Feuer und Eis - Andrew Grey - E-Book

Feuer und Eis E-Book

Andrew Grey

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Beschreibung

Carter Schunk ist ein hingebungsvoller Polizist mit einer schwierigen Vergangenheit und einem großen Herzen. Als er zu einer häuslichen Ruhestörung gerufen wird, findet er eine tödlich verletzte Frau und Alex, ein Kind, das dringend Hilfe benötigt. Das Jugendamt wird gerufen und der letzte Mann, den Carter sehen will, tritt durch die Tür. Vor einem Jahr hatte Carter eine kurze Affäre mit Donald und stellte fest, dass dieser kalt wie Eis ist, als sie zu Ende ging. Donald (Ice) Ickle hatte ein hartes Leben, das er mit niemandem teilt und er hat sein Herz vor allem und jedem verschlossen. Einerseits um sich davor zu bewahren, verletzt zu werden und andererseits, um mit seinem Job, in dem er sehr gut ist, zurechtzukommen, denn er tut, was er tun muss, ohne sich emotional zu involvieren. Als er Carter wiedertrifft, behält er seine übliche Distanz bei, doch Carter geht ihm unter die Haut und entgegen besseren Wissens lässt er sich von Carter dazu überreden, Alex aufzunehmen, als so kurzfristig kein Platz in einer Pflegefamilie zu finden ist. Carter bietet sogar an, ihm bei der Versorgung des Jungen zu helfen. Donald spricht mit niemandem über seine Vergangenheit, am wenigsten mit Carter, der selbst seine Vergangenheit gern für sich behalten möchte. Doch es sind die Geheimnisse von Alex, die sie zusammenbringen oder auseinanderreißen können ‒ Geheimnisse, die der Junge ihnen nicht erzählen kann, die aber dennoch der Schlüssel zum Glück für sie drei sein könnten.

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Seitenzahl: 340

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Zusammenfassung

Widmung

1

2

3

4

5

6

7

8

9

Epilog

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Biographie

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Copyright

Feuer und Eis

 

Von Andrew Grey

Buch 2 in der Serie – Carlisle Cops

 

Carter Schunk ist ein hingebungsvoller Polizist mit einer schwierigen Vergangenheit und einem großen Herzen. Als er zu einer häuslichen Ruhestörung gerufen wird, findet er eine tödlich verletzte Frau und Alex, ein Kind, das dringend Hilfe benötigt. Das Jugendamt wird gerufen und der letzte Mann, den Carter sehen will, tritt durch die Tür. Vor einem Jahr hatte Carter eine kurze Affäre mit Donald und stellte fest, dass dieser kalt wie Eis ist, als sie zu Ende ging.

Donald (Ice) Ickle hatte ein hartes Leben, das er mit niemandem teilt und er hat sein Herz vor allem und jedem verschlossen. Einerseits um sich davor zu bewahren, verletzt zu werden und andererseits, um mit seinem Job, in dem er sehr gut ist, zurechtzukommen, denn er tut, was er tun muss, ohne sich emotional zu involvieren. Als er Carter wiedertrifft, behält er seine übliche Distanz bei, doch Carter geht ihm unter die Haut und entgegen besseren Wissens lässt er sich von Carter dazu überreden, Alex aufzunehmen, als so kurzfristig kein Platz in einer Pflegefamilie zu finden ist. Carter bietet sogar an, ihm bei der Versorgung des Jungen zu helfen.

Donald spricht mit niemandem über seine Vergangenheit, am wenigsten mit Carter, der selbst seine Vergangenheit gern für sich behalten möchte. Doch es sind die Geheimnisse von Alex, die sie zusammenbringen oder auseinanderreißen können ‒ Geheimnisse, die der Junge ihnen nicht erzählen kann, die aber dennoch der Schlüssel zum Glück für sie drei sein könnten.

Für Connie Bailey, die mir den Namen Ickle geliehen hat. Wer hätte gedacht, dass dein Hund eine Figur inspiriert? Hab dich lieb!

1

 

 

„DU HAST den Captain also endlich überredet, dich auf Streife gehen zu lassen“, sagte Red, als er gegenüber von Carter im Pausenraum des Polizeireviers, der dringend renoviert werden müsste, Platz nahm. Carter nahm die Tasse Kaffee, die er ihm anbot, dankend an. „Das hat ja lang genug gedauert.“

Carter Schunk brummte. „Das kannst du laut sagen. Sobald bekannt wurde, dass ich mich mit Computern auskenne, schienen alle nur darauf aus zu sein, mich im Keller hinter den Bildschirmen wegzusperren, damit ich die Drecksarbeit für die anderen übernehme, statt sich selbst darum zu kümmern. Ich bin ein ausgebildeter Polizist und war ebenso auf der Polizeiakademie wie sie.“ Carter nahm einen Schluck Kaffee, damit er sich nicht in Rage redete. Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen, doch es half nicht. Erst heute hatte er den Auftrag bekommen, ein paar simple Suchen im Internet durchzuführen, die angeblich unheimlich wichtig waren, sodass er erst am Abend auf Streife gehen konnte, nachdem er sie erledigt hatte. Das machte ihn stinkwütend ‒ die Kollegen waren in der Lage, diese Suchen selbst durchzuführen ‒ doch das sollte er nicht an Red auslassen. „Ich weiß zu schätzen, dass du immer auf meiner Seite warst.“

„Das wird auch so bleiben, mein Freund.“ Red lächelte ihn kurz an, dann war das Lächeln verschwunden. Carter wusste, dass Red sich immer noch für seine Zähne schämte, deshalb lächelte er nur selten. Sein wirkliches Lächeln war für seinen Freund, den Schwimmer Terry, reserviert, der sich darauf vorbereitete, im nächsten Jahr bei den Olympischen Spielen um Gold zu kämpfen. „Jeder verdient eine Chance.“

Carter lachte. „Weißt du, du hast dich in den letzten Monaten wirklich in ein Weichei verwandelt.“ Er lehnte sich zurück, denn er rechnete damit, dass Red ihm einen freundschaftlichen Schlag verpasste. Red war riesig ‒ groß und breit gebaut ‒ auf jeden Fall der größte Mann auf dem Revier. Er war als junger Mann in einen Unfall verwickelt gewesen und trug immer noch sichtbare Narben, aber Terry hatte ihm geholfen, mit seinem Aussehen besser zurechtzukommen. „Nicht, dass du es dir nicht verdient hättest.“ Carter würde sich wahrscheinlich selbst in einen liebeskranken Trottel verwandeln, wenn er jemanden wie Terry hätte, zu dem er jeden Abend nach Hause kommt.

Red trank seinen Kaffee aus und warf den Pappbecher in den Mülleimer. „Bist du bereit?“

Carter schluckte die heiße Flüssigkeit herunter, dann warf er seinen Becher ebenfalls weg und folgte Red aus dem Pausenraum. Er übernahm ein Polizeiauto und stieg ein. Red stand neben seinem Fenster, während Carter in Gedanken alles nervös noch einmal durchging. Er hatte das schon gemacht, aber es war eine Weile her, seit er ein ‚richtiger‘ Cop gewesen war, statt der hauseigene Computernerd. „Ich bin bereit.“

„Gut.“ Red klopfte zwei Mal auf das Autodach. „Ich bin auch auf Streife. Ruf mich an, wenn du etwas brauchst. Ruf mich auch an, wenn du denkst, dass du etwas brauchst. Ich bin für dich da.“

Carter lachte. „Danke.“ Red war in den letzten sechs Monaten ein guter Freund geworden. Früher war er immer lieber für sich geblieben, doch seit Terry in sein Leben getreten war, war aus Red ein glücklicher Mann geworden. Um ehrlich zu sein war Carter eifersüchtig auf das, was sie hatten, aber nicht auf Red. Niemand hatte es so sehr verdient wie er. Carter wünschte sich bloß, dass ihm das auch passieren würde.

Er startete den Motor und fuhr vom Parkplatz. Red folgte ihm. Carter würde im Norden von Carlisle Streife fahren, deshalb fuhr er die Hanover Street hinauf und bog auf die East Louther ab. Er fuhr langsam durch die raueren Gebiete des Bezirks, um zu zeigen, dass er präsent war. Oft reichte allein seine Anwesenheit in bestimmten Gegenden aus, um Ärger im Keim zu ersticken, doch heute Abend schien das nicht der Fall zu sein. Fast augenblicklich wurde ein Einbruch gemeldet. Carters Herzschlag raste, als er über Funk meldete, dass er übernahm, sein Blaulicht anschaltete und beschleunigte. Er war nur eine Straße entfernt und als er ankam, trugen zwei Männer gerade einen Flachbild-Fernseher zwischen zwei Häusern hervor. Sobald sie ihn entdeckten, ließen sie den Fernseher fallen und rannten zu ihrem Truck. Ein weiteres Polizeiauto erschien aus der anderen Richtung und schnitt ihnen den Weg ab. Carter hörte Reds Stimme, die über die Straße hallte, und die Männer stiegen aus ihrem Truck aus und legten sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden, wie ihnen befohlen worden war. Es war ebenso schnell vorbei, wie es begonnen hatte.

Red und er legten den Männern Handschellen an und verlasen ihnen ihre Rechte, als weitere Streifenwagen eintrafen. Die Aussage des Hausbesitzers wurde aufgenommen und auch die von Carter über das, was er gesehen hatte, dann wurden die Männer zum Revier gebracht. „Ich kümmere mich um den Papierkram“, bot Red an. „Sorg du dafür, dass die Straßen sicher sind.“ Red zwinkerte und Carter ging zu seinem Wagen, um sich wieder auf den Weg zu machen.

Die nächsten Stunden verliefen ruhig und waren ziemlich langweilig. Carter hatte vergessen, was es bedeutete, auf Streife zu sein: stundenlanges Warten und Beobachten, nur kurz unterbrochen von aufregenden Momenten.

„Häuslicher Streit im 100-Block der East North“, sagte der Dispatcher über Funk.

Carter unterdrückte ein Stöhnen und nahm den Ruf an. Häusliche Rufe waren die schlimmsten. Meistens war es wegen nichts, zum Beispiel weil Leute sich beschwerten, dass ihre Nachbarn zu laut waren. Diejenigen, die tatsächlich Hilfe brauchten, weigerten sich oft Anzeige zu erstatten. Diese Rufe waren für jeden Polizisten am schlimmsten. Carter verdrängte den Gedanken und fuhr so schnell, wie er es wagte. Er erreichte das Haus innerhalb von Minuten.

Es bestand kein Zweifel, was den Notruf ausgelöst hatte. Sobald er die Autotür öffnete, hörte er einen spitzen Schrei, der ihm durch Mark und Bein ging. Er schien aus dem Inneren des Reihenhauses zu kommen, dessen Fenster offenstanden. Carter rief Verstärkung, dann machte er sich auf den Weg. Es klang, als wäre jemand verletzt. Sirenen erklangen in der Ferne und weitere Streifenwagen erschienen, die die Straße blockierten. Carter erzählte, was er gehört hatte, da erklang der Schrei erneut, dieses Mal lauter und verzweifelter. Die Polizisten schwärmten aus und Carter ging zur Vordertür. „Polizei“, rief er und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war nicht verschlossen und er eilte mit gezückter Waffe hinein.

Carter hörte, dass weitere Polizisten das Haus durch die Hintertür betraten. Er durchsuchte die vorderen Zimmer und dann die hinteren. Jetzt war es still und Carter ging in Richtung Treppe.

„Verschwindet aus meinem Haus!“, brüllte ein Mann, während er die Treppe herunterpolterte. Sein Gesicht war gerötet und seine Augen glasig vor Wut.

„Auf den Boden!“, schrie Carter und zielte mit der Waffe auf ihn, den Finger am Abzug. Der Mann erreichte den Fuß der Treppe und Carter war sich nicht sicher, dass er stehenbleiben würde. Sein Finger bewegte sich am Abzug und seine Ausbildung übernahm die Führung. „Auf den Boden!“, brüllte er erneut. Der Mann blieb stehen und ging auf die Knie. Carter holte tief Luft und nahm den Finger vom Abzug, doch er blieb auf der Hut. Im Haus war noch mindestens eine weitere Person ‒ dieser Kerl war nicht derjenige, dessen Schrei er gehört hatte.

Einer der Officer legte dem Mann Handschellen an und Carter machte sich auf den Weg die Treppe hinauf. Er hielt sich dicht an der Wand, die Waffe gezückt, um sich im Notfall verteidigen zu können. Er erreichte den Kopf der Treppe und hörte ein Weinen. Die Polizisten hinter ihm verteilten sich und durchsuchten die anderen Räume, während Carter sich auf die Suche nach der Quelle des Lautes machte. Er stieß eine halb geschlossene Tür auf und keuchte.

Auf dem Bett lag eine Frau. Schmutzige Laken waren um sie gewickelt und sie war fast nackt. Ihr Kopf schaukelte hin und her, während sie weinte und sich an die Matratze klammerte. Carter schaute sich schnell um. Auf dem Nachttisch lag eine Tüte mit Tabletten. „Ma’am, geht es Ihnen gut?“, fragte Carter, doch sie weinte immer weiter und wackelte mit dem Kopf.

„Ruft einen Krankenwagen“, sagte Carter über seine Schulter hinweg.

„Schon geschehen.“

Carter drehte sich schnell um, damit er wusste, wer hinter ihm war. Aaron Cloud war ein Ermittler in ihrer Truppe und Carter fühlte sich sofort besser, weil er da war. Aaron war ein erfahrener Officer, der seine Kollegen gern unterstützte, besonders die Neuen.

„Sie sind unterwegs.“ Aaron trat um ihn herum auf die Frau zu.

„Hier ist sonst niemand“, sagte Kip Rogers, ein weiterer Polizist.

Carter nickte und schaute in die anderen Räume. Sie waren größtenteils leer, doch etwas in der Ecke eines der Zimmer erregte seine Aufmerksamkeit. Carter trat vorsichtig ein. Das Haus war eine Bruchbude mit zerstörten Teppichen, Löchern in den Wänden, mit schmutziger Farbe, die sich schon seit Jahrzehnten dort zu befinden schien. Vom Teppich stieg der Geruch von Urin auf und er rümpfte die Nase, als er sich herunterbeugte, um herauszufinden, was er gesehen hatte.

Ein kleiner, brauner Plüschhase lag in der Ecke des Zimmers. Carter schaute Rogers an, dann zog er einen Handschuh aus seiner Tasche. Er streifte ihn über und hob das Spielzeug auf. Ein Ohr hing herunter und das andere stand aufrecht. Der Hase lächelte ihn an, ein starker Kontrast zu dem Zustand des Hauses.

„Was meinst du?“, fragte Rogers.

Carter legte das Spielzeug wieder dorthin zurück, wo er es gefunden hatte und öffnete die Schranktür. In der Ecke stand ein Paar kleiner Schuhe und auf dem dreckigen Teppich lagen eine winzige Jeans und eine Socke. „Ist hier ein Kind?“, flüsterte Carter zu sich selbst, dann drehte er sich zu Rogers. „Wir müssen sichergehen, dass in diesem Chaos nicht irgendwo ein Kind ist.“

Rogers schaute in den Schrank, dann zu Carter. „Die Sachen könnten schon seit Jahren hier liegen.“

„Möglich, aber wir müssen trotzdem überall nachsehen.“ Carter verließ den Raum und ging wieder in den winzigen Flur. „Kannst du im Keller nachsehen? Ich schaue, ob es einen Dachboden gibt.“ Er öffnete einige Türen, aber fand keine Treppe.

Der Krankenwagen fuhr vor und Carter trat zur Seite, damit die Sanitäter vorbeikamen. Dann betrat er das letzte Zimmer. Darin befand sich ein Bett mit einer blanken Matratze, sonst nichts. Carter öffnete die Tür des Einbauschrankes, doch er war leer. Der Dachboden konnte nicht besonders groß sein, doch er wusste, dass viele Häuser einen hatten. Schließlich ging er wieder ins Hauptschlafzimmer und öffnete den Schrank. Er schob die Kleidung zur Seite und fand, was er gesucht hatte: Treppenstufen, die nach oben führten.

„Was machst du da?“, fragte Aaron.

„Alles überprüfen.“ Er schaltete seine Taschenlampe an und trat vorsichtig ein. Die Treppe machte eine Kurve und er musste sich bücken, damit er sich nicht den Kopf anschlug.

Der Geruch war das erste, das Carter überfiel, und er hatte Mühe, ein Würgen zu unterdrücken. Je weiter er nach oben kam, desto heißer wurde es, und die Luft, oh Gott ‒ seine Augen begannen zu tränen und er rechnete schon damit, eine Leiche zu finden. Als er den Kopf der Treppe erreichte und hineinspähte, fiel er fast rückwärts die Treppe herunter, als jemand seinen Blick erwiderte. Auf der Stelle hörte er ein Rascheln. Carter leuchtete in diese Richtung und keuchte auf.

Ein kleines Bett stand an der äußeren Wand, wenn man es denn eine Wand nennen konnte. Es waren eher die Dachziegel. Neben dem Bett lag ein kleiner Haufen Kleidung.

„Es ist alles in Ordnung“, sagte Carter. „Ich werde dir nicht wehtun, das verspreche ich.“

Ein Wimmern erreichte seine Ohren und Carter folgte dem Klang. Als er sich dem Bett näherte, erschien ein kleiner Kopf dahinter und riesige Augen starrten ihn vollkommen verängstigt an.

Carter konnte kaum atmen, als er erfasste, was er da sah. Das war ein Kind ‒ ein kleiner Junge, wie es aussah. „Es ist okay. Ich bin Carter und ich bin hier, um dir zu helfen.“ Schweiß rann an seinem Rücken hinunter und er fragte sich, wie lange der Junge hier gewesen sein mochte. Dem Geruch nach zu urteilen so lange, dass er auf die Toilette musste, aber nirgendwo hingehen konnte. „Ich verspreche es.“ Carter hatte in seinem Leben schon viele schlimme Dinge gesehen und auf dem Revier noch einiges mehr gehört, doch das hier … Seine Kehle wurde trocken und am liebsten wäre er bei diesem Anblick in Tränen ausgebrochen. Aber er riss sich zusammen und streckte langsam die Hand aus. „Es ist okay.“

„Sie haben geschrien“, sagte der Junge, ohne sich zu bewegen.

„Ja“, sagte Carter. „Aber jetzt ist alles gut. Sie schreien nicht mehr.“ Carter wollte sich das Kind genauer ansehen, doch er wollte ihm mit der Taschenlampe nicht in die Augen leuchten. Er schaute auf, um zu sehen, ob es außer dem winzigen Fenster eine Lichtquelle gab, doch er konnte nichts sehen. „Bitte komm raus. Ich verspreche dir, dass alles in Ordnung ist.“

Der Junge stand langsam auf.

„Was hast du gefunden?“, rief einer der anderen Officer die Treppe hinauf und der Junge hastete wieder hinter das Bett. Carter fluchte leise.

„Einen Moment“, antwortete er, ohne die Stimme zu erheben. Das letzte, was er wollte, war, dass das halbe Revier heraufkam und den Jungen noch mehr verschreckte. „Es ist okay. Er hat einfach ein großes Mundwerk.“

„Er hat geschrien“, ertönte eine gedämpfte Antwort.

„Es ist okay. Er hat einfach laut geredet. Versprochen.“

Der Junge hob den Kopf und stand langsam auf. Er war nicht besonders groß. Carter wartete, bis er auf das Bett geklettert war, dann nahm er ihn auf den Arm. „Wie heißt du?“

„Stück Scheiße“, antwortete er ernst. Carter musste hier raus, aber bei dieser Antwort blieb er wie angewurzelt stehen.

„So bist du immer genannt worden?“ Ihm traten Tränen in die Augen und seine Kehle brannte. Und diese Hitze ‒ wie konnte dieser kleine Junge es hier oben aushalten?

„Mommy hat mich manchmal Alex genannt.“

„Dann nennen wir dich Alex. Das ist ein schöner Name.“ Carter drückte den Jungen enger an sich und trug ihn zur Treppe. Er legte die Hand auf Alex‘ Kopf und ging langsam hinunter. Alex zitterte in seinen Armen, als sie sich dem Fuß der Treppe näherten. „Es ist alles in Ordnung. Niemand wird dir wehtun.“

„Er hat gesagt, dass ich da oben bleiben soll“, sagte Alex, dann begann er zu weinen. Am liebsten wollte Carter mit ihm weinen. Großer Gott, vielleicht war er doch nicht für diesen Job gemacht und hätte hinter seinem Computer bleiben sollen.

„Also jetzt bin ich hier und ich sage, dass du hinaus darfst.“ Carter beugte sich weit vor, um sich durch die Tür durch den Schrank in das Schlafzimmer zu quetschen. Alle Augen lagen erstaunt auf ihm. Carter sagte nichts. Er drückte einfach Alex‘ Kopf gegen seine Schulter, damit dieser seine Mutter auf dem Bett nicht sehen konnte. Er ging mit ihm die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Auf der Stelle konnte Carter freier atmen, als die Enge und der Geruch langsam verschwanden.

„Oh mein Gott“, sagte Rogers, als Carter das Wohnzimmer betrat. Carter legte einen Finger auf die Lippen und Rogers senkte die Stimme. „War er auf dem Dachboden?“

„Ja. Du solltest ein paar Leute hochschicken, aber sie sollen Masken aufsetzen. Es ist übel da oben.“ Carter änderte seinen Griff um Alex und der kleine Junge klammerte sich noch fester an ihn.

Rogers nickte. „Wir sollten das Jug‒“

Carter hob die Hand. Er wusste bereits, was Rogers sagen wollte, doch er wollte nicht, dass Alex es hörte, um ihn nicht noch mehr aufzuregen. Er war ruhig in Carters Armen und Carter wollte, dass das auch so bleibt. „Ich weiß.“

Rogers verstand, was er meinte. Er nickte und ging hinaus. Carter ging in das Zimmer, um sich auf das Sofa zu setzen. Alex weinte leise und als Carter sich hinsetzen wollte, begann er sich zu winden und zu wehren.

„Nein, nein, nein“, schrie Alex. Er ließ Carter los und legte die Hände schützend auf seinen kleinen Kopf.

„Es ist alles in Ordnung“, sagte Carter beruhigend und fragte sich, was man diesem armen Kind wohl angetan hatte. Es war offenbar auf den Dachboden gesperrt worden. Der emotionale Missbrauch war so offensichtlich, dass Carter das Herz wehtat, doch er musste den Gedanken verdrängen. Er musste seinen Job machen. Er wusste, dass er es sich nicht zu Herzen nehmen durfte, sonst wäre er schneller wieder im Keller vor seinen Computern, als die anderen sagen konnten „Wir wussten, dass du es nichts schaffst.“

Carter entfernte sich von dem Möbelstück und stellte sich einfach an die Seite, wobei er sein Bestes versuchte, um Alex zu beruhigen.

„Ich nicht …“, sagte Alex, dann hielt er inne. „Ich war böse.“

„Nein. Du warst nicht böse.“ Carter holte tief Luft.

Geräusche auf der Treppe erregten seine Aufmerksamkeit und er drehte sich um, damit Alex nicht sehen konnte, was dort vor sich ging. Die Sanitäter brachten jemanden, höchstwahrscheinlich Alex‘ Mutter, auf einer Trage nach unten. Einer der Männer kam zu ihm.

„Wie geht es ihm?“

„Kannst du mir Wasser und vielleicht etwas zu essen für ihn besorgen? Er scheint okay zu sein, aber wenn du einen Moment Zeit hast, schau ihn dir bitte einmal an.“ Carter schluckte. „Der Anruf wurde schon gemacht.“

„In Ordnung. Ich hole etwas aus dem Wagen, dann komme ich wieder her. Wir nehmen sie mit. Ich bleibe hier und kümmere mich um ihn.“

„Perfekt“, hauchte Carter.

„Ich bin übrigens Chuck.“

„Carter“, sagte er und sah Chuck hinterher, der nach draußen eilte. Einen Moment später kehrte er mit einer Flasche Wasser und einer kleinen Packung Oreos wieder zurück. Chuck öffnete die Flasche und Carter reichte sie Alex, der trank und trank. Carter war nicht überrascht, dass der kleine Kerl so durstig war. Das war Carter auch und er war nur ein paar Minuten dort oben gewesen.

„Es ist okay“, sagte Carter und nahm die Flasche weg. „Lass dir Zeit. Du kannst so viel haben, wie du willst.“ Er sprach leise und Alex hob den Kopf, die großen, blauen Augen voller Angst. „Ich verspreche es. Entspann dich einfach.“ Carter hielt Alex die Flasche wieder hin und er trank weiter.

„Möchtest du einen Keks?“ Er öffnete die Verpackung und reichte Alex einen Oreo. Er schaute ihn an, dann streckte er vorsichtig die Hand aus. Sobald er ihn in Händen hielt, stopfte er ihn sich ganz in den Mund und kaute hastig. „Ganz ruhig. Niemand nimmt ihn dir weg und ich habe noch mehr. Siehst du? Kau und schluck, dann gebe ich dir noch einen.“

Carter holte einen weiteren Keks heraus. Alex schnappte ihn sich und hielt ihn eng an seinen Körper. Sobald er geschluckt hatte, stopfte er sich auch den zweiten Keks ganz in den Mund. Alex langte nach einem weiteren und hielt sich auch diesen eng an die Brust. Carter bemerkte, dass Alex Chuck genau beobachtete und das Essen vor ihm versteckte.

„Ich nehme dir die Kekse nicht weg, kleiner Mann“, sagte Chuck. „Ich habe noch mehr, wenn du willst. Also keine Sorge.“

Carter brachte Alex dazu, mit dem Essen aufzuhören, damit er noch etwas Wasser trinken konnte, dann schlang Alex noch weitere Kekse herunter. Kurze Zeit später waren alle vier verschwunden und Alex wurde ruhiger. Carter gefiel der Vergleich nicht, doch Alex erinnerte ihn an den Hund, den er als Kind gehabt hatte. Snickers hatte sich immer auf seinen Fressnapf gestürzt und wie verrückt gefressen, als würde sein Futter plötzlich verschwinden. Was um alles in der Welt hatte man diesem kleinen Jungen bloß angetan?

Nachdem er gegessen und getrunken hatte, lehnte Alex sich an ihn.

Chuck kam näher. „Darf ich dich untersuchen?“, fragte er. Alex blinzelte ihn an, doch er sagte nichts und bewegte sich auch nicht. Er atmete nur. Als Chuck noch näher trat, bleckte Alex die Zähne.

„Hey, das ist nicht sehr nett“, sagte Carter sanft. „Er will nur sichergehen, dass du nicht verletzt bist, okay? Er wird dir nicht wehtun. Ich verspreche es.“ Alex blinzelte ihn an. „Ziehst du dein T-Shirt hoch, damit er deinen Bauch sehen kann?“ Alex schaute Carter immer noch an. Dieser nickte und Alex zog sein Shirt hoch.

Er war ganz schmutzig. Carter fragte sich, wann er zum letzten Mal ein Bad genommen hatte. Chuck holte ein Stethoskop heraus und hörte Alex’ Herz ab. Dann legte er es auf seinen Rücken. „Sein Herz und seine Lungen hören sich gut an.“ Chuck nahm Alex‘ Handgelenk und fühlte seinen Puls. „Ein wenig schnell, aber das liegt wahrscheinlich an der Aufregung. Wir können ihn mitnehmen, wenn du willst.“

„Ich weiß nicht …“ Carter wusste nicht, was er wollte. „Es ist jemand unterwegs, der eine Entscheidung treffen kann.“

„Im Moment braucht er Essen und Trinken wahrscheinlich mehr als alles andere.“ Chuck wandte sich wieder an Alex. „Vielen Dank“, sagte er zu ihm, dann zog er ihm das schmutzige T-Shirt wieder herunter. Carter gab ihm noch mehr Wasser.

„Musst du auf die Toilette?“, fragte Carter leise. Er war nicht sicher, wie alt Alex war ‒ er schätzte ihn auf vier ‒ doch er vermutete, dass er trocken war. Alex nickte und Carter brachte ihn zum Badezimmer.

„Seid ihr hier fertig?“, fragte Carter einen der Officer, der aus dem Bad kam.

„Ja. Da war nichts Interessantes zu finden.“ Er ging weiter und Carter setzte Alex ab. Dieser eilte zur Toilette, hob den Deckel, zog seine Hose herunter und erledigte sein Geschäft.

Carter drehte sich um, als ihm jemand auf die Schulter tippte.

„Das Jugendamt ist da“, sagte Rogers leise.

„Okay. Wir kommen gleich ins Wohnzimmer.“ Carter wartete, während Alex spülte und zum Waschbecken eilte. Carter hob ihn hoch und drehte das Wasser auf, damit er sich die Hände waschen konnte. Diese Geste erschien bizarr angesichts der Umgebung. Carter setzte ihn wieder ab und fand ein Handtuch, das sauber aussah. Alex trocknete seine Hände ab und schaute wieder zu Carter auf. Carter nahm ihn wieder hoch, dann gingen sie ins Wohnzimmer.

Dort musste Carter ein Stöhnen unterdrücken. Warum um alles in der Welt musste er es sein? „Hallo Donald“, sagte er förmlich, als er das Zimmer betrat.

„Carter“, erwiderte Donald Ickle in seiner üblichen, höflich distanzierten Art. „Ist das der Junge, wegen dem ich gerufen wurde?“

„Ja. Wir haben ihn auf dem Dachboden gefunden.“ Ein paar der anderen Polizisten kamen herein. Sie waren fertig mit dem Haus und Carter sah, dass sie einige Dinge mit nach draußen nahmen. „Er hat anscheinend dort gelebt. Ich weiß nicht für wie lange, doch nach dem Unrat zu urteilen, den ich in einer Ecke gefunden habe, auf jeden Fall mehrere Tage. Seine Sachen scheinen von einem der Zimmer im oberen Stockwerk dort heraufgebracht worden zu sein.“

Donald wandte sich an Alex. „Kannst du mir sagen, wie du heißt?“

„Stück Scheiße“, antwortete Alex in genau demselben Tonfall wie zuvor, als würde er nachplappern, was er gehört hatte.

„Du hast gesagt, dass deine Mommy dich Alex genannt hat“, erinnerte Carter ihn. Alex wand sich, und als Carter ihn absetzte, lief Alex zur Armlehne des schmutzigen Sofas, zog seine Hose herunter und beugte sich darüber, seinen nackten Po vorgestreckt. Carter war sprachlos und schaute hilflos zu Donald. Als er den Blick wieder zurückwandte, sah er die roten Striemen auf Alex‘ Haut. Er keuchte leise und legte die Hand auf den Mund. Großer Gott.

„Nein. Es ist alles in Ordnung. Du hast nichts falsch gemacht“, sagte Carter, als ihm dämmerte, dass Alex damit rechnete, bestraft zu werden. Donald sagte kein Wort und Carter wollte ihm eine verpassen. Ja, Donald Ickle war ein Arschloch, zumindest in seinen Augen ‒ ein kaltes, arrogantes Arschloch. Carter ging zu Alex und zog ihm die Hose wieder hoch, dann nahm er ihn auf den Arm und hielt ihn fest.

„Du hast mir die Wahrheit gesagt, wie es brave Jungs machen.“ Carter funkelte Donald über Alex‘ Schulter hinweg an, der den Blick erwiderte, als wäre es das Normalste der Welt.

„Wir haben ihm Wasser und ein paar Kekse gegeben, denn wir wussten nicht, wann er zuletzt etwas gegessen oder getrunken hat. Ich habe bis eben keine Verletzungen an ihm bemerkt. Auf seinem Rücken und seinem Bauch waren keine, jedenfalls habe ich keine gesehen, als der Sanitäter ihn untersucht hat. Ich dachte mir, du könntest entscheiden, ob er ins Krankenhaus soll.“

„Das denke ich schon. Ich mache ein paar Anrufe, damit er in eine Pflegefamilie kommt. Weißt du noch etwas über ihn, abgesehen von dem Namen Alex?“

„Nein“, antwortete Carter.

Donald holte ein Notizbuch aus seinem Koffer und begann, etwas aufzuschreiben. „Ich bringe ihn ins Krankenhaus, damit er gründlich untersucht wird.“ Donald holte sein Telefon hervor und machte einen Anruf. „Ich habe ein paar Notunterkünfte an der Hand, die ihn für ein paar Tage nehmen können.“ Er telefonierte und Carter schien, als hätte er kein Glück. „Eine Möglichkeit habe ich noch.“ Donald telefonierte ein weiteres Mal, während Carter versuchte, Alex zu beruhigen, der immer unruhiger wurde.

„Möchtet ihr, dass ich hierbleibe?“, fragte Chuck, als er den Kopf ins Zimmer streckte.

„Nein. Ich bringe ihn hin und sorge dafür, dass jede Verletzung dokumentiert wird“, sagte Donald mit demselben gelangweilten Tonfall, in dem er in Carters Vorstellung chinesisches Essen bestellte. Er sagte sich, was auch immer er selbst von ihm hielt, dass Donald „Icicle“ Ickle, der „Eiszapfen“, das Beste für Alex wollte, auch wenn er es nicht zeigte. Zumindest sagte man das über ihn.

„In Ordnung.“ Chuck nickte und drehte sich zum Gehen um. Der Großteil der anderen Officer war auch gegangen. Red stand an der Vordertür und schloss sie hinter Chuck.

„Ich kümmere mich darum, dass alles gesichert ist“, sagte Red. „Du sorgst dafür, dass es dem Jungen gut geht.“

„Das werde ich“, sagte Donald und schaute Red an. Dieser ignorierte ihn und behielt den Blick auf Carter gerichtet.

„Keine Sorge“, erwiderte Carter und wandte sich an Donald, der erneut Pech hatte und wieder telefonierte. Draußen war es dunkel und die Abendessenszeit war lange vorbei. Carters Magen sagte ihm, dass er schon lange nichts mehr gegessen hatte, doch er ignorierte ihn. Im Moment gab es Wichtigeres.

Donald beendete seinen Anruf. „Ich bringe ihn vorerst ins städtische Kinderheim.“ Er machte noch ein paar Notizen, dann packte er seine Sachen zusammen. „In meinem Kofferraum ist ein Kindersitz. Ich baue ihn ein und fahre mit dem Jungen zum Krankenhaus. Danach bringe ich ihn über Nacht ins Heim. Dort gibt es ein Bett für ihn.“

Carter schäumte vor Wut, doch er wollte nicht, dass Alex etwas davon mitbekam. Donald kam näher und versuchte, ihm Alex abzunehmen. Alex fauchte und versuchte, ihn zu beißen. „Alex, tu das nicht. Er versucht nur, dir zu helfen, auch wenn er nicht besonders nett ist.“ Carter schaute den Eiszapfen durchdringend an. „Ich bringe ihn ins Krankenhaus. Wir treffen uns dort.“

Alex beruhigte sich erst, als Donald zurückwich. „In Ordnung. Treffen wir uns dort.“

Carter unterdrückte ein Lächeln, als er eine Spur Angst in Donalds Augen sah. Er trat zurück und sie gingen nach draußen. Donald montierte den Kindersitz in Carters Wagen, und als Alex angeschnallt war, sagte Carter Red Bescheid, dass er sich auf den Weg zum Krankenhaus machte.

Offiziell hatte er Feierabend und er fuhr so vorsichtig wie möglich, damit Alex nicht zu sehr herumgeschleudert wurde. Der Junge war auf der Fahrt leichenblass, doch er saß still und sagte kein Wort. Als sie die Notaufnahme erreichten, atmete er schwer und zitterte.

„Alles ist gut“, beruhigte Carter ihn. Er parkte den Wagen, eilte herum, öffnete die Tür und schnallte Alex ab. Dann zog er ihn aus dem Auto in seine Arme. Der Junge zitterte wie Espenlaub. „Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst.“

Alex schaute an dem Gebäude hinauf und zitterte in Carters Armen. Ein Auto hielt hinter ihnen an. Donald stieg aus und kam auf sie zu. „Er ist gemein“, flüsterte Alex, als Donald näherkam.

„Nein, das ist er nicht. Er ist nur“ ‒ Carter lächelte ‒ „brummig.“ Er kitzelte Alex ein wenig und Alex kicherte und schlang die Arme um Carters Hals.

„Ich bin professionell, nicht brummig“, sagte Donald und ging zum Eingang des Krankenhauses.

Carter folgte ihm. „Er ist brummig“, sagte er zu Alex und ging hinein.

Donald war bereits an der Anmeldung. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück und bedeutete ihnen, zu den Stühlen zu gehen. „Wir müssen warten, doch es sollte nicht lange dauern. Ich habe deinen Namen auch angegeben.“

Carter schaute zu der Frau an der Anmeldung und sie lächelte ihn strahlend an. Er seufzte und nahm Platz. Alex saß auf seinem Schoß und Donald nahm neben ihm Platz. Sie redeten nicht, doch nach ein paar Minuten begann Donald nervös herumzurutschen. Carter konzentrierte sich auf Alex, doch immer wieder schielte er zu Donald in seinem Anzug mit Krawatte, ganz zugeknöpft.

Carter wusste, was für ein exquisiter Körper unter dieser Kleidung steckte. Donald und er hatten vor einem Jahr … na ja, sie hatten einen One-Night-Stand gehabt, der sich über das gesamte Wochenende gestreckt hatte. Es war heiß und intensiv gewesen und Carter hätte es gerne viele Male wiederholt, doch der Eiszapfen offenbar nicht. Sobald das Wochenende vorbei war, hatte Carter erkannt, warum ihn jeder nur Ice nannte, denn er hatte Carter nicht nur die kalte Schulter gezeigt, sondern ihn vollkommen schockgefrostet.

„Sie können hineingehen“, sagte eine Krankenschwester zu ihnen. Carter stand auf und folgte ihr, Alex immer noch auf dem Arm.

„Ich kann ihn nehmen. Du musst nicht deinen gesamten Abend mit ihm verbringen“, sagte Donald und streckte vorsichtig die Arme nach Alex aus. Alex versuchte nicht noch einmal ihn zu beißen, doch glücklich sah er nicht aus und nach einem Moment begann er zu weinen. Kein Wimmern, sondern ein lautes Heulen mit Tränen der Verzweiflung.

„Ist schon in Ordnung. Ich bleibe bei ihm. Vielleicht beruhigt er sich dann.“ Alex sprang praktisch zurück in Carters Arme. Danach beruhigte er sich und sie gingen in den Untersuchungsraum.

Carter legte Alex auf die Liege und hoffte, dass er liegenblieb. Zum Glück schien sie gemütlich genug zu sein und Alex hielt still. Carter entdeckte den Lichtschalter und dimmte das Licht. Alex gähnte und Carter hielt seine Hand. Schließlich schlief der kleine Kerl ein. „Ich habe keine Ahnung, wie lange er wach war.“

„Wie hast du ihn gefunden? Du sagtest, er war auf dem Dachboden“, sagte Donald.

Carter nickte. „Er war dort oben eingesperrt. Es war fürchterlich heiß und alles, was er hatte, war sein kleines Bett und Klamotten, die auf einem Haufen lagen.“ Er wünschte, er könnte es vergessen. „Wie kann jemand ein Kind so behandeln? Du warst dabei. Als du ihn nach seinem Namen gefragt hast, hat er uns gesagt, wie er genannt wurde, und als ich ihn daran erinnert habe, dass seine Mom ihn anders genannt hat, hat er erwartet, bestraft zu werden. Und ganz offensichtlich hatte jemand ihm wehgetan. Was hat man ihm sonst noch angetan?“ Carter erschauerte und schluckte schwer. Sicher, er war als Polizist ausgebildet, doch er musste zugeben, dass er emotional nicht auf Situationen wie diese vorbereitet war.

Donald starrte ausdruckslos an die gegenüberliegende Wand. „Ich habe Dinge gesehen, die du dir nicht einmal vorstellen kannst.“ Er wandte sich ab, setzte sich auf einen Stuhl und schaute ins Leere.

„Willst du ihn wirklich ins Heim bringen? Er wird schreien, bis er heiser ist und …“

Donald schaute ihn nicht an. „Es gibt keine andere Möglichkeit. Bis wir herausfinden, wer er ist und wer sich um ihn kümmern kann, brauche ich eine Unterkunft für ihn, und sonst war nichts verfügbar.“

„Es muss eine andere Möglichkeit geben als das.“ Carter wollte um das Bett herumgehen und Donald einen Schlag vor die Brust verpassen. „Ich weiß, dass man dich Ice nennt, doch so kalt kannst du doch nicht sein“, flüsterte er bedrohlich. Carter wusste, dass das unfair war, doch wenn es half, dann musste dem eben so sein. „Dieser Junge hat die Hölle durchgemacht und du willst es noch schlimmer machen.“

Alex wurde unruhig und öffnete die Augen. „Du hast geschrien“, wimmerte er.

„Nein, das habe ich nicht“, beruhigte Carter ihn und streichelte seine kleine Hand. „Schlaf einfach weiter. Alles wird wieder gut.“

„Was erwartest du denn von mir?“ Donald sprach mit leichtem Tonfall. „Wenn du dir solche Sorgen um ihn machst, dann nimm du ihn doch über Nacht.“

„In Ordnung“, sagte Carter und verschränkte die Arme.

Donald rollte mit den Augen. „Hast du denn Platz für ihn?“

„Er kann in meinem Bett schlafen und ich schlafe auf der Couch.“ Das hatte er schon gemacht, wenn seine Eltern zu Besuch kamen … ein Mal. Das konnte er wieder tun.

Donald atmete dramatisch aus. „Na schön. Ich habe Platz. Er kann bei mir bleiben und morgen finde ich einen dauerhaften Platz für ihn. Hoffentlich finden wir heraus, wer er ist, dann können wir ihm vielleicht ein festes Zuhause geben.“

„Na schön“, sagte Carter. Verdammt, sie klangen wie ein paar Schuljungen, die sich darum stritten, wer den letzten Hot Dog bekommen würde, nicht um die Versorgung eines kleinen Jungen. Doch er wollte Alex nicht wieder aufregen, deshalb sprach er leise.

„Dir ist doch bewusst, dass wir klingen wie aus einer dummen Sitcom.“

„Ja, kann schon sein, doch ich habe dich dazu gebracht, das Richtige zu tun. Also kann ich damit leben.“

Donald rollte erneut mit den Augen. Doch bevor sie ihren Streit fortsetzen konnten, ihre Diskussion oder was auch immer, kam der Doktor herein. Alex wimmerte und drängte sich an Carter. „Was gibt es denn für ein Problem, junger Mann?“

„Alex wurde aus einer potenziell gefährlichen Situation gerettet. Er war eine unbestimmte Zeit lang auf einem Dachboden eingeschlossen. Wir haben auch Beweise, dass er körperlich misshandelt wurde, deshalb wollten wir, dass er untersucht wird, um sicherzugehen, dass es ihm wirklich gut geht, zumindest körperlich.“

„In Ordnung“, sagte der Doktor.

„Seien Sie vorsichtig. Er beißt“, fügte Donald schnell hinzu.

„Nur dich“, konterte Carter und wandte sich an Alex. „Wirst du brav sein und tun, was der Doktor sagt? Er wird dir nicht wehtun. Wie bei dem netten Mann im Haus.“ Alex starrte ihn an. „Ziehst du dein T-Shirt für den Doktor hoch?“

Alex blinzelte ein paar Mal, dann zog er sein T-Shirt hoch, wie er es für den Sanitäter getan hatte. Der Arzt hörte sein Herz ab, dann half Carter Alex sich vorzubeugen, damit der Doktor das Stethoskop an seinen Rücken legen konnte. Er schaute Alex überall an und die einzigen Verletzungen, die man erkennen konnte, schienen die zu sein, die sie bereits gesehen hatten. Der Arzt kontrollierte Alex‘ Temperatur, seinen Blutdruck und seinen Puls. Die Blutdruckmanschette schien Alex nicht zu stören, doch als der Doktor hinausging und eine Schwester hereinkam, um ihm etwas Blut abzunehmen, schrie er Zeter und Mordio, sobald er die Nadel sah. Die Schwester gab ihm einen Lutscher, den er in Rekordzeit lutschte. Dann reichte er ihr den Stiel. „Danke.“

„Gern geschehen“, sagte sie und reichte Carter noch ein paar Lutscher. „Nehmen Sie die für ihn mit. Er braucht sie mehr als die anderen Kinder.“ Sie ging hinaus und der Arzt kam kurz darauf wieder zurück.

„Er scheint in Ordnung zu sein. Ein wenig dehydriert vielleicht, aber davon abgesehen in guter Verfassung. Ich habe ein paar Bluttest veranlasst und die ersten sind in Ordnung. Ich lasse außerdem einen DNS-Test machen, der helfen könnte, herauszufinden, ob er Verwandte hat, die ihn aufnehmen. Wir schicken die Ergebnisse in Ihr Büro, Mr. Ickle, außerdem eine Kopie an die Polizei und einen Bericht über das, was wir festgestellt haben. Sie müssen nur noch ein paar Formulare unterschreiben.“

Carter hob Alex hoch und nahm ihn auf den Arm. Alex schmiegte sich an seine Brust, legte die Arme um Carters Hals und den Kopf an seine Schulter. Donald unterschrieb die Papiere, dann setzte Carter Alex wieder in sein Auto. „Ich muss kurz beim Revier anhalten, dann bringe ich Alex zu dir. Ich weiß noch, wo du wohnst.“

„Gut. Ich versuche aufzutreiben, was er für die Nacht braucht.“ Donald drehte sich um und marschierte zu seinem Auto. Carter stieg ein und fuhr zum Revier.

2

 

 

„VERDAMMT, VERDAMMT, verdammt!“, brüllte Donald, als er in seinem Auto saß und auf dem Weg nach Hause war. Das war wirklich nicht gut. Er holte tief Luft und fragte sich, was er bloß tun sollte. Aus irgendeinem Grund hatte er zugelassen, dass Carter ihn dazu brachte, Alex aufzunehmen. Er hatte immer seinen Job gemacht und das sehr gut, weshalb er auch praktisch kein Privatleben hatte. Trotzdem hatte er es geschafft, Distanz zu bewahren. Sicher, die Leute nannten ihn Ice, aber wen interessierte das schon. Als würde ihn kümmern, was andere Leute von ihm dachten. Sein Job war es, dafür zu sorgen, dass Kinder die Hilfe bekamen, die sie brauchten. Schlicht und einfach.

Donald parkte vor seinem kleinen Haus im Süden von Carlisle und stieg aus. Er schloss die Tür auf und ging hinein. Zuerst schaute er sich um, um sicherzugehen, dass das Haus relativ sauber war. Im Grunde war es praktisch leer. Er hatte es vor ein paar Jahren gekauft und hatte so große Pläne für jeden Raum gehabt, doch abgesehen von etwas Farbe und ein paar Bildern an den Wänden hatte sich nicht viel getan. Jedes Mal, wenn er dachte, er hätte Zeit, um ein Projekt in Angriff zu nehmen, kam ihm etwas dazwischen.

Er räumte die Reste seines Abendessens weg, das er gerade hatte essen wollen, als er den Anruf wegen Alex bekommen hatte. Er entsorgte auch die Zeitung, die er nicht hatte lesen können. Die Küche war sauber und das Wohnzimmer ordentlich, deshalb ging er nach oben und machte schnell sein Bett, bevor er ins Gästezimmer ging.

Die vorherigen Besitzer hatten den Raum hellgelb gestrichen, das hatte Donald gefallen. Mit dem weißen Bettgestell und der blassblauen Tagesdecke wirkte der Raum recht freundlich. Er kontrollierte, dass das Bett ordentlich bezogen war. Schließlich ging er in den kleinen Raum, in dem er Dinge für den Notfall aufbewahrte ‒ Feuchttücher, Windeln, Kleidung in verschiedenen Größen und dergleichen. Die Kreisverwaltung brauchte immer sehr lange dafür, den Familien zu besorgen, was sie brauchten, deshalb hatte Donald sich einen eigenen Vorrat angelegt und gab weiter, was nötig war. Die Kreisverwaltung ersetzte es ihm dann. Das war einfacher und die Familien bekamen schneller, was sie brauchten.

Donald schaute sich um, bis er fand, was er suchte: einen Schlafanzug und Unterwäsche, die aussah, als würde sie Alex passen. Er legte die Sachen ins Gästezimmer, da hörte er ein Klopfen an der Haustür. Er eilte hinunter und öffnete die Tür. Dort stand Carter, in all seiner Polizistenpracht. Er hielt Alex auf dem Arm, während der Junge sich Hähnchennuggets in den Mund stopfte. „Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Ich habe für ihn im Drive-in etwas besorgt.“ Carter hob Alex ein wenig hoch. „Mach langsam. Sie sind alle für dich. Niemand nimmt sie dir weg. Versprochen.“

Er trat ein. Donald schloss die Tür und sagte: „Warum bringst du ihn nicht in die Küche?“