Finde mich, wenn ich verloren bin - Jasmin Z. Summer - E-Book

Finde mich, wenn ich verloren bin E-Book

Jasmin Z. Summer

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Beschreibung

»Lieber etwas riskieren, als ewig zu bereuen, es nicht getan zu haben«, denkt sich Kyla und trifft eine Entscheidung, die sie ihre Freiheit kostet. Verfolgt von Trauer, Wut und Schuldgefühlen, will sie sich nun von den Menschen losreißen, die für dieses Chaos verantwortlich sind. Noch einmal ganz von vorne beginnen. Eine zufällige Begegnung. Zwei Menschen, die sich normalerweise nie gefunden hätten. Und plötzlich scheint ein Leben in Sicherheit zum Greifen nah. Wäre da nur nicht Taylor, der von Kyla überhaupt nichts wissen will. Denn neben seinem verletzten Herzen hat er genug andere Probleme, als sich auch noch mit einer Ex-Kriminellen herumzuschlagen. Für ihn zählt nur eins: Dieses Mädchen so schnell wie möglich wieder loszuwerden

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Seitenzahl: 431

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Prolog
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechszehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreissig
Kapitel einunddreissig
Kapitel zweiunddreissig
Kapitel dreiunddreissig
Kapitel vierunddreissig
Kapitel fünfunddreissig
Kapitel sechsunddreissig
Kapitel siebenunddreissig
Kapitel achtunddreissig
Kapitel neununddreissig
Kapitel vierzig
Epilog

Jasmin Z. Summer

Finde mich, wenn ich verloren bin

Taylor & Kyla

(Band 3 der Wenn-Reihe)

Dieser Artikel ist auch als Taschenbuch erschienen.

Finde mich, wenn ich verloren bin

Copyright

© 2023 VAJONA Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Lektorat und Korrektorat: Désirée Kläschen

Umschlaggestaltung: Julia Gröchel,

unter Verwendung von Motiven von Pexels und Rawpixel

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz

ISBN: 978-3-98718-098-9

VAJONA Verlag

Weil es manchmal einfach jemanden braucht, der einen wieder aufbaut.

Für genau diese Menschen. Ihr seid großartig.

Prolog

Kyla

»Vertraust du mir?«

Es gab keine Frage, die mein Herz in diesem Augenblick schneller schlagen lassen könnte. Mein Atem stockte, während das Brennen in meinen Augen immer stärker wurde. Mir war nicht zum Heulen. Noch nicht. Aber der dichte Qualm von Zigaretten und Gras fraß sich seit zwei Stunden in meine Schleimhäute, als verspürte er denselben Drang, nach Schutz zu suchen, wie ich es tat. Reflexartig wanderte meine rechte Hand zu meinen Augen und versuchte den Schmerz wegzureiben, ohne dabei Rücksicht auf mein Make-up zu nehmen. Es spielte keine Rolle. Hier gab es viel größere Probleme, um die ich mich kümmern musste.

Trotz der dröhnenden Bassboxen aus dem Erdgeschoss und dem lauten Gemurmel um uns herum hatte ich jedes seiner Worte verstanden.

Vertraust du mir?

Was für eine Frage. Wem auf der Welt könnte ich mehr vertrauen als dem Kerl, dem ich vor siebzehn Jahren, nur in Windeln bekleidet und auf wackeligen Speckbeinchen, durch die Nachbarschaft hinterhergejagt war? Der mit mir die größten Klettergerüste und Rutschen erklommen hatte, weil ich schon immer so mutig sein wollte wie er?

Unruhig vergrub ich meine Hände unter meinen Oberschenkeln und verzog das Gesicht, als ich den völlig zerlöcherten Stoff der Couch ertastete, auf der wir beide saßen und angespannt warteten.

»Du hättest das nicht tun sollen, Mike«, wich ich seiner Frage aus, weil ich noch immer stinksauer auf ihn war. Denn nur wegen ihm und seinem nicht ganz so gesunden Menschenverstand befanden wir uns in einer Situation, die ich nicht einschätzen konnte. Ich hasste es, wenn ich nicht fähig war, den Überblick zu behalten. Wenn ich die Kontrolle verlor, so wie heute. »Du hättest wissen müssen, was die Konsequenzen sind.«

»Komm runter, Ky. Wir wissen doch noch gar nicht, wieso er mit uns reden will. Es wird bestimmt einen ganz anderen Grund haben.«

Aber was, wenn er sich irrte? Wenn seine Bettgeschichte uns beide ins Verderben stürzte?

Im regelmäßigen Zwei-Sekunden-Takt wanderte mein Blick zu der verschlossenen Tür. Der Mann, für den mein Bruder seit einigen Jahren arbeitete, verkörperte Satan auf die höllischste Weise, die man sich vorstellen konnte. Leute wie uns, die ihre Seele für ein anständiges Dach über dem Kopf verkaufen würden, empfing er mit weit ausgestreckten Armen, nur um sie nie wieder aus seinen Fängen freizulassen. Ironischerweise war dies auch genau der Kerl, der im Nebenraum auf seinem Sessel saß und in wenigen Minuten über unseren Verbleib auf der Erde bestimmen würde. Für wen hielt er sich? Für Gott?

Dieser Typ hatte ein eindeutiges Identitätsproblem.

Als plötzlich die Tür aufgerissen wurde, schien mein Herz vor Panik zu zerspringen. Doch statt des Bosses empfing uns ein nicht gerade harmlos wirkender Handlanger, der sich im Türrahmen aufbaute und uns abschätzig musterte. Was hatte es nur mit dem Tragen von Sonnenbrillen in dunklen Räumen auf sich? Dachte er, er würde so gefährlicher, mysteriöser wirken? Dieser Bär von Mann war zwei Meter groß, wahrscheinlich auch genauso breit. Mit ihm würde sich garantiert keiner freiwillig anlegen, selbst wenn er schielte.

»Mike O’Hara, der Boss erwartet dich.«

Beinahe gleichzeitig fuhren wir in die Höhe und liefen mit butterweichen Knien den Höllenpforten entgegen.

Doch als ich hinter Mike durch die Tür schlüpfen wollte, hielt mich der Bär mit seiner gigantischen Tatze an der rechten Schulter fest, sodass ich keine andere Möglichkeit hatte, als stehen zu bleiben.

»Du nicht«, waren die einzigen Worte, die er an mich richtete. Ich dachte nicht daran, Mike alleine mit dem Boss reden zu lassen. So wie ich ihn kannte, würde er sich durch sein wirres Geschwafel in noch größere Probleme stürzen. Hilfesuchend sah ich zu Mike, der einen viel zu beruhigenden Ton in seine Stimme legte, sodass ich ihm seine Gelassenheit nicht einmal dann abgekauft hätte, wenn ich es wirklich gewollt hätte.

»Ist schon okay, Ky. Geh und schau nach Ben. Wir treffen uns unten.«

»Mike, ich …«, fing ich an und versuchte krampfhaft, die riesige Tatze von mir loszureißen.

»Kyla!«, stoppte mich mein Bruder jedoch und ich hielt augenblicklich inne. Einen Herzschlag lang betrachtete ich ihn, während sich Tränen in meinen Augen sammelten. Dann erkannte ich, dass auch Mike merklich schluckte, bevor er sich zu einem Lächeln zwang. »Vertrau mir, okay?«

Mein Blick folgte seinen kaum merklich zitternden Händen, die er hastig in den Hosentaschen seiner zerschlissenen Jeans vergrub, so wie mein Bruder es immer tat, wenn er ganz genau wusste, dass er sich in riesengroßen Schwierigkeiten befand. Ich liebte ihn dafür, dass er seine Angst vor mir verstecken wollte, damit ich mir keine Sorgen machte. Gleichzeitig hasste ich ihn dafür, weil er somit nicht nur meine, sondern auch seine Augen vor der Wahrheit verschloss. Dass das hier ganz böse enden könnte.

Da ich nicht auf seine Worte reagierte, nickte er eindringlich in Richtung der Treppe, um mir zu zeigen, dass ich schleunigst verschwinden sollte.

Obwohl alles in mir danach schrie, es nicht zu tun, drehte ich mich um und stieg die klebrigen Stufen des Treppenabgangs ins Erdgeschoss hinunter. Mit jedem Schritt wurden die Nebelschwaden dichter und ich hatte Mühe, richtig Luft zu holen. Es war wie jedes Wochenende, nur dass ich heute um das Leben meines Bruders bangen musste. Eine Stimme in mir flüsterte leise und doch eindringlich: Geh zurück nach oben. Stattdessen tat ich genau das, was Mike mir aufgetragen hatte.

Er war mein Bruder, ich vertraute ihm.

Mit all meiner Kraft versuchte ich mich durch die tanzende Menge zu kämpfen, bis mich plötzlich jemand an den Schultern packte und ich erschrocken aufschrie. Glücklicherweise erkannten meine panischen, weit aufgerissenen Augen genau das Gesicht, das ich zu finden gehofft hatte.

Ben.

Erleichtert fiel ich in seine Arme. Abgesehen von Mike war er der Einzige, bei dem ich in dieser Situation Halt finden konnte. Ben erwiderte meine Umarmung und drückte mir einen Kuss auf den Haaransatz. »Kyla«, flüsterte er und zog mich noch fester an sich. Immer wieder strich er mir durch die dunkelbraunen Strähnen. »Heute wird es funktionieren, ich habe es im Gefühl.«

Verwirrt zog ich mich zurück und suchte seinen Blick. »Was meinst du?«

»Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin alles noch einmal durchgegangen. Klar, es ist verdammt riskant. Aber solange niemand Verdacht schöpft, könnte es dieses Mal wirklich klappen.« Ich hörte seine faserige Erklärung, aber irgendwie auch nicht. Seine Worte ergaben keinen Sinn für mich und trotzdem drehte sich mein Magen instinktiv um hundertachtzig Grad. Mir war kotzübel.

»Was hast du getan? Was für einen Verdacht?«, brachte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Ich muss es wissen, Ben. Mike ist gerade oben. Bei ihm. Allein!«

Ben hielt inne und es dauerte einige Wimpernschläge, bis er verstand und sich plötzlich Unglauben und Schuld in seinem Gesicht spiegelten. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Und dann verstand auch ich.

»Aber … Nein! Das war nicht der Plan! Das war nicht so geplant!« Fassungslos fuhr er sich durch die Haare und versuchte, ruhig zu atmen. »Ich hatte doch alles im Griff, verdammt! Ich hatte alles im Griff!« Seine Panik war jetzt das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Genauso wenig wie seine Entschuldigungen, die mir einfach scheißegal waren. »Ich hab es vermasselt, Kyla. Es tut mir so wahnsinnig leid.«

Alles, was ich verstanden hatte, war, dass mein eigener Freund meinen Bruder in Schwierigkeiten gebracht hatte. Dass er dumm genug gewesen war, zu glauben, dass er alles im Griff hatte. Dass er naiv genug gewesen war, zu denken, dass Mike aus dieser Sache unbeschadet herausgehen würde.

»Was war dein verdammter Plan, Ben?«, fuhr ich ihn an und schubste ihn von mir. »Was zur Hölle hast du getan?«

Ohne auf eine weitere Reaktion zu warten, stürmte ich die Treppe nach oben und hielt sofort inne, als mir eine völlig aufgelöste Frau mit rot geschwollenen Augen entgegenkam. Tränen rannen über ihr Gesicht, sodass viele blonde Strähnen an ihren Wangen kleben blieben.

Sie.

Die Welt um mich herum drehte sich in Rekordzeit weiter, während ich sie einfach nur anstarren konnte.

Sie.

Das Mädchen, in das sich mein bescheuerter Bruder bis über beide Ohren verliebt hatte. Das Mädchen, das aber nie zu ihren Gefühlen stehen würde, weil an ihrem Finger ein Diamantring steckte, der sich wie ein verhungernder Blutegel festgesaugt hatte.

Das Mädchen, das zu einem Mann gehörte, der die ganze verdammte Erdkugel abfackeln würde, wenn jemand auch nur daran dachte, seine Pläne zu durchkreuzen. Mikes Boss.

Ihre Unterlippe begann wie verrückt zu zittern, ehe sie endlich den Mund öffnete. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie Worte, die dafür sorgten, dass mir mein Herz direkt in die zerrissene Jeans rutschte. Ein unangenehmes Gefühl überkam mich, sodass sämtliche Alarmglocken in mir zu schrillen begannen.

Was hatte sie nur getan?

Aber statt sie genau das zu fragen, dachte ich nur an eins: Mike.

Ohne noch einmal Luft zu holen, riss ich meinen Blick von ihr los und stürmte den Weg weiter zu der Tür, die das größte Unheil verbergen sollte. Meine Hände zitterten unkontrolliert, als ich Sekunden später den Griff erreichte und nach unten drückte. Nach all der Zeit hätte mich nichts mehr schockieren dürfen. Ich hätte Ruhe bewahren sollen, um das, was ich sah, rational einordnen zu können.

Doch das, was sich vor meinen Augen abspielte, war von rational weit entfernt. Das verriet mir auch mein Herz, das gerade in Tausend Teile zersprang – und zwar in der Sekunde, in der ich meinen Blick senkte und erkannte, dass ich in einer riesigen Blutlache stand. Nein. Nein, nein, nein. Meine Gedanken rasten, um irgendwie verstehen zu können, was das alles bedeutete. Was es bedeutete, meinen Bruder, nur wenige Schritte von mir entfernt, am Boden liegen zu sehen. Was es bedeutete, dass sich sein Brustkorb nur noch unregelmäßig in die Höhe hob, während seine Hände kraftlos auf einer klaffenden Wunde am Bauch verweilten.

Was es bedeutete, dass mein Bruder so aussah, als hätte seine Seele schon längst seinen Körper verlassen.

Kopfschüttelnd riss ich mich aus meiner Schockstarre. Was ich jetzt brauchte, war die Kyla, die immer einen kühlen Kopf bewahrte. Die Kyla, die jede Suppe auslöffeln könnte, ganz egal, wie grässlich sie schmeckte. Innerhalb eines Atemzugs war ich bei ihm, griff unter seine Achseln und zog ihn mit mir nach draußen.

»Das schaffen wir nie«, flüsterte Mike kaum hörbar und stöhnte vor Schmerzen.

»Wir schaffen das«, erwiderte ich immer und immer wieder und keuchte angestrengt, als wir an der Treppe ankamen und ich ihn vorsichtig nach unten zog. »Jetzt bist du an der Reihe, mir zu vertrauen.«

Auf der untersten Stufe angekommen, rempelten mich bereits die ersten feiernden Leute an, die gar nicht mitbekamen, dass meine kleine Welt gerade drauf und dran war, unterzugehen.

»Verpisst euch!«, schrie ich sie an, sodass sie erschrocken auf die Seite sprangen und panisch nach Luft schnappten. Doch niemand dachte auch nur einen kurzen Augenblick daran, uns zu helfen. Weil jeder viel zu große Angst vor den Konsequenzen hatte. Während ich Mike immer weiterzog, sah ich mich panisch nach meinem Freund um. Wenigstens Ben würde uns helfen, da war ich mir sicher.

»Ben!«, schrie ich atemlos, nachdem ich ihn in der Menge erkannt hatte. Die Musik verstummte und eine viel zu laute Stille breitete sich im ganzen Raum aus. Keiner bewegte sich. Alle starrten uns an. Auch Ben.

»Ben!«, flehte ich und zog Mike immer weiter zur Tür. Tränen der Panik und Enttäuschung flossen mir über das Gesicht. Panik um das Leben meines Bruders. Enttäuschung, weil der einzige Mensch, dem ich außer Mike noch vertraut hatte, einfach in der Menge stehen blieb und keinerlei Regung zeigte.

»Du bist ein beschissener Feigling, Ben!« Mein Geschrei hallte wie ein Donnergrollen durch die Menge. Meine Lunge brannte vor Anstrengung, doch ich konnte nicht anders, als meinem illoyalen Freund immer wieder dieselben Worte ins Gedächtnis zu prügeln. »Ein beschissener Feigling bist du!«

Irgendwie schaffte ich es, die Haustür aufzureißen und meinen vor Schmerz wimmernden Bruder auf den Parkplatz zu ziehen. »Wo ist dein Autoschlüssel?«, keuchte ich und legte ihn neben die Beifahrertür des Wagens.

»Hosentasche«, kam es nur ganz leise zurück, was mich dazu brachte, mit zitternden Händen an meinem blutenden Bruder herumzunesteln. »Du kannst nicht fahren«, teilte mir Mikes schwache Stimme mit. Eine Tatsache, die mir allzu bewusst war. Aber was hatte ich für eine Wahl?

»Du weißt genauso gut wie ich, dass sich in diese Gegend kein Krankenwagen traut.« Ich erwischte den Schlüssel und betätigte den kleinen Knopf, um die Türen zu öffnen. Dann schlüpfte ich auf den Beifahrersitz und bückte mich. Mit der letzten Kraft, die mir blieb, zog ich ihn hinter mir her ins Auto, bis er krumm auf den Polstern lag und ich mit dem Kopf gegen die geschlossene Fahrertür knallte. Meine von Tränen verschwommene Sicht hinderte mich nicht daran, mich über Mike zu beugen und die Tür zuzuknallen.

»Lieber etwas riskieren, als ewig zu bereuen, es nicht getan zu haben – deine Worte«, rief ich ihm ins Gedächtnis und steckte den Schlüssel ins Zündschloss.

Unsere Blicke trafen sich. Eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel, doch er hatte keine Kraft, sie wegzuwischen. Mein Bruder weinte nicht. Das tat er nie, schon gar nicht vor mir. Doch in diesem Moment war er nicht der große, starke Bruder, den ich von klein auf vergöttert hatte. Er war der Bruder, der nicht nur um sein eigenes Leben bangen musste, sondern auch um das seiner Schwester.

»Du könntest sterben«, keuchte er mit schmerzverzerrtem Gesicht.

»Dann sterben wir wenigstens gemeinsam«, gab ich entschlossen zurück, griff nach seiner blutverschmierten Hand und drückte sie, so fest ich konnte.

Und dann trat ich aufs Gaspedal.

Kapitel eins

Kyla

Das war es jetzt wohl. Ein komisches Gefühl, wenn sich zu gleichen Teilen Erleichterung und Ungewissheit in einem ausbreiteten. Erleichterung, weil ich heute tatsächlich meine Freiheit zurückbekam. Ungewissheit, weil nichts mehr war wie zuvor.

»Ich will dich hier nie wiedersehen, das ist dir klar, oder?« Charlys Brummen riss mich aus meinen Gedanken, sodass ich den Blick von dem Portemonnaie und meinen wenigen Habseligkeiten auf dem Tisch zurück auf sie richtete. Immer wieder huschten ihre Augen zu mir, ohne dass sie mit dem Schreiben aufhörte. Die hochgezogenen Brauen waren ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie eine Antwort erwartete.

»Als ob ich dir jemals widersprechen würde«, gab ich schmunzelnd zurück und schob alles, was mir blieb, an die Tischkante, um es in den Beutel fallen zu lassen, den ich mit der linken Hand geöffnet hielt.

Mit gerunzelter Stirn beugte sich Charly zu mir herüber und tippte mit der Kuppe ihres Zeigefingers demonstrativ auf der Oberfläche des Tischs herum. »Ich meine es ernst, Kyla. Das ist deine Chance auf einen Neuanfang.«

Ich wusste das. Aber was war ein Neuanfang wert, wenn ich ihn mit niemandem teilen konnte?

»Du wirst mich nie wiedersehen, Charly«, versprach ich ihr tonlos und erhob mich. Schweigend liefen wir durch den viel zu grell beleuchteten Flur am Besucherraum vorbei, in dem ich in den letzten sechs Monaten kein einziges Mal gesessen hatte. Weil es niemanden mehr gab, der mich gerne besucht hätte.

Das Klirren von Schlüsseln. Das gleichmäßige Geräusch des Alarmknopfs, der betätigt wurde. Dicke Stahltüren, die sich öffneten. Und schon strahlte mich ein ganz anderes Licht an. Sonnenlicht. Mit jedem Schritt zwischen den beiden Wachtürmen hindurch fiel die Last von meiner Brust ein Stückchen mehr ab. Sechs Monate. Sechs verdammte Monate. Ich hatte mehr als genug Zeit, um zu verarbeiten, was in jener Nacht geschehen war. Wie es dazu kommen konnte, dass ich alles, was mir lieb war, verloren hatte.

»Bereuen Sie Ihr Handeln in der Tatnacht, Miss O’Hara?«, lautete die Frage der Richterin, die über mein Schicksal entschieden hatte. Ohne zu zögern, hatte ich ihr ganz klar mit Nein geantwortet. Könnte ich die Zeit zu der Sekunde zurückdrehen, würde ich alles genau so wieder tun. Weil ich es für Mike getan hatte. Wahrscheinlich hätte ich alles getan, um sein Leben zu retten.

Auf dem Parkplatz des Glendale State Prison blieb ich stehen und ließ meinen Beutel neben mir zu Boden sinken.

Du bist frei, Kyla. Du bist endlich wieder frei.

Ganz langsam schloss ich die Augen, stellte mir vor, dass Mike, nur wenige Meter vor mir, an seinem Auto auf mich wartete. Die Cap verkehrt herum auf seine gelockten, dunkelblonden Haare gesetzt, weil er den Versuch, sie zu bändigen, schon vor Ewigkeiten aufgegeben hatte. Sein Grinsen, das so freundlich und ehrlich war, dass man die Narbe über seinem rechten Mundwinkel leicht übersehen konnte. Und seine Augen, die so dunkel waren wie die Geheimnisse, die er all die Jahre vor mir verborgen hatte. Geheimnisse und Entscheidungen, die uns in Kreise gebracht hatten, aus denen wir es lebend nie herausschaffen würden. Doch genau das hatte ich vor. Ich wollte kein Teil mehr von ihnen sein. Ich wollte leben.

Irgendwann, als mir die Sonne bereits auf unangenehme Weise auf die Nase brannte, fasste ich einen Entschluss. Auch wenn ich kein Bargeld mehr in den Taschen hatte, wollte ich hier so schnell wie möglich weg. Suchend blickte ich mich nach allen Seiten um. Aber wem machte ich etwas vor? Wer sollte hier auf mich warten? Ben? Damit mich der Verräter zu meinem Verderben zurückbringen konnte? Schnaubend schüttelte ich den Kopf und setzte meinen Weg zu dem kleinen Wachhaus fort, in dem zwei uniformierte Kerle saßen, die die Ein- und Ausfahrten zum Gefängnisgelände kontrollierten. Zumindest sollten sie das tun. In der Stellenbeschreibung stand sicher nichts davon, den Arbeitstag mit witzigen TikTok-Videos zu verbringen.

Ich setzte ein höfliches Lächeln auf und klopfte freundlich gegen die dicke Glasscheibe. Genervt seufzend verstaute einer von ihnen sein Smartphone und kam zu mir an das Fenster mit der Sprechanlage. Doch anstatt mich nach meinem Anliegen zu fragen, denn ich hatte eines, wieso sollte ich sonst freiwillig an dieser Scheibe klopfen, zog er lediglich seine buschigen Brauen in die Höhe.

»Könnten Sie mir bitte ein Taxi rufen?«, fragte ich also, immer noch freundlich lächelnd, was mir von Sekunde zu Sekunde schwerer fiel.

»Ein was?«, brummte er und rieb sich über seinen viel zu langen Drei-Tage-Bart, als hätte ich gerade spanisch mit ihm gesprochen. Ich unterdrückte ein Seufzen und gab mir einen letzten Ruck. Heute ist dein Neuanfang, Kyla. Sei nett zu diesem Idioten. »Ein Taxi. Bitte.«

Die Brust des Kerls bebte, als er zu glucksen begann. »Seh ich aus wie ein verdammtes Taxiunternehmen?«

Auch der zweite Mann stieg in sein Grunzen ein. »Ein Taxi, die hat Nerven.«

Angestrengt presste ich meine Lippen aufeinander, während ich mit all meiner Selbstbeherrschung versuchte, meine Wut im Zaun zu halten. Ich bin in einer Gegend aufgewachsen, in der man ihn für so eine Unverschämtheit aus seinem kleinen Fenster gezogen hätte. Mike war schließlich dafür bezahlt worden, den Kunden, die nicht kooperierten, die Anliegen unseres Bosses ziemlich deutlich zu machen.

Aber ich war nicht mehr die Kyla von damals. Was bedeutete, dass ich mich mit hochrotem Kopf umdrehte, davonlief und meinen Beutel vom Kies aufhob. Dennoch verspürte ich, je weiter ich mich von den Männern entfernte, einen starken Drang, den ich kaum unterdrücken konnte.

Tu es nicht. Vergiss diesen unreifen Gedanken, flüsterte meine Vernunft und versuchte mich zu beruhigen, doch mein Stolz stieß mir aufmunternd und mit voller Wucht gegen die Schulter. Tu es, dann wird es dir besser gehen.

Als hätte ich die Kontrolle über meinen Körper verloren, schnellte meine Hand nach oben und streckte den Mittelfinger in die Richtung dieser Idioten aus, ohne dass ich mich noch ein einziges Mal zu ihnen umdrehen musste. Wahrscheinlich registrierten sie es nicht einmal, weil sie wieder viel zu vertieft in ihre Videos waren. Doch das war mir egal. Ich hatte das letzte Wort gehabt. Ob sie es verstanden hatten oder nicht, spielte keine Rolle. Zufrieden seufzend lockerte ich danach meine Schultern. Was soll ich sagen? Mein Stolz hatte recht. Mir ging es viel besser. Entschlossenen Schrittes bestritt ich also meinen Weg ins Nirgendwo. Wo auch immer ich heute Nacht schlafen würde, es konnte nicht schlimmer sein als die Nächte der letzten sechs Monate. Die viel zu kurzen Nächte, die ich mit unzähligen Gedanken an meinen Bruder verbracht hatte. Nächte, die mir bewusst gemacht hatten, dass ich meine Vergangenheit begraben und bei null starten musste. Für ihn.

Ich werde mein Leben in den Griff bekommen, Mike. Versprochen.

Kapitel zwei

Taylor

Ein absoluter Scheißtag. Genau so würde ich die letzten neuneinhalb Stunden beschreiben, seitdem ich aus dem Bett gestiegen war. Angefangen mit einem Training, das meine Muskeln zum Brennen gebracht hatte, bis hin zu dem Moment, als ich einen Anruf aus New Jersey entgegennahm und mir die Devils ein unschlagbares Angebot unterbreitet hatten. Ja, ich war verdammt gut in dem, was ich liebte. Demnach sollte es mich nicht wundern, dass es bereits das dritte Angebot in den letzten zwei Wochen war. Doch die Antwort lautete auch dieses Mal Nein. Selbst wenn ich gewollt hätte, könnte ich die Stadt für kein Geld der Welt verlassen. Ich konnte ihn nicht im Stich lassen, selbst wenn ich deshalb meine Karriere in den Sand setzen müsste. Außerdem würde es bedeuten, dass ich sie womöglich nie wiedersehen konnte. Und sie zu verlieren hieße, dass ich mit alldem endlich abschließen musste. Abschließen. Schlussstrich. Aus. Ende. Schönes Leben noch. Verdammt. Dafür war ich nicht bereit.

Heul leiser, Andrews. Das hörte sich wirklich erbärmlich an. Den Tragegurt meiner Sporttasche über die rechte Schulter gelegt, schloss ich die Fahrertür meines alten Mustangs und betätigte mit einem Knopf die Zentralverriegelung, die ich in den letzten Wochen schon mehrmals reparieren musste. Es wäre einfacher gewesen, den alten Haufen roten Blechs einfach verschrotten zu lassen, statt immer wieder haufenweise Geld in einen Wagen zu stecken, der es sowieso nicht mehr lange machen würde. Keine Ahnung wieso, aber irgendwie hatte ich ein Faible für kaputte Dinge. Dinge, die genauso kaputt sind wie dein Herz.

Zwischen mannshohen Türmen von alten Autoreifen trat ich auf den weitläufigen Hof, auf dem mehrere kaputte Wagen nebeneinander ihre letzten Tage oder Wochen verbrachten, bevor sie wie eine Weihnachtsgans ausgeschlachtet würden. Das hatte ich als Kind immer am liebsten beobachtet. Früher, als sich das Betreten des Geländes noch wie nach Hause kommen angefühlt hatte. Seufzend betrachtete das heruntergekommene Gebäude, das ich nur widerwillig ansteuerte. Ich hatte meinem Vater schon oft dazu geraten, etwas Geld in die Hand zu nehmen und die Fassade zu erneuern, die mittlerweile mehr Risse als Putz aufwies. Oder wenigstens die drei dicht aneinandergereihten, übergroßen Blechtore auszutauschen, die man nur noch erschwert öffnen konnte, weil sie nicht nur rostrot lackiert, sondern auch tatsächlich verrostet waren. Was früher oder später noch ein enormes Problem darstellen würde, da wir nun mal keine Fahrzeuge reparieren konnten, wenn diese nicht mehr in die Werkstatt gelangen würden. Links neben den Toren gab es einen Eingang, den hauptsächlich das Personal benutzte. Eine alte Tür, die zugegebenermaßen auch keinen einladenden Eindruck vermittelte. Wir hatten darüber gesprochen, dass wir so niemals mit den großen Werkstätten mithalten würden. Dass uns mit dieser Aufmachung niemand einen Luxusschlitten anvertrauen würde. Über all das hatte es schon unzählige Unterhaltungen gegeben. Damals, als wir noch wirklich miteinander kommuniziert hatten. Doch mein Vater war nicht nur bei diesem Thema vollkommen beratungsresistent.

Es hatte sich also nichts verändert. Alles schien wie immer. Zumindest wäre das so gewesen, wenn nicht bereits zehn Uhr wäre. Wieso also waren diese verdammten Tore nicht schon seit drei Stunden zu beiden Seiten aufgezogen worden? Genau diese Frage stellte sich wahrscheinlich auch der Mann im hellgrauen Anzug, der direkt vor ihnen auf und ab ging, während sein Blick immer wieder von seiner Uhr am Handgelenk zu dem alten, verrosteten Schild von Paul Andrews Motorservice wanderte. Sein genervtes Brummen ließ mich vermuten, dass er nicht erst seit zwei Minuten hier stand.

»Kann ich Ihnen helfen?«, rief ich ihm zu, in der Hoffnung, er würde mir einfach mit einem Nein, danke antworten. Doch der erleichterte Gesichtsausdruck, der sofort erschien, als er mich erkannte, ließ meine Hoffnung dahinschwinden. Mister Cruz brachte seinen Cadillac schon seit Jahren zu uns. Genau genommen kannte ich jede einzelne Schraube seines Babys. Was auch der Grund war, wieso es mich nicht überraschte, dass er mich mit meinem Vornamen ansprach.

»Hey, Taylor, ich warte auf deinen alten Herren.«

Mit einem kurzen Blick auf mein iPhone kam ich ihm noch ein weiteres Stück entgegen, bis er mir erleichtert die Hand schüttelte. »Genau genommen warte ich schon eine gefühlte Ewigkeit.«

Kleine Randnotiz: Selbst fünf Minuten waren für Mister Cruz eine Ewigkeit. Manches änderte sich eben nie.

»Ist Fynn denn nicht in der Werkstatt?«, fragte ich eher mich selbst als den ungeduldig dreinschauenden Kunden, der sowieso nicht wissen konnte, wo sich der einzige Mechaniker meines Dads befand. Da ich genauso wenig hellseherische Fähigkeiten hatte – die Andrews-Gene waren dahingehend eine pure Enttäuschung – drückte ich das erste Tor der Werkstatt auf. Für einen kurzen Moment blieb ich stehen und sog den allzu bekannten Geruch nach Benzin und Reifengummi tief in meine Lunge. Was wahrscheinlich nicht das Gesündeste auf der Welt war, aber ich liebte es. Mit einem schnellen Blick zur Hebebühne erkannte ich, dass heute noch kein Mensch hier gewesen war. Der Wagen von Mister Cruz stand immer noch völlig unberührt da und wartete darauf, in Augenschein genommen zu werden. Das könnte Ärger geben. Diese Annahme wurde durch das ungläubige Schnauben des Anzugkerls bestätigt.

»Was soll das, Taylor? Dein Vater hat mir versprochen, dass mein Wagen fertig ist, wenn ich von meinem Termin komme.«

Mein Vater verspricht viel, was er nicht halten kann. Zum Beispiel, meine Mutter zu lieben. In guten wie in schlechten Zeiten. Bis dass der Tod sie scheidet. Genau so lautete doch der ganze emotionale Quatsch, den sie sich versprochen hatten. Aber das war ein anderes Thema.

Ich setzte meinen Weg fort, nur um sicherzugehen, dass der Mechaniker meines Dads nicht irgendwo betrunken unter einem Auto lag. Wäre schließlich nicht das erste Mal. Aber nein, hier gab es niemanden, der so aussah, als wollte er arbeiten. Abgesehen von mir. Wieder einmal. Ein ergebenes Seufzen entwich mir, weil mir klar wurde, dass mir keine andere Möglichkeit blieb, als meinem Dad den Arsch zu retten. Wieder einmal.

Ohne lange darüber nachzudenken, wühlte ich in meiner hinteren Hosentasche und drückte Mister Cruz kurzerhand einen Schein in die Hand. »Die Straße runter ist ein kleines Diner. Die Burger sind Mist, aber der Kaffee ist trinkbar. Geben Sie mir eine Stunde.« Und dann verzieh dich von hier.

Nur Sekunden später war der grummelnde Mr. Cruz aus meinem Sichtfeld verschwunden, sodass ich erst einmal ein lautes, wütendes »Fuck« zum Besten gab, bevor ich mir den Werkzeugwagen heranschob und mich darauf vorbereitete, die Arbeit zu erledigen, für die Fynn bezahlt wurde.

Nur wenig später vernahm ich Schritte, gefolgt von einem gequälten Husten. »Ach, verdammt. Den Cadillac habe ich vollkommen vergessen«, ertönte die erstickte Stimme meines Dads, kurz bevor er wieder hustete. Ich fragte gar nicht erst, was ihm fehlte. Es sollte mir egal sein, wie es ihm ging.

»Wo zur Hölle steckt Fynn?«, fluchte ich stattdessen, ohne über die Schulter zu blicken.

»Er hat gekündigt«, eröffnete mir mein Vater, als hätte er nur beiläufig erwähnt, wie das Wetter morgen werden würde.

»Fynn hat was?«

»Gekündigt«, wiederholte er und tat so, als wüsste er nicht ganz genau, dass ich ihm die Frage nicht gestellt hatte, weil ich ihn nicht verstanden hatte.

»Ist das dein Ernst?«

»Ich denke, es wäre nicht wirklich passend, darüber Scherze zu machen, oder?« Für diesen Spruch hätte ich wirklich gerne den Schraubenzieher nach ihm geworfen. Wie stellte er sich das alles vor? Ganz allein? Und wieso verfiel mein Dad nicht in Panik, so wie ich es gerade tat? War ich etwa der Einzige hier, der sich daran erinnerte, wie viele unbezahlte Rechnungen sich aktuell auf seinem Schreibtisch stapelten? Wutschnaubend suchte ich weiter nach dem passenden Werkzeug. Ich hatte es schon lange aufgegeben, mit meinem Vater über irgendetwas diskutieren zu wollen. Er würde mir sowieso niemals die Antworten geben, die ich von ihm verlangte. Ganz egal, um was es ging. Zum Beispiel, wieso er jede Woche um dieselben Uhrzeiten verschwand und erst Stunden später zurückkam. Oder warum er die Hilfeschreie meiner Mom einfach ignoriert hatte, bis sie keine andere Wahl gehabt hatte, als zu gehen.

Auch wenn ich nicht hinsah, spürte ich sofort, dass er direkt neben mir zum Stehen kam. »Du musst das nicht tun, Tay.«

Automatisch verzog ich bei dem Spitznamen, den er mir schon von klein auf gegeben hatte, das Gesicht. Er erinnerte mich an ölverschmierte Hände, die mich quer durch die Werkstatt trugen, nachdem wir das Radio auf volle Lautstärke gedreht hatten. An stundenlange Gespräche an den Wochenenden, in denen er mir alles über Autos erklärt hatte. An ausgelassenes Gelächter, während wir ganze Nächte unter Motorhauben verbracht hatten, weil das hier viel mehr eine gemeinsame Leidenschaft als nur ein ganz normaler Brotjob war. Erinnerungen an Momente, die es so nie wieder geben würde.

»Doch.« Seufzend öffnete ich die Motorhaube des Cadillacs und begann alles auszubauen, was mir den Weg zu den sechzehn Zylindern versperrte. Die Augen konzentriert zusammengekniffen, setzte ich meinen Satz fort. »Doch, das muss ich. Weil du nicht mich, sondern meine Mutter dazu gebracht hast, dich zu verlassen.« Ich hielt kurz inne und wischte mir die Schweißperlen von der Stirn. Die Luft in der Werkstatt staute sich enorm in der prallen Mittagssonne. Daran konnten auch die beiden Ventilatoren nichts ändern, die nach wenigen Minuten sowieso den Geist aufgaben. »Von daher ist es meine Pflicht als Sohn, meinem Vater unter die Arme zu greifen. Da spielt es auch keine Rolle, was ich von dir halte.« Von dem Mann, der schon immer mein großer Held gewesen war.

Wie sehr sich Kinderaugen doch täuschen konnten.

»Wie lange willst du mich noch hassen?« Diese Frage kam unerwartet, selbst für mich. Für den Kerl, den eigentlich nichts mehr schocken konnte. Trotzdem entschied ich mich dafür, die Augen weiterhin auf meine Hände gerichtet zu halten, da ich seinen traurigen Blick, den er in letzter Zeit viel zu oft aufsetzte, nicht verkraftet hätte.

»So lange, bis die Hölle zufriert.«

Ich wollte ihm nicht wehtun. Wahrscheinlich, weil ich selbst zur Genüge erfahren hatte, wie sehr es schmerzen konnte, von einem Menschen verletzt zu werden, den man liebte.

Du musst sie endlich vergessen, Andrews.

Doch manchmal hatten wir einfach keine Wahl. Manchmal mussten wir den Schmerz, der in uns tobte, einfach rauslassen. Egal, was wir damit bei anderen anrichten konnten. Also feuerte ich weiter und verpasste damit meinem eigenen Vater einen Stich ins Herz.

»Aber machen wir uns nichts vor. Da sich der Klimawandel eher Richtung Kernschmelze statt Gefrierpunkt entwickelt, sieht es für uns beide schwarz aus.«

Schau ihn nicht an. Schau ihn jetzt auf keinen Fall an.

»Taylor …«, schon allein am Klang seiner Stimme erkannte ich, wie sehr er mit sich rang. Das darauffolgende Schluckgeräusch war unüberhörbar und sorgte dafür, dass ich für einen Augenblick den Atem anhielt. Kurz darauf spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Sanft und vorsichtig. Als wäre er sich selbst nicht sicher, ob er das tun sollte. »Ich wollte euch nie verletzen. Weder dich noch deine Mutter.«

Mein Herz zog sich zusammen. Auf so eine unangenehme, intensive Weise, dass ich am liebsten laut aufgeschrien hätte. Ich wollte das nicht. Ich wollte keines dieser Worte hören, die er mir nur sagte, um das zu mindern, was er uns angetan hatte. Dabei vergaß er jedoch eine äußerst wichtige Tatsache: Den Taylor, der alles für ein stolzes Schulterklopfen seines Vaters getan hätte, gab es nicht mehr. Was auch der Grund war, wieso ich mich seiner Berührung so schnell entzog, als hätte er mir einen Stromschlag verpasst.

»Zu spät.«

Damit machte ich mich wieder an die Arbeit und ignorierte meinen Vater so lange, bis er irgendwann aus der Werkstatt verschwand. Erst dann konnte ich wieder richtig atmen.

Wie ich schon sagte, ein absoluter Scheißtag eben.

Kapitel drei

Kyla

Ich war noch keine zehn Minuten unterwegs gewesen, als ich vor dem großen Schild des Vallywise Health Center stehen blieb. Das Gelände der Klinik, auf dem ein wunderschöner Park angelegt worden war, hatte ich bereits aus dem viel zu kleinen Fenster meines Zimmers erblicken können. Was mir noch einmal mehr bewusst machte, dass ich die letzten sechs Monate zwar mitten in der Stadt gelebt hatte, mir jedoch die stinknormalen Dinge des Lebens verwehrt geblieben waren. Jetzt mit meinen eigenen Schuhen auf dem grasgrünen Rasen zu stehen, löste ein seltsames Glücksgefühl aus. Der alltägliche Stadtlärm übertönte jegliches Vogelgezwitscher, dennoch konnte ich einige von ihnen auf den Bäumen um mich herum entdecken. Ohne darüber nachzudenken, schlüpfte ich unbeholfen aus meinen Sneakern, streifte die Socken von den Füßen und stopfte sie geradewegs in das Schuhinnere. Die kühlen Spitzen der Grashalme kitzelten bereits unter meinen Fersen, als ich meine Schuhe achtlos zur Seite warf. Innerer Frieden. Genau das empfand ich für wenige Augenblicke, in denen ich einfach nur da stand und meine Freiheit genoss.

Bis sie mich urplötzlich wieder einholten. So vollkommen unvorbereitet und gnadenlos.

Meine Ängste.

Die tiefsten, furchteinflößendsten Ängste, die dafür sorgten, dass sich nicht nur mein Magen, sondern auch mein kleines Herz zusammenzog.

Du hast kein Zuhause mehr, Kyla.

Es gibt niemanden, der dir helfen kann, Kyla.

Du bist ganz alleine auf dieser Welt, Kyla.

Was hast du jetzt vor, Kyla?

»Was hast du jetzt vor?«, murmelte ich mit gebeugtem Kopf zu mir selbst, ehe ich aus dem Augenwinkel einen Mann erkannte, der auffällig gehetzt über den kleinen Weg lief, weshalb der To-go-Becher in seiner Hand überschwappte. Das Handy hatte er so konzentriert an das rechte Ohr gepresst, dass er meine auf dem Boden liegenden Schuhe gar nicht wirklich wahrnahm.

»Vorsicht!«, rief ich noch und versuchte schnell nach vorne zu hechten, um die Stolperfalle aus dem Weg zu räumen, doch es war zu spät. Er übersah nicht nur die Schuhe, sondern auch mich. Was dazu führte, dass ich Sekunden später eine warme Flüssigkeit auf meinem Oberteil und einen leichten Stoß gegen meine Schulter spürte.

»Verdammt«, fluchten wir beide wie aus einem Mund. Einen Moment lang starrten wir uns entgeistert an. Ich, mit Kaffee beflecktem Hoodie und meinen Schuhen in der Hand. Er, mit erschrockenem Gesichtsausdruck, die Jeans und sein kariertes Hemd von oben bis unten mit Öl verschmiert. Dieser Anblick brachte mich beinahe zum Schmunzeln. Offensichtlich hatte er auch schon mal bessere Tage erlebt. Willkommen im Club. Nur kurz darauf löste er sich aus seiner Schockstarre und schüttelte aufgelöst den Kopf. »Es tut mir schrecklich leid, ich habe nicht auf den Weg geschaut, ich –« , er unterbrach sich selbst, um einen Blick auf seine Armbanduhr zu erhaschen. Dann vernahm ich ein so verzweifeltes Seufzen, dass ich unwillkürlich Mitleid empfand. Sein Tag musste bisher wirklich furchtbar gewesen sein. Den Blick auf die Kaffeeflecken auf meinem Oberteil gerichtet, fuhr er fort. »Es tut mir wirklich schrecklich leid. Ich würde Ihnen so gerne helfen.« Er sah zur Klinik hinter uns. »Aber ich bin schon ziemlich spät dran und ich …« Noch ein Seufzen. »Ich darf den Termin wirklich nicht verpassen.«

»Schon okay«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen, obwohl überhaupt nichts okay war. Weder bei mir noch bei ihm – offensichtlich.

Denselben Gedanken musste der grauhaarige Kerl mir gegenüber auch gehabt haben, denn er runzelte die Stirn und musterte mich nachdenklich.

»Ihr Termin«, erinnerte ich ihn mit einem aufmunternden Grinsen, ehe er seine Augen von mir losriss und weiter in Richtung Haupteingang eilte.

Geknickt ließ ich mich auf die nächste Parkbank fallen und schloss für einen Moment die Augen. Das war also der Start in mein neues Leben? Ein fleckiger Pullover und kein Dach über dem Kopf? Aber was genau hatte ich denn erwartet? Natürlich musste ich mir erst einmal meinen neuen Platz in der Gesellschaft erkämpfen. Von heute an war ich eine Ex-Kriminelle. Der Weg würde noch so viel härter werden als dieser dämliche Zusammenstoß mit dem freundlichen Mann. Es vergingen einige Minuten, in denen ich einfach vor mich hin döste. Die nächtlichen Panikattacken in der kleinen Zelle hatten mir sämtliche Energie geraubt, die sich mein Körper nun zurückholen wollte. Und das tat er, indem er mich tief schlafend auf einer Parkbank liegen ließ. Zumindest so lange, bis mich ein Räuspern weckte. Verwirrt und vollkommen durch den Wind blinzelte ich gegen die Sonne und erkannte denselben Kerl, von dem ich mich erst verabschiedet hatte. Was mich zu einer interessanten Frage brachte: Wie lange hatte ich hier gelegen?

»Der Fleck sieht wirklich furchtbar aus«, kommentierte er mein Outfit und setzte ein gequältes Lächeln auf. »Entschuldige noch mal.« Als Friedensgeschenk hielt er mir einen frischen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit hin. Wortlos winkte ich ab und nahm den Kaffee dankend entgegen. Vorsichtig spitzte ich die Lippen, um kleine Löcher in den Milchschaum zu pusten. »Waren Sie noch rechtzeitig?«

Der Mann setzte sich neben mich, nickte langsam und schwenkte die Flüssigkeit in seinem Becher hin und her. »Ja. Zumindest heute war ich das.«

Stirnrunzelnd musterte ich ihn, kommentierte seine Worte jedoch nicht.

»Was ist mit dir? Hattest du auch einen Termin in der Klinik?«

Schnell schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich habe eine Zeit lang ganz in der Nähe gelebt.«

Der ältere Mann beobachtete mich skeptisch. »Eine Zeit lang? Und wo lebst du jetzt?«

»Bei meiner Tante«, log ich wieder und keine Ahnung, wieso, aber irgendwie hatte ich den Eindruck, dass er es ganz genau wusste. Lange schwiegen wir und konzentrierten uns auf das Getränk in unseren Händen. Bis er schließlich seufzend auf die Oberschenkel klopfte. »Dann werde ich mal wieder nach Hause fahren.« Er stand auf, doch als ich nichts erwiderte, fragte er: »Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«

Ein, zwei Sekunden dachte ich über seine Frage nach. Ich kannte diesen Kerl nicht, noch dazu war mir von klein auf eingebläut worden, dass ich zu niemandem ins Auto steigen sollte. Vor allem nicht in der Gegend, in der wir aufgewachsen waren. Aber was sollte ich sonst tun? So ganz ohne Geld und ohne jeglichen Plan? Vielleicht konnte er mich an einen Ort bringen, an dem ich mich zumindest nicht mehr so allein fühlen würde. Wo ich einen klaren Kopf bekommen und überlegen konnte, was ich als Nächstes vorhatte.

»Es ist vielleicht eine etwas seltsame Frage«, begann ich und erhob mich ebenfalls. »Aber wäre es möglich, dass Sie mich am Friedhof absetzen?«

Sein Blick verriet mir, dass er wahnsinnig gerne den Grund erfahren hätte, doch er fragte nicht nach. Stattdessen winkte er mich hinter sich her und so gingen wir den kleinen Weg zum Parkplatz entlang. Gerade als ich die Beifahrertür seines alten Pick-ups öffnen wollte, hielt ich inne.

Der grauhaarige Mann, der schon längst im Fahrersitz Platz genommen hatte, lies die Fensterscheibe auf meiner Seite nach unten gleiten. »Was ist? Gefällt dir der Wagen nicht? Er ist nicht mehr der Jüngste, aber er hat mich noch nie im Stich gelassen.«

Ich schmunzelte, doch es hielt nicht lange an. Die Sorge, dass er mich gleich ganz anders behandeln würde, ließ meinen Puls in schwindelerregende Höhe steigen. »Bevor Sie mich mitnehmen, sollten Sie etwas wissen«, murmelte ich kaum hörbar. Der alte Kerl zog erwartungsvoll die Brauen nach oben. »Und zwar?«

»Ich komme von da drüben«, gab ich zu und zeigte mit zitternder Hand zu dem hohen Gebäude des Glendale State Prison. »Heute ist mein erster Tag in Freiheit seit sechs Monaten. Ich dachte nur …«, stammelte ich, weil mich das Gefühl überkam, dass ich mich irgendwie erklären musste. »Sie sollten es wissen, wenn Sie eine Ex-Kriminelle mit sich herumfahren.«

Stille. Drei Sekunden ohrenbetäubende Stille. Dann räusperte er sich. »Hast du einen alten Mann in seinem Pick-up überfallen?«

»Was?«, rief ich entgeistert und fühlte mich augenblicklich gekränkt. »Nein! So etwas würde ich niemals tun!«

Schulterzuckend startete er den Motor und grinste mich an. »Na, dann muss ich mir ja keine Sorgen machen.«

Erleichterung keimte in mir auf, und als ich in den alten Wagen kletterte, empfand ich zum ersten Mal in den letzten sechs Monaten so etwas wie Hoffnung. Doch auch dieser Hoffnungsschimmer wurde sofort im Keim erstickt, als mir klar wurde, dass ich auf Mikes Platz saß. Mike, der mich von der Beifahrerseite aus keinen Moment aus den Augen gelassen hatte. Mike, dessen kalte, leblose Hand in meiner lag, bis die Sanitäter gewaltsam versuchten, mich aus dem Auto zu ziehen. Doch ich konnte ihn einfach nicht loslassen. Weil ich ganz genau wusste, dass ich ihn danach nie wieder berühren würde.

»Du kommst zurecht?«, holte mich auf einmal die Stimme des Mannes aus meinen Erinnerungen. Erst da registrierte ich, dass wir bereits vor dem Friedhof standen. Unauffällig wischte ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel und nickte.

»Na klar, meine Tante wohnt hier um die Ecke. In der Pearmont Street.« Mit diesen Worten öffnete ich die Wagentür. Kurz bevor ich sie wieder schließen wollte, sah ich noch ein letztes Mal in das freundliche Gesicht meines heutigen Retters. »Danke …«

»Paul«, ergänzte er mit einem Grinsen.

»Kyla«, gab ich genauso grinsend zurück und schloss die Tür.

Mit pochendem Herzen setzte ich einen Fuß vor den anderen. Friedhöfe hatten für mich nichts Friedliches. Sie erinnerten mich nur daran, was wir Menschen tagtäglich verloren. Was ich verloren hatte. Dass das Leben viel zu schnell vorbei sein konnte. So richtig bewusst wurde mir das aber erst, als ich direkt davorstand. Das Grab meines Bruders, das abgelegen, direkt neben einem wildwuchernden Gestrüpp seinen Platz gefunden hatte. Tief ein- und ausatmend stand ich da, die Augen auf den eingravierten Namen gerichtet, und wartete darauf, dass ich mich endlich wieder sicher und geborgen fühlte. Dass mir bewusst wurde, was ich von nun an mit meinem Leben anfangen sollte. Doch es passierte nichts. Da war keine Sicherheit. Auch keine Geborgenheit. Hier war nichts, das mir irgendwie Halt gab. Weil das nur mein Bruder konnte. Mein Bruder, der nicht mehr hier war. Meine Kehle schnürte sich augenblicklich zu und mit ihr kam meine Verzweiflung. Die Erkenntnis, dass ich vollkommen allein war, traf mich so hart, dass ich kurz vor einer Panikattacke stand. Ruckartig drehte ich mich um, blieb dabei jedoch mit der Tasche am Gestrüpp hängen. Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, riss ich mich los und merkte zu spät, dass ich den Trageriemen zerrissen hatte. Nur noch ein dünner Streifen Stoff sorgte dafür, dass sich nicht sofort alles auf dem Boden verstreute. Krampfhaft krallte ich mich am Gurt der Tasche fest und betete, dass er noch eine Weile halten würde. Wenn ich jetzt auch noch meine einzigen Habseligkeiten verlieren würde, hatte ich überhaupt nichts mehr.

Als ich auf dem kleinen Platz vor dem Jesuskreuz stehen blieb, wurde mir klar, dass meine Stoßgebete nicht erhört worden waren, denn langsam, aber sicher löste sich auch der letzte übrig gebliebene Faden auf und mein gesamter Besitz verteilte sich auf dem Kies. Laut knurrend legte ich den Kopf in den Nacken, sodass meine Haare durch die Luft flogen und mir teilweise in den Mundwinkeln hängen blieben. Genervt strich ich mir sämtliche Strähnen aus dem Gesicht und funkelte den am Kreuz hängenden Jesus finster an, der, wenn er gekonnt hätte, wahrscheinlich unschuldig die Arme in die Höhe gehalten hätte. Ich war todtraurig, wütend und unglaublich verzweifelt. Wahrscheinlich war das der Grund, der mich dazu brachte, den sowieso schon Leidenden anzufauchen. »Soll das ein verdammter Scherz sein? Was habe ich dir getan?«

Mir war klar, dass er mit den Nägeln in seinen Handflächen wahrscheinlich schon genug Probleme hatte, aber nach allem, was ich durchgemacht hatte, hätte er bei seinem Daddy ruhig ein gutes Wort für mich einlegen können. Also kassierte er noch einen wütenden Spruch. »Willst du mir noch eins auswischen? Dann mach es gleich. Zieh es durch. Mir reicht es nämlich so langsam!«

»Er wird dir wahrscheinlich nicht antworten«, unterbrach mich plötzlich eine fremde Stimme, die zu einem dunkelhaarigen Kerl gehörte, der, die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben, auf mich zugeschlendert kam. Bei mir angekommen, bückte er sich und half mir, meine Sachen aufzulesen und sie zurück in die Tasche zu stecken.

»Das weiß ich selbst. Aber irgendjemand sollte es ihm trotzdem mal gesagt haben«, brummte ich immer noch ungehalten und er unterdrückte ein Schmunzeln. Eins musste man ihm lassen: Ich hätte keiner Frau geholfen, die ein Jesuskreuz anschrie. Dieser Mann hatte wohl vor gar nichts Angst.

Stumm sammelten wir alles auf und stellten meine kaputte Tasche auf der Parkbank neben dem Kreuz ab.

»Danke.« Es klang gezwungen, aber ich hoffte, dass es ihm genügte. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn er sich einfach umgedreht hätte und weitergelaufen wäre. Wie unschwer zu erkennen war, hatte ich mich gerade nur bedingt im Griff. Stattdessen blieb er stehen und beobachtete, wie ich verzweifelt versuchte, den Tragegurt wieder an der Tasche zu befestigen. Und keine Ahnung wie, aber ich schaffte es tatsächlich.

»Die wird wohl nicht mehr lange halten«, warf er ein und musterte den vollkommen abgewetzten Stoff. Ich wusste, was er bei diesem Anblick dachte. Kein normales Mädchen würde freiwillig so ein hässliches Ding mit sich herumtragen. Aber mir blieb keine Wahl.

Ohne seinen Blick zu kommentieren, zuckte ich mit den Schultern. »Sie muss. Mehr habe ich nicht.«

Der Kerl runzelte die Stirn, überging meinen Kommentar jedoch. »Was machst du hier?«

»Ich besuche jemanden.« Drei Worte, die normaler nicht sein könnten. Wenn wir nicht gerade auf einem Friedhof stehen würden.

»Und wenn du schon mal hier bist, dachtest du, du legst dich nebenbei gleich noch mit Gott an?«

Ich setzte mich neben meine Tasche auf die Bank und zuckte noch einmal mit den Schultern. »Er hat sich etwas genommen, was zu mir gehört.«

Mit gewissem Sicherheitsabstand nahm er ebenfalls Platz und wartete darauf, dass ich noch etwas hinzufügte. Und, wieso auch immer, tat ich es. »Na ja, was soll ich sagen. Der Typ hat es einfach auf mich abgesehen.«

Der Ausdruck in seinen Augen bewies mir, dass er sich nun endgültig Sorgen machte. Und das, obwohl wir uns nicht einmal kannten. Wieso interessierte ihn das alles überhaupt? Wieso traf ich heute gleich zwei Menschen, die sich um mich sorgten? Wo war diese Art von Menschen mein ganzes Leben lang gewesen? Auch wenn ich gerne all die Antworten auf meine Fragen gehabt hätte, entschied ich mich für den sicheren Weg und hielt erst einmal die Klappe. Ich musste sowieso nicht gerade den rationalsten Eindruck auf ihn machen. Irgendwann stieß er mit seiner Schulter aufmunternd gegen meine. »Du bist doch viel zu jung, um das Leben so zu hassen.«

Einen Moment schwieg ich, den Blick auf meine Füße gerichtet. »Ich hasse es nicht«, flüsterte ich dann kaum hörbar und es war die Wahrheit. »Nur bin ich wahrscheinlich schon zu oft gefallen, um es wirklich lieben zu können.«

»Du sprichst mit jemandem, der Profi im Fallen war«, erklärte er mir, als würde ich ihm das auch nur ansatzweise abkaufen. Seinem gepflegten Aussehen nach zu urteilen, dürfte er in seinen dunklen Jeans und teuer wirkenden Sportschuhen keine Ahnung von einem Leben wie meinem haben.

Weswegen ich ein verächtliches Schnauben nicht unterdrücken konnte. »Wohl kaum. Jemand wie du hat keine Probleme.«

Das brachte wiederum ihn zum Schnauben. »Hast du eine Ahnung. Aber ich werde dir einen Tipp geben. Von Fallprofi zu …«, er tat so, als müsste er nachdenken. »Na ja … zu mitleiderregendem Möchtegern-Fallprofi.«

Dieser Kommentar brachte mich dazu, übertrieben die Augen zu verdrehen. Doch dann wurde er schnell wieder ernst, so als ob es ihm wirklich wichtig war, dass ich mir seine folgenden Worte zu Herzen nahm. »Nach jedem Fall kann man auch wieder aufstehen und weitermachen.«

Meine Schultern sackten ergeben nach unten. Hatte ich das nicht schon längst? Mich selbst aufgegeben? Obwohl ich meinem Bruder versprochen hatte, dass heute mein neues Leben beginnen würde?

»Nicht immer«, gab ich zurück. »Zumindest nicht allein.«

»Wen hast du verloren?«, fragte er nun ohne jegliche Umschweife, was mich zum Schlucken brachte. Nervös knetete ich die Hände und versuchte, meine Tränen zurückzuhalten. Ich hatte es noch nie laut ausgesprochen. Um ehrlich zu sein, hatte ich bisher mit niemandem darüber geredet. Wieso also mit ihm? Vielleicht, gerade weil er ein Unbekannter war? Jemand, den ich sowieso nie wiedersehen würde?

Schließlich überwand ich mich und wisperte voller Schmerz: Meinen Bruder … meinen besten Freund … Such dir was aus.«

Eine ganze Weile blieb es still zwischen uns und mit jeder Sekunde, die verstrich, überkam mich immer mehr das Gefühl, dass er ganz genau wusste, wovon ich sprach. Wir waren auf einem Friedhof. Er war sicher nicht hier, um mit einer Verrückten über ihr verkorkstes Leben zu plaudern.

»Und du?«, wollte ich also wissen, was ihn überhaupt nicht zu überraschen schien.

»Ich auch«, gab er mir meine Antwort und ich nickte verständnisvoll, sagte jedoch nichts. Lange blieben wir genau so sitzen und starrten ins Leere. Es war eine stumme Anteilnahme an dem Verlust des anderen. Ich hätte so gerne gewusst, was passiert war. Ob er auch unter täglichen Schuldgefühlen litt. Aber ich konnte ihn nicht fragen. Weil es bedeuten würde, dass ich auch meine Geschichte erzählen müsste. Dafür war ich absolut nicht bereit. »Ich sollte gehen.«

Mein plötzlicher Themenwechsel schien ihn zu verwirren, doch er erhob sich mit mir. »Kann ich dich irgendwo hinfahren?«

Wieso waren die Leute heute so verdammt freundlich?

Doch ich schüttelte ganz langsam den Kopf und murmelte: »Ich wüsste nicht, wohin. Aber danke.«

Er nickte und ich wusste, er würde nicht versuchen, mich zu überreden. Wofür ich ihm sehr dankbar war.

»Ich bin übrigens Connor.«

Ein winziges Lächeln stahl sich auf meinen Mund, während ich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr schob.

»Kyla.« Und damit wandte ich mich ab und setzte einen Fuß vor den anderen. Wohin mein Weg mich führen würde? Ich hatte keinen blassen Schimmer, doch ich hoffte, dass er bergauf ging. »Hey, Kyla«, vernahm ich noch einmal seine Stimme, sodass ich abrupt stehen blieb und mich zu ihm umdrehte. »Denk daran!«

Ich runzelte die Stirn. »Woran?«

»Daran, wieder aufzustehen.«

Ohne es verhindern zu können, stiegen mir bei seinen Worten riesengroße Tränen in die Augen, die dafür sorgten, dass meine Sicht Stück für Stück verschwamm. Ich wollte nicht wieder weinen, vor allem nicht vor ihm. Deswegen wandte ich mich zügig von ihm ab und eilte zum kleinen Eingangstor des Friedhofs. Am ganzen Körper zitternd stürmte ich über den Parkplatz, ohne zu wissen, wo ich hingehen sollte.

Denk daran, wieder aufzustehen. Ich musste es wenigstens versuchen. Für Mike.

Mein Atem stockte, als ich plötzlich stehen blieb. Direkt vor mir, in einer Parklücke stand der alte Pick-up des ölverschmierten Kerls von der Klinik. Paul. Über die heruntergelassene Scheibe hinweg musterte er mich nachdenklich.

»Sie stehen ja immer noch hier«, murmelte ich und wischte mir die letzten Tränen aus den Augenwinkeln.

»Ich stehe immer noch hier«, bestätigte er meine Erkenntnis.

»Wieso?«

»Es gibt keine Pearmont Street«, stellte er fest, ohne zu fragen.

Stumm schüttelte ich den Kopf.

»Es gibt auch keine Tante«, setzte er fort. Auch das war keine Frage.

Wieder schüttelte ich den Kopf. Dann überkam mich ein schweres Seufzen. »Nein, gibt es nicht.« Meine Unterlippe bebte, während ich meinen Satz beendete. »Es gab nur einen Bruder.«