Feuerbruder und Regenschwester - Jutta Kounovsky - E-Book

Feuerbruder und Regenschwester E-Book

Jutta Kounovsky

4,8

Beschreibung

Jetzt würde es passieren. Weil die beiden so furchtbar stritten und es nicht sahen. Die dunklen Wolken nicht sahen, die immer näher kamen. Ein greller Blitz durchschnitt den Himmel und riss den Berg entzwei. Und der Berg verschluckte den Bruder. Tiefer und tiefer zog es ihn hinunter ins Innere der Erde. Rotglühende Flüssigkeit ergoss sich aus der Wunde des gespaltenen Berges. Die Schwester weinte und weinte um den Bruder und ihre Regentränen kühlten den heißen Strom. Jeder auf der Insel kennt die alte Sage, mit der ihr Leben eng verbunden ist. Es heißt, nur die Tränen der Tochter der Herrscherin können den Vulkan besänftigen, der vor langer Zeit fast das Schicksal der Insel besiegelte. Seitdem wird den Herrscherinnen nur eine Tochter geboren. Kommt ein Sohn auf die Welt, droht der Untergang. Lange Zeit schon schläft der Vulkan friedlich, da erreicht schlimme Kunde die Hauptstadt. Der Berg raucht. Doch zwei Menschen könnten die Insel vor dem Untergang retten. Werden sie den rauchenden Berg rechtzeitig erreichen?

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Seitenzahl: 623

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Jutta Kounovsky ist seit 30 Jahren Buchhändlerin. Sie lebt und arbeitet in Ulm. Durch ihre Beschäftigung mit Literatur und Sprache bekam sie Lust, eigene Texte zu schreiben und brachte sich mit entsprechender Fachliteratur das literarische Schreiben selbst bei. Sie schrieb zunächst kurze Texte und Gedichte, bis sie die Idee zu einem Roman umsetzte, die ihr auf einer Wanderung durch Teneriffa kam.

„Feuerbruder und Regenschwester“ ist ihr erster Roman.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Im Puppentheater

Ratssitzung

Ludmillas Amtsstube

Ramon geht zu Ludmilla

Nica spricht mit Magda

Ramon geht durch die Stadt

Vorbereitungen

Aufbruch

Perpetuus greift ein

Die Leiter

Das Bergdorf

Der Sumpf

Bei Nestor auf der Insel

Die Flöte

Gefahr

In der Bibliothek

Die Bergstadt

Der Maler

Magda und Ludmilla

Spiegel und Tagebuch

Der Turm

Scherben

Nebel

Wahrheit

Getrennt

Der Brief

Gefangen in der Meerstadt

Die dunkle Gestalt

Rettung

Der Tunnel

In der Hauptstadt

Die Roten

Erdbeben

In der Schlucht

Im Puppentheater

Perpetuus` Zauber

Der Berg

Heimweg

Ende

Prolog

Es ist heiß. Schrecklich heiß. Unter ihm fließt ein zäher, glühender Brei. Es zischt und dampft. Er fällt. Unaufhaltsam. Kann sein Fallen nicht aufhalten.

Ein greller Blitz zerschneidet den Himmel.

Er will schreien. Aber da ist keine Stimme.

Ramon fuhr schweißgebadet auf. Ein Blitz zog eine leuchtende Spur über den nächtlichen Himmel. Die Luft dröhnte von Donnergrollen. Das Gewitter war direkt über der Stadt. Ramon stand auf und schüttelte den Albtraum aus seinen Gliedern. Er ging ans Fenster und beobachtete die schwarzen Wolkenberge, die sich über ihm auftürmten. Ob es wohl endlich regnen würde? Ramon seufzte lautlos und starrte aus dem Fenster. Der große Platz vor der Bibliothek lag verlassen unter ihm. Nicht einmal die nächtlichen Jäger streunten um das große Gebäude, unter dessen Dach sich Ramon sein Zimmer eingerichtet hatte. Die Katzen der Stadt versteckten sich vor dem drohenden Gewitter.

Doch das Gewitter zog weiter. Die Wolkenberge lösten sich auf und wehten hinaus aufs Meer. Sorgenvoll schaute ihnen Ramon hinterher. Gewittriges Licht glänzte über dem Wasser. Wie in einem Traum. Der Traum. Er legte seinen Kopf an die kühle Fensterscheibe und schloss die Augen. Er war gefallen. Er hatte die Hitze gespürt. Es war so echt gewesen. Ramon schauderte. Das will ich nie wieder träumen, dachte er. Nie wieder. Aber konnte er seine Träume steuern? Und wenn es etwas zu bedeuten hat, dachte er. Wenn es jetzt anfängt. Aber wie soll ich es aufhalten? Ausgerechnet ich?

Er starrte in die Ferne. Die letzten Wolkenfetzen zerstoben weit draußen über dem Meer. Wieder brach ein Tag ohne Regen auf der Insel an.

Im Puppentheater

Die Luft im Puppentheater prickelte vor freudiger Erwartung. Ein Mädchen in der letzten Reihe klatschte in die Hände und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Ramon setzte sich neben sie und das Mädchen rückte schnell einen Stuhl weiter. Ramon beachtete sie nicht. Er schaute geradewegs auf die Bühne. Der große Raum war abgedunkelt und nur über der Bühne verströmte der Kronleuchter dämmriges Licht. In der Bibliothek gab es heute Nachmittag nicht viel zu tun und Kian, sein Vater, hatte ihm frei gegeben. Also hatte Ramon beschlossen, zur Nachmittagsvorstellung in Perpetuus Theater zu gehen. Er hoffte, dass der Puppenspieler die alte Sage aufführte. Die Geschichte von Feuerbruder und Regenschwester und ihrer Reise über die Insel zum brennenden Berg. Er wurde nicht enttäuscht. Auf der Bühne war das alte Fischerdorf aufgebaut, das die Hauptstadt vor langer Zeit einmal gewesen war. Ramon kannte die alte Geschichte gut. Die Sage, mit der das Schicksal der Insel und ihrer Bewohner untrennbar verbunden war. Jeder auf der Insel kannte sie. Stadtschreiber, Poeten und Geschichtenerzähler hatten sie niedergeschrieben. In vielen Büchern, die in Kians Bibliothek standen, war sie zu finden. Allen Kindern wurde sie erzählt, kaum dass sie ordentlich zuhören konnten. Kian musste sie Ramon immer wieder vorlesen und sobald Ramon mit Papier und Bleistift umgehen konnte, schrieb er heimlich seine eigenen Versionen der Geschichte in sein Notizbuch. Am liebsten jedoch ließ sich Ramon die Geschichte von Perpetuus magischen Puppen vorspielen. Perpetuus war ein Zauberer, dessen war sich Ramon ganz sicher. Sein Vater hatte es ihm einmal erzählt, doch sofort war ihm die Mutter ins Wort gefahren.

„Was erzählst du dem Jungen für einen Unsinn“, hatte Vesta gegiftet und fast drohend hinzugefügt: „Besser, er hört nicht solche Dinge, die richten nur Unheil in seinem dummen Kopf an.“ Doch Ramon hatte Perpetuus genau beobachtet. Der alte Puppenspieler konnte zaubern, das war kein Unsinn. Seine Puppen schwebten ohne Fäden über die Bühne. Ohne dass der Puppenspieler sie berührte. Ramons aufmerksame Augen sahen, wie Perpetuus die Hände sachte bewegte. Das konnte nur Magie sein.

Ramon schaute dem Puppenspieler so oft zu, wie er konnte. Wenn er Botengänge zu erledigen hatte, huschte er kurz ins Theater, um sich einen Moment von Perpetuus` Spiel verzaubern zu lassen. Wenn sein Vater ihn in der Bibliothek entbehren konnte, besuchte er die gesamte Vorstellung. So wie heute Nachmittag.

Perpetuus trat auf die Bühne und begrüßte sein aufgeregt plapperndes Publikum. Der Puppenspieler war wie immer elegant und farbenfroh gekleidet und hatte seinen langen silbergrauen Bart zu einem Zopf geflochten, der ihm über seine bunte Weste hing. Selbst in der hintersten Reihe konnte Ramon die hellen Augen des alten Puppenspielers aufblitzen sehen. Ein blaugrünes Funkeln in dem faltigen Gesicht.

Als Vesta nicht mehr zugehört hatte, hatte Kian Ramon noch schnell zugeflüstert: „Und er ist viel älter, als sich das irgendjemand vorstellen kann. Ein uralter Zauberer.“ Ramon gefiel diese Vorstellung und sie ließ ihn gleichzeitig erschauern. Etwas Geheimnisvolles umgab Perpetuus und Ramon hatte große Ehrfurcht vor dem alten Puppenspieler. Doch er mochte ihn auch. Er mochte das Geheimnisvolle. Und noch etwas, das er nicht benennen konnte, zog ihn zu dem Alten hin. Schon als Kind kam er Perpetuus oft besuchen. Der Puppenspieler behandelte ihn freundlich und Ramon durfte zuschauen, wenn Perpetuus seine Puppen schnitzte. Der Puppenspieler erzählte ihm nebenbei die Geschichte der jeweiligen Figur und ließ sie manchmal sogar vor ihm herumtanzen. Wie er das machte, verriet er ihm nicht. Einmal hatte Perpetuus ihm eine Puppe geschenkt, einen lustig aussehenden kleinen Kerl mit einem frechen Lachen auf den hölzernen Lippen. Da hatte Ramon es heimlich versucht. Er wollte diesen fröhlichen Kerl zum Leben erwecken. Dann hätte er einen Freund. Einen richtigen Freund. Der ihn nicht auslachte, nur weil er nicht reden konnte. Er lenkte seine ganze Aufmerksamkeit auf die kleine Gestalt. Dachte angestrengt immer wieder die Worte, werde lebendig, werde lebendig. Aber es funktionierte nicht. Traurig legte er die Puppe in eine Truhe auf den Dachboden der Bibliothek, wo sie heute noch lag. Zaubern war nur etwas für richtige Zauberer. Und das war Ramon ganz und gar nicht. Das wusste er so gut, wie er wusste, dass er wohl nie einen richtigen Freund haben würde. Er war der dumme, stumme Ramon, dem man Streiche spielte oder dem man einfach aus dem Weg ging.

Kian brachte ihn einmal zu einem Arzt, der im Krankenhaus der Stadt als Kapazität galt. Der Arzt hatte ihn untersucht, allerlei Experimente mit ihm angestellt und beschieden, dass er einfach zu dumm zum Sprechen sei. Denn alles was man dazu bräuchte, sei ja schließlich vorhanden und es gäbe keine Krankheiten oder Behinderungen, die ihn daran hinderten. Kian müsse sich eben damit abfinden einen stummen Sohn zu haben, der niemandem etwas zu sagen hatte. Ramon wurde von seinem Vater unterrichtet, das ersparte ihm den Spott an der Schule. Kian lehrte ihn lesen und schreiben, erzählte ihm Geschichten aus der großen Welt und vieles über die Insel. Und das war nicht wenig. Nur Sprechen konnte sein Vater ihn nicht lehren. So verzweifelt dieser es auch immer versuchte. Ramon blieb stumm. Und er blieb alleine.

Ramon verkroch sich in der Bibliothek seiner Eltern und tauchte in die Geschichten der Bücher ab. Er erlebte die wundersamsten Abenteuer. Hier war er ein Held, wurde bewundert und geschätzt. Je älter Ramon wurde, umso mehr ließen die Leute ihn in Ruhe. Er gehörte als stiller Geist bald so sehr zur Bibliothek wie die Bücher. Er liebte den Geruch von Papier und Staub, der den hohen Raum der Bibliothek erfüllte. Es machte ihm Freude, mit seinem Vater die Bücher zu katalogisieren und sie anschließend an den richtigen Stellen in den weitläufigen Regalen einzusortieren. Ramon liebte diese Arbeit und er liebte seinen Vater, auch wenn Kian mit den Jahren ein alter Griesgram geworden war. Ramon konnte sich nicht vorstellen, jemals woanders zu leben als hier in der Bibliothek, in der Stadt und auf dieser Insel. Wohin hätte er auch gehen sollen. Welches Schiff hätte ihn schon mitgenommen. Alle hielten ihn für einen Dummkopf und es war ihm recht. Niemand beachtete ihn und so stellte keiner Fragen, vor deren Antwort er sich fürchtete.

In den Kulissen auf der Bühne tauchten zwei Puppen auf, ein Junge und ein Mädchen. Perpetuus war verschwunden und erregtes Gemurmel ging durch die Reihen der Kinder. Die Geschichte begann und wie jedes Mal vergaß Ramon alles um sich.

„Morgens Fisch, mittags Fisch, abends Fisch, immer Fisch. Mir wachsen schon Kiemen hinter den Ohren“, seufzte das Mädchen.

„Wir sind Fischer, wir leben nun einmal davon, Fische zu fangen und sie auf dem Markt zu verkaufen und sie eben auch zu essen“, tadelte sie eine Frau, die gerade mit einem Korb getrockneter Fische aufgetaucht war. „Die hier werdet ihr morgen früh auf den Markt bringen. Sie sind ganz wunderbar geworden.“

„Auf den Markt, juhu!“ der Junge hüpfte über die Bühne. „Da ist bestimmt wieder der alte Geschichtenerzähler.“

„Jetzt im Herbst kommt auch wieder die Beerenfrau“, sagte das Mädchen. „Und lass uns auch neuen Stoff kaufen, Mutter. Wir könnten für den Winter neue Röcke nähen. Das letzte Mal hatte der Stoffhändler so schöne Farben dabei.“

„Ihr sollt die Fische verkaufen, deswegen geht ihr auf den Markt.“

Streng blickte die Mutter die beiden an, doch dann sagte sie mit freundlicher Stimme:

„Aber gut, wenn ihr alles verkauft habt, seht euch um und meinetwegen kauft neuen Stoff.“

Mit einem Freudenschrei der Kinder veränderte sich das Bild auf der Bühne. Buntes Markttreiben war zu sehen. Stände mit Körben voller Nüsse und Beeren. Duftende Kräuterbündel, die von Holzgerüsten hingen. Säcke voll feuriger Gewürze. Gläser, in denen gelber Honig leuchtete. Seltsam aussehende Früchte mit Stacheln, deren Kerne über einem Feuer geröstet wurden und wunderbar dufteten. Jeder eine Papiertüte in der Hand, gefüllt mit den herrlich schmeckenden Früchten, schlenderten das Mädchen und der Junge über den Markt.

„Dort ist der alte Geschichtenerzähler“, sagte der Junge. „Komm lass uns hören, was er heute zu erzählen weiß.“

Sie setzten sich in die Runde der gebannt zuhörenden Kinder. Ihre frisch gestrichenen Holzgesichter glänzten. Eine alte Puppe stand in der Mitte und hob die Hände. Ihre Augen waren tief in den eierförmigen Kopf geschnitzt, von dem wirr ein paar weiße Wollfäden abstanden. Ihre Ohren waren so groß wie ihre Hände und sie trug schlackernde graue Gewänder.

Ramon schmunzelte beim Anblick der Puppe. Sie erinnerte ihn jedes Mal an seinen Vater.

Der Alte erzählte:

„Vor langer, langer Zeit stieg ein feuriger Berg aus dem Meer und vergoss glühende Flüssigkeit.“

Es zischte auf der Bühne und das Feuer, um das die Puppenkinder saßen, loderte in die Höhe. Die Puppenkinder und ein paar der Kinder im Publikum schrien auf.

Der Alte erzählte weiter:

“Viele Tage brannte das Meer und die heiße Masse blubberte auf dem Wasser. Doch bald fiel Regen und es regnete so viele Tage, wie es gebrannt hatte und alles erstarrte und als alles erstarrt war, lag da auf dem Wasser eine schöne große Insel. Da trug der Wind viele Samenkörner heran und die fielen auf den noch feuchten Boden. Der Boden aus dem Inneren der Erde war sehr fruchtbar und bald wuchsen Pflanzen und Bäume. Vögel flogen um die Insel und Fische fanden in den dunklen Höhlen der erkalteten Lava Unterschlupf und Nahrung. So kam es, dass die ersten Menschen mit kleinen Booten die Insel fanden. Sie sahen die Fische und den fruchtbaren Boden und blieben hier. Es wurden immer mehr Menschen und es waren eure Vorfahren. Sie haben das Dorf hier gegründet. Haben neue Pflanzen und Tiere auf die Insel gebracht. Jeder hatte seine Talente, um die Schätze der Insel zu verwerten und sie zu bereichern. Das Dorf wurde schöner und größer und immer mehr Menschen siedelten sich hier an. Aber noch keiner von ihnen hat sich jemals auf die andere Seite der Insel gewagt.

Man sagt, dort steige der Feuerschlot aus den Tiefen empor. Noch immer glüht es dort und es heißt, dass irgendwann der feurige Berg die Insel wieder ins Meer zurückzieht.“

Wieder loderte die Flamme in die Höhe und die Puppenkinder um das Feuer und die Kinder im Saal sogen hörbar die Luft ein.

Der Junge auf der Bühne sprang in die Höhe. „Ich werde dorthin wandern und in den dampfenden Schlot spucken, dann hört er auf zu rauchen und wird nie mehr ausbrechen.“

Seine Schwester lachte. „Da komme ich mit. Ich will sehen, wie du in den Schlot spuckst.“

„Gut“, die Stimme des Jungen wurde verschwörerisch, „dann lass uns gehen.“

„Wie gehen?“, fragte das Mädchen. „Das war doch nur Spaß.“

„War es nicht, ich werde gehen und zwar sofort. Wie lange soll ich denn noch hier leben und nichts anderes tun als Fische fangen, Fische essen und Fische verkaufen. Du hast doch auch gesagt, dass du keine Fische mehr sehen kannst. Hast selbst gesagt, wie öde du unser Leben findest. Warst nicht du es, die mir einmal erzählt hat, sie würde nichts lieber tun, als die Insel zu durchstreifen und zu entdecken. Du hast doch gesagt, du würdest zu gerne wissen, ob es auf der anderen Seite auch Menschen gibt.“

Der Junge war nun ganz aufgebracht.

„Ja schon“, erwiderte die Schwester, „aber wir können doch nicht einfach mir nichts dir nichts gehen. Was werden die Eltern denken. Sie werden sich zu Tode sorgen.“

„Du willst es ihnen doch nicht erzählen. Dann dürfen wir nie gehen. Jetzt ist die beste Gelegenheit. Wir haben Geld und sie erwarten uns vor heute Abend nicht zurück.“

„Ich weiß nicht, das kommt so plötzlich. Ich bin ganz verwirrt. Ja, ich möchte schon gerne die Insel erkunden, ja ich kann keinen Fisch mehr sehen, aber müssten wir uns nicht vorbereiten auf so eine Reise?“

„Ach was, vorbereiten. Du hast Schuhe an, also kannst du gehen.“

Das Mädchen stand da und zupfte an ihren Haaren.

„Die kommt doch eh mit“, rief ein Kind aus dem Saal dem Jungen zu. „Geh doch einfach, die kommt dann schon.“

„Pscht!“, machten die anderen Kinder.

Und tatsächlich, als der Junge weglief, gab sich das Mädchen einen Ruck und folgte ihm.

„Jetzt kommt gleich der große Blitz“, flüsterte ein Kind im Saal.

„Das dauert doch noch, erst müssen sie weit wandern.“

„Ja und dann müssen sie sich streiten.“

„Aber dann kommt der Blitz.“

„Pscht!“

Begleitet vom „Ah“ und „Oh“ der Kinder erlebten die Geschwister ihre Abenteuer. Sie schwammen durch einen eiskalten See, wurden von einem durchsichtigen Geist in die Irre geführt, wanderten durch einen unheimlichen Nebelwald und verloren sich aus den Augen. Beinahe wurden sie von einer roten Hexe verzaubert, die mit einem sonderbaren Gefolge in einer Burg lebte, und wilde Raubtiere griffen sie in einer engen Schlucht an. Überall schafften sie es zu entkommen.

Die prächtig gemalten Kulissen veränderten sich mit jeder neuen Szene, von Perpetuus magischer Hand gelenkt.

Plötzlich erschien er auf der Bühne. Groß und mächtig und stumm.

Der Berg.

Ganz still wurde es im Raum. Und obwohl Ramon genau wusste, was jetzt kam, hielt auch er den Atem an.

„Ich kann nicht mehr“, jammerte die Schwester auf der Bühne. „Ich will wieder nach Hause. Wir haben den Berg gesehen. Er spuckt kein Feuer und es ist so trostlos hier. Ich wollte schon lange umdrehen, aber du musstest ja unbedingt hier herauf. Was machen wir hier bloß? Hier gibt es nichts, aber auch gar nichts, außer Asche und schwarzer Steine und diesen Furcht erregenden dunklen Schlund. Es ist kalt hier und gar nicht heiß. Ich will hier weg. Ich will wieder nach Hause.“

„Jetzt willst du wieder nach Hause, jetzt wo wir hier sind.“ Die Stimme des Bruders war sehr laut. „Uns liegt die ganze Insel zu Füßen. Wir sind die Ersten, die Allerersten, die es bis hierher geschafft haben. Und du jammerst herum. Du wolltest doch auch weg. Zuhause, was ist da schon. Da ist es wie immer. Stinkender Fisch. Morgens, mittags, abends. Wir sind so weit gekommen. Jetzt schauen wir uns den Berg richtig an. Lass uns ein Stück weiter gehen, bis zur anderen Seite.“

„Bist du verrückt, da ist doch nichts“, antwortete die Schwester ängstlich.

„Wenn da nichts ist, dann brauchst du doch keine Angst zu haben. Hast du etwa Angst? Fürchtet sich das kleine Mädchen vor dem großen bösen Berg?“

Die Stimme des Bruders klang wütend und Wut lag nun auch in der Stimme der Schwester.

„Was willst du hier? Du hast dir gar keine Gedanken gemacht, bist einfach losgelaufen. Du weißt doch gar nicht, was du hier willst.“

Immer heftiger stritten die beiden.

Auf einmal wurde es dunkel und bedrohliche Wolken zogen auf. Die Kinder im Saal hielten sich die Hände vor den Mund und Ramon sah wie gebannt nach vorne.

Jetzt würde es passieren. Wie es immer passierte. Weil die beiden so furchtbar stritten und es nicht sahen.

Sie sahen die Wolken nicht. Die dunklen Wolken, die immer bedrohlicher wurden und näher kamen. Ein stürmischer Wind rüttelte an den Balken des Theaters. Die Kleider der Puppen flatterten und die Haare der Kinder im Zuschauerraum flogen auf.

Dann krachte es. Ein greller Blitz durchschnitt den Raum. Ramon zuckte unwillkürlich zusammen. Ein paar Kinder schrien. Alle starrten auf die Bühne. Das Bühnenbild war in zwei Teile gerissen. Das grelle Licht hatte einen glühenden, tiefen Spalt in den Berg gerissen. Die Schwester stürzte zu Boden. Doch den Bruder zog es in den Spalt. Tiefer und tiefer hinunter ins Innere der Erde. Rotglühende, dicke Flüssigkeit ergoss sich aus der Wunde des gespaltenen Berges. Wie in meinem Traum, dachte Ramon. Er zitterte.

Auf der Bühne stand die Schwester am Rande des Kraters, fassungslos und wie betäubt starrte sie in den gewaltigen Spalt, in den der Bruder gestürzt war. Tränen traten in ihre Augen. Sie weinte und weinte. Das Wasser ihrer Tränen vermischte sich mit dem Regen, der nun aus den Wolken strömte. Sie weinte um den verlorenen Bruder. Ihre Regentränen kühlten den heißen Strom. Die Glut erstarrte und bald füllten ihre Tränen zusammen mit dem Regen den Krater und bildeten einen See. Das Tränenwasser des Sees besänftigte den Zorn des Berges, der den Bruder verschluckt hatte. Schweren Herzens machte sich die Schwester auf den Heimweg.

Die Kinder seufzten und Ramon sah, wie sich manche verstohlen die Augen wischten. Es freute ihn, dass diese alte Geschichte die Kinder immer noch so faszinierte. Da hörte er, wie ein paar Mädchen verzückt seufzten. Ein prächtiges Schiff fuhr über die Bühne. Aufgetakelt und stolz und eine hübsche Marionette stieg von Bord. Es war der reiche Kaufmann, der sich in die Schwester verliebte.

Sehnsüchtige Seufzer der Mädchen und das hämische Gelächter der Jungen begleiteten die nächste Szene.

Die Schwester stand in einem herrlichen Brautgewand auf der Bühne und gab dem eleganten Kaufmann das Ja-Wort. Und dann tat die Schwester den Schwur.

„Meine Tränen haben den feurigen Berg besänftigt und so sollen auch die Tränen meiner Tochter ihn besänftigen können. Und die Tränen ihrer Tochter und die Tränen aller Töchter. Niemals soll eine meiner Nachkommen einem Sohn das Leben schenken. Wird ein Sohn geboren, ist es das Zeichen des Untergangs. Meine Aufgabe und die Aufgabe meiner Töchter soll es sein, die Insel zu schützen. Meine Aufgabe und die meiner Töchter soll es sein, die Menschen auf der Insel zu schützen und ihnen ein gutes Leben zu gewähren. Das gelobe ich und auch meine Töchter sollen es dereinst geloben.“

Auf der Bühne wurde es dunkel.

Kurze Zeit war es ganz still im Saal. Dann wurde ein Stuhl gerückt und der Bann war gebrochen.

Die Kinder sprangen auf und munteres Geplapper brach los.

„Wenn ich Braut bin, möchte ich auch so ein Kleid anhaben.“

„Oh, ist er nicht ein stattlicher Mann dieser Kaufmann.“

„Und das Schiff, habt ihr das Schiff gesehen, auf so einem will ich einmal fahren.“

„Ein Zauberer war damals dabei, mein Großvater hat es gesagt.“

„Dein Großvater sagt viel.“

„Er hat es gelesen, in einem ganz alten Buch. In dem steht, dass der Zauberer ewig leben muss, um auf die Töchter aufzupassen.“

„Dein Großvater kann doch gar nicht lesen.“

„Auf die Tochter aufpassen, das könnte ich auch.“

„Bist wohl in Nica verliebt? Haha, Hano ist in Nica verliebt.“

„Halt bloß den Mund.“

„Was ist nun mit dem Bruder?“

„Den hat doch der Feuerberg verschluckt, hast du doch gesehen.“

„Muss er jetzt für immer da unten bleiben?“

„Er wartet doch auf den Tag, an dem der See in der Sonne verdampft.“

„Dann kommt er nach oben und verbrennt die ganze Insel.“

„Aber der See trocknet doch nicht aus, oder?“

„In der Geschichte heißt es doch, dass die Tränen der Herrscherin den See wieder auffüllen können.“

„Deshalb dürfen die Herrscherinnen ja nur Töchter bekommen. So hat es die Schwester damals befohlen.“

„So was kann man doch nicht befehlen. Ich kann doch nicht bestimmen, ob ich ein Mädchen oder einen Jungen auf die Welt bringe.“

„Aber alle Herrscherinnen haben seitdem nur eine Tochter geboren.“

„In der Geschichte heißt es auch, wenn eine Herrscherin einen Sohn bekommt, dann wird es ernst.“

„Wie, dann wird es ernst?“

„Na ja, dann beginnt der Feuerbruder wieder lebendig zu werden.“

„Ich sag doch, alle Herrscherinnen haben seit damals immer nur eine Tochter bekommen.“

„Ludmilla hat vor langer Zeit eine tote Tochter geboren, das hat meine Großmutter erzählt.

Es war eine große Erleichterung, als Nica geboren wurde, hat sie gesagt.“

„Und jetzt ist Nica an der Reihe, den Feuerbruder zu besänftigen.“

„Ja, wenn sie am Berg weint, werden Wolken kommen und es regnet.“

„Es hat schon lange nicht mehr geregnet.“

„Doch, vor ein paar Wochen hat es geregnet.“

„Ja, aber nur ein paar Tropfen.“

„Mein Vater sagt, wenn das so weitergeht, haben wir bald kein Wasser mehr.“

„Quatsch, wir haben doch unsere Brunnen.“

„Wo kommt das Wasser in den Brunnen wohl her?“

„Es ist ja auch gerade Sommer.“

„Bei uns ist es immer Sommer, schon gemerkt?“

Die Kinder drängten aufgeregt plappernd aus dem Theater. Vorbei an Ramon, der immer noch in der letzten Reihe auf seinem Stuhl saß. Ein Mädchen streckte ihm die Zunge heraus. Ein Junge stupste einen anderen an, zeigte in Ramons Richtung und beide lachten. Ramon tat so, als bemerke er die Kinder nicht. Er kaute gedankenverloren an seinen Fingern. Irgendetwas beunruhigte ihn. Er kannte die Geschichte doch so gut. Der brennende Berg, den Perpetuus so echt auf die Bühne zauberte, faszinierte ihn jedes Mal. Aber heute hatte ihm der glühende Strom, der aus dem Berg floss, Furcht eingeflößt. Er dachte wieder an seinen Traum. Etwas geschah, er spürte es. Aber er wusste nicht, ob es gut oder schlecht war. Ramon stand auf und verließ das Theater.

Perpetuus räumte die Bühnenbilder in einen Verschlag hinter der Bühne und hängte sorgfältig die Puppen daneben auf. Nur die Puppen von Bruder und Schwester behielt er bei sich. Diese beiden bewahrte er in einer Truhe in seinem Schlafgemach auf. Mit düsterem Blick beobachtete er, wie die schwatzenden Kinder sein Theater verließen. Wie leicht sie doch zu verzaubern waren. Wenn sie älter wurden, verloren sie diese Gabe. Doch Perpetuus wusste um die magische Anziehungskraft seines Puppenspiels, das selbst die Erwachsenen, die für Magie nicht mehr so empfänglich waren, zu staunenden Kindern machte. So wie Ramon. Perpetuus schüttelte den Kopf. Was für ein erstaunlicher junger Mann dieser Ramon war. Ein glänzender Beobachter. Als Kind hatte Ramon ihn oft in seiner Werkstatt besucht. Perpetuus war immer verblüfft gewesen, wie gut Ramon seine Puppen und seine Geschichten kannte, wie er jede Veränderung wahrnahm, jeden neuen Satz, jedes kleinste Detail registrierte. Als der Junge schreiben gelernt hatte, führte er immer ein Notizbuch und einen Bleistift mit sich und schrieb auf, was er wissen wollte. Perpetuus fand diese Art der Kommunikation sehr angenehm. Ramon war nicht laut. Nicht wie die anderen Kinder, die beim Spielen lärmten und auch im Theater nicht stillsitzen konnten. Perpetuus verfolgte Ramons Leben mit gewissem Interesse. Und doch war ihm dieser Junge manchmal unheimlich. Bei diesem Gedanken schüttelte Perpetuus wieder den Kopf. Ich bin es doch, der anderen unheimlich sein müsste, dachte er. Doch seine magische Ausstrahlung wirkte schon lange nicht mehr. Er war in der Stadt einer von vielen. Er war angesehen und die Leute kamen gerne in sein Theater. Er wurde auf der Straße freundlich gegrüßt und wenn er ins Wirtshaus ging, fand er immer einen Platz und jemanden, der ein Schwätzchen mit ihm hielt. Die Leute plapperten viel Unsinn. Wenige, wie Kian, waren gute Gesprächspartner. Die Professoren der Universität oder die Ärzte ihres neuen Krankenhauses waren ihm zu arrogant. Perpetuus fragte sich, warum sie sich so viel auf ihr Wissen einbildeten. Aber schon immer gab es Menschen, die sich für etwas Besonderes hielten. Perpetuus war in seinem Leben zu vielen von ihnen begegnet. Er hatte sich oft gewundert, mit welcher Regelmäßigkeit solche Leute in der Welt erschienen. Er war es müde, sich immer wieder mit ihnen auseinander zu setzen. Im Grunde waren sie alle dumm.

Doch Ramon, der war nicht dumm. Auch wenn viele es dachten. Perpetuus war es nur Recht, dass kaum jemand mit Ramon zu tun haben wollte. Es war besser, die Leute beachteten ihn nicht allzu sehr. Der Puppenspieler sah dem jungen Mann nach, wie er das Theater verließ. Gebückter als sonst und langsamer. Bedrückte ihn etwas? Sah auch er die Veränderungen? Die immer dürrer werdende Natur, das hatte Ramon sicher schon lange bemerkt. Im Gegensatz zu manch anderen, die es hätten bemerken müssen. Die etwas dagegen hätten tun müssen.

Wie Ludmilla, ihre ehrenwerte Herrscherin. Doch sie lief mit geschlossenen Augen durch die Welt und sie hatte auch allen Grund, die Augen zu schließen. Wie lange würde das noch gut gehen? Perpetuus wunderte sich, dass es schon so lange gut ging.

„Nun“, rief er laut in den leeren Saal hinein, „mir soll es recht sein, wenn es nicht mehr lange gut geht.“

Er nahm die Geschwisterpuppen vom Boden auf und hielt sich den Feuerbruder vors Gesicht. „Ramon spürt, dass etwas geschieht“, sagte der Puppenspieler zu dem hölzernen Jungen, der an seiner Hand hing. Er setzte die beiden Puppen auf den Berg. Dann begann er, die Bühne für die Abendvorstellung umzubauen.

Die Erwachsenen wollten die alte Sage nur noch selten sehen. Deswegen musste er sich immer neue Stücke ausdenken oder Geschichten aus Büchern nachspielen. Jede Generation hatte ihre eigenen Geschichten und darunter hatte jeder seine Lieblingsgeschichte. So wurde Perpetuus das Spiel mit seinen Puppen selten langweilig. Trotzdem war er müde geworden. Er brauchte seinen Zauber nur noch für sein Spiel. Die Menschen glaubten immer weniger an die alte Magie. Manchmal hatte Perpetuus das Gefühl, er löse sich in Luft auf. Er konnte manchmal durch die Straßen gehen, ohne dass ihn jemand bemerkte. Als wäre er gar nicht mehr da. Er hob die Hand und mit einem Ruck fuhr der Berg über die Bühne. Doch die dicke Pappe, auf der das Bild gemalt war, blieb an einer der Holzlatten am Boden hängen. Perpetuus versetzte der Pappwand einen Tritt. Farbige Funken stoben aus dem Bild, blieben ein paar Sekunden in der Luft hängen und lösten sich nach und nach auf. Er starrte die Funken böse an. Dann schob er das Bild mit seinen Händen von der Bühne. Nachdem er seine Arbeit beendet hatte, nahm er die beiden Geschwisterpuppen und trug sie nach oben in sein Schlafgemach. Er legte sie sorgsam in die Truhe und griff nach einem Bilderrahmen, der am Boden lag, stellte ihn auf die Truhe und streichelte liebevoll das silbern glänzende Metall. Er betrachtete die Personen auf dem Bild. Eine schöne junge Frau und ein kleines Mädchen. Tränen schossen ihm in die Augen. Er ließ den Rahmen los, als habe er sich daran verbrannt. „Wie lange“, flüsterte er mit heißerer Stimme, „wie lange muss ich noch um euch trauern?“

Auf dem Bett lag Maroni, die Katze des Puppenspielers, und betrachtete ihn aufmerksam mit ihren schönen braunen Augen.

Ratssitzung

Nica unterdrückte ein Gähnen. Sie wusste, es war ein Privileg, hier neben ihrer Mutter zu sitzen. Doch es fiel ihr so schwer, aufmerksam zu bleiben. Sie war schon ganz zappelig.

Ihre Freunde waren sicher bei Perpetuus im Theater. Nach der Vorstellung gingen sie bestimmt alle zusammen an den Hafen. Dort war heute Markttag. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sie an die kandierten Früchte und die nach Veilchen duftenden Bonbons dachte. Wie gerne wäre sie jetzt bei ihren Freunden, aber als Tochter der Herrscherin hatte sie seit ihrem 16. Geburtstag die Pflicht, den Ratssitzungen beizuwohnen. Es war aber schon die dritte Sitzung in dieser Woche und es ging immer um die gleichen Dinge. Die lang anhaltende Dürre und den schlechter werdenden Handel. Die Ratsmitglieder wurden immer besorgter, das hatte Nica schon bemerkt. Warum aber nur redeten sie so viel und warum tat keiner etwas? Gerade hielt der Finanzminister eine lange, atemlose Rede über den Zustand der Kassen.

„Unsere Kassen sind gefüllt und sie werden gefüllt bleiben, komme was da wolle. Solange ich zuständig für die Finanzverwaltung bin, muss kein Taler unnötig ausgegeben werden. Soll und Haben immer ausgeglichen, jawohl, meine Devise. Nicht mehr hinaus als hinein.“

Nica musste nun wirklich gähnen. Ihre Mutter schaute sie tadelnd an. Der Finanzminister redete immer noch. „Wenn der Handel nicht in der Lage ist, die Kassen zu füllen, können wir eben anderswo nicht investieren. Dann gibt es keine Erweiterung des Krankenhauses oder der Schulen. Was ist nur los mit unseren Händlern? Bisher waren unsere Waren doch gut genug um gutes Geld zu machen.“ Er sah fragend in die Runde.

Der Wirtschaftsminister meldete sich zu Wort. „Die Produktion ist gesunken. Viele können gar nicht mehr so viel verkaufen wie sie wollen.“

„Sie können nicht mit Geld umgehen“, fiel ihm der Finanzminister ins Wort, „das ist der springende Punkt. Handwerker und Künstler. Verstehen sich auf Schnickschnack und Zierrat. Aber was die Wirtschaft umtreibt, davon haben sie keine Ahnung.“

Energisch stach er mit einem Bleistift auf die vor ihm liegenden Papiere.

Was für ein Angeber, dachte Nica.

„Mit Geld hat das zunächst wenig zu tun, werter Kollege“, antwortete der Wirtschaftsminister. „Woraus sollen sie ihre Waren herstellen? Das ist die alles entscheidende Frage. Es geht um den Rohstoff, aus dem alles gemacht ist. Es geht um unser Holz. Um unseren Baum. Um den Schnickschnack und Zierrat, der in aller Welt begehrt ist, herstellen zu können, brauchen wir unsere Weiden und das, was sie uns liefern. Die Möbelhersteller, die Spielzeugmacher, die Papierschöpfer, die Leinenfärber, alle sind abhängig von den Rohstoffen unserer Bäume. Früher waren die Schiffe bis zum Anschlag beladen mit kunstvoll gearbeiteten Tischplatten und robusten Stühlen, geflochtenen Körben, dem besten Kistenholz und den stabilsten Schaufelstielen. Gar nicht zu reden von den Zündhölzern, die nur bei uns so gut brennbar hergestellt werden, dass selbst in den entlegensten Ecken der Welt die Menschen ihre Feuer mit unseren Hölzern anzünden.“ Der Wirtschaftsminister hatte sich ganz in Rage geredet. „Unser feines Papier erfreut sich großer Beliebtheit an den edlen Höfen der Welt und nun beklagen sich die Papierschöpfer über den schlechten Zustand des Zellstoffes. Viel zu trocken und spröde. Aber das schlimmste ist, dass die Hälfte unserer Flotte mit leeren Schiffsrümpfen im Hafen liegt. Weil es schlicht und ergreifend immer weniger zu verladen gibt. Es ist nicht nur so, dass das Material immer schlechter wird. Nein. Es gibt kein Material mehr. In diesem Sommer ist zum ersten Mal seit der Geschichte der Insel das Sägewerk stillgestanden. Kein neues Holz wurde angeliefert. Was ist mit unseren Bäumen geschehen?“ Er wandte sich fragend an den Landwirtschaftsminister. Der knetete nachdenklich seine Lippen.

„Unsere Bäume verschwinden. Die jungen Triebe wachsen zu langsam nach. Wir haben in den letzten Jahren zu viel auf einmal abgeholzt. Ich habe euch, werte Ludmilla, schon des Öfteren darauf hingewiesen, dass wir den Wald nicht nachhaltig genug bewirtschaften und jetzt ist er an vielen Stellen kahl. Die Seewinde können ungehindert über die Böden fegen und alles austrocknen. Der wenige Niederschlag fällt in heftigen Regengüssen und schwemmt den ausgetrockneten Boden weg. So verliert er seine wertvollen Nährstoffe. Unsere Weide braucht einen guten, feuchten Boden, um wachsen zu können. Dieser Baum ist robust, aber er liebt die Feuchtigkeit. Wir hatten ein ungewöhnlich warmes Frühjahr und jetzt dieser heiße, trockene Sommer. Kaum ein Tropfen Regen ist gefallen. Aber ohne Regen kein Wachstum. Alles was wachsen soll, braucht nun mal Wasser.“ Der Landwirtschaftsminister holte tief Luft und schaute Ludmilla ernst an. Die Herrscherin schob mit konzentrierten Bewegungen ein paar Bleistifte in eine gerade Reihe.

„Bedeutet das“, fragte sie schließlich, „dass wir bald kein Wasser mehr haben?“

„Nein, nein, so schlimm ist es noch nicht“, antwortete der Landwirtschaftsminister. „Noch sind die Wasserspeicher auf der Insel nicht ganz leer. Aber Brunnen, Seen und Bäche führen in der Tat immer weniger Wasser. Wenn der Herbst und der Winter nicht genügend Regen bringen, haben wir nächstes Jahr ein großes Problem.“

Nica hörte nun doch gespannt zu. Kein Wasser. Das hörte sich nicht gut an. Kein abendliches Bad mehr, kein Planschen am Stadtbrunnen in der Sommerhitze. Auf einmal hatte sie einen trockenen Mund. Sie sah zu ihrer Mutter hinüber und fragte sich, wie oft diese ihre Papiere und Stifte noch ordnen wollte.

„Darf ich auch etwas sagen, werte Ludmilla?“

Die Gesundheitsministerin sprang auf. Ludmilla gab ihr ein Zeichen, sich wieder zu setzen. „Was das für unser Gesundheitswesen bedeutet, kann sich hier wohl keiner vorstellen“, begann die Ministerin noch bevor sie auf den Stuhl zurücksank. „Wer weiß denn schon, woraus unsere Medikamente gemacht sind? Na, was denken sie? Oh ja, jetzt sehen sie mich fragend an. Aber es ist kein Geheimnis und jeder, der sich ernsthaft mit der Frage befasst, wird die Antwort herausfinden.“

„Ich bin mir sicher, sie werden uns die Antwort gleich verraten.“

Der Wirtschaftsminister schmunzelte. Nica kicherte leise. Der große Mann mit der tiefen Stimme gefiel ihr. Nur kurz verschlug es der Gesundheitsministerin die Sprache, dann fuhr sie eifrig fort.

„Oh ja, sie werden es sicher schon ahnen. Die Weide, meine Damen und Herren, ist die Antwort. Die Weide.“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. „Nun sagen sie nichts mehr. Ohne Weide keine Medikamente. Wieso, werden sie sich jetzt fragen. Ich werde es ihnen erklären. Es ist das Harz der Weide. Es liefert einen wertvollen Wirkstoff, aus dem Mittel gegen Fieber und Schmerzen aller Art hergestellt werden können. Es wird neuerdings sogar als Betäubungsmittel bei Operationen eingesetzt. Wir sind in der Tat soweit, jemanden künstlich zu betäuben. Der Patient spürt nichts mehr, gar nichts mehr. Das ist eine Sensation. Noch ist die Methode am Anfang und wir müssen noch viel forschen und probieren. Aber das Mittel wirkt. Dank unserer wunderbaren Weide.“

Das ist es also, dachte Nica. Sie hatte sich letzten Winter beim Eisschlittern den Arm gebrochen. Ihr Leibarzt hatte ihr eine weiße Pille zu schlucken gegeben und nach kurzer Zeit verspürte sie keine Schmerzen mehr. Sie hatte nicht nachgefragt, was das für eine Pille war. Hauptsache sie hatte gewirkt. Es war also die Weide, die diese Wunderpille hervorbrachte. Nica war ehrlich erstaunt. Woher all das kam, was sie besaß oder benutzte, was sie aß und trank, womit sie spielte, worauf sie schrieb, was sie anzog, darüber hatte sie sich noch nie viele Gedanken gemacht. Ihr Vater erzählte ihr oft von seinen Handelsreisen, berichtete von den exotischen Ländern, die er besuchte und erzählte von den Menschen, die in diesen Ländern lebten. All das fand Nica unglaublich spannend. Sie konnte ihm stundenlang dabei zuhören. Was er aber verkaufte und einkaufte fand sie immer langweilig. Wenn er von seinen guten Geschäften berichten wollte, winkte sie gleich ab. Sie wollte nur hören, wie es dort aussah, in diesen wunderbaren Ländern. Ob es dort nach Zimt und Honig duftete und ob die Menschen den ganzen Tag diese sahnige dunkle Flüssigkeit tranken und ihre Hautfarbe wirklich so dunkel war, wie dieses Getränk. Sie wollte hören, wie die Menschen sprachen, wollte sich die bunten Gewänder vorstellen, die sie trugen. Wollte in ihrer Fantasie dorthin reisen. Von Waren und Handel wollte sie nichts wissen.

Und jetzt hörte sie, dass all das, was so selbstverständlich für sie war, auf einmal nicht mehr da sein könnte. Nur, weil es so wenig regnete und deshalb die Bäume nicht nachwuchsen. Sie hatte den heißen Sommer zusammen mit ihren Freunden genossen. Sie waren baden gegangen, hatten Zitronenlimonade getrunken und waren bis in die späten Abendstunden auf der Straße gewesen. Perpetuus hatte seine Bühne in den Hinterhof verlegt und Extravorstellungen in den warmen Nächten gegeben. Es war ein wunderbarer Sommer. Der letzte, den sie unbeschwert und frei genießen konnte. Warum war alles gleich so ernst und bedrohlich? Nica war gar nicht mehr müde und obwohl sie die Gesundheitsministerin nicht leiden konnte, hörte sie nun aufmerksamer zu.

„Sie können sich sicher alle denken, was es bedeutet, wenn unsere Weide nicht mehr nachwächst. Keine Weide, keine Medikamente, kein medizinischer Fortschritt. Meine Damen und Herren, werte Ludmilla, das wäre eine Katastrophe, eine Katastrophe. Nicht auszudenken, was das für uns alle bedeutet.“

Für einen kurzen Moment waren alle ruhig. Jeder schaute gebannt auf die Unterlagen vor sich. Jeder malte sich im Geiste die Katastrophe aus.

„In der Geschichte der antiken Völker wird die Weide als Zeichen des Lebensflusses verehrt. Sie ist gleichsam Sinnbild für Tod und Trauer, aber auch für das Leben und die Geburt.“

Die Bildungsministerin sprach leise, aber deutlich. „Ich finde, das ist ein sehr schönes Bild. Es zeigt, wie wichtig unser Baum ist und wie wichtig es ist, ihn zu schützen und sorgsam mit ihm umzugehen. Die wichtigste Frage ist demnach, was können wir tun, um ihn zu erhalten und ihm neues Leben zu ermöglichen?“

„Na ja“, der Landwirtschaftsminister schaute betreten, „wir können keinen Regen herbeizaubern. Wir können zunächst nur das Abholzen stoppen und zusehen, dass die jungen Triebe, die gerade sprießen, weiter wachsen. Aber wir brauchen dringend Regen.“

„Haben die Bäume den Regen nicht immer angelockt?“ fragte die Bildungsministerin.

Die Gesundheitsministerin lachte. „Ja natürlich, die Magie der Bäume, dafür gibt es in der Geschichte der antiken Völker bestimmt einen besonderen Zauber, oder etwa nicht, meine Liebe?“

„Na ja“, begann der Landwirtschaftsminister wieder, „die Bäume halten tatsächlich die Wolken auf, die der Wind sonst einfach weiter treibt. Grüne Flächen ziehen schon die Feuchtigkeit an.“

„Ihre Frage, liebe Kollegin“, der Wirtschaftsminister sah wohlwollend zur Bildungsministerin, „ist wirklich eine sehr Wichtige. Ich gebe sie an euch weiter, werte Ludmilla, was werden wir jetzt tun?“

Nica hörte, wie ihre Mutter leise seufzte und sie fragte sich, warum sie nichts sagte? Warum nur hatte sie so viele Bäume abholzen lassen? Sie hätte doch auf den Minister für den Wald hören können, hätte sich das alles doch auch einmal ansehen können. Nica wusste, dass ihre Mutter schon sehr lange nicht mehr über die Insel gereist war, um nach dem Rechten zu sehen. Warum nur? Der Wohlstand der Stadt und der Insel waren ihr doch so wichtig. Hatte sie nicht einmal gesagt, sie wolle als die erfolgreichste Herrscherin der Insel in die Geschichte eingehen. Warum hatte sie dann nicht dafür gesorgt, dass ihr wertvoller Baum wieder nachwachsen konnte? Hatte sie wirklich nur ihren Ruhm im Kopf? Nica konnte es nicht glauben. Sie bewunderte ihre Mutter und ihre Fähigkeit, die Stadt und die Insel mit so viel Würde zu regieren. Wie oft hatte Nica sich gewünscht, so würdevoll und beherrscht wie ihre Mutter zu sein und nicht so ungestüm und temperamentvoll. Ihre Mutter wusste doch immer was zu tun war. Und nun saß sie wie versteinert da. Nica hätte sie gerne angestupst. Was war nur los mit ihr?

Nica wurde aus ihren Gedanken gerissen, als die Türe aufsprang und ein aufgeregter junger Mann hereinstürmte.

„Verzeihen sie, werte Herrscherin“, mit rotem Kopf ging er auf Ludmilla zu. „Ich bin vom Taubenhaus hierher gerannt. Der Taubenwächter sagt, es ist Eile geboten. Es ist ein roter Brief.“

Er reichte Ludmilla ein aufgerolltes rotes Papier.

Nica sah, wie ihre Mutter fassungslos darauf starrte und dann das Papier mit zitternden Fingern entrollte. Ludmillas Gesicht wurde kreideweiß. Nica versuchte einen Blick auf den Brief zu erhaschen, doch ihre Mutter hatte die Nachricht schon zwischen den Fingern zerknüllt. Eine Weile war es sehr still im Raum. Da räusperte sich der Wirtschaftsminister. „Verzeihen sie, werte Ludmilla, aber dürfen wir erfahren, welche Botschaft ihnen überbracht wurde?“

Ludmilla sah auf und Nica erschrak über den starren Ausdruck in ihren Augen.

Ludmilla sagte mit tonloser Stimme, „Hakan, der Bürgermeister der Meerstadt, schreibt, dass der Berg raucht.“

Diesen Worten folgte eine Stille, als ob die Welt aufgehört hätte, sich zu drehen. Nica wagte nicht, Luft zu holen, dann hörte sie jemanden laut einatmen und die Stille zersprang mit den Worten der Gesundheitsministerin.

„Das ist ja eine Katastrophe!“

Auf einmal redeten alle durcheinander.

„Das muss noch gar nichts heißen“, „Vulkane können immer wieder rauchen“, „das ist ein Zeichen“, „quatsch, ein Zeichen“, „Vulkane rauchen ab und zu, das ist ganz natürlich“, „natürlich nennt ihr das, die lange Dürreperiode und jetzt raucht der Berg“, „das ist ein Zeichen“, „ein Zeichen wofür?“, „ein Zeichen für den Untergang“, „aber der Berg raucht doch nur“, „aber dann dauert es nicht lange bis er Feuer spuckt“, „eine Katastrophe ist das“, „was kann passieren wenn er ausbricht?“, „er könnte die ganze Ostküste ins Meer reißen, er könnte die Insel für immer unbewohnbar machen“, „eine Katastrophe sage ich“, „ in unserer Mythologie hat der Berg nur einmal Feuer gespuckt“, „ach ihr mit eurer Mythologie, was interessiert uns die Mythologie, einen Haufen Geld wird das kosten, wenn wir die Ostküste wieder aufbauen müssen, das wird uns in den Ruin treiben“, „wenn die Insel unbewohnbar ist, wird uns auch das Geld nicht helfen“, „was für eine Katastrophe!“

Nica beugte sich ganz nah zu ihrer Mutter. „Mama, was hat das zu bedeuten?“, flüsterte sie. Ludmilla saß immer noch reglos da. Nica wunderte sich, warum ihre Mutter nicht in das Wortgetümmel eingriff. Chaotische Verhältnisse konnte Ludmilla gar nicht leiden und dazu gehörte ganz entschieden, wenn alle durcheinander redeten. „Mama!“ Nica wurde lauter. Ludmilla drehte erschrocken den Kopf zu ihr. Sie schien wie aus einem Traum zu erwachen. Nica wartete auf eine Antwort, doch ihre Mutter stand auf und rief mit ihrer gewohnt beherrschten Stimme die Versammlung zur Ruhe.

„Bitte beruhigen sie sich. Wir wissen noch gar nichts. Dies könnte ebenso ein böser Scherz sein. Noch hat niemand den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht bestätigt.“

Leise ließ sich der Bote aus dem Taubenhaus hören.

„Es ist ein roter Brief, werte Herrscherin.“

„Hakan ist größenwahnsinnig, das ist allgemein bekannt“, gab Ludmilla zurück, „und warum du noch hier bist, ist mir nicht klar. Diese Sitzung ist nur für Mitglieder des Rates bestimmt. Ich kann nur hoffen, dass du die Nachricht nicht durch die ganze Stadt geschrien hast. Also geh und bewahre Stillschweigen.“

Während der Bote mit hängendem Kopf den Saal verließ, wandte sich Ludmilla wieder an die Ratsmitglieder.

„Solange wir keine Bestätigung über die Echtheit dieser Nachricht haben, bewahren wir Ruhe.“

„Aber werte Ludmilla, denkt doch an die Sage“, sagte die Bildungsministerin.

Nica sah wie eine düstere Wolke über ihre Mutter hinweg zog. Sie beobachtete, wie sie das Papier mit der Nachricht in viele kleine Fetzen zerpflückte, die leise zu Boden rieselten.

„Erklärt mir doch bitte, warum ich an die Sage denken soll?“

„Nun, in unsere Geschichte steht geschrieben, dass der rauchende Berg ein Zeichen für den nahen Untergang ist. Ein ernst zu nehmendes Zeichen.“

„Aber gibt es da nicht noch ein Zeichen, welches den rauchenden Berg ankündigt?“, fragte Ludmilla übertrieben freundlich.

„Wenn die Herrscherin einem Sohn das Leben schenkt“, sagte die Bildungsministerin leise. „Wenn zum ersten Mal keine Tochter auf die Welt kommt, ist dies das Zeichen für den Untergang.“

„Nun“, sagte Ludmilla, „wer kann mir sagen, wer da neben mir sitzt?“

Nica sah alle Blicke auf sich gerichtet.

„Gut“, Ludmilla lächelte kühl, „damit wäre dieser Punkt geklärt oder hat jemand Zweifel, dass Nica ein Mädchen ist.“

Verlegenes Gelächter von allen Seiten. Da erhob sich der Landwirtschaftsminister.

„Ein rauchender Berg ist immer ein schlechtes Zeichen, ob mit oder ohne Sohn“, sagte er. „Es könnte zum Beispiel bedeuten, dass er bald ausbricht und die Folgen habe ich ja schon genannt. Ein Teil der Insel kann ins Meer gerissen werden. Wenn er so lange Zeit nicht aktiv war, kann ein ungeheurer Druck im Inneren des Berges herrschen und bei einem Ausbruch ist das wie bei einem Kessel, der zu viel Druck hat. Er explodiert förmlich. Und das ist nicht gut, gar nicht gut. Der Rauch kann sich als große Wolke über die Insel legen, die Sonne verdecken, alles Leben auslöschen.“

„Und von den Kosten, die das verursacht, will ich gar nicht erst anfangen“, erregte sich der Finanzminister.

„Krankheiten werden ausbrechen, Seuchen und wir haben nicht genügend Medikamente wie ich schon sagte. Können sie sich vorstellen, was das bedeutet. Eine Katastrophe.“

Die Gesundheitsministerin sank erschöpft auf ihren Stuhl.

„Vielleicht sollten wir zu der wichtigsten Frage des Tages zurückkehren“, wandte der Wirtschaftsminister ruhig ein, „was sollen wir nun tun?“

„Auf keinen Fall in Panik geraten“, befahl Ludmilla, „und ich möchte Informationen. Kompetente Informationen. Jeder von ihnen wird sein Bestes geben, um in Erfahrung zu bringen, was wirklich passiert ist. Bis morgen möchte ich Antworten haben. Sie werden nur diejenigen informieren, deren Hilfe notwendig ist. Sonst hat kein Wort von Alledem nach außen zu dringen. Sie haben mich verstanden. Sie bewahren Stillschweigen. Ich verlasse mich auf sie. Vielen Dank, meine Herrschaften.“

Ludmilla verließ mit energischen Schritten den Raum. Nica folgte ihrer Mutter. Tausend Fragen brannten auf ihrer Zunge. Sie konnte kaum abwarten, mit ihr zu reden.

Sie hörte, wie ihre Mutter einen Ratsdiener aufforderte, sofort nach Perpetuus zu schicken, er solle so schnell wie möglich in ihr Amtszimmer kommen.

Dann wandte sich ihre Mutter Nica zu. „Du gehst in dein Zimmer und wartest bis ich dich rufe.“

„Aber ich möchte so gerne wissen...“, begann Nica.

„Das hat Zeit“, unterbrach sie Ludmilla. „Du gehst jetzt und kein Wort zu irgendwem, hörst du! Ich möchte auf keinen Fall, dass eine Panik ausbricht wegen dieser dummen Nachricht.“

„Aber...“

„Wir reden später! Und kein Wort, auch zu Magda nicht, verstanden?“

Nica nickte enttäuscht und sah ihrer Mutter hinterher. Warum nur hatte sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Der rauchende Berg, die Sage, die sie von Kindesbeinen an immer wieder erzählt bekam, das Zeichen, das etwas Schlimmes geschehen würde. Ihr Herz begann heftig zu klopfen. Und was, wenn das Schlimme jetzt geschehen würde? Aber etwas stimmte nicht.

Ihre Mutter hatte es doch selbst gesagt, gerade eben, bei der Sitzung. Es musste noch ein anderes Zeichen gegeben haben. Und Nica war sich sicher, dass da kein Zeichen war.

Sie war eindeutig ein Mädchen. Und ihre tote Schwester, über die sie nie sprechen durfte, war doch auch ein Mädchen gewesen. Nica musste mit jemandem reden, ganz gleich, was ihre Mutter befohlen hatte. Sie musste mit Magda reden. Magda konnte sie vertrauen.

Nica raffte ihren Rock und rannte auf ihr Zimmer.

Ludmillas Amtsstube

Ludmilla stand aufrecht hinter ihrem Schreibtisch und schaute gebannt auf die Türe, als könnte sie diese allein mit ihrem Blick öffnen. Unentwegt strich sie über ihr Gewand und überprüfte die Knöpfe daran. In ihren schlichten engen Kleidern sah sie aus, als würde sie sich in eine Form zwängen, in die sie nicht passte. Die glänzende Platte des Schreibtisches spiegelte ihr streng aussehendes Gesicht wieder. Das kurz geschnittene Haar lag glatt an ihrem Kopf. Jede Woche kam ein Friseur und sorgte dafür, dass keine Strähne ihres blonden widerspenstigen Haares in ihr Gesicht fiel. Auf der Schreibtischplatte war kein Staubkorn zu sehen. Das Hausmädchen war angewiesen, mehrmals täglich alles blank zu polieren. Ein anderer Dienstbote war unablässig damit beschäftigt, alle Gegenstände gerade zu rücken. Die Stühle akkurat an die Tische, die Schränke und Kommoden gerade an die Wand, der Nippes in geraden Reihen auf den Regalen und Ablagen.

Die aus Holz geschnitzten Figuren, Porzellanpuppen, Vasen aus feinem Glas und die wunderlichen Masken, die ihr Mann aus aller Welt mitbrachte, waren nur Nica zuliebe überall dekoriert. Ludmilla wusste, dass ihre Tochter diese Dinge gerne betrachtete und an die Geschichten dachte, die ihr Vater ihr dazu erzählt hatte. Ludmilla konnte die Gegenstände nur deswegen ertragen, weil das Dienstpersonal sie ständig säuberte und ordnete.

Es klopfte und Ludmilla schrak zusammen. Ein Dienstbote ließ Perpetuus eintreten. Der verneigte sich höflich vor Ludmilla.

„Ihr wolltet mich dringend sprechen. Was kann ich für euch tun, werte Ludmilla?“

Am liebsten wäre sie ihm in die Arme gesunken und hätte ihn angefleht alles wieder gut zu machen. „Heute bekam ich Nachricht aus der Meerstadt“, sagte sie stattdessen mit beherrschter Stimme. „Es heißt, der Berg raucht.“

Ludmilla beobachtete Perpetuus` Reaktion genau. Für einen kurzen Moment glaubte sie, einen erfreuten Ausdruck über das Gesicht des alten Puppenspielers huschen zu sehen. Doch sie hatte sich sicher geirrt, denn jetzt sah er sie erschrocken an. Ludmilla mochte dieses ernste Gesicht mit den vielen Falten, die wie ein feines Spinnennetz gewoben waren. Sie mochte seine ganze Erscheinung. Seine gepflegte Kleidung, auch wenn sie ihr manchmal zu farbenfroh war, sein sauber gekämmtes silbernes Haar, der geflochtene Bart. Alles wirkte so ordentlich und beruhigend auf sie. Nur seine meergrünen Augen mit den dunklen Wimpern machten sie nervös.

„Was wollt ihr unternehmen, werte Ludmilla?“, fragte Perpetuus.

„Noch ist nicht sicher, wie ernst diese Nachricht zu nehmen ist“, antwortete sie.

„Ich kann mir kaum vorstellen, werte Ludmilla, dass Hakan damit Scherze treibt.“

„Er hat es auf die Vorherrschaft der Insel abgesehen“, sagte Ludmilla. „Er ist größenwahnsinnig. Er hat angefangen Straßen zu bauen. Er würde alles unternehmen um mich einzuschüchtern.“

„Kam die Nachricht denn von Hakan?“, fragte Perpetuus.

„Es war ein roter Brief mit dem Siegel der Meerstadt. Meine Leute überprüfen gerade seine Echtheit. Meine Minister haben die Aufgabe, mehr Informationen zu beschaffen. Kompetente Informationen. Wir wollen uns morgen zu einer erneuten Sitzung zusammenfinden.“

„Was kann ich für euch tun, werte Ludmilla?“

„Oh Perpetuus, wenn der Berg wirklich raucht.“ Sie hielt kurz inne.

„Ihr wisst doch, was das zu bedeuten hat. Wie soll ich das meinem Volk erklären?“

Ihre Hände wischten über die glänzende Platte, als wäre sie noch nicht blank genug.

„Es gibt nicht mehr viele, die an die alte Sage glauben.“ Perpetuus zwirbelte nachdenklich seinen Bart.

„Es ist auch noch nie etwas passiert“, sagte Ludmilla. „So lange Zeit hat sich der Berg nicht geregt. Niemand hier kann sich erinnern, dass er sich überhaupt einmal geregt hat. Natürlich ist die Sage in all den Jahren genau das geworden. Eine Sage. Ihr stellt sie in eurem Theater als Märchen dar. Die Leute mögen Märchen. Sie wollen, dass man sie damit verzaubert. Aber wirklich daran geglaubt haben die wenigsten. Zumindest gab es nie einen Grund dafür. Und nun das.“ Mit bebender Stimme fuhr sie fort. „Der Berg macht sich bemerkbar, Perpetuus. Wir haben es geahnt. Wir wissen es. So viele Jahre wissen wir es. Wir haben es verdrängt, du und ich, nicht wahr?“

Ludmillas Hände hatten aufgehört die Platte zu polieren und schoben nun die Stifte auf ihrem Schreibtisch hin und her. Sie bemerkte, dass Perpetuus bei ihrer Vertraulichkeit kurz die Augen schloss. Sie blieb dabei.

„Perpetuus, ich brauche deinen Rat und deine magischen Fähigkeiten.“

Der Puppenspieler zog die Brauen hoch, schwieg aber.

„Denkst du, es ist klug, Nica auf die Reise zu schicken?“

Ludmillas graue Augen durchbohrten Perpetuus förmlich. Er hielt ihrem Blick stand und schwieg lange.

„Ihr meint es ernst, werte Ludmilla“, sagte er schließlich. „Ihr erwägt tatsächlich, eure Tochter über die Insel zu schicken?“

„Es ist ihre Aufgabe. So wie es meine gewesen wäre. Oder die meiner Mutter und Großmutter. Sie ist genau so darauf vorbereitet worden wie alle Frauen unserer Familie. Sie weiß, was auf sie zukommen kann.“

„Werte Ludmilla, ist das nicht eure Aufgabe? Wenn an der Sage nur ein Funken Wahrheit ist, seid ihr dazu bestimmt, die Insel vor dem Untergang zu bewahren. Ihr wisst so gut wie ich, dass es ein Wunder ist, dass ihr Nica geboren habt.“

„Schweigt!“ Ludmilla hieb mit beiden Händen auf die glänzende Platte. „Kein Wort mehr davon über deine Lippen. Ich will in diesen Räumen nichts davon hören.“

„Ihr wollt nie etwas davon hören“, sagte Perpetuus leise. „Ihr denkt, euer Stillschweigen bewahrt euch vor der Wahrheit.“

„Welcher Wahrheit?“, Ludmillas Augen funkelten.

„Der Wahrheit, dass es eure Aufgabe ist.“ Perpetuus sah sie mit einem traurigen Lächeln an.

„Du gibst mir also den Rat, selbst zu gehen. Ohne Rücksicht auf die Folgen. Ohne Rücksicht darauf, was mein Volk dann reden würde.“

„Ich gebe euch den Rat, daran zu denken, wessen Aufgabe es wirklich ist. Nur damit ihr es nicht vergesst. Aber ihr habt natürlich Recht. Wie sähe es aus, wenn ihr so plötzlich verschwinden würdet. Wenn ihr mit geschultertem Rucksack auf Wanderschaft ginget. Was für ein Gerede gäbe es da.“ Er lächelte immer noch.

„Spare dir deinen Sarkasmus, liebster Perpetuus.“ Ludmillas Stimme war eiskalt. Sie sah, wie Perpetuus einen Schritt zurückwich, als wollte er dem kalten Hauch ausweichen.

„Gibst du mir nun eine Antwort. Ist es klug, Nica loszuschicken? „

„Wenn der Brief Wahrheit spricht“, antwortete Perpetuus, „und der Berg tatsächlich raucht und wenn ihr an die Magie der alten Sage glaubt, wenn ihr glaubt, dass die Tränen eurer Tochter den Berg beruhigen können, dann ist es nicht nur klug, das Mädchen auf Reisen zu schicken, dann ist es überaus notwendig.“

Ludmilla atmete laut ein. Sie setzte sich langsam auf ihren Stuhl.

„Gut, dann wird es so geschehen.“ Wieder ordneten ihre Hände die Stifte auf dem Schreibtisch.

„Aber ihr könnt sie nicht alleine gehen lassen“, sagte Perpetuus.

„Sie braucht eine zuverlässige Begleitung. Sie braucht Schutz. Ihr wisst gar nicht, was auf der Reise alles passieren kann. Wenn ihr wollt, werde ich sie begleiten.“

„Aber nein, wie kommst du darauf, dass du sie begleiten könntest“, sagte Ludmilla überrascht. „Dein Fehlen in der Stadt wäre nicht weniger auffällig als meines. Außerdem brauche ich dich hier. Wenn Nica auf Reisen ist, muss ich wissen, wo sie sich aufhält und wie es ihr geht. Dafür brauche ich deine Magie.“

„Ah, meine Magie.“ Perpetuus hob die Hände. „Habt ihr noch Vertrauen darin? Ich bin seit langem aus der Übung.“

„Du wirst dich anstrengen“, befahl Ludmilla. „Du hast allerdings Recht, Nica braucht eine Begleitung. Ich weiß auch schon, wer sie begleiten wird. Ich dachte an Ramon.“

„Wie raffiniert.“ Über Perpetuus` Gesicht ging ein bösartiges Grinsen. „Wie überaus raffiniert. Ramon, natürlich. Ihn wird keiner vermissen. Keiner wird Verdacht schöpfen. Und er ist stumm, also kann er auch keinem etwas erzählen.“

„Du bist einverstanden?“, fragte Ludmilla. „Keine Einwände?“

„Aber nein. Ramon wird Nica ein wunderbarer Begleiter sein. Ein stummer Mann. Sie wird begeistert sein.“

Ludmilla ignorierte Perpetuus` erneuten Sarkasmus.

„Ich dachte auch deshalb an ihn, weil er die Insel recht gut kennt“, sagte sie. „Kian erzählte mir, er gehe viel auf Wanderung. Er hat die Insel schon ein gutes Stück erkundet und kennt viele Wege. Die Reise muss unter allen Umständen geheim bleiben, da kommen seine Kenntnisse gerade recht.“

„Ihr denkt, ihr könnt es geheim halten, dass eure Tochter die Stadt verlässt?“, fragte Perpetuus.

„Es muss auf jeden Fall geheim bleiben.“ Ludmilla sprang auf.

„Perpetuus, keiner außer dir und mir darf das wissen. Niemand darf den Eindruck haben, ich schenke der Sage Glauben oder räume ihr auch nur die kleinste Bedeutung ein. Ich werde erzählen, Nica sei krank und müsse längere Zeit das Bett hüten. Dazu muss ich wohl unseren Leibarzt und Magda einweihen. Aber sonst darf niemand davon erfahren.“

Ludmilla sah Perpetuus streng an. „Du wirst mir also helfen. Du wirst mich dabei unterstützen, dass Nica sicher zum Berg kommt. Du wirst alle deine Kräfte einsetzten, damit dieses Unterfangen gelingt.“ Es war ein Befehl, keine Frage.

Perpetuus verbeugte sich ehrerbietig. „Selbstverständlich, werte Ludmilla. Alle meine Kräfte werde ich sammeln und sie euch zur Verfügung stellen. Es ist mein größter Wunsch, dabei zu helfen, dass die Reise ein Erfolg wird.“

Diesmal war sich Ludmilla sicher, ein freudiges Funkeln in Perpetuus Augen zu sehen. Irritiert wand sie sich von ihm ab, nahm eine kleine Glocke vom Tisch und läutete. Dem Boten, der kurz darauf das Zimmer betrat, gab sie die Anweisung, nach Ramon zu schicken. Er solle augenblicklich herkommen und ihr ein paar Bücher mitbringen. Sie gab dem Boten einen Zettel und mahnte ihn zur Eile. Als die Türe zuschlug strichen Ludmillas Finger über ihr Gewand und überprüften die Knöpfe.

Ramon geht zu Ludmilla

Ramon betrachtete die Auslage des Spielzeugmachers. Die bunt gefärbten Puzzleteilchen, die sich zu wundersamen Bildern legen ließen, die robusten, zu Türmen und Gebäuden aufgebauten Holzbauklötze und die filigranen Puppenmöbelchen. Er schmunzelte bei der Vorstellung, wie sich diese feinen Tischchen und Stühlchen wohl im großen Rathaussaal ausnehmen würden. Wie der große, stattliche Wirtschaftsminister auf einem dieser Stühlchen Platz nahm und dieses unter ihm zusammenbrach. Er wurde aus seiner Fantasie gerissen, als jemand seinen Namen rief.

„Ramon! Bist du jetzt auch noch taub? Oder wie oft muss ich dich noch rufen? Stehst da und träumst vor dich hin. Es gibt Arbeit und dein Vater braucht dich. Keine Zeit für Träume.“ Vesta stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und funkelte ihn wütend an. Ramon seufzte lautlos. Warum nur musste seine Mutter immer so garstig sein, so ungeduldig und so laut? Er konnte nicht sprechen, aber taub war er nicht. Er hob seine Hand zum Zeichen, dass er sie gehört hatte. Vesta drehte sich um und ging voraus. Trotz ihrer krummen Beine legte sie ein ordentliches Tempo vor und ihr Buckel, der im Alter immer größer zu werden schien, wackelte vor Ramon auf und ab. Leises Mitleid regte sich in ihm. Fast zärtlich betrachtete er den Rücken seiner Mutter. Warum musste sie es ihm so schwer machen, sie zu lieben? Was machte er nur falsch, dass sie ihn behandelte wie ein lästiges Möbelstück, das ihr immer im Weg war? Mit hängendem Kopf betrat Ramon die Bibliothek. Dort wartete bereits sein Vater mit einem neuen Auftrag. Kian hielt einen Stapel Bücher in den Händen, den er Ramon übergab.

„Du sollst diese Bücher zu Ludmilla ins Herrschaftshaus bringen. Sie erwartet dich schon. Sie hat ausdrücklich nach dir verlangt und es ist sehr eilig. So jedenfalls hat es mir der Bote ausgerichtet.“

Ramon bemerkte sorgenvolle Falten auf Kians Gesicht. Er sah auf die Bücher, die sein Vater ausgesucht hatte. Vulkanismus. Das ökologische System von Inseln im Ozean. Die Auswirkungen von Klimaveränderungen auf die Landwirtschaft. Mythologie oder Historie, wie glaubhaft ist die Sage des Feuerbruders? Ramon runzelte die Stirn. Wozu brauchte Ludmilla diese Bücher? Er konnte sich überhaupt nicht erinnern, Ludmilla jemals Bücher gebracht zu haben. Dafür hatte sie ihre Minister. Die Bildungsministerin war naturgemäß oft in der Bibliothek. Ramon mochte diese gebildete, schön gewachsene Frau. Er hätte sich gerne mit ihr unterhalten. Aber er wagte es nicht, sich ihr zu nähern, wenn sie in der Bibliothek war. Er merkte sich nur die Bücher, die sie auslieh und las sie später mit großer Neugierde. So erfuhr er einiges über die Mythen und Geschichten der Insel, aber auch anderer Länder und Völker. Es versetzte ihn immer aufs Neue in Begeisterung, was sich die Menschheit alles ausdachte, um Vorgänge in der Natur zu erklären. Als guter Beobachter wusste er natürlich, dass vieles davon der puren Fantasie entsprang, doch manches war gar nicht so weit hergeholt. Nur eben fantasievoll ausgeschmückt.

„Ramon, du solltest dich wirklich beeilen.“ Sein Vater holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Schnell packte Ramon die Bücher zu einem Stapel zusammen und machte sich auf den Weg ins Herrschaftshaus. Warum hatte sein Vater nur so besorgt ausgesehen? Dieser Gedanke beschäftigte ihn den ganzen Weg bis zu Ludmillas Amtsstube. Dort schaffte er es gerade noch, die Bücher auf Ludmillas Schreibtisch abzulegen, bevor sie ihm aus den Armen glitten. Zu seiner Verwunderung war Perpetuus anwesend, der ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. Ramon nickte Ludmilla höflich zu, lächelte kurz in Perpetuus Richtung und wandte sich zum Gehen. Doch Ludmilla fasste ihn am Arm und hielt ihn zurück.



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