Findelmädchen - Lilly Bernstein - E-Book
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Findelmädchen E-Book

Lilly Bernstein

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Beschreibung

Der historische Bestsellerroman der erfolgreichen Autorin Lilly Bernstein entführt in die Kölner Nachkriegszeit: rührend, fesselnd und beeindruckend! Die Presse über Trümmermädchen. Annas Traum vom Glück: »Bedrückend, eindringlich und hoch emotional.« Cathrin Brackmann, WDR 4 »Gut recherchiert und voller Herzenswärme.« Susanne Schramm, Kölnische Rundschau Das Wirtschaftswunder und die Nachwehen des Krieges: Eine junge Frau erkämpft sich ihren Weg Köln 1955: Die 15-jährige Helga und ihr Bruder Jürgen leben endlich wieder bei ihrem aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Vater. Von der Mutter fehlt seit Kriegsende jede Spur. Der Vater baut sich mit einem Büdchen eine neue Existenz auf, Jürgen beginnt bei Ford. Helga aber, die sich nichts sehnlicher wünscht, als aufs Gymnasium zu gehen, soll sich in der Haushaltungsschule auf ein Leben als Ehefrau vorbereiten. Während eines Praktikums im Waisenhaus muss sie entsetzt mitansehen, wie schlecht die Kinder dort behandelt werden. Schützend stellt sie sich vor ein sogenanntes »Besatzerkind«. Und sie verliebt sich. Doch die Schatten des Krieges bedrohen alles, was sie sich vom Leben erhofft hat … *** Für alle Kölner und Fans von historischen Romanen! Dieses Buch werden Sie nicht aus der Hand legen können! ***

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Findelmädchen

LILLY BERNSTEIN ist das Pseudonym der Kölner Journalistin und Autorin Lioba Werrelmann, deren Debütroman Hinterhaus 2020 mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde. Ihr letzter Roman, Trümmermädchen, war ein großer Presse- und Publikumserfolg. Mit Findelmädchen erzählt sie die Geschichte der Trümmerkinder weiter.Von Lilly Bernstein ist in unserem Hause außerdem erschienenTrümmermädchen. Annas Traum vom Glück

Lilly Bernstein

Findelmädchen

Aufbruch ins Glück

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage August 2022© 2022 by Lilly Bernstein© 2022 dieser Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbHUmschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © AKG Images, BBWA Holzmann-Bildarchiv / HDB (Stadt); www.buerosued.de (Himmel, Steg, Brücke, Kopf, Steine, Rock)Autorenfoto: © Susanne EschE-Book-Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-8437-2730-3

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

TEIL 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

TEIL 2

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

TEIL 3

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

Anhang

DANK

Social Media

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Cover

Titelseite

Inhalt

TEIL 1

TEIL 1

Dezember 1954 – Februar 1955

1. Kapitel

»Wunderbar«, murmelte Tante Claire und strich ein letztes Mal mit den Zinken einer Gabel durch die Schokoladencreme, die den Kuchen rundum bedeckte. »Schau, ma chérie, das ergibt ein hübsches Muster. Jetzt sieht unsere Biskuit­rolle aus, als sei sie der Ast eines Baumes. Meinst du nicht auch?«

»Ein Bûche de Noël«, flüsterte Helga, »ein Baumstammweihnachtskuchen.«

Der heutige Heilige Abend war der achte, den sie in Frankreich verbrachte, und immer noch verschlug es ihr beim Anblick der Köstlichkeiten, die Tante Claire zu diesem Anlass zauberte, den Atem.

Seit dem frühen Morgen standen sie in der großen Küche im Kellergewölbe des alten Herrenhauses und bereiteten das Festmahl für den Abend vor. Linette, das Küchenmädchen, hatte wie alle anderen Bediensteten an diesem Tag frei. Sie würden erst am Nachmittag wiederkommen, zum gemeinsamen Kirchgang. Helga genoss diese stillen Stunden mit Tante Claire über alle Maßen. Niemand, der sie hinter vorgehaltener Hand boche schimpfte, dickschädelige Deutsche. Und Tante Claire ganz für sich allein.

Mit vor Eifer geröteten Wangen flitzte Helga zwischen dem bullernden Herd und der Speisekammer hin und her und brachte alles herbei, was Tante Claire benötigte. Sie fachte das Feuer an und spülte die kupfernen Töpfe und Schüsseln, bis sie blitzblank glänzten. Sie probierte die Buttercreme und die Maronenfüllung für den Braten, durfte ein wenig von den Crevetten naschen und sogar eine kleine Auster. Und obwohl Helga dafür eigentlich schon zu groß war, strich Tante Claire ihr immer wieder zärtlich über die blonden Locken und lobte sie für ihre Hilfe. Was Tante Claire jedoch niemals tat, war, ihr einen Rührlöffel oder gar ein Messer in die Hand zu geben. Helga hatte nämlich das, was die Tante deux mains gauches nannte, zwei linke Hände. Jedes Stückchen Fleisch, das Helga in eine Pfanne legte, war im Nu verbrannt, jeder Kuchen, den sie aus dem Rohr zog, fiel in sich zusammen, jeder Brei entwickelte sich unter ihrem Rühren zu einem festen Klumpen.

Helga hasste sich für ihre Ungeschicklichkeit, gerade heute. Die Tante schien ihr noch blasser als in den letzten Tagen, und hatte sie nicht auch Gewicht verloren?

»Wenn ich doch nur kochen könnte«, jammerte sie leise. »Ich wäre dir eine viel bessere Hilfe.«

»Das ist doch nicht schlimm, meine süße kleine Elgette«, entgegnete Tante Claire. »Du hast einfach keine Geduld, ein feines Essen zuzubereiten. Bei dir muss es immer schnell gehen. Ich denke, es liegt daran, dass ihr als Kinder gehungert habt.« Behutsam begann sie, ein paar Pilze aus Marzipan zu formen und sie rund um den Bûche de Noël zu verteilen, damit der Kuchen noch ein wenig mehr wie ein Baumstamm aussah. »Im neuen Jahr gehst du aufs lycée, und wenn du damit fertig bist, wirst du eine berühmte Schriftstellerin. Dann brauchst du nicht zu kochen.«

Helga senkte den Kopf und merkte, wie ihre Ohren heiß wurden. Sie tat nichts lieber, als zu lesen und zu schreiben. Ganze Nächte verbrachte sie damit, sich Geschichten auszudenken. Sehnsüchtig wartete sie auf den Sommer, wenn sie endlich aufs Gymnasium durfte. Ganz bei sich hoffte sie sogar darauf, studieren zu dürfen, selbstverständlich Literatur. Aber nur Tante Claire wusste von Helgas großem Traum, Schriftstellerin zu werden. Sie hatte ihn ihr von den Augen abgelesen. Denn niemals wäre es Helga in den Sinn gekommen, diesen Wunsch laut zu äußern. Wer würde schon lesen wollen, was sie schrieb?

Polternde Schritte auf der Treppe rissen sie aus ihren Gedanken. Die Küchentür wurde mit einem so großen Schwung aufgerissen, dass sich ein paar lose Blätter aus dem aufgeschlagenen Kochbuch wie Papierflieger erhoben und langsam zu Boden segelten.

»Was zum Teufel –?«, entfuhr es Tante Claire, doch sie verstummte sofort.

Denn es war Onkel Albert, der in die Küche stürzte. Er war leichenblass und schien vollkommen außer sich. In der Hand hielt er ein aufgerissenes Briefkuvert.

»Helga!«, rief er. »Wo ist dein Bruder? Das Christkind hat euch geschrieben!« Dann ließ er sich auf den Schemel fallen, auf dem Linette immer butterte, und schluchzte laut auf.

Um Himmels willen, was war denn bloß geschehen? Onkel Alberts Anblick traf Helga mitten ins Herz. Und als Tante Claire sie nun anwies, Jürgen zu holen – »lauf, ma petite, meine Kleine, lauf und hol deinen Bruder!« –, da riss sie mit einem Ruck die Hintertür auf und stürmte los.

Auf den Stufen, die hinauf in den Hof führten, schlug ihr ein strenger Wind entgegen, der sich in ihren Zöpfen verfing und an ihrer Schürze zerrte. Helga sog scharf die Luft ein. Sie fürchtete die Kälte. Am liebsten wäre sie gleich wieder zurück in die warme Küche gelaufen. Doch von drinnen hörte sie nun Tante Claire einen erstickten Schrei ausstoßen. Sie musste Jürgen finden, auf der Stelle! Und so schlang sie die Arme um sich selbst und trat bibbernd in den Hof hinaus.

Das Gut schien wie jeden Winter in einen tiefen Schlaf gefallen. Die Lese war eingebracht, Wagenladungen voller Trauben gekeltert. Nun gärte der Wein in großen Fässern in unterirdischen Gängen. Eine feine Eisschicht hatte sich wie eine schimmernde Decke auf das Kopfsteinpflaster gelegt, auf das Efeu, das sich hoch hinauf bis unters Dach schlängelte, auf die steinerne Bank unter der Platane. Es war beinahe vollkommen still. Nur aus der Scheune vernahm Helga ein Hämmern. Sie raffte den weiten Rock und eilte quer über den Hof darauf zu.

Als sie das große Tor aufschob, bot sich ihr ein vertrautes Bild. Jürgen lag wie so häufig unter dem Traktor, nur seine langen Beine ragten darunter hervor. Sie steckten wie immer in dreckverkrusteten Stiefeln, auch seine Arbeitshose war voller Flecken.

»Helgalein!«, rief er sogleich, er musste ihr Kommen bemerkt haben. »Kannst du mir bitte den Zehnerschlüssel anreichen? Dieses alte Schätzchen leistet einen solchen Widerstand, aber ich sag’s dir, ich habe es gleich …«

»Vergiss den Traktor, du musst sofort mitkommen!«

»Aber –«

»Es ist etwas passiert. Komm, schnell!«

»Es ist etwas passiert?« Im Nu war Jürgen unter dem Traktor hervorgekrochen und strich sich mit einem Lappen die Ölschmiere aus dem Gesicht. In der eiskalten Luft konnte Helga seinen Atem sehen, und ihr war, als spiegele sich ihr Erschrecken in seinem Antlitz. Sie hatten die gleichen grünen Augen, die gleichen blonden Locken, sie waren sogar fast gleich groß, über eins siebzig. Und es gab kein Gefühl, das sie nicht miteinander teilten. Wortlos wischte er sich die Hände an der Hose ab und folgte ihr ins Haupthaus.

Helga hatte die Küche nur für wenige Minuten verlassen, und doch hatte sich in diesem kurzen Moment alles verändert. Der Duft nach Kuchen, Braten und frisch gekochtem Maronenpüree war verflogen, das Feuer im Herd nahezu erloschen. Etwas vollkommen Neues lag in der Luft. Als sei ein kühler Windstoß durch den Raum gefahren.

Nun saß Tante Claire auf dem niedrigen Schemel, nun war sie es, die den aufgerissenen Brief in den Händen hielt. Immer wieder strich sie darüber, als wolle sie ihn glätten. Onkel Albert stand neben ihr, eine Hand auf ihrer Schulter, die andere in einer hilflosen Geste von sich gestreckt. Als Helga und Jürgen die Küche betraten, schreckten sie auf, als hätten sie nicht so bald mit ihnen gerechnet.

»Kinder«, brachte Onkel Albert heraus, dann versagte ihm die Stimme.

Helga nahm Jürgens Hand und spürte, wie sie von Kopf bis Fuß zu zittern begann. Was hatte die beiden so erschüttert? Was stand in dem Brief? Sie entdeckte ein ihr unbekanntes Emblem auf dem Umschlag und glaubte, ihr Herz müsse stillstehen. War etwas mit Horst, mit dem sie hier im Haus gemeinsam aufgewachsen waren? Er war doch hoffentlich wohlauf?

»Der … der Brief«, stotterte sie, »ist er von der Fremdenlegion?«

»Aber nein!« Tante Claire schrak auf. »Mach dir keine Sorgen, ma petite. Horst hat vorgestern aus Algerien geschrieben, wir wollten euch seine Nachricht heute Abend vorlesen. Es geht ihm gut. Nein« – sie fuhr sich durch das dunkle Haar, ihre kunstvolle Hochsteckfrisur hatte sich mit einem Mal halb gelöst – »nein, das ist es nicht.«

Ein Seufzer der Erleichterung entwich Helga. Sie war immer noch wütend auf Horst, weil er sich die Fremdenlegion nicht hatte ausreden lassen. Was musste er in Algerien in einem Krieg kämpfen, mit dem sie nichts zu tun hatten? Wenn ihm etwas geschähe, würde sie nie mehr froh werden. Was aber stand dann in dem Brief, Himmel, was konnte es sein? Tante Claire war in der vergangenen Woche in der Stadt beim Arzt gewesen. Sie hatte kein Aufheben darum gemacht, aber was, wenn sie ernstlich krank wäre?

»Bitte«, flehte Helga, »nun sagt schon, was ist das für ein Brief?«

Onkel und Tante sahen sich lange an. Und dann, endlich, begann Onkel Albert zu sprechen. So leise, dass Helga die Luft anhielt, um nur ja kein Wort zu verpassen.

»Der Brief«, setzte er an und räusperte sich, »kommt aus Hamburg. Vom Kindersuchdienst des Deutschen Roten Kreuzes. Erinnert ihr euch – damals, als wir euch hierherholten? Ich gab euch ein Versprechen.«

Helga hielt immer noch die Luft an. Ihr Kopf war mit einem Mal vollkommen leer. Ein Versprechen? Was für ein Versprechen? Da vernahm sie neben sich Jürgens Stimme, fast noch leiser als die von Onkel Albert.

»Du versprachst uns, niemals aufzuhören, unsere leiblichen Eltern zu suchen.«

Was sagte Jürgen da? Helga schnellte zu ihm herum, doch der Bruder sah sie nicht an, er hing an Onkel Alberts Lippen. Ihr schien, als habe auch Jürgen aufgehört zu atmen.

»Ich habe mein Versprechen gehalten«, raunte Onkel Albert. Er sprach jetzt so leise, das Zischen des Feuers, das doch nur noch glomm, überdeckte beinahe seine Worte. »Seit mehr als sieben Jahren sind eure Bilder beim Kindersuchdienst hinterlegt. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet. Ich –«

Seine Stimme erstarb. Etwas raschelte. Tante Claire erhob sich von ihrem Schemel, reckte das Kinn und trat einen Schritt auf Helga und Jürgen zu. Sie lächelte, doch Helga sah die Tränen in ihren Augen.

»Es ist ein Weihnachtswunder«, flüsterte sie. »Euer Vater lebt. Er ist in Köln und erwartet euch.«

Helga war, als beginne die Küche sich zu drehen, schneller und immer schneller. Mit einem Mal tanzten die kupfernen Töpfe, und die Fliesen auf dem Boden wirbelten in einem wilden Strudel.

»Unser Vater?«, keuchte sie. »Ist das wahr? Wir haben einen Vater? Vielmehr – er lebt?«

Jürgen neben ihr stieß einen Schrei aus. Dann schlang er beide Arme um sie, drückte sie fest an sich und vergrub sein Kinn in ihrer Halsbeuge. Heiße Tränen rannen ihren Hals hinab, waren es ihre, waren es Jürgens? Vielleicht waren sie auch von Tante Claire, die die beiden nun ebenfalls fest umarmte. Aus der Ecke neben dem Ofen hörte sie Onkel Albert schluchzen.

Den Rest des Tages verbrachte Helga wie hinter einem Schleier. Sie lasen den Brief alle gemeinsam, ein ums andere Mal. Sie studierten den Briefkopf, die Unterschriften, sogar die deutschen Briefmarken. Es gab keinen Zweifel, der Brief war echt. Ihr Vater lebte, und er hatte sie gefunden.

Während sie einander in den Armen hielten, wanderten Helgas Gedanken zurück.

Sie wusste nichts über ihre frühe Kindheit. Womöglich, hatte Tante Claire gemutmaßt, war ihr etwas so Grauenhaftes widerfahren, dass ihr Gehirn wie eine Art Schutzfunktion jede Erinnerung daran gelöscht hatte. Jürgen ging es genauso. Ihrer beider Erinnerungen reichten nur zurück bis in die Zeit nach dem Krieg. Damals hatten sie mit anderen Kindern, die auch alle ohne Eltern und Verwandte waren, in einem Keller in der Kölner Ehrenstraße gehaust. Helga und Jürgen waren die Jüngsten. Ihre Anführerin war Hilde, ein junges, kühnes Mädchen. Horst, der nun im Algerienkrieg kämpfte, war damals Hildes rechte Hand gewesen. Zu ihrer Bande zählten außerdem Hans und Günter, beide ebenfalls noch halbe Kinder. In den letzten Kriegstagen hatte man sie zum Volkssturm in die Eifel geschickt. Hans verlor einen Arm, Günter ein Auge.

Ganz auf sich allein gestellt, froren und hungerten die Kinder. Im eisigen Winter 1946/47 verloren sie Hilde und schienen dem Tod geweiht. Da hielt an einem Januartag ein sehr ungewöhnlicher Wagen in der Ehrenstraße, mit ausländischem Kennzeichen und über und über mit Weintrauben bemalt. Heraus kletterten eine elegante Dame und ein Mann mit Augen voller Angst. Der Mann kam gerade aus der französischen Kriegsgefangenschaft, er und seine französische Geliebte suchten in dem Viertel, in dem er einst gewohnt hatte, den Sohn des Mannes. Und dieser Sohn war niemand anders als ihr Freund Günter.

Tante Claire und Onkel Albert hatten ein Kind gesucht und fünf gefunden. Und sie nahmen sie alle mit zu sich nach Frankreich. In jener Nacht steuerte Tante Claire den Lieferwagen mit stoischer Gelassenheit erst durch die britische und dann durch die französische Besatzungszone, vorbei an Posten und Grenzkontrollen. Die Kinder hockten auf der Ladefläche, unter dicken Decken verborgen. Keins besaß Papiere. Keins hatte noch Hoffnung gehabt, jemals seine Familie zu finden. Onkel Albert saß auf dem Beifahrersitz und drehte sich immer wieder zu ihnen um, schob voller Zärtlichkeit seine raue Hand unter die Decken und strich ihnen durch die verfilzten, vollkommen verlausten Haare. Sie waren alle abgemagert bis auf die Knochen, ihre Körper von Ekzemen übersät. Seit Jahren hatte niemand sie in den Arm genommen, gar gestreichelt. Onkel Albert aber streichelte ihre verschorften Gesichter. Und er weinte. Er weinte, bis sie zu Hause angekommen waren.

Seither hatte Helga ihn nie wieder weinen gesehen. Bis zum heutigen Tag.

»Ich gehe ins Dorf«, murmelte er nun, »zum Pfarrer. Ich muss mich mit ihm besprechen.«

Tante Claire griff zärtlich nach seinem Arm und begleitete ihn hinauf in die Halle, Jürgen und Helga blieben in der Küche zurück.

»Hast du noch daran geglaubt?«, murmelte der Bruder, eng an Helga geschmiegt.

»Nein«, gab sie zurück. »Nicht mehr.«

»Und jetzt?«, fragte Jürgen.

Helga gab keine Antwort. Sie wusste es nicht.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Als die Glocken zum Weihnachtsgottesdienst riefen, schien das ganze Dorf Bescheid zu wissen. Die Findelkinder, wie sie sie nannten, les enfants trouvés, waren keine Findelkinder mehr. Helga hörte die Leute tuscheln und spürte ihre Blicke, doch diesmal berührte es sie nicht. Jahrelang hatte sie sich zerrissen gefühlt, weil sie nirgendwo dazugehörte. Sie war keine echte Französin, doch sie fühlte sich auch schon lange nicht mehr als Deutsche. An diesem Abend jedoch war alles, was sie wahrnahm, Tante Claires Hand. Sie hielten sich aneinander fest, die ganze Messe hindurch.

Rechtzeitig zum Essen traf Hans ein, er lebte ganz in der Nähe. Seine Frau Giselle steuerte den 4CV, Hans hielt mit seinem einen Arm den kleinen Léon auf dem Schoß. Auch er wusste schon Bescheid, der Tankwart hatte es ihm erzählt. Der Einzige, der ahnungslos und wie immer zu spät aus Toulouse eintrudelte, war Günter, an seiner Seite eine neue Studienfreundin, wie er seine Begleiterinnen stets nannte, eine kleine Brünette, die Lou gerufen werden wollte. Da saßen sie bereits lange um den festlich geschmückten Tisch im Salon, und der Brief, den jeder sehen und betasten wollte, war schon ganz zerknittert.

Helga bekam kaum einen Bissen herunter. Um sie herum wurde gelacht und geweint. Der Brief, so schien es ihr, brachte die Augen aller zum Leuchten und bescherte zugleich einem jeden einen unerwarteten, scharfen Schmerz. Diese Familie, geboren in größter Not, würde es bald nicht mehr geben. »Keinen Tag länger als nötig«, hatten Tante Claire und Onkel Albert unter Tränen erklärt, »wollen wir euren Vater auf seine Kinder warten lassen.« Und so war die baldige Abreise nach Köln bereits beschlossene Sache. Doch was würde Helga und Jürgen dort erwarten?

Jürgen trank so viel Champagner, dass Onkel Albert und Günter ihn schon vor Mitternacht in sein Zimmer hinauftragen mussten. Nachdem Lou beim Verzehr des Baumstammkuchens so sehr gekleckert hatte, dass Schokoladencreme auf dem Brief landete, und Léon daraufhin versuchte, ihn aufzuessen, gab Helga ihm einen Kuss, nahm den Brief an sich und erklärte, sie ginge ebenfalls zu Bett.

Oben setzte sie sich an den kleinen Tisch, den Onkel Albert für sie getischlert hatte, und knipste ihr minzgrünes Kofferradio an. Für gewöhnlich lauschte sie jeden Abend Radio Luxembourg, weil sie dort oft diese neue, unerhört aufregende Musik aus Amerika spielten. Gerade sangen die Chordettes mit ihren glockenhellen Stimmen Mr. Sandman, einen Titel, den Helga auswendig konnte, auch wenn sie kaum ein Wort verstand. Heute aber war ihr nicht danach.

Sie stellte das Radio wieder aus, legte den Brief vor sich auf den Tisch und strich ihn glatt, so, wie Tante Claire es getan hatte. Dann las sie ihn noch einmal, ganz für sich allein.

Und erst jetzt drangen die Worte vollkommen zu ihr durch.

Ein Vater. Wir haben einen Vater. Er hat uns gefunden. Die Wörter wirbelten durch Helgas Kopf, machten Purzelbäume und Handstand. Helga liebte Wörter. Sie konnte Stunden damit zubringen, sie vor sich hin zu flüstern, ihrem Klang zu lauschen, sie auf der Zunge zu schmecken. Dieses eine Wort jedoch schien ihr unaussprechbar. Vater! Wie konnte das sein, nach all den Jahren?

Ein Vater.

Helga begann, von Kopf bis Fuß zu beben. Wie oft hatte sie als kleines Mädchen nachts in dem unwirtlichen Keller, in dem sie lebten, wach gelegen, der Hunger eine eiserne Faust in ihrem Bauch, die Angst ein finsteres Wesen in ihrem Nacken. Wie oft hatte sie sich diesen Moment ausgemalt, wie sehr ihn herbeigesehnt. Den Moment, in dem wie aus dem Nichts ihre unbekannten Eltern auftauchten, sie in ihre Arme schlossen und an einen besseren Ort brachten. Stattdessen waren Tante Claire und Onkel Albert gekommen. Helga liebte sie von Herzen. Doch in der Sicherheit ihres neuen Zuhauses waren die Fragen gekommen. Wer war sie? Und warum hatten ihre Eltern sie im Stich gelassen?

Alles, was Helga und Jürgen noch wussten, waren ihre Vornamen. Ein französischer Standesbeamter hatte damals »Müller« in ihre Ersatzpapiere geschrieben. In der Schule und auf dem Nachhauseweg wurden sie von ihren französischen Mitschülern gepiesackt. Die Deutschen hatten während des Krieges schlimm gewütet in diesem Teil Frankreichs. So liebevoll ihr neues Zuhause war – sobald die Kinder das Gut verließen, waren sie üblen Attacken ausgesetzt.

Helga griff nach einer der hellblauen Kladden, denen sie Abend für Abend ihre Gedanken anvertraute. Normalerweise füllte sie vor dem Zubettgehen viele Seiten mit den Erlebnissen des Tages. Diesmal schrieb sie nur ein einziges Wort.

Vater.

Ganz krakelig war ihre Schrift, so sehr zitterten ihre Finger.

Helga schlug die Kladde wieder zu. Der Traum, den sie sich schon vor langer Zeit verboten hatte zu träumen, war in Erfüllung gegangen. Doch die Fragen, die sie quälten, waren noch lange nicht beantwortet.

Sie trat ans Fenster und sah hinaus in den stillen Hof. Der strenge Wind hatte nachgelassen, und es hatte zu schneien begonnen. Hans’ 4CV, das Kopfsteinpflaster, die Scheune, alles verschwand unter einer pudrigen Hülle.

»Vater«, sagte sie vorsichtig. Und dann gleich noch einmal: »Vater.« Schließlich rief sie es in die Nacht hinaus. »Vater! Wer bist du? Wo hast du so lange gesteckt? Und was ist mit unserer Mutter?«

Der Januar begann mit grimmiger Kälte. Am Abend vor der Abreise kam Tante Claire in Helgas Zimmer. Sie sprachen nicht viel, sie hielten einander nur umschlungen. Helgas Koffer war längst gepackt, ihre Reisetasche, bunt kariert, stand am Fußende des Bettes. Zärtlich betrachtete Helga die Tante. Sie schien ihr kleiner geworden in den letzten Tagen, dünner. Und hatte ihr Keuchen, wenn sie die Treppe hinauflief, nicht zugenommen?

»Ich mache mir Sorgen um dich«, begann Helga, »geht es dir gut?«

Doch Tante Claire legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen und machte »tsch«, so, wie sie es früher getan hatte, als Helga klein war und nächtens von Albträumen geplagt wurde.

»Tsch, ma petite, alles ist gut. Ihr werdet ein wundervolles Leben in Köln haben, bei eurem Vater. Und wie hieß noch das liebe Mädchen, das euch Kindern, die ihr im Keller leben musstet, immer seine Schulspeisung gebracht hat, obwohl es selbst hungerte? Anna, nicht wahr?«

Helga nickte. Die Erinnerung an ihre Freundin Anna zauberte ihr ein Lächeln aufs Gesicht. Sie würde sie gleich nach ihrer Ankunft aufsuchen, sie und den kleinen Karl, die ihnen damals in den dunkelsten Stunden geholfen hatten.

»Schau, ich möchte dir etwas geben.«

Tante Claire griff in die Tasche ihres blau-samtenen Kleides, es saß ihr so weit um die Hüften, als sei es mindestens zwei Nummern zu groß. Sie hat wirklich sehr abgenommen, schoss es Helga durch den Kopf. Im Grunde kann ich sie nicht allein lassen, nein, es geht nicht …

»Erkennst du sie, Elgette?«

Tante Claire öffnete ihre Hand. Darin lagen drei hölzerne Murmeln. Sie waren alt und rissig, ihre bunte Farbe längst verblasst. Und doch. Helga zog scharf die Luft ein.

»Du hast –?«

»Sie aufbewahrt, aber ja, natürlich. Sie waren euer einziges Spielzeug damals, in diesem abscheulichen Keller. Du hattest sie in deiner kleinen Faust, als wir hier ankamen. Wie hätte ich sie wegwerfen können?« Sanft strich Tante Claire mit dem Zeigefinger über die Murmeln, dann legte sie sie in Helgas Rechte, schloss ihre Hände darum und zog Helga an ihr Herz. »Ich glaube, diese Murmeln haben dir und Jürgen Glück gebracht«, flüsterte sie in ihr Haar. »Sie werden euch auch weiterhin beschützen.«

Damit ließ sie Helga los, stand auf und ging hinaus. Helga blieb zurück, die Murmeln fest umklammert. Tante Claires Hände waren furchtbar kalt gewesen.

Am Morgen zeigte das Thermometer im Hof minus fünfzehn Grad. Als das Pferd des Nachbarn schnaubte, sprühten kleine Eisflocken aus seinen Nüstern. Helga trug den steingrauen Mantel, den Tante Claire ihr geschneidert hatte, nachdem sie im letzten Jahr so schnell gewachsen war, über ihrem guten kunstseidenen Kleid sowie ihre gefütterten Stiefel. Jürgen steckte ein wenig steif in seinem besten Anzug, er war von Onkel Albert und an den Ärmeln und den Beinen ausgelassen. Die Winterjacke, auch vom Onkel, war ihm ein bisschen zu kurz und zu weit. Den Schal, den er zu Weihnachten bekommen hatte, hatte er sich so oft um den Kopf geschlungen, dass nur noch Nase und Augen herausschauten. Sie zitterten beide von Kopf bis Fuß, und das nicht allein wegen der Kälte.

»Sie kommt nicht herunter, nicht wahr?«

Onkel Albert zuckte in einer unbeholfenen Bewegung, die nicht zu ihm passte, mit den Schultern, und Helga verstand. Am Morgen hatte er den Arzt gerufen, er war auf dem Weg hierher. Tante Claire ging es schlecht. Der gestrige Besuch in ihrem Zimmer, als sie Helga die Murmeln brachte, war ihre Art gewesen, adieu zu sagen.

Einen Moment lang dachte Helga darüber nach, ins Haus zu laufen und die Rückkehr nach Deutschland zu verschieben. Sie konnte Tante Claire doch jetzt nicht verlassen! Da spürte sie Jürgens Hand auf ihrem Arm. Er kannte ihre Gedanken, immer.

Das Pferd schnaufte noch einmal, und der Nachbar gab ein unwirsches Brummen von sich. Er hatte den Wagen voller gefüllter Milchkannen und wollte zur Molkerei. Nur mit Mühe hatte er sich überreden lassen, sie bis zum Bahnhof mitzunehmen. Und da ließ man ihn auch noch warten.

Hans und Günter waren am Tag nach Silvester abgereist, nicht ohne viele Umarmungen und Küsse und das feste Versprechen, einander zu schreiben. Von Horst war ein weiterer Feldpostbrief gekommen. Die Großen führten längst ihre eigenen Leben. Nur sie und Jürgen, die Kleinen, waren bei Onkel und Tante geblieben. Doch nun war der Moment des Abschieds gekommen, und Helga wurde es so schwer ums Herz, dass sie die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Sie umarmten einander ein letztes Mal, Jürgen weinte nun auch, und Onkel Albert strich ihnen über die Köpfe. Helga konnte nicht anders, sie ergriff seine Hand, die groß war und schwer und voller Schwielen, schmiegte ihre Wange hinein und küsste sie inniglich.

»Ich danke dir«, flüsterte sie. »Ich danke dir so sehr.«

Als sie aufschaute, sah sie in Onkel Alberts Antlitz einen Schmerz, der ihr den Atem raubte. Da schnalzte der Nachbar mit der Zunge und gab dem Pferd die Peitsche, er wendete bereits das Fuhrwerk. Onkel Albert schloss die Augen, entzog sich Helga mit einem Ruck, und Jürgen und sie sprangen, so schnell sie konnten, auf die Ladefläche des Milchwagens. Es schepperte, als sie sich zwischen die Kannen quetschten.

»Ils occupent trop de place, les boches«, schimpfte der Mann auf dem Kutschbock. Sie brauchen zu viel Platz, diese blöden Deutschen.

Helga lehnte sich an Jürgen, es war eng und schmutzig hier, und ihr klapperten schon jetzt die Zähne. Der Nachbar schnalzte noch einmal, das Pferd fiel in einen unruhigen Trab. Am Horizont sah sie das Gutshaus verschwinden, davor, immer kleiner werdend, mit geschlossenen Augen, Onkel Albert. Und oben, in ihrem Zimmer, Tante Claire, dünn und blass.

Sie wusste, in diesem Moment verlor sie beinahe alles, was sie liebte. Aber sie würde niemals wieder eine boche sein, eine verhasste Deutsche.

2. Kapitel

Im ersten Zug gab es nur eine vierte Klasse, und die hölzernen Bänke waren bis auf den allerletzten Platz besetzt. Ein paar Hühner hatten es geschafft, aus ihren Käfigen zu entweichen, laut gackernd stolzierten sie über die Füße der Reisenden. Auch der zweite Zug war völlig überfüllt. Den vorletzten Teil der Strecke schließlich legten Helga und Jürgen in einem Omnibus zurück. Sie saßen mit einem Mädchen in ihrem Alter zu dritt auf einem Zweiersitz, und je weiter sie kamen, desto aufgeregter wurden sie.

Am späten Nachmittag schließlich erreichten sie Paris. Am Gare du Nord, dem großen Bahnhof im Norden der Stadt, wartete auf Gleis eins der Paris-Ruhr-Express.

»Ihr habt Deutschland verlassen wie die Bettler«, hatte Onkel Albert erklärt, als er ihnen feierlich die Tickets überreichte. »Wenn ihr nun heimkehrt, sollt ihr reisen wie die Könige.«

Helga hatte nicht gewusst, was er damit meinte, doch nun, wo sie den Zug sah, verstand sie es.

»Vite, vite!«, rief der Schaffner, »schnell, schnell!«

Und ehe sie sich’s versahen, befanden sie sich in einer neuen Welt.

Es gab eine schmale Küche, in der zwei Köche mit hohen Stoffmützen gerade dabei waren, in Blechfiltern so groß wie kleine Eimer verführerisch duftenden Kaffee aufzubrühen. Direkt dahinter befand sich ein lang gezogener Speisesaal mit weiß eingedeckten Tischen fürs dîner. Einen Waggon weiter, unter einem Schild mit der Aufschrift »Zugsekretariat«, tippte eine junge Frau rasend schnell auf einer fest an den Tisch geschraubten Schreibmaschine einen Brief, den ein Herr in feinem Zwirn ihr diktierte. Helga staunte mit offenem Mund, und Jürgen hatte alle Mühe, sie sanft weiterzuschieben bis in ihr Abteil.

Ehrfürchtig strich sie dort über das samtene grüne Sitzpolster. Es fühlte sich so straff an, als habe vor ihr noch nie jemand darauf Platz genommen. Der helle Bezug der Kopfstützen duftete wie frisch gestärkt. Und die messingfarbene Fensterkurbel glänzte mit den Gepäckkörben um die Wette.

»Der Paradezug der deutschen Bundesbahn«, raunte Jürgen, dabei waren sie ganz für sich allein. »Ein VT null acht. Hast du gesehen? Außen ist er tiefrot lackiert. Sie nennen ihn den Eierkopf, weil er vorn und hinten ganz rund ist. Mensch, Helgalein, in genau so einem Zug sind die Deutschen letzten Sommer nach Hause gefahren, nachdem sie in Bern Fußballweltmeister geworden sind!«

»Soso, die Deutschen«, entgegnete Helga und stupste ihn liebevoll in die Seite. »Was du nicht sagst. Und du bist keiner?«

»Ja doch, du Naseweis.« Jürgen gab ein theatralisches Stöhnen von sich. »Du weißt schon, wie ich es meine.«

Helga nickte und schmiegte sich in den Sitz, die karierte Reisetasche fest an sich gedrückt. Sie wusste ganz genau, wie er es meinte. Mehr noch, sie fühlte es. Und während der Zug aus Paris hinausschoss wie ein nasses Stück Seife auf einem blank gewienerten Steinboden, spürte sie, wie es sie innerlich zerriss. Eine Hälfte ihres Herzens blieb in Frankreich zurück. Die andere eilte dem Zug voraus, voller Neugier und Ungewissheit.

Die bange Sorge, die für einen Moment dem Staunen über den luxuriösen Zug gewichen war, machte sich wieder breit. Helga fasste die Reisetasche noch ein bisschen fester. Darin befand sich ihr heiß geliebtes minzgrünes Kofferradio sowie ein Stapel hellblauer Schreibhefte, die meisten noch blütenrein. In einer Seitentasche steckten die drei hölzernen Murmeln. Und obenauf lag der Brief, der ihr Leben von jetzt auf gleich vollkommen durcheinandergewirbelt hatte.

Für einen Moment war sie versucht, ihn herauszuholen und noch einmal zu lesen. Dabei kannte sie ihn längst auswendig, jedes Wort, jedes winzige Detail. Auf ihre drängende Frage jedoch gab das amtliche Schreiben des Deutschen Roten Kreuzes keine Antwort. Was würde das Schicksal in Köln für sie bereithalten?

Der Zug hatte die Pariser Vororte kaum hinter sich gelassen, als vor dem Fenster eine tintenblaue Dämmerung aufzog, unterbrochen nur von fern flackernden Lichtern. Helga ahnte den eisigen Wind, der plötzlich aufkam und sie durch den hereinbrechenden Abend begleitete. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Da war sie wieder, die Furcht vor der Kälte.

»Ich wette, dieser formidable Zug hat sogar eine Heizung.«

Jürgen, der immer wusste, was in ihr vorging, war schon aufgesprungen.

»Meinst du?«, wunderte sich Helga. »Aber wie …?«

»Schau, hier!«, rief Jürgen und legte nach kurzem Suchen einen Hebel um, der in der holzgetäfelten Wand aus einem schmalen Messingblech herausragte. Augenblicklich strömte herrlich warme Luft ins Abteil.

»Wir müssen nicht mehr frieren, Helga, niemals mehr.«

Jürgen setzte sich wieder und streckte seine langen Beine aus. Sie teilten sich das letzte Stück Baguette, das Linette am Morgen für sie gerichtet hatte, tranken ein wenig selbst gemachte Limonade dazu. Dann schlang Jürgen die Arme um seinen Oberkörper und war noch vor Lille tief und fest eingeschlafen.

Zärtlich betrachtete Helga ihren Bruder. Immer schon schlief er so, sich selbst umarmend. Vor langer Zeit, als sie noch klein waren, hatte er die Arme in den Nächten auch um sie geschlungen. Er hatte sie beschützt vor Kälte, Hunger und Tod. Er würde sie auch in Zukunft beschützen, dessen war sie sich ganz gewiss.

Aber dass er jetzt schlafen konnte! Helga spürte, wie die Unruhe in ihr wuchs. Sie wurde größer und größer, je weiter sie nach Osten gelangten. Und während der Zug mehr und mehr Fahrt aufnahm, wünschte sie sich, er würde langsamer werden, ihr noch ein bisschen Zeit lassen.

Leise, um Jürgen nicht zu wecken, klappte sie den kleinen Tisch vor dem Fenster hoch und öffnete den Verschluss der karierten Reisetasche. Sanft strich sie mit dem Finger über den Brief. Dann holte sie eines der Schreibhefte hervor, legte sorgfältig das Löschblatt zwischen die Seiten und nahm den Füllfederhalter zur Hand. Beinahe augenblicklich begann er, wie von selbst über die Seiten zu gleiten.

Man fand uns im Sommer nach dem Krieg vor einem Hochbunker in Köln, schrieb Helga. Hilde, das Mädchen, das sich unserer annahm, schätzte unser Alter auf sechs und sieben Jahre. Wie sich nun herausstellt, lag sie damit richtig, obwohl wir so klein und unterernährt waren. Beinahe zwei Jahre verbrachten wir mit ihr …

Die Worte strömten aus ihr heraus. Und mit jedem Wort, mit jedem Satz wurde sie ruhiger. Immer schon war sie schreibend ihren Ängsten entkommen.

Plötzlich stoppte der Zug. Im Gang vor der glänzend polierten Schiebetür waren schwere Schritte zu hören, ein Mann schob sich ins Abteil.

»Die Pässe, bitte!«

Helga wischte vor Schreck das Heft samt Löschblatt vom Tisch. Als Kind war sie davongerannt, sobald sie Männer in Uniformen erblickte. Ein Impuls, der immer noch in ihr steckte. Der Grenzbeamte jedoch hatte ein freundliches Gesicht, das sich zu einem breiten Lächeln verzog, als er sich bückte und ihr Heft und Löschblatt reichte.

»Sie schreiben wohl gern?«

»Sie tut nichts anderes«, murmelte Jürgen schlaftrunken.

»Soso«, erwiderte der Grenzer. »Und worüber schreiben Sie?«

»Über nichts Besonderes, über gar nichts.« Hastig schlug Helga das Heft zu und reichte ihm die Ersatzpapiere, die der Dorfvorsteher auf Onkel Alberts Drängen hin erst gestern ausgestellt hatte. Wie hätten sie sonst so schnell an neue Pässe kommen können? Die dicke Pappe war noch steif, sie quietschte ein wenig, als der Grenzer sie aufschlug und stempelte.

»Na dann«, rief er fröhlich, »willkommen in Deutschland, Herr und Fräulein van Beek!«

»Danke schön«, antwortete Jürgen und war schon halb wieder eingeschlafen.

Helga aber schnappte nach Luft. Es war das erste Mal, dass jemand sie so ansprach. Sie nahm ihr Heft und schlug eine neue Seite auf.

Seit der Brief kam, notierte sie mit fliegenden Fingern, besitze ich einen Nachnamen. Ich kenne mein Geburtsdatum. Kurz hielt sie inne. Draußen war es ein wenig heller geworden, leichtes Schneetreiben hatte eingesetzt. Helga setzte den Füller neu an. Und noch heute Abend, schrieb sie in ihr Heft, werde ich einen Vater haben.

Helga atmete tief aus. Das Schneetreiben draußen vor dem Fenster wurde dichter. Der Zug sauste durch die Dunkelheit. Mit einem Mal wurde ihr leichter ums Herz. Und als sie wenig später Aachen erreichten, bemerkte sie, wie sie innerlich zu vibrieren begann.

Die letzten anderthalb Stunden fuhren sie durch eine verschneite Märchenlandschaft. Ein Feld reihte sich an das nächste, weiter weg konnte Helga Wälder erahnen und ein paar milchig erleuchtete Bauernhöfe. Eine Rotte Wildschweine begleitete den Paris-Ruhr-Express ein Stück. Ein Hirsch sprang in hohen Bögen davon. Die Heizung lief auf Hochtouren, langsam beschlug das Fenster. Jürgen schlief immer noch.

Dieser Landstrich, dachte Helga, ist unsere Heimat. Unsere unbekannte Heimat.

Und dann kam Köln in Sicht. Aber es war nicht das dunkle, zerstörte Köln der Nachkriegszeit, an das Helga sich so schmerzhaft erinnerte. Es war ein vollkommen neues Köln. Denn diese Stadt leuchtete. Schon von Weitem erhob sich ein feines Schimmern aus der Kölner Bucht. Je näher sie kamen, desto heller wurde es. Bald konnte Helga die ersten Häuser erkennen, die ersten Straßenzüge.

»Jürgen!« Helga streckte die Hand nach dem Bruder aus, schüttelte ihn erst sanft, dann fester. »Wach auf! Guck doch mal!«

Jürgen gab ein kleines Stöhnen von sich, rieb sich die Augen und war einen Moment später hellwach.

»Ist das Köln?«, rief er. »Kann das sein?«

»Ich glaube schon«, murmelte Helga und wischte gedankenverloren mit dem Ärmel ihres Kleides ein Stückchen Fenster frei. Der Zug wurde langsamer, fuhr durch einen kleinen Bahnhof. »Ehrenfeld« stand auf einem Schild am Gleis.

Die Geschwister warfen sich einen Blick zu. Am Ehrenfelder Bahnhof hatte einst der Schwarzmarkt geblüht. Wie oft waren sie hier herumgeschlichen, auf der Jagd nach einem Stückchen Brot, das sie einem Händler aus der Tasche stehlen konnten, auf der Flucht vor der Militärpolizei. Jetzt lag der Bahnhof in tiefem Frieden. Auf einem Plakat an einer hell strahlenden Litfaßsäule balancierte ein Affe eine Apfelsine auf seiner Nase. In ihrem orangefarbenen Schein hielt ein junges Paar unauffällig Händchen.

Direkt hinter dem Ehrenfelder Bahnhof pulsierte das Leben. Es gab noch einige Trümmergrundstücke, doch an jeder Ecke wurde gebaut. Die Stadt funkelte im Licht der Geschäfte und Werbetafeln. Über einen Straßenzug hatte man sogar Girlanden gespannt, an denen noch golden blinkende Weihnachtssterne hingen.

Staunend drückten Helga und Jürgen sich die Nasen an der feuchten Fensterscheibe platt.

»Hättest du das für möglich gehalten?«, fragte Jürgen.

»Niemals«, antwortete Helga.

Schon näherten sie sich dem Hauptbahnhof. Helga spürte, wie ihr Herz noch schneller schlug. Nur wenige Minuten noch.

»Und wenn er nun nicht kommt?«, stöhnte sie mit einem Mal. »Oder wenn er uns nicht mag?«

Jürgen blieb stumm, und in seinen Augen sah sie die gleiche Angst. Sie fassten sich an den Händen, legten die Köpfe aneinander, sodass ihre Stirnen sich berührten. Sie sagten kein einziges Wort und erneuerten ein stummes Versprechen, das sie begleitete, solange sie denken konnten. Niemals würde einer den anderen im Stich lassen.

Da nahm der Zug eine letzte Biegung und donnerte, als wolle er gar nicht stoppen, in den Bahnhof hinein. Und auf dem Bahnsteig, der plötzlich ganz nah war, sahen sie einen Wimpernschlag lang die Silhouette eines Mannes. Er war sehr groß, sehr dünn und hatte die gleichen Locken wie sie beide, nur dass seine grau waren.

Helga entfuhr ein Schrei. Hektisch verrenkte sie ihren Kopf, versuchte, einen zweiten Blick auf den Mann zu erhaschen, doch der Zug fuhr weiter und kam erst ganz am Ende des scheinbar endlos langen Bahnsteigs zum Halten.

Jürgen hatte den Mann auch gesehen, ganz bleich war er geworden.

»Komm«, sagte er nur. »Komm schnell.«

Und so packten sie ihre Koffer und Helgas Reisetasche und eilten aus dem Zug. Helga hatte keinen Blick mehr für die Köche mit den hohen Mützen, die nun Schnitzel brieten. Sie sah nicht den Champagner, der gerade im Speisewagen serviert wurde, und auch nicht die junge Frau im Schreibabteil, die immer noch Briefe tippte. Alles, was sie sah, war die Silhouette eines Fremden vor ihrem inneren Auge. Eine Silhouette, die ihr so vertraut erschien, dass sie glaubte, ihr Herz müsse zerspringen.

Sie stolperten auf den Bahnsteig, beinahe wäre Helga gestürzt. Jürgen ergriff rasch ihren Arm, und dann rannten sie los. Doch es war kein Vorankommen. So viele Menschen verließen den Zug! Gepäckträger priesen ihre Dienste an. Ein Junge mit einer dicken Pudelmütze auf dem Kopf, einer karierten Bäckerhose und einer Lade vor dem Bauch verkaufte durch die geöffneten Zugfenster dick mit Käse belegte Brötchen an die Reisenden, die weiterfuhren. Mitten auf dem Bahnsteig saßen zwei vornehm gekleidete Damen in Pelzmänteln auf einem riesigen Berg aus Koffern und rauchten Zigaretten mit langen Spitzen. Es war ein heilloses Gedränge. Als Helga und Jürgen endlich das andere Ende des Bahnsteigs erreichten, sprangen dort gerade ein paar Nachzügler in den Zug. Ein Schaffner rief etwas, ein Pfiff ertönte. Die Dampflok gab ein gewaltiges Schnauben von sich. Der Paris-Ruhr-Express rollte in einer eleganten Bewegung von dannen. Nicht mehr lange, und er würde seinen Zielbahnhof erreichen, Dortmund. Schnell waren die Rücklichter auf dem letzten eierkopfrunden Waggon verschwunden. Der Bahnsteig leerte sich. Helga und Jürgen blieben zurück, allein. Ratlos blickten sie sich um. Sie umrundeten das Häuschen des Gleiswärters und sogar die Schautafel, auf der mit bunten Plättchen die Waggonreihung der Züge angezeigt wurde. Mit jedem Schritt, den sie taten, wuchs ihre Verwirrung.

Hier schien niemand auf sie zu warten.

Schließlich schleppte Helga ihren Koffer und die Reisetasche bis zu einer Wartebank und ließ sich darauf nieder. Jürgen tat es ihr nach. Sie schauten einander nicht an. Helga wusste, dass sie die Enttäuschung, die sie fühlte, nicht ertragen würde, sähe sie sie in Jürgens Augen gespiegelt. Etwas Feuchtes berührte ihre Stirn. Als sie aufblickte, sah sie, dass die Bahnhofshalle, deren Eisenkonstruktion sich so majestätisch über die Gleise spannte, komplett ohne Glas war. Es schneite hinein.

»Hier ist doch noch alles kaputt«, flüsterte sie und bemühte sich, nicht zu weinen. »Immer noch.«

Jürgen nickte stumm.

Zeit verging. Die Sekunden fühlten sich an wie Minuten, die Minuten wie Stunden. Helga war, als fließe alle Lebensenergie aus ihr hinaus. Sie war mit einem Mal unendlich müde. Was sollte nun mit ihnen werden?

Und dann geschah es. Erst war es nur ein Schatten, der Hauch einer Bewegung außerhalb ihres Blickfeldes. Sie spürte es, noch bevor sie aufsah. Und als sie aufsah, konnte sie zunächst nichts erkennen, denn ein feuchter Schleier hatte sich über ihre Augen gelegt. Helga blinzelte. Blinzelte noch einmal. Wischte sich mit einer trotzigen Bewegung die Tränen weg. Und dann sah sie ihn kommen, ganz vom anderen Ende des Bahnsteigs. Ein Mann, vollkommen fremd und zugleich auf eine verstörende Weise vertraut, bewegte sich auf sie zu. Da war etwas an seinem Gang, das ihr bekannt vorkam. An der Art, wie er sich umsah. Wie er sein Haar trug.

Helga saß wie versteinert. Eine Hand grub sich in ihren Arm, es war die ihres Bruders. Er hatte ihn auch gesehen.

Der Mann kam näher. Eine Taube flog auf, ein neuer Zug fuhr ein. Jetzt sah sie sein Antlitz, seine Augen, flaschengrün. Der Mann sah aus wie Jürgen, nur deutlich älter.

In dem Moment, als sie das Erkennen auf seinem Gesicht ahnte, hielt der einfahrende Zug. Pfiffe ertönten. Türen öffneten sich, Reisende stiegen aus, schoben sich zwischen sie.

Weg war er. Schon wieder hatte die Menge ihn verschluckt.

Helga glaubte, den Verstand zu verlieren. Sie riss sich von Jürgen los und schnellte hoch.

»Bitte«, flüsterte sie. »Bitte, nicht noch einmal verschwinden …«

Blind vor Tränen versuchte sie, sich einen Weg durch die vielen Menschen zu bahnen. Sie lief gegen Gepäckstücke, trat einem kleinen Hund auf die Pfote, der furchtbar jaulte, prallte gegen eine Männerbrust.

»Ich weiß, dass du es bist«, schluchzte sie. »Ich habe so lange gewartet. Du kannst doch jetzt nicht …«

»Ihr seid es, ihr seid es wirklich!«, rief da eine Stimme. Sie klang fast wie die Stimme von Jürgen, nur tiefer und ein wenig weicher. Und sie war direkt vor ihr.

Helga erstarrte. Blickte auf die Männerbrust, gegen die sie gerade geprallt war. Ein Mantel noch aus Vorkriegsbestand, der Kragen bis auf das Futter abgewetzt. Ein dicker, grob gestrickter Schal. Ein kantiges Kinn. Ein Mund, der zuckte. Eine gerade Nase. Und Augen voller Tränen, voller ungläubiger Freude und tiefem Schmerz.

»Ich … ich sah euch durch das Zugfenster«, stammelte der Mann, und seine Stimme drohte, sich zu überschlagen. »Da rannte ich, so schnell ich konnte, zum Bahnsteigende. Ich …« Er verstummte, wischte sich über das Gesicht und breitete seine Arme aus, sie waren so lang wie Jürgens.

Helga vergaß die Menschen auf dem Bahnsteig, den jaulenden Hund und den lärmenden Zug. Sie vergaß, dass sie schon fast eine junge Frau war, sie vergaß sogar Jürgen. Sie warf sich in die Arme des Fremden und weinte so bitterlich, als sei sie noch ein ganz kleines Mädchen. Und der Fremde fühlte sich kein bisschen fremd an.

3. Kapitel

»Wir gehen zu Fuß nach Hause«, sagte der Vater und nahm Helgas Koffer. »Euer Elternhaus ist ganz in der Nähe.«

Immer wieder hatte er Helga und Jürgen an seine Brust gezogen und dabei ein Geräusch wie von trockenem Husten von sich gegeben. Er hatte ihre Gesichter studiert, ihre Augen, ihr Haar, und in jedem seiner Blicke hatte Helga das ungläubige Staunen gesehen, das auch sie empfand.

»Nach Hause?«, fragte Jürgen.

»Unser Elternhaus?«, wunderte sich Helga.

Aber ihre Worte gingen unter im Getöse eines vorbeidonnernden Güterzuges und im Stimmengewirr der Reisenden um sie herum.

In der hohen Bahnhofshalle, in die es weiter hineinschneite, gab es eine Bahnhofsbuchhandlung, in deren Regalen Bücher und grellbunte Zeitschriften aus aller Welt um Aufmerksamkeit heischten. Es gab eine Drogerie und sogar ein Aktualitäten-Kino. Ein viele Meter hohes Wandgemälde warb für Lippenstifte und Gesichtspuder. Helga schwindelte es. Da ergriff der Vater ihre Hand und hielt sie ganz fest. Seine Hand war genauso kalt wie ihre, sie fühlte sich ein bisschen rau an, und doch spürte Helga ein Wohlgefühl in sich aufsteigen, das ihr völlig unbekannt war. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so geborgen gefühlt.

Draußen vor dem Bahnhof sauste eine bimmelnde Straßenbahn an ihnen vorbei, ein Volkswagen hupte sie aus dem Weg. Von links vernahm Helga ohrenbetäubendes Glockengeläut, es kam vom Dom, dessen Zwillingstürme direkt neben dem Bahnhof in den Himmel ragten.

»Heute ist der Tag der Heiligen Drei Könige«, erklärte der Vater, und wieder fiel Helga seine besondere Sprechweise auf, sehr weich klang sie, beinahe, als singe er die Worte. »Die Stadt ist voller Pilger, die die Reliquien sehen wollen, selbst jetzt noch, am späten Abend. Eure Mutter ist auch immer …« Er stockte, und Helga meinte, für einen Moment einen Schatten über sein Gesicht huschen zu sehen. »Kommt«, sagte er dann. »Eure Tante Meta wartet mit dem Essen.«

Welche Tante?, wollte Helga fragen, und, vor allem, was hatte er über die Mutter sagen wollen? Doch kein Laut verließ ihre Lippen. Sie kannte ihren Vater erst wenige Minuten, und doch ahnte sie bereits, dass er nicht auf alle Fragen antworten würde.

Er führte sie über den Bahnhofsvorplatz, vorbei an hochherrschaftlichen Häusern, die schon wiederaufgebaut waren, nur an einer Seitenwand zeugten Einschusslöcher noch von den Schrecken des Krieges. Die Menschen, die ihnen begegneten, waren so fein gekleidet, dass Helga sich nur wundern konnte. Nach dem Krieg hatten abgerissene Gestalten die Straßen Kölns bevölkert, in Mänteln aus Armeedecken, die halb erfrorenen Füße in Lumpen gewickelt. Nun trugen fast alle Männer Anzug und Hut, und die Frauen wirkten, als seien ihnen die Röcke und Jacken auf den Leib geschneidert. Gerade trat aus einem mit goldglänzendem Blech verkleideten Portal eine Dame mit einem Fuchspelz um den Hals, über ihr verkündete ein eleganter Schriftzug, dass hier das Verkehrsamt der Stadt Köln residierte, sogar auf Französisch stand es dort, Office Touristique. Daneben warb eine Pappfigur – ein Mädchen in kurzen Hosen und hohen weißen Pumps, das sich verführerisch lächelnd zurücklehnte – für ADOX-Filme. Helga und Jürgen schauten sich ungläubig an. Aus dem Köln, das sie kannten, waren die Menschen in Scharen geflohen. Nun kamen Touristen hierher?

Wenige Schritte weiter gähnten leere, von Schutt befreite Trümmergrundstücke, und ein paar Ratten huschten über die Straße. Köln, so schien es Helga, war dabei, sich herauszuputzen, doch in den dunklen Ecken der Stadt lauerte noch die hässliche Fratze der Vergangenheit.

Bald schon tauchten sie ein in die engen Gassen der nördlichen Altstadt, in den Eigelstein. Helga kannte dieses Viertel nur aus Erzählungen. Direkt nach dem Krieg galt es als verrucht und gefährlich. Hilde, die Anführerin ihrer Bande, nahm die beiden Jüngsten, Helga und Jürgen, niemals mit, wenn es zum Eigelstein ging. Hier fand man damals nicht nur die berüchtigtsten Schwarzmärkte. Kriminelle Banden, vor deren Brutalität die Kinder sich fürchteten, trieben ihr Unwesen. Und dann geschah hier auch noch anderes, über das die Großen nur leise tuschelten, wenn die Kleinen in der Nähe waren. Aber Helga hatte doch eine Ahnung gehabt, worum es ging. Nun schaute sie sich neugierig um, die Hand fest in der des Vaters, neben sich Jürgen.

Schmale Häuser schmiegten sich aneinander, als müssten sie sich gegenseitig stützen. Zwischen ihnen klafften zahlreiche Lücken. Der Krieg musste schlimm gewütet haben in diesem Viertel. Selbst die Häuser, die noch standen, hatten oft keine oberen Stockwerke mehr. Durch leere Fensterhöhlen schien der Mond.

Doch hier unten, auf der Straße, war der Eigelstein quicklebendig. In fast jedem Erdgeschoss befand sich ein kleiner Laden. Helga entdeckte einen Uhrmachermeister, ein Geschäft für Radios und eine Apotheke. Daneben gab es eine Gastwirtschaft, die »Beim Mäus« hieß, und nicht weit entfernt davon ein Brauhaus. Auch jetzt, zu dieser späten Stunde, waren noch viele Menschen unterwegs. Besonders viele standen am Eingang zum Stavenhof, einer engen, abschüssigen Seitenstraße. Helga meinte, den Namen schon einmal gehört zu haben, und als sie sah, dass es nur Männer waren, die dort herumlungerten, wusste sie wieder ganz genau, worüber die Großen damals nicht laut gesprochen hatten. Schnell drehte sie sich weg und bemerkte, dass Jürgen puterrote Ohren bekommen hatte.

»Kommt, ihr beiden, kommt weiter!«, rief der Vater und beschleunigte seinen Schritt.

Schon bald tauchte vor ihnen ein mächtiges Gemäuer auf, eine Art viereckiger Turm, ziemlich hoch und sehr breit, in dessen Mitte ein eisernes Tor eingelassen war.

»Das ist die Eigelsteintorburg«, erklärte der Vater hastig, als er sah, wie Helga den Kopf in den Nacken legte. »Eines der mittelalterlichen Stadttore. Es hat den Krieg fast gänzlich unbeschadet überstanden. Ganz im Gegensatz zu eurem Elternhaus.«

Er wandte sich um und zeigte auf etwas, doch dort, wo er hinwies, befand sich gar kein Haus – oder doch? Helga blinzelte. Blinzelte noch einmal. Neben sich hörte sie Jürgen scharf die Luft einziehen. Und dann, endlich, sah sie es.

Nicht weit von der Eigelsteintorburg entfernt stand ein Haus, das im Dunkel der angebrochenen Nacht beinahe unsichtbar war. Einst musste es ein prächtiger Bau gewesen sein, mit Erkern und Balkonen und opulentem Stuck an der Fassade. Reste davon waren im Licht der Straßenlaternen zu erkennen, aber auch nur, wenn Helga die Augen zusammenkniff und ganz genau hinschaute. Denn das Haus war vollkommen schwarz. Vom Erdgeschoss bis unters Dach war es über und über mit Ruß bedeckt. Als trage es Trauer, dachte Helga und spürte, wie ihr ein Schauer den Rücken hinunterlief.

»Ihr erinnert euch nicht an diesen Ort, oder?«, fragte der Vater, und in seiner Stimme schwang ein so hoffnungsloser Ton, dass es Helga einen Stich versetzte. Als der Vater sie forschend ansah, brachte sie kein Wort heraus und senkte den Blick. Wie konnte es sein, dass sie mitten in Köln ein Zuhause hatten und nichts davon wussten?

»Was ist mit den Fenstern?«, hörte sie Jürgen fragen. »Warum sind überall Bretter davor?«

»Das hat Meta veranlasst«, antwortete der Vater. »Nach dem Krieg gab es kaum Glas, und sie stand ganz allein mit allem da …« Er unterbrach sich. »Lasst uns hineingehen.«

Helga warf einen letzten Blick auf die schwarze Fassade. Tatsächlich, alle Fenster waren vernagelt, bis auf ein paar im ersten und im zweiten Stock, hinter denen sie schwachen Lichtschein sah. Aber schien da nicht auch etwas Licht durch die Ritzen im Erdgeschoss? Nein, sie musste sich getäuscht haben. Helga griff ihre Reisetasche ein bisschen fester und folgte dem Vater und Jürgen ins Haus.

Die Eingangstür war schwer und knarzte bedenklich, als der Vater sie aufschloss. Doch das war nichts im Vergleich zu den Tönen, die die hölzerne Treppe von sich gab, während sie sie hinaufstiegen. Sie ächzte, als sei sie eine uralte Dame.

Eine etwas heruntergekommene, aber sehr schöne uralte Dame, schoss es Helga durch den Kopf, während sie die zerschossenen Läufer und die aufwendigen Schnitzereien am Geländer betrachtete. Der Handlauf war ganz glatt gewetzt. Waren sie als Kinder diese Treppe hinauf- und hinabgerannt? Wenn sie sich doch bloß erinnern könnte!

Im ersten Obergeschoss hielt der Vater inne und klopfte zögerlich an eine Tür. Eine ganze Weile blieb es still.

Warum klopft er?, fragte Helga sich. Er ist doch hier zu Hause.

Da schallte ein »Herein!« zu ihnen heraus.

Die Tür öffnete sich zu einem breiten, schummrig beleuchteten Gang. Es roch nach feuchten Kleidern und nach verbranntem Fleisch. Der Vater ging voraus, er zog mit einem Mal den Kopf ein, dabei war der Gang mindestens drei Meter hoch. Helga und Jürgen folgten ihm.

Lauter verschlossene Türen, nur eine war angelehnt, dahinter brannte Licht. Sie gelangten in ein Zimmer, das beinahe leer war, bis auf einen alten Holztisch mit vier krummen Stühlen. Im Hintergrund stand ein ziemlich durchgesessenes Sofa, daneben lag eine mit einem gräulichen Tuch bezogene Matratze. Von der Decke hing ein Kronleuchter, dem die Hälfte der Arme fehlte.

In seinem dunstigen Schein stand eine Frau in einem altertümlichen dunkelgrünen Kleid. Helga erkannte sofort, dass der Frau das Kleid eigentlich zu groß war, es war unten und an den Ärmeln umgenäht. Über dem Bauch hingegen spannte es ein wenig. Die Frau hatte auffallend glänzendes schwarzes Haar, das sie zu einem festen Dutt aufgetürmt trug. Ihr Gesicht war das einer Porzellanpuppe, zart und weiß, die Wangen hatte sie mit einem Hauch rosafarbenem Puder betont. Am beeindruckendsten jedoch waren ihre Augen, sie waren von einem ganz hellen Blau, wie ein zufrierender See.

»Guten Abend«, sagte die Frau und verzog ihren Mund, der die Farbe einer reifen Kirsche hatte, zu einem kleinen Lächeln. Ihre Augen blieben dabei vollkommen unbewegt.

»Kinder«, sagte der Vater ein wenig atemlos, »darf ich vorstellen, dies ist eure Tante Meta, die Schwester eurer Mutter.«

Helgas erster Impuls war, die Tante zu umarmen, so wie sie auch dem Vater auf dem Bahnsteig um den Hals gefallen war. Doch etwas hielt sie zurück. Und so traten sie und Jürgen nacheinander auf die Tante zu und gaben ihr die Hand. Meta war ganz klein, sie reichte Helga gerade einmal bis zur Schulter. Ihre Hand war weich und warm, was Helga erstaunte, denn das Zimmer, bemerkte sie nun, war kaum geheizt.

»Ihr müsst hungrig sein.« Der Vater nahm Helga und Jürgen die Mäntel ab und bedeutete ihnen, sich zu setzen. »Meta hat gekocht, ihr werdet Augen machen!«

Der Tisch war für vier gedeckt. Die spitzenverzierte Decke war recht vergilbt, und auch das bunt zusammengewürfelte Porzellan hatte schon bessere Zeiten erlebt. Die Teller sahen ein wenig so aus, als hätten Mäuse an ihren Rändern geknabbert. Messer und Gabel bestanden aus einfachem Blech.

»Ihr seid bestimmt Besseres gewohnt, da, wo ihr herkommt«, meinte die Tante.

»Nein, nein«, beeilte Helga sich zu sagen. »Auch wenn wir in Frankreich auf einem Weingut gelebt haben, so haben Tante Claire und Onkel Albert uns sehr bescheiden erzogen. Warte«, fügte sie hinzu, als die Tante sich anschickte, das Zimmer zu verlassen, »ich helfe dir.«

Meta drehte sich zu ihr herum, und in ihren eisblauen Augen sah Helga ein gefährliches Blitzen.

»Ich helfe Ihnen, bitte schön«, erwiderte die Tante. »Und danke, ich brauche keine Hilfe.« Damit rauschte sie hinaus.

»Nimm es ihr nicht übel«, raunte der Vater und legte seine Hand auf Helgas. »Sie hatte nach Ostpreußen geheiratet und dort ein großes Gut unter sich. Da herrschten andere Sitten. Und dann bei Kriegsende die Flucht vor den Russen … Wir wissen nicht, was sie durchgemacht hat.«

Helga nickte schnell. Sie wusste genau, was Frauen und Mädchen nach dem Krieg hatten erleiden müssen. Und immerhin war Tante Meta die Schwester ihrer Mutter. Sie würde sie mögen, beschloss sie, egal, was kam.

Meta servierte halb gare Kartoffeln und kleine, in Mehl und Semmelbrösel gebratene Stückchen Fleisch, die außen eine schwarze Kruste hatten und sich im Mund anfühlten wie ein Stück Gummireifen. Helga kaute und kaute, doch sie bekam sie kaum herunter. Sie würgte beinahe und schämte sich in Grund und Boden dafür. Wie sehr hatte sie sich in den Jahren, in denen sie hungerten, nach einem Stückchen Fleisch gesehnt! Und nun saß sie hier, mit Jürgen, ihrem Vater und ihrer Tante, und statt vor Freude zu jubilieren, ekelte sie sich vor dem Essen. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie auch Jürgen angestrengt auf dem Essen herumkaute. Die Tante aß nur ganz wenig und der Vater überhaupt nichts. Er schob das Essen auf seinem Teller hin und her, ohne hinzusehen, denn er hatte nur Augen für Helga und Jürgen. Er sagte kein einziges Wort. Er betrachtete sie beide und wischte sich ein ums andere Mal verstohlen eine Träne aus dem Auge.

Helga erwiderte seinen Blick und spürte, wie ihr ganz warm ums Herz wurde.

»Und es ist wirklich wahr?«, fragte Meta plötzlich. »Ihr habt keine Erinnerung an eure Mutter? An das, was geschehen ist?«

Jürgen schüttelte stumm den Kopf. Helga schien es, als sei er irgendwie kleiner geworden, seit sie hier waren.

»Nein«, entgegnete sie. »Wir haben nach dem Krieg jahrelang mit anderen Kindern in einem Keller gelebt, uns durchgeschlagen. Daran erinnern wir uns. Was davor war –« Sie verstummte für einen Moment, um dann leise hinzuzufügen: »Bitte, was immer es ist, wir möchten es erfahren. Wir leben schon so lange mit dieser Ungewissheit …«

Sie hob das Kinn und blickte zum Vater, doch er wich ihr aus und schaute vor sich auf die vergilbte Tischdecke.

»Wir wissen nicht, was euch und eurer Mutter widerfahren ist, Helgalein«, flüsterte er. »Wir wissen es wirklich nicht.«

Der Rest des Essens verlief schweigend. Helga spürte den prüfenden Blick Metas auf sich ruhen.

Nachdem sie fertig waren, verabschiedete Meta sich und verschwand durch eine Tür, die Helga zuvor gar nicht bemerkt hatte, denn sie war mit derselben verschossenen Tapete beklebt wie der Rest des Raumes.

»Sie hat oben ihre eigenen Zimmer«, erklärte der Vater. »Und sie erträgt es nicht, über den Krieg zu sprechen oder über die Zeit danach. Doch nun … Nun erzählt mir bitte alles, woran ihr euch erinnern könnt.«

Und Helga und Jürgen erzählten. Von Hilde, die sie im Spätsommer 1945 vor dem Hochbunker in Ehrenfeld fand und sich ihrer annahm. Von Horst, Günter und Hans, mit denen sie in einem Keller hausten, von Anna und Karl, Trümmerkinder wie sie, die sich ihrer Bande anschlossen. Sie erzählten nicht, wie sehr sie gehungert hatten, wie verzweifelt sie gewesen waren, wie oft dem Tode nah. Doch Helga sah dem Vater an, dass er sehr wohl hörte, was sie nicht aussprachen.

»Meine lieben, lieben Kinder«, flüsterte er. »Niemals werde ich mir verzeihen, dass ich nicht für euch da sein konnte.«

Er stöhnte und schüttelte sich, als wolle er einen quälenden Gedanken verscheuchen. »Es ist spät, ich zeige euch, wo ihr schlafen werdet.«

Helga hatte sich schon halb erhoben, als sich eine Hand um ihren Unterarm schloss.

»Nein«, sagte Jürgen. Helga sah, dass er mit der anderen Hand den Vater festhielt. »Ich möchte, dass du uns von unserer Mutter erzählst. Von dir. Von uns.«

»Jetzt?«, fragte der Vater.

»Jetzt«, antwortete Jürgen.

Helga hielt die Luft an.

Der Vater setzte sich wieder. Schaute sie beide an. Schluckte.

»Natürlich«, sagte er schließlich. »Lasst mich ganz von vorn beginnen.«

Sie waren sich im Karneval begegnet, der junge Ruud van Beek aus dem holländischen Leuven und die Kölnerin Elisabeth Daubendahl. Elisa, wie sie von ihren Freundinnen genannt wurde, ging als Blumenmädchen, und Ruud, den seine Kommilitonen von der Philosophischen Fakultät nur mit Mühe überredet hatten, sie nach Köln zu begleiten, war vom ersten Augenblick an verzaubert.

»Sie war das schönste Mädchen im Gürzenich«, erzählte der Vater. »Jeder wollte mit ihr tanzen. Sie wies mich zweimal ab, doch ich forderte sie ein drittes Mal auf. Und von dem Moment an, in dem ich sie in den Armen hielt, war es um uns beide geschehen. Wir tanzten die ganze Nacht.«

»Und dann?«, fragte Helga, die jedes seiner Worte aufsaugte, als seien sie reinster Honig.

»Im Morgengrauen kniete ich vor ihr nieder und bat sie um ihre Hand. Sie lachte nur. Später gestand sie mir, sie habe nicht damit gerechnet, mich jemals wiederzusehen.«

»Doch sie täuschte sich«, soufflierte Jürgen.

»Und wie sie sich täuschte!«, entgegnete der Vater, und zum allerersten Mal an diesem Abend sah Helga ihn lachen. »Ich war am Palmsonntag wieder in Köln, an Ostern und an Pfingsten. Elisas Vater, also euer Großvater, ein Witwer, der seine Töchter allein aufzog, war nicht begeistert. Ein Philosophiestudent! Und dann noch ein Holländer! Zu meinem Glück hatte ich eine deutsche Mutter und nur einen leichten Akzent, das half. Und bald darauf hatte ich auch meinen Abschluss in der Tasche und ein, zwei Arbeiten hier in Köln, die recht angesehen waren. Der alte Daubendahl, Gott hab ihn selig, hat mich trotzdem ein ganzes Jahr lang um seine Tochter freien lassen. Erst im Frühjahr darauf durften wir heiraten. Ich glaubte, dies sei der glücklichste Tag meines Lebens. Doch ein Jahr später kamst du zur Welt, mein Junge, und nur elf Monate später du, mein Mädchen.« Der Vater schluckte schwer, und Helga merkte, dass seine Augen schon wieder feucht geworden waren.

»Ich hatte nicht geahnt«, fuhr er leise fort, »dass man so glücklich sein kann …«

Helga und Jürgen sahen einander an. Keiner von beiden wagte mehr, ein Wort zu sagen.

Zeit verging. Längst war es draußen rabenschwarze Nacht geworden. Die Straßenlaternen mussten verloschen sein, vor dem Fenster lag tiefste Dunkelheit. Der Vater hatte begonnen, lautlos vor sich hin zu weinen.

»Was ist geschehen?«, fragte Jürgen in die Stille hinein.

Der Vater fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht und seufzte schwer.