wollte sie Jens unbedingt gleich nach ihrer Ankunft in Gelting mitteilen. Immerhin hatte er sie selbst darum gebeten, sich zu melden, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte.

Zumindest hatte er bei der Organisation ihrer Reise daran gedacht, für alle Bahnverbindungen einen Sitzplatz zu reservieren. Doch auch das trug nicht viel zu Sarahs Gelassenheit bei. Es war voll und laut. Und man war nicht vor penetranten, aufdringlichen Sitznachbarn gefeit. Kurz nach München hatte eine ältere Dame neben ihr Platz genommen. Als sie bemerkte, dass Sarah in einem Reiseführer schmökerte, war diese weißhaarige Quasselstrippe nicht mehr zu bremsen. Sie wäre selbst schon häufig im hohen Norden gewesen. Sehr schön wäre es dort. Was Sarah denn in diese Ecke trieb?

Was ging sie das an?!

Doch Sarah musste gar keine Antwort geben. Die kleine Dauerrednerin gab sich völlig damit zufrieden, wenn man ihr zuhörte und gelegentlich nickte. Sarah fragte sich, wann dieser zierliche Körper Luft holte.

An Lesen war nicht zu denken, solange diese Frau neben ihr saß. Irgendwann hatte sie dennoch demonstrativ ihren E-Reader ausgepackt. Doch diesen Wink hatte die Plaudertasche nicht so verstanden, wie sie es eigentlich hätte sollen. Sie wechselte einfach kurzerhand das Thema und keifte über solche neumodischen Geräte, anstatt Sarah endlich in Frieden zu lassen.

Irgendwann ignorierte Sarah sie und begann einen Krimi zu lesen. Die Geschichte war brutal und düster, perfekt! Mit kitschigen Schnulzen konnte sie nämlich nichts anfangen. Solche Romane vermittelten jungen Mädchen und naiven Frauen nämlich ein völlig falsches Weltbild. Sie warteten vergeblich auf ihren Prinzen. Doch das Glück, einen echten Prinzen zu finden, hatten im echten Leben nur die wenigsten. Kate, Maxima und Meghan zum Beispiel.

Sarah lebte lieber nach dem Motto: selbst ist die Frau! Am allerbesten für die eigene Zufriedenheit war ein erfülltes Berufsleben. Dann hatte man erst gar keine Zeit für die Liebe und das war gut so. Solch ein Gefühlschaos war nichts anderes als ein Hindernis … und die Konsequenzen – ein Ehemann und Kinder – waren jeder vernünftigen Frau ein Klotz am Bein. Wie viele – eventuell sogar untreue – Männer steckten zum Wohle ihrer Familie denn ihr eigenes Ego zurück? Kaum welche, eben! Nach zu vielen vollen Windeln, Gebrabbel und Babybrei war der Karriere-Zug leider abgefahren.

Statt heiler Welt bevorzugte Sarah einen psychopatischen Serienmörder, der nachts in Schlafzimmer einbrach und mit seinem Messer-Set Massaker anrichtete.

Und das waren erst die Bahnfahrten. Darauf folgte noch eine einstündige Busfahrt! Die war auch nicht ohne und hatte zusätzlich an Sarahs strapazierten Nerven gezehrt.

Sarah hatte den fülligen Busfahrer gefragt, wo genau sie in Gelting aussteigen musste, um am schnellsten ihre Pension zu erreichen. Immerhin würde es in diesem Ort bestimmt mehrere Haltestellen geben. Der glatzköpfige Herr hatte ihr weiterhelfen können, doch das hatte gedauert. Er wollte partout nicht von seinem unverständlichen Plattdeutsch abweichen. Die Sprache des Nordens war für Sarah mehr als fremd. Das ärgerte sie, denn sie bemühte sich doch auch, nicht im breitesten Salzburger Dialekt zu reden.

Als sie den Satz, den er ihr schon etwa zehn Minuten lang unverändert mitteilte, endlich annähernd verstanden hatte, wartete das nächste Problem. Der Bus war völlig überfüllt. Wohin das Auge reichte, saßen oder standen Schüler. Sarah war hier offenbar der einzige Fahrgast, der nicht vom Unterricht nach Hause wollte. Es gab keinen einzigen freien Platz. Weder vorne noch weiter hinten. Das merkte Sarah, als sie sich mitsamt ihrem Gepäck schwitzend durch die eng beisammen stehenden Massen durch den Mittelgang quetschte. Ihre Aktion löste verärgertes Gemurmel aus und sie war froh, dass sie nicht alles verstand, was die Jugendlichen sagten. Freundlich klangen ihre Worte nämlich nicht.

Sie musste sehr verzweifelt gewirkt haben, denn ein großer, schlaksiger Junge mit raspelkurz geschorenen roten Haaren erbarmte sich ihrer. Er überließ ihr seinen Platz und hob sogar ihre Koffer auf die Gepäckablage über den Sitzen. Sarah, die jetzt inmitten dieser jugendlichen Clique saß, musste schmunzeln, denn seit ihrer eigenen Jugend hatten sich die Gesprächsthemen wenig verändert. Sie zogen über Lehrer und nicht anwesende Mitschüler her und diskutierten, ob die Party bei Peer am Wochenende ein Erfolg werden würde. Man erkundigte sich nach Hausübungen und wer wie viel für den Englisch-Test nächste Woche lernen würde.

Bald nahm Sarah all das nur noch unbewusst auf. Sie war ganz in den Bann der Landschaft gezogen. Der Bus fuhr an der grün schimmernden Schlei entlang, vorbei an weiß getünchten, reetgedeckten Häusern und holländisch anmutenden Windmühlen. Auf manchen saftig aussehenden Wiesen grasten Pferde. Wildpferde, wie sie im Reiseführer gelesen hatte? Diese Anblicke entschädigten Sarah zumindest ein bisschen für die Reisestrapazen. Sie merkte, wie sich allmählich Entspannung und Gelassenheit in ihr ausbreiteten. Doch diese ungewohnten Gefühle sollten nicht lange anhalten.

Nun, dreißig Minuten später, stand Sarah mitten im Zentrum von Gelting. Der von naturbelassenen Backsteinbauten und reetgedeckten weißen Häusern gesäumte, recht überschaubare Platz war wie ausgestorben, dabei war es erst kurz nach achtzehn Uhr. Wie war das möglich? In welchem Kaff war sie denn hier gelandet? So hatte sich Sarah den Ortskern nicht vorgestellt.

Die paar Schüler, die gemeinsam mit ihr den Bus verlassen hatten, waren sofort verschwunden, während Sarah noch mit ihrem Gepäck gekämpft hatte. Nach dem Weg zu ihrer Unterkunft hatte sie sich bei ihnen nicht erkundigen können.

Verloren und mutterseelenallein stand sie nun hier mit ihrem Gepäck herum und wusste nicht, wohin. Alle vier Himmelsrichtungen waren mit schmalen Gassen gepflastert. Im Grunde war jede Richtung möglich. Sarah hatte die Qual der Wahl, aber keine Ahnung.

Es war ein trüber später Nachmittag. Der Wind hatte merklich aufgefrischt. Sie zog ein dünnes schwarzes Jäckchen über ihr grün schimmerndes Satinblusenkleid, das knapp unter ihrem ausladenden Hintern endete. Ihre schlanken Beine steckten in einer Lederleggings, die so eng saß wie eine zweite Haut. Normalerweise hätte sie dazu High Heels kombiniert, doch das wäre bei einer so langen Reisedauer weder vernünftig noch bequem gewesen. Daher hatte sich Sarah für flache schwarze Ballerinas entschieden. Hin und wieder musste eben auch eine eigensinnige Frau wie Sarah Hollmann Kompromisse eingehen.

Kopfschüttelnd schaute sie sich um. Das war doch unfassbar und frustrierend! Auf diesem Platz sah sie weder Menschen noch irgendein Geschäft oder ein Lokal. Sarah seufzte. Sie war zwar vorbereitet – sie kannte die Adresse ihrer Pension auswendig – doch das nützte ihr wenig, wenn sie niemanden nach dem Weg fragen konnte. Schlagartig kehrte ihr Unmut über diesen unfreiwilligen Urlaub zurück. Wollte sie hier noch länger untätig warten? Worauf denn? Bis in zwei Stunden der nächste Bus Halt machte und sie entweder den Fahrer oder die wenigen Fahrgäste fragen konnte?

Die Gegend rechts von ihr sah vielversprechend aus. Die Zahl der Häuser dort nahm eindeutig zu. Also schlug Sarah bepackt mit zwei riesigen Hartschalenkoffern, einer prall gefüllten, umgehängten Reisetasche und ihrer großen Handtasche diese Richtung ein. Wenn das Glück auf ihrer Seite wäre, hätte sie die richtige Entscheidung getroffen. Wenn nicht, waren die Chancen vermutlich höher, auf Leben in dieser bebauten Einöde zu stoßen.

Nach einigen Schritten blieb sie überrascht stehen. Das war kaum zu glauben! Da! Diese winzige Gemeinde hoch im Norden Deutschlands war tatsächlich bewohnt!

Es sei denn, dieser Mann auf dem Fahrrad hatte sich ebenso ungewollt hierher verirrt wie sie.

Sarah ließ ihre Koffer los und winkte mit beiden Händen. „Hey! Sie da! Hallo!“

Er verringerte sein Tempo, bremste und kam neben ihr zum Stehen. Der Mann war etwa in ihrem Alter, blond und sehr groß. Obwohl er in gebückter Haltung die Hände an der Lenkstange abstützte, überragte er die 1,61 Meter kleine Sarah bei Weitem.

Er musterte die Unbekannte mit dem strengen, straffen Haarknoten abschätzend. „Lassen Sie mich raten. Sie brauchen Hilfe“, zog er die richtigen Schlüsse.

„So ist es“, sagte Sarah selbstbewusst. Orientierungslos zu sein, war eine Schwäche. Wenn sie sich auch dementsprechend unsicher verhielt, wäre sie demnächst das Gespött des Dorfes. Schaut, das ist die dumme Touristin, die sich in der Enge hier nicht zurechtfindet!

Achselzuckend begutachtete er sein Fahrrad. „Tja, wenn man selbst nicht so viel schleppen kann, sollte man weniger einpacken.“ Er verzog seine Lippen zu einem spitzbübischen Lächeln, das zu seiner Frisur passte. Seine Haare waren wild verwuschelt wie vom Wind zerzaust.

Beleidigt verengte Sarah ihre Augen zu Schlitzen und musterte den Mann finster. „Selbst ist die Frau“, zitierte sie forsch ihr Motto, „Auf Sie bin ich wirklich nicht angewiesen! Ich kann mein Gepäck sehr wohl selbst tragen!“

Ihr Ärger amüsierte ihn. Sein freches Grinsen wurde breiter. „Das war ein Scherz. Sie wirken auf mich alles andere als hilflos.“

„Aber ein schlechter“, gab sie sich unversöhnlich.

„Womöglich bin ich etwas aus der Übung. Weshalb haben Sie mich angehalten?“

Sarah nannte ihm Namen und Adresse ihrer Pension.

„Sie kommen bei den Holms unter? Gute Wahl.“

„Das war nicht meine Wahl“, erwiderte sie giftig. Gleich darauf tat es ihr leid. Er war nicht schuld an ihrer Misere. Wieso bekam er dann ihre Unzufriedenheit zu spüren? Wegen eines nicht witzigen Scherzes? Aber eine Entschuldigung kam für Sarah nicht in Frage. Dann hätte sie Schwäche gezeigt.

Er sah sich stirnrunzelnd um, so als suche er jemanden.

„Wie komme ich dorthin?“, fragte sie betont höflich.

Er schien nicht nachtragend zu sein, denn er erklärte ihr bereitwillig den Weg.

Natürlich, sie war in die falsche Richtung gelaufen. Warum sollte das Glück auch einmal auf ihrer Seite sein?! Sarah bedankte sich und drehte um.

„Nichts spricht dagegen, in Ihre ursprünglich eingeschlagene Richtung weiter zu gehen. In ungefähr dreißig Minuten würden Sie das Meer sehen.“

Sarah ging ein paar Schritte auf den Radfahrer zu. „Klingt verlockend, aber nicht heute. Ich war über elf Stunden unterwegs. Um das Meer zu sehen, habe ich in den nächsten Tagen noch genug Zeit.“ Sie rang sich zu einem kleinen Lächeln durch.

„Das müssen Sie unbedingt. Es ist wunderbar. Und bei elf Stunden Reisezeit hierher wohnen Sie bestimmt nicht direkt am Meer.“

„Stimmt“, antwortete sie zögerlich. Warum interessierte er sich so sehr dafür?! Er hatte ihr geholfen, sie hatte sich bedankt und fertig. Ende. Ab jetzt sollte jeder wieder seines Weges gehen beziehungsweise fahren. Wieso tat er das nicht einfach?

„Wie wäre es mit einer Gegenleistung?“

„Wofür? Für die Wegbeschreibung?“

Er nickte.

„Sie wollen Geld für einen Satz?!“ Sarah war empört.

„Ach, nein. Ich wurde christlich erzogen. Berechnend bin ich nicht.“

Sarah zog eine dünn gezupfte Augenbraue argwöhnisch nach oben.

„Ich will kein Geld von Ihnen, aber ich möchte Sie zum Abendessen einladen. Um zwanzig Uhr in Ihrer Pension?“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Oder besser etwas später? Sie brauchen vermutlich etwas Zeit, um sich in Ihrem Zimmer einzugewöhnen und frisch zu machen.“

Er konnte kaum glauben, dass er diesen Vorschlag wirklich laut ausgesprochen hatte. Aber jetzt war es zu spät, um es rückgängig zu machen. Er erinnerte sich an die Diskussion beim heutigen Frühstück. Ständig lagen sie ihm in den Ohren, sich endlich wieder mit einer Frau zu treffen. Dass er das nicht wollte, interessierte niemanden. So könnte er später zumindest einen Versuch vorweisen. Einen missglückten zwar, aber immerhin einen. Sein Gegenüber würde nämlich garantiert ablehnen. Da war er sich sicher. Sie war eindeutig eine Frau der unnahbaren Sorte. Was auch immer sie hierher verschlagen hatte, nach Gesellschaft sehnte sie sich bestimmt nicht. Außerdem war sie definitiv eine Touristin und die blieben nie länger als zwei oder drei Wochen. Sollte sie wider Erwarten doch zusagen, ging von ihr also keine Gefahr aus.

Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, als er hörte: „Ja. Warum nicht?“

„Wirklich?!“ Er war mehr als überrascht. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht damit. „Aber ist Ihnen das nicht zu stressig? Sie sind gerade erst angekommen“, versuchte er zu relativieren.

„Wollen Sie jetzt einen Rückzieher machen?“, durchschaute sie ihn sofort.

„Auf keinen Fall!“, flunkerte er.

„Gut, dann sehen wir uns um acht.“

Sarah schnappte sich ihre Rollkoffer, drehte sich um und stolzierte erhobenen Hauptes davon. Wer auch immer dieser Kerl war, er war attraktiv. Wieso sollte sie ein gemeinsames Abendessen mit einem sehr ansehnlichen Mann ausschlagen? Zum Lesen bliebe ihr an den anderen Tagen und Abenden noch genug Zeit. Außerdem würde Jens sie loben, wenn er davon erfuhr. So gab sie zumindest vor, diesen Zwangsurlaub zu genießen.

Sie ließ einen verwirrten Mann zurück, der ihr irritiert hinterher starrte. Was hatte er sich da eingebrockt?! Wenigstens würde diese Frau vermutlich in ein paar Wochen wieder aus Gelting verschwinden. Dann könnte er wenigstens behaupten, er hätte es probiert und sich ernsthaft bemüht. Aber leider hatte es nicht geklappt.

KAPITEL 4

So musste die aufgeschäumte Ostsee an einem trüben, regnerischen, stürmischen Tag aussehen. Zumindest stellte Sarah es sich so vor: grau mit vereinzelten blauen Spritzern. Nur, dass Sarah nicht am Strand stand und aufs wild tobende Meer schaute, sondern sich in ihrem Pensionszimmer umsah. Die Wände hatten genau diese Farbe und die Vorhänge ein langweiliges Hellgrau. Das hölzerne Bett, der Fußboden, der dünne Bettvorleger, die Hängeleuchte und die sonstige Einrichtung waren in Anthrazit gehalten. An der Wand hinter dem Kopfende des Bettes hingen acht abwechselnd in Schwarz und Weiß gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien in verschiedenen Größen. Das Birnen-Stillleben und ein Leuchtturm stachen unter den diversen Unterwasserwesen, hauptsächlich Quallen, hervor.

Lebten überhaupt Quallen in der Ostsee? Sarah hatte keine Ahnung. Sie war Historikerin und keine Biologin. Für Naturwissenschaften hatte sie noch nie sonderlich viel übrig gehabt.

Sarah gefiel ihr neues, vorübergehendes Zuhause gar nicht schlecht. Eigentlich hatte sie von einem einfachen Pensionszimmer irgendwo im Nirgendwo, am Rande der bewohnten Welt, Schlimmeres erwartet. Aber selbst sie konnte sich täuschen.

Es wirkte gemütlich und durchaus modern, auch wenn die dunkelblau-weiß-karierte Bettwäsche für Sarahs Geschmack ein wenig rustikal anmutete. Leider war die Aussicht wenig berauschend. Von ihrem Fenster aus schaute Sarah auf eine weitläufige grüne Wiese. Darauf befand sich ein großer, unspektakulärer Holzschuppen, in dessen Nähe sich ein alter Mann und ein kleiner Junge aufhielten. Klar, die Ostsee traf am anderen Ende des Ortes auf Land, aber etwas mehr als eine simple Wiese mit einer Holzhütte hätte man doch erwarten dürfen.

Sarah wandte den Blick von den beiden Personen draußen ab. Sie inspizierte den geräumigen Schrank und legte sich innerlich ein Konzept zurecht. Planung und Ordnung waren bekanntlich das halbe Leben. Sarah fand, dass man sich das Leben dadurch sehr erleichtern konnte. Also machte sie sich gleich daran, ihr Gepäck auszupacken.

Als Sarah aus dem Bad, das in exakt denselben Farben wie das Zimmer gehalten war, wo sie ihre unzähligen Beauty-Utensilien übersichtlich angeordnet hatte, zurückkehrte, begleitete sie eine Frage. Was sollte sie heute Abend anziehen? Einfach und leger in Jeans und T-Shirt? Ganz Businessfrau in Rock und Bluse? War ein Kleid zu aufreizend und könnte einen falschen Eindruck vermitteln? Die drei Outfits, die für später zur Auswahl standen, hatte sie nebeneinander auf dem Bett ausgebreitet. In allen dreien würde Sarah blendend aussehen. Das wusste sie. Reichte das aus? Wäre unnahbar oder bezaubernd besser?

Wie sollte sie dem Blondschopf gegenübertreten?

Es war kein Geschäftsessen und auch kein Date. Oder?

Nein, selbstverständlich nicht. Es war einfach nur eine nette Geste eines höflichen Einheimischen einer Fremden gegenüber. Mehr nicht. Wie kleidete man sich diesem Anlass entsprechend?

Sarah legte großen Wert darauf, immer passend und perfekt angezogen zu sein. Sie ließ sich niemals gehen. Das käme einem Kontrollverlust gleich. Selbst was Sarah zu Hause trug, war aufeinander abgestimmt und kein buntes Sammelsurium an ausgemusterten Stücken. Sogar wenn sie einmal nicht vorhatte, ihre eigenen vier Wände zu verlassen, trug sie dezentes Make-up. Sich aufzuhübschen konnte nie schaden und sein Spiegelbild erträglich zu finden, pushte das Selbstvertrauen.

Schließlich hatte Sarah sich für einen eng anliegenden schwarzen Pullover mit Rundhalsausschnitt und eine helle, ausgewaschene Röhrenjeans entschieden. So konnte sie zeigen, was sie hatte: große, runde Brüste; einen gut proportionierten Hintern und eine schlanke Silhouette mit Kurven an den richtigen Stellen. Sie liebte es, neidische Blicke auf ihren scheinbar perfekten Körper zu ziehen … solange sie angezogen war. Schlichte schwarze Pumps passten zum Outfit genauso gut wie ihr strenger Dutt. Auf ihren Hang zu großem, opulentem, glitzerndem Schmuck verzichtete sie heute und begnügte sich mit kleinen Perlen-Ohrsteckern und ihrer Armbanduhr. Den Lack ihrer Nägel musste sie idealerweise nicht ändern. Nachthimmel nannte sich diese Farbe – tiefschwarz mit silbernen Glitzerpartikeln. Der Klassiker, eine schwarze Handtasche, war selbstverständlich mit im Gepäck.

Zufrieden betrachtete sich Sarah im Spiegel. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Ihr blieben noch vierzig Minuten, bis sie erwartet wurde. Hier wurde sie bald erwartet, doch anderswo nicht gebraucht, was ihre Stimmung dämpfte. Weder Gabriel noch irgendjemand sonst aus ihrem Team hatten sich bei ihr gemeldet. Auch kein E-Mail aus dem Museum hatte sie erhalten. Den ersten Tag ohne sie hatte man dort offenbar gut überstanden. Wirklich freuen konnte sich Sarah darüber nicht. Lief es wirklich auch ohne sie?!

Wahrscheinlich nicht. Vermutlich war Gabriel einfach nur zu stolz und zu stur, um seine Chefin im fernen Gelting um Hilfe zu bitten. Diese Anweisung hatte er bestimmt auch an die Mitarbeiter ausgegeben. Das erklärte die Stille ihres Smartphones.

Allerdings hatte sie einen Anruf zu tätigen. Pflichtbewusst meldete sich Sarah bei Jens, um ihm mitzuteilen, dass sie gut im hohen Norden angekommen war. Natürlich konnte es sie nicht unterlassen zu jammern: über die gar nicht erholsame, sondern beschwerliche Anreise und die menschliche Leere im Ort.

„Das ist doch ausgezeichnet!“, schwärmte Jens, „Du brauchst Ruhe. Wo, wenn nicht dort?“

Sarah prustete verächtlich, was Jens zum nächsten Kommentar veranlasste: „Außerdem wolltest du immer schon einmal unbedingt dorthin. Also beklag‘ dich jetzt nicht, wenn es nicht deinen Erwartungen entspricht, sondern mach‘ das Beste daraus.“

Ganz Unrecht hatte er damit nicht.

„Gefällt dir wenigstens dein Zimmer?“

„Es ist in Ordnung“, stapelte Sarah tief. Sie wollte Jens nicht die Genugtuung gönnen, dass ihre Unterkunft für die nächsten Wochen durchaus erträglich war. Eine andere Nachricht wollte sie ihm allerdings nicht vorenthalten. „Ob du es glaubst oder nicht: Ich habe in dreißig Minuten ein Date mit einem sehr attraktiven Kerl.“

Date war zwar übertrieben, doch das wusste Jens ja nicht. So erweckte sie zumindest den Eindruck, sich amüsieren zu wollen und die Zeit hier zu genießen.

„Wow, das ging ja schnell! Wie heißt denn der Glückliche?“

Sarah wäre beinahe das Telefon aus der Hand gefallen. Das war eine gute, berechtigte Frage, die sie nicht beantworten konnte. „Keine Ahnung.“

Jens lachte. „Du gehst mit einem Typen aus, von dem du nicht einmal den Namen weißt?“

„Ja!“, entgegnete Sarah überzeugt, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen, „Aber er existiert! Willst du ein Beweis-Selfie von uns?!“

„Bloß nicht. Verschrecke ihn nicht gleich. Genieß es, einfach mal nicht an die Arbeit zu denken. Denk lieber an dich und deine Bedürfnisse.“

„Was meinst du damit?“

„Auch du sehnst dich tief in deinem Inneren nach Liebe.“

„Meine Güte!“, meinte Sarah genervt, „Du bist so übertrieben romantisch. Das ist völlig weltfremd.“

„Weil ich an die Liebe glaube, die auch dir jederzeit begegnen könnte?“

„Ich gehe mit jemandem essen, mehr nicht.“ Mit der Bezeichnung Date hatte sie sich ein dummes Eigentor geschossen. „Ich kenne hier niemanden. Alles ist besser, als allein zu essen.“

„Wenn du meinst.“ Sarah konnte sein breites Julia-Roberts-Lächeln aus diesem Satz förmlich heraushören. „Auch du hast ein Recht auf Liebe, Sarah. Wenn sie einem begegnet, muss man dieses Glück aber auch zulassen und das Geschenk dankbar annehmen.“

„Mir ist die Liebe nicht begegnet“, antwortete sie scharf.

„Ach? Tja, dann viel Spaß beim zwanglosen Abendessen mit einem Fremden.“

Jens war einfach unverbesserlich.

„Wow!“, sagte die große, schlanke Brünette, die hinter der Rezeption stand.

Alexandra, die Frau des Pensionsbesitzers, die fast für sämtliche Belange der Gäste zuständig war, mustere anerkennend Sarahs Outfit. Sie redete gern und viel. Viel zu viel für Sarahs Geschmack. Das hatte sie beim Einchecken leidvoll erfahren müssen. Sie wollte daher nur schnell weg. Dummerweise befand sich Alexandras kleines Reich hinter der halbrunden, hölzernen Rezeptionstheke sehr zentral und mit bestem Blick in Richtung Tür und ins Restaurant.

„Sie sehen scharf aus. Zum Anbeißen. Mit Kurven an den richtigen Stellen. Ich bin leider nicht so gesegnet – weder vorne noch hinten.“ Sie schaute mit einem schiefen Lächeln an sich hinab.

Was sollte frau darauf erwidern? Glücklicherweise ersparte ihr Alexandra eine Antwort.

„Wen suchen Sie denn?“, fragte sie neugierig, als sie bemerkte, dass Sarah sich suchend umsah.

Notgedrungen beschrieb Sarah den Mann, mit dem sie verabredet war. Ein überraschtes Lächeln huschte über Alexandras schmales Gesicht, löste sich aber sehr bald in ein höchst erfreutes Grinsen auf.

„Ah!“, summte sie, „Und mir wollte er partout nicht verraten, was er hier so ganz allein macht.“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Tja, vor mir kann man aber nichts verbergen.“

„Er ist also schon da?“ Sarah verrenkte sich, um in das Lokal zu spähen, konnte ihn aber nicht entdecken.

„Kennen Sie sich eigentlich schon länger?“, wollte Alexandra wissen und lehnte sich mit verschränkten Armen auf den Holztresen.

„Wir sind uns vorhin zufällig begegnet.“

„So, so“, sinnierte sie, „Fühlen Sie sich geehrt. Mit Roland auszugehen, wünschen sich hier viele Single-Frauen.“

Roland, so hieß der große, blonde Unbekannte also.

„Und das passiert nicht oft, oder wie?“

„Sehr, sehr, sehr selten.“ Das letzte sehr klang sehr gedehnt. Jetzt wurde diese Unterhaltung für Sarah richtig interessant. Offenbar traf sich Roland nicht häufig mit Frauen. Von Beziehungen hielt er anscheinend nicht viel. Exzellent. Das entsprach genau Sarahs Idealen. Sie würde heute mit ihm essen, aber sie wollte in diesem Kaff keinen anhänglichen Mann fürs Leben finden. Sie brauchte keinen Klotz am Bein, der ihre Karriere zunichtemachen könnte, sobald er sich Nachwuchs in den Kopf gesetzt hätte. Oder Schlimmeres. Vielleicht müsste sie sogar hierher ziehen, wenn er hier fest verwurzelt wäre. Nie im Leben!

„Ich esse also nicht mit dem Dorf-Womanizer zu Abend“, schlussfolgerte Sarah und setzte sich in Bewegung.

„Ganz sicher nicht.“ Alexandra kicherte. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend mit unserem Pastor!“ Pastor?!

Sarah hatte Mühe, auf ihren Pumps nicht zu stolpern.

Dann entdeckte sie ihn. Er saß an einem Tisch direkt an der großen Fensterfront. Dahinter erstreckte sich das satte Grün vieler Bäume. Man blickte hinaus in einen überschaubaren, gepflegten Garten. Auch er hatte sie bemerkt und erhob sich lächelnd, als sie den schwarzen Tisch erreichte. Nichts, absolut nichts deutete darauf hin, dass es sich bei diesem Kerl um einen Mann Gottes handelte.

„Hochwürden“, begrüßte sie ihn amüsiert über die unvorhergesehene Wendung, die dieser Abend brachte.

Sie reichten sich förmlich die Hände. Sein Händedruck war warm und fest, seine Hände waren weich. Sarah wusste auch, warum. Körperlich anstrengende Arbeiten gehörten nicht unbedingt zu seinen Aufgaben. Ein bisschen predigen, ein wenig Trost spenden und gelegentlicher Religionsunterricht, damit die Jugend nicht vom rechten Weg abkam – das war das Jobprofil eines Priesters. Ob evangelisch oder katholisch war in dieser Hinsicht egal.