Keksglück und die große Liebe - Hanna E. Lore - E-Book
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Keksglück und die große Liebe E-Book

Hanna E. Lore

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Beschreibung

Zwischen den Schwestern Wendy, Ronja und Lea herrscht seit Jahren Funkstille. Unter einem Vorwand lockt ihr Vater sie ins winterliche Dorf Talschluss, wo sie die Weihnachtsfeiertage miteinander verbringen müssen. Die Stimmung ist alles andere als besinnlich. Alte Konflikte kochen hoch und Geheimnisse kommen ans Licht. Papas junge Lebensgefährtin ist Wendy ein Dorn im Auge, Ronja trifft auf ihren Ex, nicht nur die Blinklichter des dekorationswütigen Nachbarn rauben Lea den Schlaf … Weihnachten in Talschluss – von Weihnachtsfrieden keine Spur! Doch neben Familienwahnsinn, Zwist, Vanillekipferln, Mohnsternen und Lebkuchen bleibt auch Zeit für die Liebe.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Hanna E. Lore

Keksglück und die große Liebe

Forgive, sounds goodForget, I'm not sure I couldThey say time heals everythingBut I'm still waiting (The Chicks, “Not Ready to Make Nice”)

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

Impressum

KAPITEL 1

Eigentlich war Gwendolin Elodie Weiß, Wendy genannt, eine Frau, die kaum etwas erschüttern konnte. Zu viel Negatives war ihr in ihren siebenunddreißig Lebensjahren schon widerfahren. Ihre Tränen vergoss Wendy heimlich. Sie hatte gelernt, es sich nicht anmerken zu lassen, wenn ihr etwas zusetzte. Die Fassade aufrechtzuerhalten, war ihr das Wichtigste.

Der Kampfgeist, ihre Selbstdisziplin waren ihr mit ihrem Namen in die Wiege gelegt worden. Gwendolin hatte keltische Wurzeln und bedeutete schöne oder weiße Blume. Elodie war im Altfranzösischen beheimatet und wurde mit Sieg, Kampf übersetzt.

Wendy kämpfte immer bis zum bitteren Ende. Als Siegerin ging sie jedoch selten hervor.

Wendy schob das silberne Rentier ein Stückchen weiter nach rechts, arrangierte die roten, goldenen und grünen Kugeln zu seinen Füßen neu und verteilte den Kunstschnee mit flachen Fingerkuppen, damit nichts davon unter ihren langen, akribisch gefeilten weinroten Nägeln haften blieb.

Sie hob den Kopf, sah durchs Schaufenster und lächelte. Es schneite! Nicht nur ein bisschen, sondern ergiebig! Die Pflastersteine der Getreidegasse erkannte sie unter der weißen Pracht schon gar nicht mehr. Das Schönste daran war, dass sich der frische Schnee nicht gleich in Matsch verwandelte, sondern liegen blieb. Eine Seltenheit in dieser Stadt!

Zielstrebig und eilig wuselten die Menschen durchs dichte Schneetreiben, die schmale Gasse entlang wie Ameisen auf dem Weg in ihren Bau. Viele kannten ihn heutzutage nicht mehr, den Zauber der Weihnacht. Hektik bestimmte den Alltag der meisten Erwachsenen. Einzig und allein einige Kinder genossen und bestaunten den Tanz der dicken Flocken um sie herum. Je jünger sie waren, umso faszinierender fanden sie dieses rare Naturschauspiel. Ein Junge in gelber Daunenjacke, der brav an der Hand einer molligen, älteren Frau ging, streckte die Zunge heraus und ließ so viele kalte, nasse Flocken wie möglich darauf landen.

Wendy schmunzelte. Sie mochte Weihnachten, insbesondere die Vorweihnachtszeit – alles daran: die Vorfreude, die Dekoration, viel Glitzer, den Duft von Keksen, das Flanieren über Adventmärkte, die Suche nach passenden Geschenken, Weihnachtslieder, die wie hier im Laden derzeit überall leise aus den Lautsprechern dudelten.

Gerade sang Kelly Clarkson Rockin‘ around the Christmas tree UND es schneite draußen. Wendys Welt war in Ordnung. Noch. Niemals hätte sie erwartet, dass bald etwas ihre Weihnachtsstimmung trüben könnte.

Sie freute sich darauf, in ihrer Mittagspause die paar Meter zum Supermarkt um die Ecke zu stapfen. Das wäre zwar kein ausgiebiger Winterspaziergang, aber besser als gar nichts. Wenn es in Salzburg schon so heftig schneite, mussten die Neuschneemengen in Talschluss, wo sie aufgewachsen war, erst recht immens ausfallen. Plötzlich konnte sie es gar nicht erwarten, warm eingepackt durch die winterliche Postkartenidylle zu schlendern.

Das Glöckchen über der Eingangstür bimmelte, als eine Kundin den Laden betrat. Carmen, ihre Kollegin, nahm sich ihrer an. Dass die Frau genügend Geld besaß, um hier einzukaufen, merkte Wendy auf den ersten Blick. Ihr selbstbewusstes, nobles Auftreten verriet ihren Reichtum – oder zumindest den ihres Gatten. Die Klientel war gehoben, die Auswahl an auserlesener, außergewöhnlicher Mode exklusiv. Dank Mitarbeiterinnenrabatt und einem nicht schlechten Gehalt ihres Ehemannes konnte sich auch Wendy einige Stücke aus dem hiesigen Angebot leisten. Es musste nicht alles teuer sein, wenn man die Teile geschickt miteinander kombinierte. Wendy verfügte über diese Begabung. Sie liebte Mode.

Außerdem konnte sie sich diesen Hauch von Luxus leisten, weil Alex und sie keine Kinder hatten. Nachwuchs kostete Geld. Die Babyerstausstattung musste angeschafft werden, die Ausbildung kostete, Freizeitaktivitäten ebenso. Kleidung, aus der die Kinder herauswuchsen, musste erneuert werden. Dazu kamen Spielzeugwünsche und später der Drang zum immer neuesten Modell, was Smartphones oder Laptops betraf.

So gesehen hatte es durchaus Vorteile, kein Kind in die Welt zu setzen. Doch für ein eigenes Baby hätte Wendy alles Geld dieser Welt gegeben.

Als Doro von ihrer Rauchpause zurückkehrte, begann Wendys Mittagspause. Sie betrat den beengten Personalraum und rümpfte missbilligend die Nase. Der unangenehme Zigarettengeruch, den Doro hinterlassen hatte, störte Wendy. Vielleicht, weil er sie an ihr früheres Laster erinnerte. Mühsam, aber konsequent hatte sie sich das Rauchen abgewöhnt und eine gesündere Lebensweise angeeignet.

Was hatte ihr das gebracht? Nichts … zumindest nicht das, was sie sich davon erhofft hatte!

Wendy nahm ihr Smartphone aus der Handtasche. Es war das erste Mal seit ihrem Dienstbeginn vor vier Stunden, dass sie einen Blick darauf warf. Sie hatte zwei Anrufe ihres Vaters verpasst. Er hatte eine Nachricht auf ihrer Mobilbox hinterlassen, in der er sie dringend um einen Rückruf bat. Das war untypisch für ihn. Normalerweise konnte ihren Vater nichts aus der Ruhe bringen. Stress war ihm fremd. Beneidenswert!

Ein mulmiges Gefühl erfasste Wendy. War etwas passiert? Mit ihm oder mit Lea? Machte sie sich einmal mehr zu viele Gedanken und er wollte nur etwas völlig Banales von ihr? Eventuell hatten sich bloß seine Pläne für Heiligabend geändert oder sie sollten noch etwas besorgen, bevor Alex und sie am vierundzwanzigsten Dezember zu ihm nach Talschluss aufbrachen.

Aber rechtfertigte das die dringliche Nachricht auf der Mobilbox?

Wendy setzte sich auf den nächstgelegenen der drei weißen Kunststoffstühle und tippte auf Papa. Augenblicklich nahm er ihren Anruf entgegen. Auch das war beunruhigend.

„Hi, Papa. Du wolltest mit mir sprechen.“ Das drängende Fragezeichen in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„Wendy!“ Er klang einerseits erleichtert, andererseits gehetzt. „Ist viel los so kurz vor Weihnachten bei euch im Laden?“

Wendy überschlug die Beine und wippte unruhig auf der Ferse. „Mhm, wie jedes Jahr. Die Leute drehen durch. Alle sind im Weihnachtsfieber. Sie rennen durch die Getreidegasse wie aufgeschreckte Hühner auf der Flucht vor einem Fuchs.“

Ihr Vater lachte. „Schneit es bei euch auch? Wahrscheinlich nicht …“

„Doch, doch! Richtig dicke, schöne Flocken! Es ist traumhaft!“, schwärmte sie. „Aber du willst mit mir bestimmt nicht übers Wetter reden. Was ist so wichtig?“

„Ich bin krank.“

„Oh.“ Wendy überlegte kurz. „Grippe oder eine Erkältung? Sollen wir dich ein anderes Mal besuchen? Es muss nicht der Heilige Abend sein. Kuriere dich in Ruhe aus, Papa. Brauchst du etwas? Soll ich dir etwas bringen? Medikamente, Obst, Taschentücher, Lesestoff?“

Salzburg lag zwar gut eineinhalb Autostunden von Talschluss entfernt, aber wenn ihr Vater etwas benötigte, würde Wendy die Fahrt natürlich auf sich nehmen. Lea schied als Alternative aus, sie wohnte in Berlin.

„Ich bin krank, Wendy“, wiederholte er, „Ich habe einen Tumor im Gehirn. Mir bleiben noch ein paar Monate.“

Für einige Sekunden setzte Wendys Denken aus. Dann begann es in ihrem Kopf zu rattern. Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie fieberhaft nach einem Ausweg, einer Lösung suchte.

„Kann man dieses … dieses … Ding nicht … herausoperieren?“

„Nein, die Geschwulst ist inoperabel.“

„Das ist doch eine Form von Krebs, oder? Bestrahlung! Chemotherapie! Es muss doch irgendeine Form von Behandlung geben!“, schrie sie verzweifelt und hielt sich die Hand vor den Mund, als sie merkte, dass sie laut geworden war.

„Zu spätes Stadium, leider. Pech für mich. Shit happens“, versuchte er es mit Humor. Wendy sah ihren Vater förmlich vor sich, wie er schmunzelnd mit den Schultern zuckte.

„Heutzutage gibt es doch zig Medikamente. Es muss …“

„Wendy, ich werde sterben. Belasse es dabei. Mach‘ es dir nicht schwerer, als es ist. Ich nehme Tabletten gegen die Kopfschmerzen. Ansonsten möchte ich die letzten drei oder vier Monate meines Daseins so weiterleben wie bisher.“

„Ja, gut. Schon. Aber es muss doch …“, ließ sie nicht locker. Diese Nachricht war zu grauenhaft, um sie wahrhaben zu wollen. Also verschloss Wendy die Augen davor wie ein Kind. Wenn sie sich standhaft weigerte, die Diagnose zu akzeptieren, könnte der Tumor verschwinden. Spontanheilungen waren belegt, selten, aber doch.

„Nein, Wendy.“

„Alternative Behandlungsmethoden. Hast du dich darüber schlau gemacht, Papa? Hast du … hast du eine zweite Meinung eingeholt? Vielleicht ist es eine Fehldiagnose!“

Jetzt, da sie es laut ausgesprochen hatte, kam es ihr plausibel vor. Ärzte konnten sich irren.

„Wendy, ich bin austherapiert. Mit meinen Medikamenten komme ich möglichst schmerzfrei ins Grab. Dort werde ich landen. Bald sogar. Es gibt keine Chance auf Heilung. Keine, hörst du? Nicht einmal eine minimale. Bitte finde dich damit ab.“

Wendys Lippen zitterten. Sie rang um Fassung und fragte dann mit fester Stimme: „Wie lange weißt du es schon?“

„Seit einigen Wochen. Du kennst mich. Wegen ein bisschen Kopfweh suche ich keinen Doktor auf. Tja, als ich dann doch hinging, weil die Schmerzen schlimmer wurden, war es zu spät. Wie Schopenhauer zu sagen pflegte: Das Schicksal mischt die Karten und wir spielen. Mein Blatt war schlecht, Wendy.“

„Es gibt mehr Menschen, die kapitulieren als scheitern“, hielt sie dagegen. Diese Weisheit von Henry Ford hatte ihr Vater ihr mehr als einmal gepredigt. Was das Auftrumpfen mit Zitaten betraf, war sie ihm beinahe ebenbürtig. Ihr Vater haute bei jeder Gelegenheit einen passenden Spruch raus. Den ein oder anderen hatte sich Wendy gemerkt. „Wo ist deine Hoffnung hin, Papa?“

„Es gibt Momente im Leben, wo man an eine Stelle gelangt, an der eine sehr hohe Mauer den Weg versperrt. Keine Leiter ist vorhanden. Ich kann nicht mit dem Kopf durch die Wand. Ich habe keine Möglichkeit, über die Hürde zu klettern. Der Punkt, an dem ich mich meinem Schicksal fügen muss, ist erreicht. Warum, glaubst du, weihe ich dich erst jetzt ein? Ich habe meine Zeit gebraucht, um selbst damit klarzukommen. Und ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet mich die Worte eines katholischen Heiligen einmal trösten werden, aber Franz von Assisi hat Recht: Der Tod ist das Tor zum Licht am Ende eines mühsam gewordenen Weges.“

Ihr Vater wollte nicht kämpfen. Einen Sieg gegen den Krebs zu erringen, schien für ihn aussichtslos. Wie er sollte sie sich damit abfinden, ihn unterstützen und ihn nicht zusätzlich belasten. Wendy war die Ältere. Sie musste Lea beistehen, wenn es so weit wäre. Kinder verloren ihre Eltern. Das war der Lauf der Zeit. Sie hatten den Tod ihrer Mutter in deutlich jüngeren Jahren gemeinsam durchgestanden. Sie würden das ein zweites Mal schaffen.

„Ich habe einen Wunsch“, sagte ihr Vater, „Es betrifft das Weihnachtsfest. Immerhin wird es mein letztes werden.“

Wendy schluckte schwer. Sie ärgerte sich darüber, wie brüchig sich ihre Stimme anhörte, als sie erwiderte: „Alles, was du willst, Papa.“

„Du und Alex werdet den Heiligen Abend mit mir verbringen.“

„Wie jedes Jahr, Papa, selbstverständlich.“

„Ich möchte, dass ihr länger bleibt.“

„Wie lange?“, hakte Wendy nach.

„Die Feiertage über. Am Siebenundzwanzigsten könnt ihr wieder abreisen.“

Wendy wurde heiß und kalt zugleich. Sie unterdrückte ein beleidigtes Grummeln. Was er vorhatte, bedeutete …

Jeder Weihnachtstag gehörte einer anderen Schwester. Auf Lea zu treffen, stellte kein Problem dar, doch Ronja wollte sie auf keinen Fall wiedersehen!

„Wird sie auch da sein?“, erkundigte sich Wendy argwöhnisch.

„Wen meinst du?“

„Papa, bitte! Dafür fehlen mir jetzt echt die Nerven!“, konterte Wendy gereizt.

„Ich möchte jeder Tochter einige Tage widmen. Allein. Du und Alex werdet mich zuerst besuchen. Lea hat noch sehr viel in Berlin zu tun und wird erst im Laufe der Woche nach Weihnachten auftauchen. Ronja verbringt ihren Skiurlaub bei mir, aber keine Sorge, nicht zeitgleich mit euch“, versicherte er ihr.

„Wirklich?“ Wendy klang nicht restlos überzeugt.

„Habe ich dein Vertrauen jemals missbraucht, Gwendolin?“

Hatte er nicht! Auf ihren Vater war Verlass.

Grundsätzlich lief seit ihrer Hochzeit vor fünf Jahren jedes Weihnachtsfest gleich ab. Den Heiligabend verbrachten Wendy und Alex bei ihrem Vater. Am Nachmittag nach Ladenschluss brachen sie nach Talschluss auf, feierten mit ihrem Vater und übernachteten dort. Auf dem Heimweg am nächsten Tag schauten sie bei Alex‘ Eltern vorbei.

Das ließ sich umdisponieren. Angesichts der Umstände würden ihre Schwiegereltern verstehen, warum sie in diesem Jahr von der Gewohnheit abwichen.

Wendy willigte ein und ihr Vater bedankte sich erleichtert.

„Eine Bitte habe ich noch“, fügte er hinzu.

„Ja?“

„Erzähle Lea nichts von unserer Unterhaltung.“

Wendy runzelte die Stirn. Manchmal schickten sie sich kurze Nachrichten oder telefonierten an ihren Geburtstagen miteinander. Darauf beschränkte sich der Kontakt zu ihrer jüngsten Schwester im Wesentlichen.

„Ich möchte es ihr persönlich mitteilen. Immerhin ist sie unser Nesthäkchen“, erklärte er entschuldigend.

Ja, Lea hatte eine Sonderstellung inne. Der frühe Tod der Mutter hatte Vater und Tochter eng zusammengeschweißt, enger als die anderen.

„Du bist stark, eine Kämpferin“, verwies er auf ihren zweiten Vornamen. „Ich wollte dich nicht ausgerechnet an Weihnachten mit dieser Nachricht überrumpeln, sondern … ahm … vorwarnen. Du brauchst Zeit, um das sacken zu lassen.“

Großzügig von dir, dachte Wendy bitter.

Das sprach sie jedoch nicht laut aus, sondern sagte: „Mhm“.

Mehr brachte sie nicht hervor. Wendy spürte, wie ihre Fassade zu bröckeln begann. Wenn sie dieses Gespräch nicht bald beendete, würde ihr Vater merken, wie sehr sein bevorstehender Tod sie mitnahm, und das würde ihn wiederum belasten. Das wollte Wendy nicht. Sie wollte ihm keinen zusätzlichen Kummer bereiten.

„Papa, es tut mir leid, aber meine Mittagspause ist bald zu Ende. Ich muss …“

„Natürlich!“, unterbrach er sie prompt, „Lass dich von deinem alten Vater nicht länger aufhalten. Wir sehen uns in ein paar Tagen.“

„Ja. Pass auf dich auf, Papa.“

„Keine Sorge, ich werde keine Sekunde früher von dieser Welt verschwinden als unbedingt notwendig“, beteuerte er lachend, bevor sie sich endgültig verabschiedeten.

Wendy legte ihr Smartphone beiseite und ihre zitternden Hände auf den Bauch. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen, das nicht vom Hunger kam. Der Appetit war ihr inzwischen vergangen, aber essen musste sie trotzdem etwas. Ansonsten würde sie den anstrengenden Nachmittag knapp vor Weihnachten in der Boutique nicht durchstehen.

Einen Moment für sich brauchte sie noch. Etwa eine Minute lang wurde Wendys gekrümmter Körper von heftigen, aber erstickten Schluchzern geschüttelt. Mehr ließ sie nicht zu. Danach wischte sie die Tränen weg, kramte ihren Taschenspiegel und ihre Schminkutensilien hervor und frischte ihr Make-up auf.

Wie in Trance, ohne ihre Umgebung klar wahrzunehmen, marschierte sie zum Supermarkt. Den Winterspaziergang durchs dichte Schneetreiben, auf den Wendy sich vorhin so gefreut hatte, genoss sie nicht.

KAPITEL 2

Eigentlich war Ronja Enja Hofer ihrem literarischen Vorbild ähnlich. Ihre Eltern, hauptsächlich ihr Vater, ein Linguist, statteten ihre Töchter mit besonderen Namen aus. Kaum ein Kind hieß – damals wie heute – wie eines der drei Mädchen.

Ronja ging auf Astrid Lindgrens Räubertochter zurück. Eine Geschichte, die Ronja geliebt hatte. Auch Enja passte. Die Feurige war rothaarig.

Das Faible für bedeutungsvolle Namen hatte auf Ronja abgefärbt. Ihre siebenjährige Tochter hieß Susanne, benannt nach ihrer früh verstorbenen Mutter, also Susis Oma.

Tja, eigentlich. Denn die echte Ronja war nicht immer so lebhaft, mutig und stark wie die Romanheldin aus dem Kinderbuch. Doch das war ein Umstand, den Ronja geschickt zu verbergen versuchte.

Manchmal – sehr häufig, um ehrlich zu sein – überforderte sie schon die Haushaltsführung. Heute hatte sie beschlossen, nach längerer Zeit endlich wieder Herrin über das Chaos zu werden. Der Schmutzwäscheberg war verschwunden. Nun widmete sich Ronja dem Abwasch, den sie bereits zu viele Tage hintereinander vernachlässigt hatte. Manche eingetrocknete Essensreste hatten schon zu müffeln angefangen. Es wurde allmählich wirklich Zeit, sich darum zu kümmern!

Ronja summte inbrünstig mit und ließ zu Shakiras bekanntesten Hit die Hüften kreisen, während sie die Pfannen schrubbte. Selbst als bereits die Nachrichten zur vollen Stunde aus dem Radio drangen, klang die Musik in ihrem Kopf noch nach. Den Wetterbericht verfolgte sie hellhörig. Der Sprecher redete von ergiebigem Schneefall in den westlichen und südlichen Bundesländern. Von Salzburg ostwärts kam hingegen kaum Neuschnee dazu.

Neuschnee, welcher Schnee?, dachte Ronja kopfschüttelnd.

Von ihrem Küchenfenster aus sah sie die dreckige Fassade des gegenüberliegenden Hauses, einen Teil der Straße und trüben, trostlosen grauen Himmel. Hin und wieder fegte eine Windböe ein paar trockene braune Blätter vorbei.

„Einmal mehr werden es in der Bundeshauptstadt grüne Weihnachten werden“, verkündete der Meteorologe im Radio, „Überall, wo es aktuell schneit, stehen die Chancen gut, dass die weiße Pracht bis Heiligabend hält. Von Vorarlberg über Tirol bis Salzburg, auch in Teilen Kärntens kommen in den nächsten Tagen sogar noch einige Zentimeter dazu.“

Ronja grinste breit. Wie schön, dass sie Wien bald für einige Tage den Rücken kehren konnte. Talschluss lag im Herzen Salzburgs, mitten im schneereichen Zentrum der derzeitigen Niederschläge. Genau dort würden Susi und sie ab sechsundzwanzigstem Dezember einen Teil der Weihnachtsferien verbringen. Ski fahren, Rodeln, Spaziergänge und Toben durch tiefwinterliche Wälder … all das, was sie in Wien nicht machen konnten, wartete dort auf sie.

Fröhlich schaute Ronja zu, wie das Wasser in den Abfluss sickerte. Jetzt stand der angenehme Teil des Nachmittags bevor. Sie schaltete das Radio aus und machte es sich mit einer Tasse himmlisch duftendem Früchtetee, gekauften Lebkuchen und einem Fantasy-Schmöker auf der blauen Zweisitzer-Couch bequem.

Ronja liebte ihr Kind abgöttisch, aber ein paar Stunden ohne Susi waren Erholung pur. Lange hatte sie sich für derlei Gedanken geschämt. Mittlerweile wusste sie, dass es allen Müttern so ging, nicht nur den Alleinerzieherinnen. Gelegentlich durfte jede Frau der Mutterrolle entschlüpfen. Das entspannte ungemein.

Ronja biss in den mit dunkler Schokolade umhüllten Lebkuchenstern und verzog das Gesicht. Der Keks schmeckte nicht schlecht, war aber meilenweit von der Köstlichkeit entfernt, die ihre Mutter jeden Advent gezaubert hatte. Sie seufzte enttäuscht. Eine Marke mehr, die sie hoffnungsvoll auf die Liste gesetzt hatte, nun aber streichen konnte. Beinahe jedes Lebkuchenrezept, das sie in Kochbüchern oder im Internet finden konnte, hatte sie bereits probiert. Ronja hatte es mit Fertigteigmischungen versucht und zahlreiche Produkte verschiedenster Hersteller getestet. Kein einziger Lebkuchen, den sie seit dem Tod ihrer Mutter vor zwölf Jahren gekostet hatte, kam auch nur annähernd an das Original heran.

Na ja, immerhin blieben ihr an diesem Nachmittag der aromatische Tee und der neueste Band ihres Lieblingsschriftstellers. Zumindest seine Fantasy-Reihe war und blieb beständig grandios!

Lange währte Ronjas Lesevergnügen nicht. Nach knapp zwei Seiten rief ihr Vater an.

„Hi, Papa!“, begrüßte sie ihn betont beschwingt. Sie liebte ihn, er half ihr, wo er konnte beziehungsweise sie es zuließ. Er sollte nicht merken, dass er störte.

„Hallo, Ronja. Wie verbringst du deinen Sonntagnachmittag?“

Sie fasste kurz zusammen, wobei er sie unterbrochen hatte.

„Oh, dann störe ich dich“, erwiderte er geknickt.

Das wäre der Moment gewesen, ihn darum zu bitten, sie später anzurufen, doch Ronja brachte es nicht übers Herz. „Nein, du störst nie, Papa.“

„Du bist allein, richtig? Susi ist auf der Geburtstagsfeier ihrer Freundin?“, erkundigte er sich.

„Ja, Susi ist bei Valerie. Ich hole sie gegen siebzehn Uhr ab.“

Ihr blieben noch zwei einsame, friedliche Lesestunden, wenn es ihr gelang, das Telefonat mit ihrem Vater bald zu beenden.

„Wie läuft’s beruflich? Viel zu tun um diese Jahreszeit, hm?“

Damit meinte er nicht ihre Teilzeitstelle als Sprechstundenhilfe bei einer Gynäkologin, sondern ihren Zweitjob. An zwei Abenden pro Woche, meistens freitags und samstags, kellnerte Ronja in einer Bar um die Ecke. Währenddessen passte ihr Nachbar Ben auf Susi auf. Wenn ihr Vater in der Stadt war, gab er gern den Babysitter für seine Enkelin.

„Viele Weihnachtsfeiern. Stressig, ja, aber es macht großen Spaß.“

Das stimmte nicht. Ronja brauchte das Geld.

Zu Hause zu entspannen, Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen, wäre ihr lieber gewesen, als fremde Menschen zu bedienen.

„Du weißt, dass ich dich jederzeit …“

Ja, das wusste sie. Er würde sie jederzeit finanziell unterstützen. Doch Ronja wollte ihr Leben aus eigener Kraft meistern. Keine Dreiunddreißigjährige wollte noch Geld von ihrem Vater zugesteckt bekommen.

„Und du weißt, wie ich darüber denke“, meinte sie verstimmt.

Ronja wusste, was er darauf antworten würde, und sie behielt Recht. „Mein Angebot steht.“

„Versinkt Talschluss im Schnee?“, wechselte sie das Thema.

„Es schneit und schneit und schneit. Pausenlos!“

„Großartig!“, jubelte Ronja.

„Ja, großartig“, murmelte er und fügte schwermütig hinzu, „Es wird mein letzter Winter werden, Ronja.“

„Was?!“ Plötzlich saß sie aufrecht auf dem Sofa, ihr Herz pochte schneller.

„Ich bin krank. Ein Tumor in meinem Kopf. Mir bleiben noch drei, vielleicht vier Monate.“

Was ein paar Worte bewirken konnten … sie entrissen ihr den Boden unter den Füßen.

Ronja schluckte den riesigen Kloß, der in ihrem Hals steckte, hinunter. „Wie … wie geht’s dir … damit?“

„Ich komme klar“, entgegnete er, „Manchmal plagen mich Kopfschmerzen, aber dagegen nehme ich Medikamente. Wenn sie gegen Ende hin stärker werden, werden eben auch die Medikamente stärker. Es ist, wie es ist.“

„Gibt es keine Therapie? Hast du alle Möglichkeiten ausgeschöpft? Wirklich alle?!“

Falls er bejahte, konnte sich Ronja darauf verlassen, dass tatsächlich keine Chance auf Heilung bestand.

„Ja.“

Sie schloss kurz die Augen, doch es half nichts. Als Ronja die Lider wieder öffnete, war sie nicht aus diesem Albtraum erwacht. „Wie lange weißt du davon?“

„Seit ein paar Wochen.“

„Du bist so oft bei uns in Wien und hast nie etwas gesagt!“ Ronja bemühte sich um einen gelassenen Tonfall, konnte aber ihren Zorn, vermischt mit Enttäuschung, nicht gänzlich verbergen.

Es erschien ihr nicht richtig, wütend auf jemanden zu sein, der bald sterben würde. Dennoch war sie es. Hätte ihr Vater seine Krankheit früher erwähnt, hätte sie die wenige verbleibende Zeit mit ihm bewusst verbringen können. Stattdessen hatten sie sich über Belanglosigkeiten unterhalten, wenn er wochentags seiner Professur an der Universität nachging, hin und wieder zum Essen vorbeikam und auf Susi aufpasste.

„Ich wollte dich nicht belasten“, entschuldigte er sich.

„Papa, ich bin erwachsen. Du kannst mich belasten. Ich wünschte sogar, du hättest es getan“, seufzte Ronja.

„Ihr werdet immer meine kleinen Mädchen bleiben. Sobald man Kinder hat, entsteht ein Beschützerinstinkt, den man nie wieder loswird. Wem sage ich das? Dir geht’s mit Susi genauso!“

Ja, das stimmte, musste Ronja ihrem Vater zugutehalten. Ihr Ärger legte sich.

„Wie spontan bist du, was deine Pläne für Weihnachten betrifft?“

„Spontanität ist mein dritter Vorname“, versuchte sie zu scherzen, auch wenn ihr nicht danach zu Mute war. Ronja wollte tapfer sein. Für ihn.

„Könntet ihr schon den Heiligabend mit mir verbringen und bis inklusive sechsundzwanzigsten Dezember bleiben?“

Ronja fuhr den Umriss eines eingetrockneten, verblassten, aber immer noch sichtbaren Schokoflecks nach, den Susi auf dem Sofa hinterlassen hatte. Damals war sie drei oder vier Jahre alt gewesen und hatte mit ihren winzigen, ständig schmutzigen Patschhändchen alles berührt, was sie erreichen konnte.

„Ronja, bist du noch dran?“

„Papa, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Der Heilige Abend ist … ist … Wendys Tag.“

„Wendy und Alex werden mich erst zum Jahreswechsel besuchen.“

Wendy und Alex. Zwei Menschen, die Ronja früher sehr geliebt hatte. Zwei Menschen, mit denen sie heute nicht einmal mehr im selben Raum sein wollte.

„Ihr werdet euch nicht über den Weg laufen. Obwohl ich natürlich hoffe, dass ihr euch versöhnt. Wollt ihr zerstritten und getrennt voneinander bei meiner Beerdigung an meinem Grab stehen?“

Ronja nahm das Buch, das sie über den rechten Oberschenkel gelegt hatte, und platzierte es auf dem kniehohen weißen Würfel, der als Beistelltisch fungierte.

„Vielleicht passiert eine Wunderheilung. Soll vorkommen. Dann wird das kommende gar nicht dein letztes Weihnachtsfest“, wich Ronja aus, glaubte aber selbst nicht daran.

„Du liest zu viele Fantasy-Romane.“

Leider zu wenige, dachte Ronja an ihre spärliche Freizeit.

„Nur du, Susi, Lea und ich?“, hakte sie nach.

„Lea hat noch zu viel in Berlin zu tun. Sie wird es erst nach Weihnachten schaffen, Mitte der Woche vermutlich. Apropos, Lea. Verrate ihr bitte nichts von unserem Gespräch. Dich wollte ich vorwarnen, aber ihr möchte ich es persönlich mitteilen, von Angesicht zu Angesicht. Mein Nesthäkchen ist zart besaitet. Ich möchte Lea nicht am Telefon sagen müssen, dass ich bald sterben werde. Das wäre zu viel für sie.“

Ronja nickte. Als ihr einfiel, dass ihr Vater das nicht sehen konnte, sicherte sie ihm ihr Schweigen zu.

„Sag‘ auch Susi nichts davon“, bat er sie. „So lange ich kann, möchte ich eine unbeschwerte Zeit mit meiner Enkelin genießen.“

Siedend heiß wurde Ronja bewusst, dass für ihre Tochter eine Welt zusammenbrechen würde, sobald ihr Opa nicht mehr da wäre. Susi hing an ihm. Wie sehr sie ihn liebte und vergötterte, ließ sich nicht in Worte fassen. Seinen Tod würde die Kleine noch schlechter und schwerer verkraften als ihre Patentante Lea.

„Okay“, stimmte sie zu.

Sie hielt es tatsächlich für besser, ihrer Tochter zunächst die Wahrheit zu verheimlichen. Ronja wollte ihr die Feiertage nicht ruinieren, aber irgendwann musste sie ihr von der Diagnose berichten. Wie informierte man eine Siebenjährige über den baldigen Tod ihres Großvaters? Was wäre richtig, was falsch? Gab es für so etwas überhaupt eine richtige oder falsche Methode? Existierte dafür ein richtiger oder falscher Zeitpunkt?!

Fragen über Fragen, die auf Ronja einprasselten und sie quälten. Fragen, auf die sie im Moment keine Antworten fand.

Bedrückendes Schweigen folgte. Das war seltsam, denn normalerweise fanden ihr Vater und sie immer Themen, über die sie sich unterhalten konnten.

„Wie machen uns ein schönes Weihnachtsfest!“, sagte Ronja schließlich.

„Das tun wir! Halt die Ohren steif!“

„Du auch, Papa.“

Er lachte. „Ich halte es wie Winston Churchill: Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird.“

Bis du eines Tages nicht mehr aufstehen wirst, dachte Ronja deprimiert, sprach es aber nicht laut aus. Plötzlich erinnerte sich Ronja an eine Passage aus dem Buch, das ihr zu ihrem Namen verholfen hatte. Sie hatte es so oft gelesen, regelrecht verschlungen, und später Susi vorgelesen, dass sie bis heute einige prägende Zeilen auswendig konnte: Lange saßen sie dort und hatten es schwer, doch sie hatten es gemeinsam schwer und das war ein Trost. Leicht war es trotzdem nicht.

Astrid Lindgren schaffte es immer wieder – sogar jetzt noch, im Erwachsenenalter – ihr Mut, Sicherheit und Trost zuzusprechen.

Nachdem sie das Telefonat beendet hatte, holte Ronja ihre abgegriffene Ausgabe von Ronja Räubertochter aus dem Bücherregal. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, dieser Welt zu entfliehen. Und das gelang am besten mit ihrer Heldin aus Kindertagen.

KAPITEL 3

Eigentlich war Philea Aurela Hofer, Lea genannt, keine Abenteurerin wie der von Jules Verne erschaffene Exzentriker Phileas Fogg. In die weite Welt war sie nur aufgebrochen, um ihrer unglücklichen Vergangenheit zu entfliehen. Lea war gut darin, davonzurennen, wenn es schwierig wurde. Ihr zweiter Vorname bedeutete Sonnenlicht. Das Einzige, was darauf hinwies, war ihre Haarfarbe: blond.

Lea löschte den Satz, den sie soeben getippt hatte. Er wurde dem winterlichen Flair, welches das Bild vom Brandenburger Tor im dichten Schneetreiben und mit leuchtendem, geschmücktem Weihnachtsbaum versprühte, nicht gerecht.

Das Klingeln ihres Handys unterbrach ihre Überlegungen. Die vier Buchstaben am Display brachten sie zum Lächeln.

„Hi, Papa.“

„Hallo, Nesthäkchen! Schon Feierabend?“

Lea warf einen raschen Blick auf die Uhrzeit am unteren, rechten Bildschirmrand: 21.05 Uhr. Dann schaute sie durch die hohe Glasfront zu ihrer Linken. Als sie zuletzt nach draußen gesehen hatte, war es noch hell gewesen. Inzwischen war der Himmel nachtschwarz und sternenlos. Hinter einigen Fenstern der umliegenden Gebäude brannte noch Licht.

Sie empfand es immer wieder als tröstlich, dass sie nicht die einzige Person in Berlin war, die lange Arbeitstage zu schätzen wusste.

„Ja“, flunkerte sie und kniff die Augen zusammen. Sie hoffte, dass er ihr diese Notlüge abnahm.

„Was machst du? Es ist so ruhig bei dir.“

„Ich bin zu Hause.“

„Warum ist eine junge, hübsche Frau wie meine Tochter daheim? Im Advent, wenige Tage vor Weihnachten, wo Weihnachtsmärkte mit Punsch, Glühwein und allerlei Köstlichkeiten locken?“

„Weil Punsch, Glühwein und allerlei Köstlichkeiten der Figur schaden.“ Das war nicht der wahre Grund. Das wussten sie beide.

„Wer kann sich das ungeniert gönnen, wenn nicht ein schmales Mädchen wie du? Du bist so dünn, Lea. Es würde dir nicht schaden, mehr zu essen. Mehr zu genießen.“

Mehr zu leben, vervollständigte sie seinen Satz in Gedanken und kurz darauf tat er es: „Mehr zu leben.“

„Ich lebe, sehr gut sogar, Papa.“

„Gibt es denn keinen netten Mann, der …“

„Ich gehe jetzt.“ Barbara steckte den Kopf zur Tür herein. „Fürs Meeting morgen ist alles vorbereitet. Bis dann, Lea. Gute Nacht. Mach‘ nicht mehr allzu lang.“

Fuck, formte Lea lautlos mit den Lippen und winkte ihrer Assistentin zum Abschied milde lächelnd zu.

„Aha“, kommentierte ihr Vater trocken. „Ich habe gute Ohren, Lea. Du musst dir keine Ausrede einfallen lassen.“

Schuldbewusst betrachtete Lea die vielen filigranen Goldringe an ihren Fingern und sagte: „Sorry, Papa. Lassen wir dieses Thema, bitte.“

„Gut, wechseln wir das Thema. Das wird dir aber genauso wenig gefallen, Lea.“

Lea verdrehte die Augen. Was denn noch? Alles, womit er ihr häufig in den Ohren lag, hatten sie schon besprochen beziehungsweise hatte sie mehr oder minder erfolgreich abgeblockt.

„Ich bin krank.“ Als sie nichts darauf erwiderte, fuhr ihr Vater fort: „Gehirntumor. Mir bleiben noch drei oder vier Monate. Es tut mir leid, dass ihr das am Telefon sage, aber ich wollte dir Weihnachten nicht verderben, weil ich es dir erst an den Feiertagen mitteile. Ich wollte dich … nun ja ... vorwarnen.“

Du willst mir Weihnachten nicht verderben? Ernsthaft?! Wie soll mir mit dieser Diagnose noch zum Feiern zu Mute sein?!, dachte Lea und spielte nervös mit ihren Ringen.

Sie hatte gehört, was er gesagt hatte. Sie hatte verstanden, was er gesagt hatte. Aber es drang nicht richtig zu ihr durch. Sie fühlte sich wie in Watte gehüllt: der Welt entrückt, entfremdet und gedämpft.

Erst allmählich setzten fieberhafte Überlegungen ein. Ihr blieben zwei Möglichkeiten. Entweder ergriff sie die Flucht, das hieß, sie legte auf und klammerte seine Krankheit in den kommenden Wochen komplett aus. So lange, bis es unvermeidlich wurde, sich der Tatsache seines Todes zu stellen: an seinem Grab. Oder sie suchte nach einer Lösung, einem Schlupfloch. Die waren für gewiefte Anwälte selbst in den wasserdichtesten Verträgen zu finden … wenn man nur lange und gründlich genug danach Ausschau hielt.

„Ich habe Kommunikationswissenschaften studiert, nicht Medizin. Ich bin Marketingexpertin, keine Ärztin, aber einen Tumor kann man heutzutage mit einer Operation entfernen. Oder eine Chemotherapie. Es muss doch …“

„In einigen glücklichen Fällen, ja. In meinem Fall leider nein.“

„Hast du eine Zweitmeinung eingeholt? Niemand kauft die Katze im Sack. Jeder holt mehrere Angebote ein. Das ist ganz natürlich. Das gilt auch für Ärzte. Niemand ist unfehlbar und wenn einer …“ Lea hörte ihre eigene Stimme brechen. Sie klammerte sich an der Tischkante fest, bis ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie biss sich auf die glossigen Lippen, um nicht laut loszuheulen.

„Leider sind alle Optionen ausgeschöpft, mein Nesthäkchen. Glaub mir, ich hätte dir gerne erfreulichere Nachrichten verkündet, aber die Situation ist nun einmal so. Jetzt müssen wir damit umgehen.“

Nun konnte Lea die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Wie … wie … geht’s dir? Hast du … Schmerzen, Papa?“

„Kaum. Ich nehme Medikamente, die sehr gut wirken. Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich werde nicht leiden, sondern mein Dasein bis zum letzten Atemzug genießen“, meinte er zuversichtlich. „Wie schon der alte Horaz wusste: Carpe diem. Diesen Ratschlag wird der alte Viktor, also meine Wenigkeit, beherzigen.“

Lea schniefte. Ihr Vater ließ sich nicht unterkriegen. Nicht einmal der Sensenmann, der bald an seiner Tür klopfen würde, konnte ihn einschüchtern. Sie beneidete ihn um seine hoffnungsvolle Gesinnung. Sie sollte die Zeit, die ihnen blieb, schätzen, anstatt traurig zu sein.

Doch so einfach war das nicht.

Lea wünschte sich, er hätte es ihr persönlich mitgeteilt, nicht am Telefon, kilometerweit voneinander entfernt. Dann hätte er sie jetzt tröstend in die Arme genommen und ihr beruhigend über den Rücken gestreichelt, wie er es immer tat, wenn sie niedergeschlagen war. Jäh fiel ihr ein, dass dies die Zukunft war, an die sie sich gewöhnen musste. Bald würde ihr Vater nämlich nicht mehr da sein. Diese Erkenntnis löste einen neuerlichen Heulkrampf aus.

„Ach, mein Nesthäkchen. Nicht weinen! Das kostet nur Kraft, ändert schlussendlich doch nichts. Du weißt ja: Der Frieden, auch der innere, beginnt mit einem Lächeln.“

Mutter Theresa!

Lea schüttelte den Kopf, schmunzelte aber. Ihr Vater war ein unverbesserlicher Optimist. Sprüche, die ihm gefielen, prägte er sich ein, um sie bei passender Gelegenheit vorzubringen. Solche, die sie selbst am öftesten zu hören bekommen hatte, wie diesen würde sich Lea wahrscheinlich ewig merken. Und in manchen Situationen an ihren Vater und seine geklauten Weisheiten zurückdenken.

Das heiterte sie ein wenig auf.

Häufig hatten er und ihre Schwestern ein Spiel daraus gemacht und mit Zitat auf Zitat geantwortet, bis ein Sieger – meistens Papa, wer sonst? – feststand. Lea überlegte, aber spontan fiel ihr kein Konter ein.

„Ich möchte gerne mehr als nur einen Tag mit dir verbringen, Lea.“

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem leeren Magen aus.

„Besuche mich schon am Heiligen Abend und bleibe bis einschließlich sechsundzwanzigsten Dezember.“

Drei Tage! Drei qualvoll lange Tage!

Beruflich gesehen stellte seine Bitte kein Problem dar. Über die Feiertage hatten alle – sie eingeschlossen – Urlaub. Wenn etwas Dringendes, Unvorhergesehenes anfiel, übernahm sie das als Abteilungsleiterin selbst. Das machte Lea nichts aus, denn sie arbeitete gern. Es lenkte ab. Es ließ sie vergessen, dass sie neben ihrem Job kein Privatleben hatte. Die globale Vernetzung war glücklicherweise so weit fortgeschritten, dass sie selbst in einem kleinen österreichischen Bergdorf guten Empfang und eine flotte Internetverbindung hatte. Notfalls könnte sie von Talschluss aus arbeiten.

Etwas anderes hinderte sie. Jemand anderes. Es gab einen Menschen, dem sie nicht begegnen wollte. Je länger sie in Talschluss bliebe, umso höher wäre die Wahrscheinlichkeit, ihm (und anderen Dorfbewohnern) über den Weg zu laufen.

Unruhig rutschte Lea auf dem Stuhl hin und her. Das weiche schwarze Leder knisterte unter ihrem geringen Gewicht.

„Papa, du weißt, dass ich das nicht kann.“

„Du willst nicht. Das ist ein Unterschied.“

„Ich will schon, aber …“

Unschlüssig kaute Lea auf ihrer Unterlippe. Sie nagte daran und biss sie beinahe blutig. Ihren Vater wie üblich am fünfundzwanzigsten Dezember zu besuchen, den Tag – diesen einen Tag – mit ihm zu verbringen, war vollkommen in Ordnung. Die meisten Menschen besuchten ihre Verwandten, die Geschäfte waren geschlossen, außerdem verließ Lea ihr Elternhaus während der paar Stunden ihrer Anwesenheit ohnehin nicht. Ihr graute davor, in Talschluss jemanden zu treffen. Die Sache von damals steckte ihr noch immer in den Knochen. Lea drückte sich lieber jedes Jahr davor, anstatt sich ihr endlich zu stellen.

„Dann verbarrikadierst du dich eben drei Tage lang im Haus, nicht nur ein paar Stunden. Wo liegt das Problem?“, meinte ihr Vater hörbar enttäuscht. „Es ist mein letztes Weihnachtsfest. Das möchte ich mit meinem Nesthäkchen verbringen. Ist das zu viel verlangt?“

Er wusste genau, dass es für sie nicht einfach war, über ihren Schatten zu springen. Trotzdem zwang er sie dazu. Er nötigte sie … mit seiner Krankheit.

„Du kennst das Problem“, flüsterte sie heiser.

Er schnaubte. „Du lebst in der Vergangenheit, Lea. Das ist nicht gut für dich. Wenn ich richtig informiert bin, verbringt er die Feiertage bei seinen Eltern in Oberösterreich.“

Wenn er richtig informiert war, pah! Das war zu vage formuliert, um ihr Sicherheit garantieren zu können.

„Selbst, wenn Bernd nicht da ist, leben in Talschluss immer noch rund eintausendfünfhundert Einheimische. Einige davon werden sich an mich erinnern.“

„Was geschehen ist, ist längst Schnee von gestern. Danach kräht kein Hahn mehr. In einem kleinen Ort wie unserem zerreißen sich die Klatschtanten jede Woche das Maul über etwas anderes. Die Neuigkeit von heute ist morgen, spätestens übermorgen schon wieder uninteressant.“

Das glaubte sie ihm nicht. Lea wusste es besser. Das hatte sie am eigenen Leib erfahren müssen. So schnell vergaßen die Leute in Talschluss nicht. Ihr Vater machte bloß gute Miene zum bösen Spiel.

Aber: Konnte sie ihren kranken Vater im Stich lassen? Durfte sie einem Sterbenden den letzten Wunsch verwehren? Noch dazu ihrem Vater, der immer zu ihr gestanden hat?

Für sie würde er über seinen Schatten springen. Sofort. Ohne Zögern.

Lea schloss die Augen. Sie merkte, dass sie zitterte. Ihr ganzer Körper bibberte, als würde Schüttelfrost sie überziehen wie der grässliche Film, der sich auf warmer Milch bildete, wenn man sie zu lange ruhen ließ.

Sie müsste sich drei Tage lang durchgehend im Haus aufhalten. Das war machbar.

„Okay“, sagte Lea schwach und öffnete die schweren Lider wieder.

Sie sah förmlich vor sich, wie ihr Vater am anderen Ende der Leitung triumphierend grinste.

„Was ist mit Wendy und Ronja? Kommen Sie auch?“

Lea hoffte, dass sie nicht die Einzige wäre, die Opfer bringen musste.

„Ja, aber nicht zeitgleich. Ronja wird mit Susi die erste Ferienwoche bei mir verbringen. Mit Wendy und Alex feiere ich den Jahreswechsel.“

Feiern klang unter diesen Umständen in Leas Ohren wie blanker Hohn. Wieder biss sie sich auf die lädierte Lippe und zuckte zusammen, als ein scharfer Schmerz sie durchfuhr.

„Sie wissen noch nichts von meiner Diagnose. Ich will es ihnen persönlich sagen. Dich musste ich vorwarnen. Ich wollte dich nicht an Weihnachten überrumpeln“, meinte er fürsorglich.

Um Leas Herz schloss sich eine eiserne Faust. Das Atmen fiel ihr schwer. Erneut fragte sie sich, ob es ihr leichter gefallen wäre, seinen baldigen Tod zu akzeptieren, wenn er sie bei diesem Gespräch in die Arme genommen hätte.

Vermutlich nicht.

„Verrate deinen Schwestern bitte nichts.“

Die drei hatten selten Kontakt, aber das war etwas, das sie gerne mit Ronja oder Wendy besprochen hätte. Trotzdem versprach sie ihrem Vater, dichtzuhalten.

Sobald sie das Telefonat beendet hatten, googelte Lea „Gehirntumor“ auf der Suche nach etwas, das ihr Vater und die Ärzte übersehen haben könnten. Verschwommen, durch einen Tränenschleier fiel ihr das Lesen schwer.

Warum verfolgt der Tod ausgerechnet mich?, fragte sich Lea, Mama, Kerstin und jetzt auch noch Papa!

Mit seinen vierundsechzig Jahren war er zu jung zum Sterben.

KAPITEL 4

Zum Glück fiel der Heilige Abend auf einen Samstag. Talschluss war eine 1.500-Seelen-Gemeinde, die – wie der Name unschwer zu erkennen gab – den Abschluss eines Tales bildete. Die einzige Zufahrtsstraße schlängelte sich durch ein gewaltiges Bergmassiv. Der Ort wurde halbmondförmig von einer imposanten Bergkette eingerahmt.

Die Busverbindungen, ausgehend vom Bahnhof im Nachbarort, beschränkten sich auf eine Fahrt je Strecke pro Stunde. An Sonntagen verkehrten öffentliche Verkehrsmittel in dieser Gegend sogar nur alle zwei bis drei Stunden.

Natürlich zählte es zu den Annehmlichkeiten der Großstadt, jederzeit in eine U-Bahn oder Straßenbahn steigen zu können und zeitnah überallhin befördert zu werden. Dennoch vermisste Ronja das Landleben: die Nähe zur Natur, die Landschaft, die frische Luft, die schneereichen Winter. Ihr Körper lebte in Wien, doch ihre Seele gehörte hierher, nach Talschluss.

Susi kannte den Ausblick. Trotzdem presste sie ihre kleine Nase gegen die Scheibe und starrte gebannt hinaus in den trüben frühen Nachmittag. Die steilen, zerklüfteten weißen Berghänge ragten gezackt und wellig, dann mal wieder glatt bis hinauf in den grauen wolkenverhangenen Himmel. Kleine Wasserfälle, minimale Rinnsale, formten bizarre vereiste Skulpturen. Die Netze und Lawinenverbauungen waren so sehr von Schnee bedeckt, dass sie mit bloßem Auge kaum noch auszumachen waren.

Wie jedes Mal, wenn sie im Winter hier vorbeifuhren, so dicht am Felsen, dass sie mit der Hand hätten das Gestein berühren können, wären sie in einem fensterlosen Bus gesessen, fragte sich Ronja mit einem leicht flauen Gefühl im Magen, ob die Schutzbauten diese Schneelast tatsächlich tragen konnten. Sie verspürte keine Angst, immerhin war sie hier aufgewachsen und kannte die – vor allem im Winter bedrohlich anmutende – Strecke. Vielmehr fühlte sie Respekt. Ja, das war der passende Begriff. Ehrfurcht vor etwas, das die Menschheit zwar zu kontrollieren und zu bändigen versuchte, es aber nie mit hundertprozentiger Gewissheit kontrollieren und bändigen konnte. Die Menschen glaubten, sich ihre Umwelt Untertan machen zu können, aber das entsprach nicht der Wahrheit. Niemand konnte die Natur beherrschen. Selbstüberschätzung und Größenwahn hatten sich schon auf der Titanic bitter gerächt.

Erst als sie die Enge der Straße hinter sich ließen und das Ortsschild passierten, entspannte Ronja sich. Mitten im Zentrum verließen sie, die beiden letzten Fahrgäste, den Bus. Die Berghänge lagen zwar immer noch gefährlich nahe am Ortskern, doch hier empfand Ronja sie nicht mehr als Bedrohung, sondern als malerische Kulisse. Mitten in Talschluss hatten die schneereichen, senkrechten Hänge ihre Schrecken eingebüßt.

Ronja hielt einen Moment inne, schloss kurz die Augen und sog die frische Luft ein. Sie war zu Hause!

„Komm, Mama!“, drängte Susi und stapfte voran. Die Räder des mit Astronauten, fernen Planeten und Sternen, Raketen und Raumschiffen verzierten Rollkoffers, den sie ruckartig hinter sich herzog, hinterließen zwei unförmige Spuren im Schneematsch.

Der Schneeregen der vergangenen Stunden hatte dafür gesorgt, dass sich die weiße Pracht zusehends in ein glatschiges, bei jedem Schritt feucht schmatzendes Hindernis verwandelte. Doch es bestand Hoffnung. Langsam verdichteten sich die Flocken und der lästige Gatsch vermischte sich mit pulvrigem Neuschnee, der vom Himmel tanzte.

Alles, was am Land nötig war, tummelte sich seit im Zentrum: die Kirche umgeben vom Friedhof auf einer kleinen Anhöhe, Kindergarten und Volksschule zusammen in einem Gebäude untergebracht, Rathaus samt Tourismusbüro, ein praktischer Arzt, die Apotheke im Haus daneben. Sogar eine Filiale einer Supermarktkette hatte sich in die Pampa verirrt. Das war – genauso wie die Apotheke – den Touristen geschuldet. Urlauber wollten vor Ort versorgt sein. Dabei suchte man große Hotels in Talschluss vergebens. Das letzte Gasthaus hatte vor fünf Jahren geschlossen. Kurz danach zogen in die fünfundzwanzig Pensionszimmer des ehemaligen Jägerwirts die Senioren ein. Ihr Altersheim musste einer Reihenhausanlage weichen. Dumm nur, dass so weit abseits vom Schuss kaum jemand freiwillig leben wollte. In österreichischen Dörfern wie Talschluss existierten zwei Gruppen von Menschen. Die eine blieb, die andere ergriff die Flucht, sobald sie alt genug dafür war. Landflucht, der Schrecken jedes österreichischen Bürgermeisters!

Ronja gehörte zur zweiten Kategorie. Nicht, weil sie das beschauliche Talschluss nicht gemocht hatte. Nicht, weil sie sich wie so viele Junge damals eingeengt gefühlt hatte. Nicht, weil Zivilisation und Fortschritt für die meisten hier Fremdwörter waren. Nein, ihre Flucht hatte andere Gründe. Sie kehrte gern in ihren Heimatort zurück und es tat ihr jedes Mal erneut in der Seele weh, ihn verlassen zu müssen. Doch ihr blieb keine Wahl.

Es gab noch eine dritte Gruppe, wenn auch die kleinste davon: Touristen, die blieben. Die ungefähr hundertfünfzig Gäste, die sich im Winter in Talschluss einnisteten, taten das in privaten Unterkünften. Die meisten Haus- und/oder Hofbesitzer verdienten sich mit der Privatzimmervermietung ein wenig dazu. Außerdem kannte man sich. Jahrzehntelang kamen dieselben Familien zur selben Zeit bei den gleichen Familien unter. Selten, aber doch schlug jemand hier Wurzeln. Aus Urlaubsflirts wurden Ehen. Und die hielten, denn am Land ließ man sich nicht scheiden!

Genau das, was die Jugend in die Flucht trieb, lockte die Urlauber an: Ruhe und Stillstand.

Talschluss war kein Wintersportmekka, aber es lag in unmittelbarer Nähe dazu. Die schroffen, teils bewaldeten Hänge, die Talschluss einhüllten, wurden auf der anderen Seite der Gipfel als Skipisten genutzt. Dort hatten sich die teuren, modernen Hotels und Hütten mit allerlei Schnickschnack, mehreren Sternen, auf rustikal getrimmter Gourmetküche und partywütiger Après-Ski-Klientel angesammelt. Ein florierendes Tourismusdorf mitten im Gebirge war dort entstanden. Ehrgeizige Pläne dieser Art erstickte die Topographie von Talschluss schon im Keim. Hier, inmitten und umrundet vom Bergmassiv, war kein Platz für einen riesigen Hotelkomplex. Wer gerne Ski fahren ging, aber seine Ferien abseits des Trubels verbringen wollte, buchte sich ein Zimmer im beschaulichen Talschluss, das auf Winterbildern Postkarten-Feeling verströmte und der Realität in Nichts nachstand.

Postkarten-Feeling! Genau das dachte Ronja, als sie ihrer zielstrebig voranschreitenden Tochter durch die engen Straßen, vorbei an alten Häusern, die schon seit vielen Jahrzehnten unverändert auf diesem Fleck standen, folgte. Der graue Matsch zu ihren Füßen hatte sich wieder in ein weiches, watteähnliches weißes Meer verwandelt. Tanzend schwebten große Flocken vom trüben Himmel zu Boden. Schade, dass es noch zu früh und zu hell war, um die Weihnachtsbeleuchtung zu aktivieren. Denn im winterlichen Lichterglanz zeigte sich Talschluss von seiner schönsten Seite.

Ronja seufzte verträumt. Sie liebte diesen Ort, besonders im Winter rund um Weihnachten!

„Welch‘ Glanz in diesem tristen Städtchen!“, rief eine Männerstimme.

Ronja spähte durchs heruntergelassene Beifahrerfenster und erkannte den Fahrer. Noch so etwas, das sie an Talschluss mochte. Jeder kannte jeden. Die Dagebliebenen schätzten das, die Geflohenen hassten es.

„Städtchen ist ein wenig übertrieben, findest du nicht?“, antwortete sie feixend. „Heute gar nicht mit dem Feuerwehrwagen unterwegs, sondern mit dem Privatauto, Herr Brandinspektor?“

„Hauptbrandinspektor, so viel Zeit muss bitte sein.“ Peter lächelte verschmitzt und winkte Ronjas Tochter zu: „Hi, Susi!“

Das Mädchen winkte zurück, zappelte jedoch ungeduldig von einem Bein aufs andere. Sie wollte sich nicht unterhalten, sondern schleunigst weiter. War ihr Opa in der Nähe, war jede andere Person in Susis Umfeld abgemeldet.

„Soll ich euch mitnehmen?“, bot Peter an.

„Das wäre ein Umweg für dich. Oder bist du umgezogen?“

„Für manche Frauen fahre ich gerne Umwege.“

Ronja zog eine Augenbraue nach oben und grinste. „Das sollte deine Verena besser nicht hören.“

„Du hast Recht. Lass es mich anders formulieren: Für ehemalige Mitschülerinnen, die oft von mir abgeschrieben haben, fahre ich gerne Umwege.“

„Schon besser.“

„Maaaamaaaa!“, quengelte Susi.

Ein Blick auf ihre Tochter genügte. Susi liebte es genauso sehr wie ihre Mutter, durch den Schnee zu waten. Außerdem wären sie sowieso bald da.

„Nett von dir, aber nicht nötig. Wir zwei Wienerinnen möchten den Schnee genießen.“

„Dein Rucksack sieht schwer aus“, ließ der Ortsfeuerwehrkommandant nicht locker.

Ronja schüttelte den Kopf. „Du kennst mich. Ich bin hart im Nehmen.“

„Na, dann! Selbst ist die Frau!“ Ronja grinste, weil er – ohne es zu wissen – ihr Motto zitierte. „Frohe Weihnachten!“

Das war ein weiterer Aspekt, den Ronja an Talschluss mochte. Wenn sich die Leute hier frohe Weihnachten wünschten, war das keine leere Floskel, sondern sie meinten es auch so.

Ihr Vater erwartete sie bereits. Viktor riss die Haustür auf, bevor sie überhaupt klingeln konnten. Das war der Moment, von dem an sich Susis persönliches Universum nur noch um diesen einen Menschen drehte. Ein wenig neidisch (und sich deswegen gleich schuldig fühlend), weil sie ihrer Tochter nie ganz so nah zu sein schien, wie ihr Opa es war, beobachtete Ronja die innige Umarmung der beiden. Das Herz ihrer kleinen Tochter würde in ein paar Monaten brechen. Dieses Wissen schmerzte Ronja. Wie würde Susi diesen Verlust je verkraften können? Sie hing so sehr an ihrem Großvater! Und wie sollte sie es ihr beibringen, wenn der Zeitpunkt des Abschieds näher rückte? Vor diesem Augenblick graute Ronja jetzt schon!

Als sie endlich voneinander abließen, sprudelte Susi los: „Opa, schauen wir uns später wieder gemeinsam den Garten an?“

Mit dem Garten meinte sie das Nachbargrundstück, das der Besitzer jedes Jahr übertrieben weihnachtlich schmückte. Jedes Mal versuchte er, die vorherige Dekoration zu übertrumpfen. Dem Besucheransturm an Schaulustigen nach zu urteilen, gelang es ihm stets aufs Neue. Ronja hätte sie schon oft gerne begleitet, aber das war das Ritual der beiden. Zeit, die nur Opa und Enkelin gehörte. Die wollte sie ihnen nicht nehmen. Schon gar nicht dieses Mal, beim letzten Mal.

„Wenn es nicht zu kalt ist, Spatz“, sagte Ronja lächelnd und strich ihrer Tochter über das braune Haar.

„Kälte macht uns zwei Hübschen nichts aus. Stimmt’s, Susi?“

Die Kleine nickte grinsend und offenbarte ihre Zahnlücken. Der linke Eckzahn fehlte völlig, der rechte Schneidezahn war schon minimal erkennbar.

„Kälte ist für mich kein Problem“, bekräftigte Viktor, weil Ronja ihn misstrauisch musterte. „Heute wird erstmal sehr, sehr viel gegessen. Wir schlagen uns die Bäuche voll mit guten Sachen, Susi. Morgen, übermorgen und an jedem anderen Tag, wenn du möchtest, schauen wir uns an, was sich mein Nachbar hat einfallen lassen.“

Das Zahnlücken-Grinsen in Susis pausbäckigem Gesicht wurde breiter und sie nickte begeistert.

„Sag bloß, du hast gekocht, Papa?!“, zog Ronja ihn auf, „Dann fahren wir besser sofort zurück nach Wien.“

Sie stellte den riesigen Tramper-Rucksack neben Susis Koffer ab und schloss ihren Vater in die Arme. Sie drückte ihn fest, viel fester als normalerweise. Oft würde sie dazu nicht mehr die Gelegenheit haben, also nutzte Ronja sie ausgiebig.

„Schön, dass ihr hier seid“, sagte er dicht an ihrem Ohr.

Was Ronja bei ihrer Ankunft bereits aufgefallen war, spürte sie nun deutlich. Ihr Vater hatte abgenommen. Sie ließ ihn wieder los, um ihn eingehender zu betrachten. Viktor war sehr groß. Deshalb hatte sich sein Gewicht auf den über 1,90 Metern immer gut verteilt. Niemand hätte ihn jemals als dick bezeichnet. Doch seit sie sich erinnern konnte, war da ein leichter Bauchansatz gewesen. Der war nun beinahe gänzlich verschwunden. Nur eine minimale Wölbung zeichnete sich unter seinem schwarzen Rollkragenpullover ab. Trotz seiner Erkrankung sah er gut, ja gesund aus; nicht erschöpft, mitgenommen oder gar ausgemergelt.

Er macht gute Miene zum bösen Spiel, dachte Ronja. Sie hatte sich dasselbe vorgenommen, um Susi nicht zu verunsichern.

„Wie geht’s dir?“, erkundigte sich Ronja. Sie bemühte sich, die Sorge aus ihrer Stimme zu nehmen. Zu ihrer eigenen Überraschung klang die Frage deutlich belangloser und heiterer, als sie gemeint war.

„Ach, ich bin zufrieden“, winkte er ab. „Jetzt, da ihr bei mir seid und mit mir Weihnachten feiert, geht es mir gleich umso besser.“ Verstohlen zwinkerte Viktor seiner Enkelin zu, was Susi ein Kichern entlockte. „Um deine Frage von vorhin zu beantworten, Ronja … begleitet mich in die Küche.“

Mutter und Tochter zogen ihre Schuhe aus und folgten Viktor den Flur entlang.

Ronja staunte. In der Küche ihres Vaters stand eine junge Frau, etwa in ihrem Alter, mit langen, lockigen rotblonden Haaren. Geschickt formten ihre Hände kleine Bällchen aus einer braunen Masse. Sie hielt inne und ein strahlendes, sympathisches Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus.

„Oh, hallo! Hi! Ihr müsst Ronja und Susi sein. Ich freue mich so sehr, euch endlich kennenzulernen! Viktor hat schon viel von euch erzählt. Vor allem von dir, Susi.“

Die Frau legte den Knödel, den sie soeben geformt hatte, auf einem Teller ab und überlegte kurz, sich die Hände an der Schürze abzuwischen. Mitten in der Bewegung entschied sie sich um und griff stattdessen erneut in die Schüssel mit der braunen Mischung.

Ronja fing Susis verwirrten Blick auf. Ja, auch sie fragte sich, wer diese Unbekannte war, die in der Küche ihres Vaters Essen zubereitete.

„Viktor, kannst du bitte kurz in der Suppe umrühren? Hin und wieder sollte das jemand machen, damit nichts anbrennt.“

Ronjas Vater ging zum Herd, hob den Deckel an und drehte artig mit dem hölzernen Kochlöffel ein paar Runden. Sofort erfüllte ein angenehmer, appetitlicher Duft den Raum. Ronja konnte nicht beurteilen, wonach es roch, aber es roch köstlich.

„Das riecht super!“, merkte Susi an.

Jetzt strahlte die Frau noch mehr. „Danke. Das wird unser Abendessen: Tomatensuppe, vegane Fleischbällchen und Schokoladen-Tiramisu im Glas. Ein praktisches, flottes Menü, weil sich das meiste vorbereiten lässt.“

„Lecker!“ Susi war begeistert. „Bist du bald fertig?“

„Ein wenig Zeit brauche ich noch, aber allzu lange wird es nicht mehr dauern.“

Auffordernd schaute Ronja ihren Vater an: Wer ist das?

Er verstand ihre stumme Frage. „Das ist Evelyn.“

Jemand klingelte an der Haustür.

„Ich mache auf!“, rief Susi und stürmte los.

KAPITEL 5

Susi riss die Haustür auf und starrte in zwei verblüffte Gesichter. Ebenso entgeistert musterte sie den Mann und die Frau. „Wer seid ihr?“

Die blonde, stark geschminkte Frau starrte sie nur weiterhin reglos an, doch der Mann antwortete: „Wir sind Alex und Wendy. Wer bist du?“

„Ich heiße Susi.“

Die Frau gab ein undefinierbares Keuchen von sich. Es klang fast ein bisschen so, wie wenn Luft aus einem Fahrradreifen entwich.

„Das ist Susi, Ronjas Tochter“, sagte Viktor, der nun hinter dem Mädchen auftauchte und eine Hand auf ihre Schulter legte.

Ronja hatte eine Tochter! Noch dazu eine, die grob geschätzt um die sieben Jahre sein könnte. Und eine, die ihrem Ehemann wie aus dem Gesicht geschnitten war. Diese offensichtlichen Informationen musste Wendys Gehirn erst einmal verarbeiten.

Wendy tauschte einen vielsagenden Blick mit Alex. Er dachte dasselbe: Er könnte der Vater dieses Kindes sein.

Moment! Warum war das Mädchen hier? Wenn sie anwesend war, galt das auch für Ronja?!

Wendy verzog ihre knallroten Lippen zu einem freundlichen Lächeln und erklärte: „Alex ist mein Ehemann und ich bin die Schwester deiner Mutter.“

Stirnrunzelnd und aus großen, wissbegierigen Augen schaute Susi ihren Großvater an: „Mama hat noch eine Schwester?“

„Lea kennst du also“, stellte Wendy verbittert fest.

„Tante Lea ist meine Taufpatin“, erwiderte Susi stolz.

„Wieso weiß ich davon nichts?“, fuhr Wendy ihren Vater an.

„Euer Verhältnis in den letzten Jahren war nicht unbedingt das beste. Außerdem hat Ronja mich darum gebeten, nichts zu sagen“, druckste Viktor herum und zitierte dann einen Satz, den er vor Kurzem gelesen hatte, „Es gibt drei Dinge, die du niemals brechen solltest: ein Herz, ein Versprechen und das Vertrauen.“

„Und ich habe alle drei gebrochen, oder wie?!“, brauste Wendy auf.

Viktor hob beschwichtigend die Arme. „Das habe ich nicht behauptet.“

„Toll, ich habe noch eine Tante!“, rief Susi euphorisch, „Eine, die wie eine Pferdezeitschrift heißt!“

Alex brach in schallendes Gelächter aus und hob beide Hände: „Die Kleine gefällt mir! Los, Susi! Gib mir High five! Du weißt doch, was das ist?“

„Klar!“, entgegnete Susi und ließ ihre Handflächen gegen seine klatschen.

Wendys Miene wirkte säuerlich. Trotzdem bemühte sie sich um einen netten Tonfall: „Magst du Pferde?“

„Überhaupt nicht! Ich mag das Weltall. Ich möchte Astronautin werden.“

„Ich wollte Pirat werden“, teilte Alex dem Mädchen mit, „Aber das ist leider kein sehr ehrenwerter Beruf. Die Alternative war Kapitän. Leider werde ich schnell seekrank. Also habe ich einen total langweiligen Beruf ergriffen. Ich bin der Personalchef einer großen Supermarktkette.“ Deprimiert zuckte er mit den Schultern. „Kämpfe für deine Träume, Susi. Sonst kommt eines Morgens das traumatische Erwachen.“

Wendy fixierte ihren Ehemann finster.

„Mein Papa ist Astronaut. Er arbeitet für die NASA und wohnt in Amerika, in der Nähe von Cape Canaveral. Er wirkt an einem streng geheimen Regierungsprogramm mit. Deshalb darf er uns leider nicht besuchen“, gab Susi sich auskunftsfreudig.

Wendys perfekt gezupften Augenbrauen schossen in die Höhe und sie spitzte ihre knallroten Lippen.

„Wie alt bist du denn, Susi?“, wollte Wendy wissen.

„Sieben.“ Das Mädchen schenkte ihnen ein breites, offenherziges Zahnlücken-Grinsen und reckte stolz sieben Finger in die Höhe.

Wiederum tauschten die Eheleute einen bedeutungsvollen Blick. Susis Alter bestätigte ihre Vermutung: Susi war Alex‘ Tochter! Ein Zufall galt als unwahrscheinlich.

Wendys Magen verkrampfte sich und ein plötzlich auftauchender Kloß schnürte ihren Hals zu. Wut, Trauer, Enttäuschung – und am schlimmsten – Neid ergriffen von ihr Besitz. Ihr Mann hatte ein Kind! Ein Kind mit ihrer Schwester! Ronja hatte genau das bekommen, was ihr verwehrt geblieben war und ewig verwehrt bleiben würde! Susis Existenz bewies, dass all die Ärzte, die sie in den vergangenen Jahren aufgesucht hatten, Recht behielten: Alex konnte Kinder zeugen, sie aber keine bekommen. Ausgerechnet mit Ronja hatte er sich fortgepflanzt! Und das Ergebnis dieser Liaison stand vor ihr.

Das fühlte sich so an, als hätte man ihr vor einer riesigen, schadenfroh johlenden Zuschauerschar eine cremige Sahnetorte ins Gesicht gedrückt.

„Wo bleibt ihr? Wer hält euch so lange …?“ Ronja brach mitten im Satz ab, als die Antwort auf ihre Frage leibhaftig vor ihr stand.

„Mama, warum hast du mir nie erzählt, dass ich noch eine Tante habe?“, erkundigte sich Susi ein wenig eingeschnappt.

„Weil es nicht wichtig ist, Spatz.“ Ronja strich ihrer Tochter liebevoll über das Haar und drückte sie fest an sich, so als hätte sie Angst, jemand könnte ihr die Kleine entreißen.

„Ich bin also unwichtig, aha“, grummelte Wendy.

„Hi, Ronja!“, grüßte Alex jovial, „Lange nicht gesehen.“

Darauf folgte ein todbringender Blick seines Gegenübers.

„Dein Papa ist Astronaut“, setzte Alex das Gespräch fort, „Wie heißt er denn?“

„Ru…“, begann Susi, wurde aber von ihrer Mutter unterbrochen: „Das geht dich nichts an!“

„Ich denke schon, dass ihn das etwas angeht“, mischte sich Wendy ein.

Ronja musterte ihre ältere Schwester mit grimmiger Miene. „Ich wüsste nicht, wieso.“

Wendy seufzte. „Du hast deine Tochter nach unserer Mutter benannt? Susanne – Susi, hm?“

„Stört dich das?!“, konterte Ronja bissig.

„Eine schöne Geste“, meinte Viktor. „Der Name bedeutet die Lilie.“

„Papa, verschone uns bitte mit deinen sprachwissenschaftlichen Kommentaren“, entgegnete Wendy.

„Wenn dir das am Herzen liegt, Gwendolin. Ich wollte diese Unterhaltung ein bisschen auflockern. Weihnachten steht für Frieden, Barmherzigkeit, Zeit für die Mitmenschen, Wärme, Versöhnung.“

„Was macht dann sie hier?“, fragten die beiden Schwestern wie aus einem Mund und deuteten anklagend mit dem Finger auf die jeweils andere.

„Ich habe euch eingeladen, um mit euch Weihnachten zu feiern“, sagte Viktor sanftmütig.

„Ja, schon. Aber sicher nicht zusammen mit der da!“, giftete Wendy.

„Keine Sorge, musst du nicht!“ Ronja griff nach ihrem Rucksack. „Wir werden keine Minute länger mit euch unter einem Dach verbringen. Komm, Susi!“

„Nein! Ich will bei Opa bleiben!“, beharrte das Mädchen stur.

„Das kannst du dir sparen. Unser Gepäck ist noch im Auto. Wir werden es gar nicht erst holen! Wir fahren zurück nach Salzburg!“, bestimmte Wendy.

Inständig bat Viktor seine Töchter, zu bleiben: „Bitte. Das ist mein einziger Weihnachtswunsch: ein gemeinsames Fest, wir alle zusammen, hier in eurem Elternhaus vereint. Diesen Wunsch könnt ihr mir – speziell unter diesen Umständen – nicht abschlagen. Nur über die Feiertage, mehr verlange ich gar nicht. Zweieinhalb läppische Tage.“

„Bei aller Liebe, Papa, es gibt Grenzen“, fand Ronja.

„Richtig!“ Wendy nickte zustimmend.

„Viktor hat Recht. Das sind nur ein paar Stunden. Die werdet ihr wohl unter einem Dach aushalten. Könnt ihr euch nicht ein bisschen zusammennehmen?“, mischte sich Alex ein.

„Du hast hier gar nichts zu melden! Und ausgerechnet von dir muss ich mir auch nicht sagen lassen, dass ich mich zusammennehmen soll! Ich habe mich als deine Frau lange genug am Riemen gerissen!“, wies Wendy ihren Ehemann barsch zurecht, „Papa, so leid es mir tut, aber ich feiere Weihnachten garantiert nicht mit der da!“

„Der da ist eine Ausdrucksweise, die grammatikalisch nicht …“

„Oh, Papa! Lass es, bitte!“, knurrte Wendy genervt.

„Lea kommt auch. Sie müsste bald auftauchen.“

Susi war begeistert. „Juhuuuu! Tante Lea kommt auch! Mama, ich will hier bleiben!“

„Spatz, das ist nicht sehr klug. Wir sollten wirklich besser …“

„Du und Tante Wendy, ihr mögt euch nicht so gern, oder?“ Gespannt schaute Susi in die plötzlich sehr schweigsame Runde.

„Wir haben unsere … ähm … Differenzen“, gab Ronja zu.

„Ich wünsche mir ein Weihnachtsfest wie früher, als unsere Familie noch in Ordnung war. Meine drei Mädchen friedlich unter meinem Dach vereint.“

„Plus mich!“, warf Susi ein und stellte sich sogar auf die Zehenspitzen, um ja nicht übersehen zu werden.

„Plus mich!“ Alex hob den rechten Zeigefinger in die Luft, so als würde er im Unterricht aufzeigen.

Alex und Susi grinsten sich verschwörerisch an.

„Plus Evelyn!“, fügte Susi hinzu, „Sie kocht für uns.“

„Wer ist Evelyn?“ Als ihr niemand antwortete, fuhr Wendy fort: „Bist du ans andere Ufer gewechselt, Ronja, weil es mit den Männern – insbesondere mit meinem – nicht geklappt hat?“

„Du bist unverschämt wie eh und je! Zuerst krallst du dir mein…“ Mit einem Blick auf Susi verstummte Ronja. „Ach, vergiss es. Schwamm drüber! Susi, hol‘ deinen Koffer. Wir gehen.“

„Nein!“ Bockig verschränkte das Mädchen die Arme vor der Brust.

„Bleibt“, bot Wendy spitz an, „Ich lasse mir doch von dir nicht vorwerfen, dass ich dein Weihnachtsfest mit unserem Vater ruiniert hätte. Die Schuld wird ohnehin immer mir in die Schuhe geschoben.“

„Zu Recht!“, ereiferte sich Ronja. „Du benimmst dich ja auch wie die Königin der Welt. Du hast dir immer schon genommen, was du wolltest. Alles und jeden! Ohne Rücksicht und ohne Anstand!“

Wendy beäugte ihre Schwester mit einem süffisanten Lächeln. „Prinzipiell möchte ich festhalten, dass der vierundzwanzigste Dezember von jeher mein Besuchstag bei Papa ist.

---ENDE DER LESEPROBE---