Trümmermädchen & Findelmädchen & Sturmmädchen - Lilly Bernstein - E-Book

Trümmermädchen & Findelmädchen & Sturmmädchen E-Book

Lilly Bernstein

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Beschreibung

TRÜMMERMÄDCHEN Eine zerstörte Bäckerei in einer zerbombten Stadt. Ein eisiger Winter, der tausende Opfer fordert. Und mittendrin zwei Frauen, die ums Überleben kämpfen, um die Liebe und die Erfüllung ihres Traums Köln, 1941. Anna wächst bei ihrer Tante Marie und ihrem Onkel Matthias auf, einem Bäckerehepaar. Das Mädchen liebt die Backstube über alles. Der Duft von frischgebackenem Brot, die mehlgeschwängerte Luft, der große Ofen aus Vulkanstein – für Anna der schönste Ort der Welt. Doch mit dem Krieg kommt das Unglück: Matthias wird eingezogen und die Bäckerei bei Luftangriffen zerstört. Während Köln in Trümmern liegt und vom kältesten Winter des Jahrhunderts heimgesucht wird, schließt Anna sich in ihrer Not einer Schwarzmarktbande an und steigt zur gewieftesten Kohlediebin der Stadt auf. Als sie am wenigsten damit rechnet, verliebt sie sich – eine verbotene Liebe mit gefährlichen Folgen. Von Kälte, Hunger und Neidern bedroht, halten Anna und ihre Tante verzweifelt an dem Traum fest, die Bäckerei wiederaufzubauen. Und an der Hoffnung, dass die Männer, die sie lieben, irgendwann zu ihnen zurückkehren. FINDELMÄDCHEN Das Wirtschaftswunder und die Nachwehen des Krieges: Eine junge Frau erkämpft sich ihren Weg Köln 1955: Die 15-jährige Helga und ihr Bruder Jürgen leben endlich wieder bei ihrem aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Vater. Von der Mutter fehlt seit Kriegsende jede Spur. Der Vater baut sich mit einem Büdchen eine neue Existenz auf, Jürgen beginnt bei Ford. Helga aber, die sich nichts sehnlicher wünscht, als aufs Gymnasium zu gehen, soll sich in der Haushaltungsschule auf ein Leben als Ehefrau vorbereiten. Während eines Praktikums im Waisenhaus muss sie entsetzt mitansehen, wie schlecht die Kinder dort behandelt werden. Schützend stellt sie sich vor ein sogenanntes »Besatzerkind«. Und sie verliebt sich. Doch die Schatten des Krieges bedrohen alles, was sie sich vom Leben erhofft hat … STURMMÄDCHEN Drei junge Frauen. Ein Schwur. Wie stark ist eine Freundschaft? Sie glaubten, die Welt stünde ihnen offen: Die drei Freundinnen Elli, Margot und Käthe werden mit Beginn der NS-Zeit mit der Schule fertig. Im malerischen Tal der Eifel, in dem sie zu Hause sind, muss die Jüdin Margot bald um ihr Leben und das ihrer Familie fürchten. Käthe wird zur überzeugten Nationalsozialistin. Die Halbwaise Elli muss sich entscheiden: Wählt sie die Liebe oder folgt sie ihrem Gewissen?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Trümmermädchen & Findelmädchen & Sturmmädchen

Lilly Bernstein ist das Pseudonym der Kölner Journalistin und Autorin Lioba Werrelmann, deren Debütroman Hinterhaus 2020 mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde. Ihre Romane Trümmermädchen und Findelmädchen waren große Presse- und Publikumserfolge. 

TRÜMMERMÄDCHEN

Eine zerstörte Bäckerei in einer zerbombten Stadt. Ein eisiger Winter, der tausende Opfer fordert. Und mittendrin zwei Frauen, die ums Überleben kämpfen, um die Liebe und die Erfüllung ihres Traums

Köln, 1941. Anna wächst bei ihrer Tante Marie und ihrem Onkel Matthias auf, einem Bäckerehepaar. Das Mädchen liebt die Backstube über alles. Der Duft von frischgebackenem Brot, die mehlgeschwängerte Luft, der große Ofen aus Vulkanstein – für Anna der schönste Ort der Welt. Doch mit dem Krieg kommt das Unglück: Matthias wird eingezogen und die Bäckerei bei Luftangriffen zerstört. Während Köln in Trümmern liegt und vom kältesten Winter des Jahrhunderts heimgesucht wird, schließt Anna sich in ihrer Not einer Schwarzmarktbande an und steigt zur gewieftesten Kohlediebin der Stadt auf. Als sie am wenigsten damit rechnet, verliebt sie sich – eine verbotene Liebe mit gefährlichen Folgen. Von Kälte, Hunger und Neidern bedroht, halten Anna und ihre Tante verzweifelt an dem Traum fest, die Bäckerei wiederaufzubauen. Und an der Hoffnung, dass die Männer, die sie lieben, irgendwann zu ihnen zurückkehren.

FINDELMÄDCHEN

Das Wirtschaftswunder und die Nachwehen des Krieges: Eine junge Frau erkämpft sich ihren WegKöln 1955: Die 15-jährige Helga und ihr Bruder Jürgen leben endlich wieder bei ihrem aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Vater. Von der Mutter fehlt seit Kriegsende jede Spur. Der Vater baut sich mit einem Büdchen eine neue Existenz auf, Jürgen beginnt bei Ford. Helga aber, die sich nichts sehnlicher wünscht, als aufs Gymnasium zu gehen, soll sich in der Haushaltungsschule auf ein Leben als Ehefrau vorbereiten. Während eines Praktikums im Waisenhaus muss sie entsetzt mitansehen, wie schlecht die Kinder dort behandelt werden. Schützend stellt sie sich vor ein sogenanntes »Besatzerkind«. Und sie verliebt sich. Doch die Schatten des Krieges bedrohen alles, was sie sich vom Leben erhofft hat …STURMMÄDCHEN

Drei junge Frauen. Ein Schwur. Wie stark ist eine Freundschaft?Sie glaubten, die Welt stünde ihnen offen: Die drei Freundinnen Elli, Margot und Käthe werden mit Beginn der NS-Zeit mit der Schule fertig. Im malerischen Tal der Eifel, in dem sie zu Hause sind, muss die Jüdin Margot bald um ihr Leben und das ihrer Familie fürchten. Käthe wird zur überzeugten Nationalsozialistin. Die Halbwaise Elli muss sich entscheiden: Wählt sie die Liebe oder folgt sie ihrem Gewissen?

Lilly Bernstein

Trümmermädchen & Findelmädchen & Sturmmädchen

3 historische Romane über starke Frauen in einem Band

Ullstein

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Sonderausgabe im Ullstein EbookFebruar 2025© Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 Berlin 2025Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenAutorenfoto: © Susanne EschE-Book powered by pepyrus

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ISBN 978-3-8437-3611-4

TRÜMMERMÄDCHEN

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

© 2020 by Lilly Bernstein © 2020 dieser Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinCovergestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Mark Owen / arcangel images (Mädchen); akg-images / Elsengold Verlag / Sammlung Wolfgang Holtz (Köln Skyline Hintergrund); © Mark Owen / Trevillion Images (Hintergrund)E-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-8437-2425-8

FINDELMÄDCHEN

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch© 2022 by Lilly Bernstein© 2022 dieser Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinCovergestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © AKG Images, BBWA Holzmann-Bildarchiv / HDB (Stadt); www.buerosued.de (Himmel, Steg, Brücke, Kopf, Steine, Rock)E-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2730-3

STURMMÄDCHEN

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

© 2024 by Lilly Bernstein © 2024 für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinCovergestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Arcangel / Matilda DelvesE-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-3070-9

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

Trümmermädchen

Widmung

TEIL I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

TEIL II

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

TEIL III

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

NACHWORT UND DANK

Findelmädchen

Widmung

TEIL 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

TEIL 2

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

TEIL 3

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

DANK

Sturmmädchen

Prolog

Teil I

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Teil II

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Epilog

Nachwort und Dank

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Trümmermädchen

Trümmermädchen

Widmung

Für Papa

TEIL I

Juli 1941 – Mai 1942

Kapitel 1

Es war der Duft, der sie geweckt hatte. Keine heulende Sirene. Keine Hände, die nach ihr griffen. Kein hastiges Zerren die Treppe hinab. An diesem frühen, stillen Morgen war es einfach nur der Duft, der Anna geweckt hatte. So vertraut, so köstlich.

Es war der schwere, ein wenig saure Geruch von frisch gebackenem Schwarzbrot. Anna liebte Schwarzbrot. Allein bei dem Gedanken an die großen Laibe, die in der Hitze des Ofens vor sich hin waberten, seufzte sie wohlig. Schwarzbrot! Das backte Onkel Matthias nur einmal in der Woche. Heute musste ihr Glückstag sein! Kein Alarm, und dann auch noch Schwarzbrot. Es brauchte fast zwei Stunden, bis es fertig ausgebacken war. Anna war erst elf, aber es gab vieles, was sie schon wusste. Zwei Stunden volle Hitze! Wie viele Briketts dafür wohl nötig waren? Sie würde später Onkel Matthias fragen.

Anna rutschte ein bisschen tiefer ins Bett, so tief, dass ihre nackten Füße die Wand erreichten. Hmmm. »Niemals mehr kalte Füße«, hatte Tante Marie gelacht, als sie in dieses Zimmer gezogen waren, damals, nachdem sie nicht mehr oben bei den Kohns hatten wohnen dürfen. In der engen Kammer unter dem Dach hatten sie im Winter gefroren wie die Schneider. Hier aber, direkt über der Backstube, war es immer herrlich warm. Dafür sorgte der Kamin, der mitten durch den schmalen Raum hindurchging. Anna presste ihre Fußsohlen gegen die Wand. Himmlisch fühlte sich das an. Auch jetzt, im Sommer, konnte sie nie genug davon bekommen. Und Tante Marie hatte natürlich recht behalten. Anna hatte niemals mehr kalte Füße, denn der Ofen bullerte Tag und Nacht.

Sie konnte das Bullern spüren. Es fühlte sich an, als würde ein Riese das ganze Zimmer vorsichtig in seiner Hand hin und her wiegen, mit allem, was darin war, mit dem Bett und der kleinen Kommode und natürlich mit Anna. Dieses Wiegen, dieses sanfte Vibrieren – das war das Feuer, das direkt unter dem Zimmer im Ofen loderte und das Onkel Matthias niemals ausgehen ließ.

Zum Duft des Schwarzbrots gesellte sich nun ein weiterer Geruch. Anna kniff die Augen fest zusammen, sie schnupperte. Dieser Duft war nicht ganz so schwer, und er war nicht ganz so sauer. Er war ein wenig sanfter, doch zugleich durchdringend und schlängelte sich zu ihr hinauf ins Zimmer, strömte durch jede Ritze. Graubrot. So roch Graubrot. Anna lächelte. Und über allem drüber schwebte, ganz leicht und doch unverkennbar, der Duft von frisch gebackenen Brötchen. Kross war dieser Duft und so luftig, dass er gleich weiterschwebte, hinaus in den Hof und durch die enge Gasse.

Anna schnupperte und lächelte weiter still in sich hinein. Sie zog das Daunenbett, dessen Bezug über und über bedruckt war mit gelben Rosen, bis an ihr Kinn. Sie streckte und räkelte sich. Wie ungewohnt es immer noch war, das Bett ganz für sich allein zu haben! So lange sie denken konnte, hatte sie dieses Bett mit Tante Marie geteilt. Und weil Tante Marie das war, was Onkel Matthias mit einem Leuchten in den Augen »wohlgeformt« nannte, war für Anna nur ein klitzekleines bisschen Platz geblieben. In den ersten Wochen ohne Tante Marie hatte sie weiterhin dicht an der Bettkante geschlafen, auf der linken Seite. Weil sie es nicht anders gekannt hatte.

Wenn Anna ganz ehrlich war – aber niemals hätte sie das irgendjemandem verraten, nicht einmal Ruth –, dann vermisste sie Tante Marie nachts. Manchmal. An Tante Marie war alles weich und duftig. Mit ihr im Bett zu schlafen, war, als hätte man ein zusätzliches Daunenkissen gehabt, ein extragroßes, an das man sich ankuscheln konnte, das einem abends ein Lied sang und morgens einen Kuss auf die Stirn drückte.

Nun aber war Anna bald ein großes Mädchen und konnte allein schlafen.

Tante Marie hatte Onkel Matthias geheiratet und schlief mit ihm unten, in dem Zimmer direkt neben der Backstube. Onkel Matthias roch nach Schwarzbrot und nach Sauerteig und manchmal sogar nach Schokolade. Sein Haar leuchtete wie der Kupferkessel, in dem er mit einem Rührbesen, der so lang wie sein Arm war, Eiweiß für Baiser anschlug. Und er hatte ein Lachen, das auf seine rechte Wange ein Grübchen zauberte. Weil er viel lachte, ging das Grübchen meist gar nicht mehr weg. Anna liebte Onkel Matthias sehr. Sie fand allerdings, dass er viel zu viel küsste.

Denn seit sie verheiratet waren, und eigentlich auch schon davor, küssten Onkel Matthias und Tante Marie sich unentwegt. Sie küssten sich, wenn sie früh in der Nacht aus dem Zimmer neben der Backstube kamen. Sie küssten sich beim Frühstück und beim Mittagessen. Sie küssten sich, während Matthias seine großen Hände tief im Bottich voller Teig versenkte, sie küssten sich sogar, wenn Marie im Laden hinter der Theke stand und gerade keiner guckte. Sie küssten sich beim Abendessen, und sie hörten nicht damit auf, bis sie in ihrem Zimmer verschwanden, wo das große Bett mit dem hohen Kopfteil auf sie wartete.

»Die küssen sich wahrscheinlich auch die ganze Nacht«, hatte Ruth Anna erklärt, »sei bloß froh, dass du dein eigenes Zimmer hast und nicht wie andere Kinder bei deinen Eltern schlafen musst!«

»Onkel Matthias und Tante Marie sind doch gar nicht meine Eltern!«, hatte Anna geantwortet.

»Stimmt.« Ruth hatte ein wenig nachgedacht, um dann hinzuzufügen: »Aber da du niemand anderen hast, sind sie es irgendwie doch, zumindest ein bisschen.«

Ruth war Annas beste Freundin. Sie war etwas älter, schon fast zwölf, und kannte die lustigsten Spiele und die besten Verstecke. Sie war ungeheuer lieb. Und sehr klug. Anna hatte lange über Ruths Worte nachgedacht. Wie ging das, ein bisschen Eltern sein? Wie hatte Ruth das gemeint? So gerne hätte sie sie das gefragt. Aber das konnte sie nicht. Denn Ruth war verschwunden.

Anna lauschte. Von unten waren Stimmen zu hören. Onkel Matthias, wie er lachte, und Tante Marie, wie sie in sein Lachen einfiel.

Über ihr war es mucksmäuschenstill.

Über ihr lebten die Kohns. Mutter Kohn, Vater Kohn, Ruth und ihr kleiner Bruder Gerald. Gerald war ein bisschen komisch im Kopf. »Mama hatte eine schwere Geburt«, hatte Ruth ihr erklärt, »da hat er zu wenig Sauerstoff bekommen.« Gerald war ein Junge von acht Jahren, doch er war so klein, er hätte auch erst vier oder fünf Jahre alt sein können. Er hatte ein liebes Gesicht, und er lächelte fast immer, aber er sprach nicht.

Gerald war ein stilles Kind. Von ihm hatte Anna in ihrem schmalen Zimmer über der Backstube nie irgendetwas gehört. Doch sie hatte Ruth gehört, ihre kleinen schnellen Schritte, wie sie über den Flur gelaufen war, in die Küche, in den Salon, ins Kinderzimmer, ins Bad. Die Wohnung der Kohns war hochherrschaftlich, sie hatten sogar einen extra Ofen nur für warmes Wasser, sie nannten ihn den Badeofen.

»Dass du uns hören kannst!«, hatte Ruth gestaunt. »Dabei hat Papa doch extra Betonböden einziehen lassen, wegen der Wanzen!«

Anna hatte in ihrem Zimmer auch Herrn Kohn gehört. Dessen tiefe Stimme hatte fast wie das Tuten der Dampfer geklungen, die nur wenige Hundert Meter entfernt den Rhein hinauf- und hinabfuhren. Und sie hatte Frau Kohn gehört. Frau Kohn war unüberhörbar gewesen. Sie hatte an einem Stück geredet. Und wenn sie nicht geredet hatte, dann hatte sie von früh bis spät gesungen. Und wenn ihr weder nach Reden noch nach Singen zumute gewesen war, dann hatte sie Schallplatten aufgelegt. Hans Albers, Zarah Leander, Heinz Rühmann – sie alle hatten stundenlang gesungen in der Wohnung im zweiten Stock.

Anna wusste nicht, wann es angefangen hatte, doch die Kohns waren leiser und leiser geworden. Frau Kohn hatte nicht mehr gesungen, sie hatte keine Platten mehr aufgelegt, sie hatte nur noch wenig gesprochen und ganz so, als fürchtete sie, unterbrochen zu werden. Die Stimme von Vater Kohn war brüchig geworden. Und selbst Ruth war nicht mehr so viel hin und her gerannt, sie hatte sich auf Zehenspitzen bewegt, und wenn Anna sie gesehen hatte, hatte ihre Freundin von Woche zu Woche blasser gewirkt. Allein der kleine Gerald hatte seine hölzerne Eisenbahn unbeirrt und wie eh und je durch die Zimmer geschoben.

Nun war es dort oben vollkommen still. Egal, wie sehr Anna die Ohren spitzte, sie hörte nichts, keinen einzigen Laut. Und so ging das schon seit drei Tagen und drei Nächten.

»Die Kohns sind nur kurz weg«, hatte Tante Marie erklärt.

Anna war das komisch vorgekommen.

»Wohin denn?«, hatte sie gefragt, aber keine Antwort erhalten.

Eins ist doch klar, überlegte Anna nun, die Decke mit den gelben Rosen bis ans Kinn gezogen und die Füße an die warme Kaminwand geschmiegt, wenn die Kohns in Urlaub gefahren wären, dann hätte Ruth ihr das doch gesagt! Stundenlang wären sie mit dem Finger über den Globus gefahren, der bei den Kohns auf dem Vertiko stand und bei dem man innen ein Lämpchen anmachen konnte, sodass er leuchtete. Vor drei Sommern waren die Kohns in die Schweiz gefahren, und Anna konnte seither nahezu blind auf das winzig kleine Land tippen, so oft hatten die beiden Mädchen es auf dem Leuchtglobus gesucht. Die Schweiz war seitdem durchsichtig, man konnte das kleine Lämpchen brennen sehen. Und überhaupt, wohin sollten die Kohns denn in Urlaub fahren, jetzt, wo doch gar keine Ferien waren? Und wo Krieg war?

Anna schüttelte den Kopf. Und lauschte. Der Ofen unter ihr bullerte. Onkel Matthias lachte schon wieder, Tante Marie rief etwas, es klang, als hätte sie sich erschrocken. Aus der Wohnung oben drang kein einziges Geräusch.

Durch die Pappe, die vor ihrem Fenster steckte, schien es erst hellgrau herein. Früh genug, dachte Anna. Es war noch Zeit.

Im Nu war sie aus dem Bett. Sie streifte das leinene Nachthemd ab, das einmal Tante Marie getragen hatte und das für sie an den Ärmeln und unten umgenäht worden war. Es war ihr so weit, dass Anna fünf oder sechs Mal hineingepasst hätte, mindestens. Sie zog ihre Socken an und ihren blau gestreiften Rock. Dann die helle Bluse. Wie sie diese Bluse hasste! Sie hatte vorn einen hohen Kragen, sodass Anna meinte kaum Luft darin zu bekommen. Und hinten hatte sie sechzehn winzig kleine Knöpfe und siebzehn Ösen, die alle einzeln verschlossen werden mussten.

Anna keuchte, während sie sich abmühte. Als sie glaubte, endlich alle Ösen und Knöpfe geschlossen zu haben, sah sie vorn an sich hinunter. Die Bluse saß ganz schief. Anna stöhnte. Wer dachte sich nur solche Blusen aus!

Vor dem Fenster wich das Grau langsam einem zarten Blau. Anna spürte, dass sie keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Wo waren die Schuhe? Sie sah sich um. Da – Tante Marie hatte sie am Abend ordentlich vors Bett gestellt. Die Absätze waren schon ganz abgelaufen, und die Nägel, die sie hielten, machten ein klackerndes Geräusch auf dem Dielenboden, wie Anna nun einfiel. Das wäre nicht gut. Also besser keine Schuhe. Auf Zehenspitzen schlich sie in den Flur.

Links und rechts huschte sie an vier Türen vorbei. Keines der Zimmer dahinter war noch bewohnt, die Kostgänger waren alle an der Front. Am Ende des Flurs nahm sie die zweite Stufe der gewundenen Treppe, nicht die erste, denn Anna wusste genau, welche Stufe knarzte und welche nicht. Beinahe geräuschlos huschte sie hinauf.

Durch das bunte Glas in der Mitte der Wohnungstür fiel kein Licht, kein Schemen war dahinter. Wie oft war Anna hier hinaufgestürmt, um Ruth zu besuchen. Sie hatte allenfalls kurz geklopft und nie gewartet, bis ihr geöffnet worden war. Sie war immer gleich hinein, es war eh niemals abgeschlossen gewesen. So lange sie denken konnte, war das Zuhause der Kohns auch Annas Zuhause gewesen.

Heute ging ihr Atem ein bisschen schneller, als sie die Türklinke herunterdrückte. Es war offen, wie immer.

Und die Wohnung sah aus wie immer. Annas Blick streifte das kleine Tischchen aus rotem Holz neben der Eingangstür, das gehäkelte Deckchen darauf und das schwarzlederne Telefonbuch. Dabei war das Telefon, das an der Wand darüber gehangen hatte, schon so lange weg. Wie oft hatte Anna staunend davorgestanden, wenn die beiden Glocken im Innern erklungen waren und der blecherne Apparat ein Geräusch von sich gegeben hatte, als klingele ein Wecker, nur viel melodiöser. Eines Tages war das Telefon verschwunden gewesen. »Frag nicht«, hatte Ruth gesagt.

Nie wieder hatte es bei den Kohns melodiös geklingelt.

Und nun hat sich die ganze Wohnung in Schweigen gehüllt, ging es Anna durch den Kopf. Sie schlich in die Küche.

An den Haken über dem eisernen Herd glänzten die Töpfe und Pfannen, als hätte man sie extra für dieses große Schweigen poliert. Ein Schulheft lag auf dem geschwungenen Esstisch, das Anna sofort erkannte – es war ihres. Seit Ruth nicht mehr zur Schule gehen durfte, brachte Anna ihr ihre vollgeschriebenen Hefte vorbei. Ruth lernte sie auswendig, Wort für Wort. Alles andere brachte ihr Vater ihr bei.

Neben dem Heft stand eine benutzte Kaffeetasse. Frau Kohn trank ständig und überall Kaffee, auch wenn sie ihn »Muckefuck« nannte und darauf schimpfte.

Nichts schien sich hier verändert zu haben. Nur die ohrenbetäubende Stille, die war neu.

Anna schlich zurück in die Diele und dann ins Kinderzimmer. Es war ihr alles so vertraut: Ruths Bett hinter dem braunen Vorhang, den ihr Vater zu ihrem letzten Geburtstag angebracht hatte, und gegenüber das Bett von Gerald. Es war das Bett eines Kleinkindes mit einem Gitter davor, damit er nicht herausfiel. Der niedrige Tisch am Fenster war übersät mit alten Zeitungen, deren Ränder von Gerald bunt bemalt worden waren.

Neben dem Tisch saß Elsbeth in ihrem kleinen geflochtenen Stuhl und schaute Anna entgegen.

Das war der Moment, in dem Anna mit Sicherheit wusste, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Niemals wäre Ruth verreist, ohne Elsbeth mitzunehmen! Elsbeth mit dem seidigen blonden Haar und den Augen, die auf- und zuklappten. Eigentlich war Ruth schon ein bisschen zu alt, um noch mit einer Puppe zu spielen. »Im Grunde ist Elsbeth keine richtige Puppe«, hatte sie Anna erklärt, »sie ist meine zweitbeste Freundin, gleich nach dir.«

Nun aber war Ruth verschwunden, sie hatte Anna nichts gesagt, und sie hatte Elsbeth zurückgelassen.

Anna wusste nicht, wieso sie noch in den Salon ging. Etwas zog sie dorthin.

Im Salon standen die wuchtigen Sessel mit den hölzernen Armlehnen im exakten rechten Winkel zueinander, eins der Spitzendeckchen auf den Kopfteilen war ein bisschen verrutscht. In einer der Sesselritzen steckten Ruths »Geschichten aus der Murkelei«. Sie hatte sie ihrem kleinen Bruder vorgelesen, so oft, dass das Buch schon ganz zerfleddert war. Im wuchtigen gläsernen Aschenbecher lag ein kleiner Ascherest. Früher hatte Tante Marie ihn noch so oft auswischen können, er war gleich wieder übergequollen, so viel hatte Ruths Vater geraucht. Seit einiger Zeit rauchte er nur noch ganz selten.

»Schmeckt es ihm nicht mehr?«, hatte Anna gefragt, und Ruth hatte geantwortet: »Frag nicht.«

Als Nächstes erblickte Anna die hölzerne Eisenbahn des kleinen Gerald, die in Reih und Glied unter dem Vertiko stand, und schließlich, auf dem Vertiko, neben dem neunarmigen Kerzenhalter, den leuchtenden Globus.

Ungläubig kniff sie die Augen zusammen. In dieser verlassenen Wohnung hatte doch tatsächlich jemand vergessen, das Licht im Globus auszuknipsen, und das trotz der Verdunkelung! Wo doch sogar Fahrradlampen abgeschirmt werden mussten!

Anna bekam einen Schreck. Sie trat näher und griff nach dem Schalter. Aber vorher gab sie dem Globus noch einen kleinen Schubs. Und da entdeckte sie es. Eine zarte, helle Linie, durch die das Lämpchen schien.

Anna betrachtete sie genauer.

Die Linie führte von Europa einmal quer über den Atlantik bis nach New York.

Kapitel 2

»Nicht doch«, lachte Marie unten in der Backstube, »ich muss gleich aufschließen!«

Aber sie konnte einfach nicht aufhören, Matthias’ Küsse zu erwidern. Seine Lippen schmeckten süßer als jeder Zuckerguss, waren weicher als jedes Biskuit. Und wie immer, wenn sie ihn in ihren Armen hielt, schlug ihr das Herz fast zum Hals heraus und drehte sich in ihrem Bauch einmal alles um sich selbst. Fast ein Jahr war es nun schon her, dass er sie geheiratet hatte, und doch erschien ihr immer noch jeder Tag mit ihm wie ein Geschenk des Himmels.

Sie hatten sich für einen kurzen Moment auf die Ofenbank gesetzt, unter der das Feuerholz lagerte, und Matthias hatte sie auf seinen Schoß gezogen. Nun spürte sie seine Hände auf ihrem Kleid, ihrem Hals, auf ihren nackten Armen. Gleich, schoss es ihr durch den Kopf, werde ich überall weiße Abdrücke vom Mehl haben. Doch im nächsten Augenblick schon verschwendete sie daran keinen Gedanken mehr, denn Matthias hatte begonnen, den kunstvoll aufgesteckten Knoten an ihrem Hinterkopf zu lösen und ihren Hals zu küssen.

»Liebster, was tust du?«, stammelte sie.

Sie fühlte seine Lippen, fühlte, wie er jede einzelne Strähne ihres blonden Haars durch seine Finger gleiten ließ. Er küsste sie immer weiter, ihren Mund, ihren Nacken.

»Die Kunden«, versuchte es Marie noch einmal, »es ist gleich sechs.«

»Ja«, flüsterte Matthias, »gleich.«

Und Marie, die sich so viele Jahre nach diesem Mann und seinen Küssen gesehnt hatte, entschied, dass noch genügend Zeit war.

Lächelnd nahm sie ihren Liebsten bei der Hand und führte ihn in das Zimmer neben der Backstube.

»Komm, aber nur für einen Moment.«

Eine halbe Stunde später schloss Marie den Laden auf. Es war erst kurz vor sechs und fast noch dunkel. Ihre Haare hatte sie wieder aufgesteckt, sie waren ein bisschen weiß vom Mehl, und Marie hoffte, dass das niemandem auffallen würde. Sie spürte, wie ihre Wangen glühten, und wenn sie nur daran dachte, was sie und Matthias gerade im Zimmer neben der Backstube getan hatten, bebte sie immer noch. Hastig hatte sie sich eine frisch gebügelte Schürze über das Kleid gezogen, jetzt strich sie ein wenig zerstreut eine nicht vorhandene Falte glatt. Schnellen Schrittes eilte sie durch den kleinen Verkaufsraum. An ihrer linken Hand glänzte der schmale Ehering, in der rechten hielt sie den Schlüssel für die schwere Holztür mit den Fenstern aus feinstem Bleiglas.

In diesem Moment fühlte sie sich so glücklich wie nie zuvor. Hätte jemand Musik gespielt, sie hätte unaufhörlich getanzt.

Niemals würde sie den Tag vergessen, an dem sie zum ersten Mal vor dieser Tür gestanden hatte, hungrig, krank und zu Tode erschöpft.

Zwei Tage und zwei Nächte war sie gelaufen. Nachts verbarg sie sich in Scheunen und Heuschobern, in den Armen das winzige Bündel. Das Kind gab keinen Ton von sich, zwei Tage lang nicht. Sie gab ihm von der Milch, die sie gestohlen hatte und die sie unter ihrer Achsel wärmte. Während das Kind trank, hielt es die Augen geschlossen und ruderte nur ein wenig mit den Ärmchen. Nachdem die Milch verbraucht war, wurde es ganz still.

Als Marie endlich den Rhein erreichte, als sie im Morgengrauen das glitzernde Band des mächtigen Stroms erblickte, da glaubte sie schon, das Kind sei tot. Mit letzter Kraft schleppte sie sich über die Brücke mit den himmelhohen eisernen Rundbögen. Ihre Füße waren wund und blutig, ihr Körper ein einziger Schmerz. Ihr war so übel vor Hunger, dass sie mehr wankte als ging. Sie wurde angerempelt, Menschen auf Fahrrädern schrien, sie solle Platz machen, Lastwagen, Autos und Motorräder hupten. Direkt daneben fuhren die Eisenbahnen und machten einen gewaltigen Lärm.

Marie kannte damals die Stille des Bergischen Landes. Sie kannte harte Arbeit und Einsamkeit. Was sie nicht kannte, war das lärmende Chaos einer Stadt wie Köln.

Am Ende der Brücke erhob sich der Dom, schwarz und bedrohlich ragte er vor ihr auf. Einen Moment lang war es Marie, als schaute er voller Verachtung auf sie herab, auf sie und das Bündel in ihren Armen. Sie senkte den Blick, spürte die Scham und zugleich den Trotz, der sie bis hierher geführt hatte. »Der«, raunte sie dem Kind zu, von dem sie nicht wusste, ob es noch lebte, »hat uns gar nichts mehr zu sagen.«

Das Viertel am Fuße der Brücke war voller Menschen. Frauen, Männer, Alte, Kinder, die meisten noch ärmlicher gekleidet als Marie.

Die Gassen waren eng und übersät mit Unrat. Als Marie über eine offene Kloake steigen musste, hielt sie sich entsetzt die Nase zu. Hier sollte sie Arbeit finden und ein Obdach? Unmöglich!

Voller Verwunderung las sie die Straßennamen, die an den windschiefen, halb verfallenen Häusern standen. »Salzgasse«. »Seidmachergässchen«. »Fischmarkt«. Es musste also einmal Handel gegeben haben in dieser Gegend, Wohlstand womöglich. Und tatsächlich: Je weiter sie in das Viertel gelangte, desto häufiger erblickte sie Häuser, an denen gearbeitet wurde. Als mühte dieses Viertel sich, die Armut und die Hoffnungslosigkeit, die den Menschen in die Gesichter geschrieben standen, von sich abzustreifen.

Und dann entdeckte Marie den breiten Boulevard, der direkt am Rhein entlangführte. Eine Straßenbahn bimmelte, am Ufer schaukelten Frachtschiffe und Ausflugsdampfer. Ein sanfter Wind kam vom Wasser, und für einen Augenblick verschwanden all die unangenehmen Gerüche des Viertels.

Marie atmete tief ein. Und rieb sich im nächsten Moment verwundert die Augen: Mitten zwischen den abgerissenen Gestalten, die Säcke mit Kohle schleppten, dürre Pferde vor Karren gespannt hatten oder einfach nur herumlungerten, spazierte eine Dame, die gar nicht hierher zu gehören schien.

Die Dame trug ein eng geschnürtes weißes Kleid mit roten Streublümchen, einen dazu passenden Hut mit roter Schleife und Absatzschuhe mit glänzenden Spangen. Sie schob einen niedrigen rosafarbenen Kinderwagen mit ganz kleinen Rädern, in dem ein Mädchen mit dunklem, zu dünnen Zöpfen geflochtenem Haar saß.

Marie konnte nachher niemals sagen, warum sie der Dame damals gefolgt war. Es war ein Impuls, der ihr Leben verändern sollte.

Sie folgte ihr durch die engen, holprigen Gassen bis zu einer schweren Holztür mit kunstvoll geschliffenem Glas. Die feine Dame mit dem Kinderwagen ging hinein, kam aber nicht wieder heraus.

Andere Menschen traten hinein und schließlich wieder heraus – Kunden, denn über der schweren Holztür entdeckte Marie das Schild mit der Aufschrift »Bäckerei«. In einem großen Fenster neben der Tür präsentierte eine niedrige Auslage Kuchen und Küchlein in allen Formen und Größen: runde Kuchen und eckige Kuchen, wagenradgroße Blechkuchen und winzige Sahnetörtchen, Kuchen, aus denen seitlich die Schokolade quoll, kunstvolles Gebäck, verziert mit Hagelzucker und gelber Marmelade.

Marie, die seit Tagen nichts gegessen hatte, knurrte der Magen beim Anblick dieser Leckereien. Die Tür öffnete sich erneut, ein Junge im Matrosenanzug trug ein in weißes Papier eingeschlagenes Paket hinaus. Mit dem Jungen drang ein Duft in die Gasse, so köstlich, dass Marie ganz schummerig wurde. Sie lehnte sich gegen die Hauswand, die neu verputzt worden und hellgrün gestrichen war. Das Bündel, das doch eigentlich so leicht war, wurde ihr mit einem Mal zu schwer, und sie spürte, wie ihre Knie nachgaben. Schon sank sie zu Boden, das Kind fest an ihr Herz gedrückt.

Das Nächste, woran Marie sich erinnerte, waren die starken Arme eines Mannes, der sie eine enge gewundene Treppe hinauftrug.

»Frau Kohn«, rief der Mann, »Frau Kohn! Bitte, helfen Sie mir!«

Wie ein Engel erschien die feine Dame in einer Wohnungstür. Den Hut hatte sie bereits abgelegt, Marie erkannte das weiße Kleid mit den Streublumen.

»Sie ist auf der Straße zusammengesunken!«, schrie der Mann. »Sie hat ein ganz kleines Kind bei sich!«

Die feine Dame zögerte keine Sekunde. Eilig winkte sie den Mann, der Marie und das Kind in seinen Armen hielt, in die Wohnung. Marie wurde auf ein großes sauberes Bett gelegt, die Dame fühlte ihre Stirn und ihren Puls.

»Holen Sie ihr Wasser, schnell«, rief sie, dann beugte sie sich über das Bündel.

»Es lebt. Es ist ganz ausgetrocknet. Holen Sie warme Milch! Hören Sie, holen Sie warme Milch!«

Der Mann brachte Wasser und warme Milch.

»Frau Kohn, ich muss wieder hinunter …«

»Natürlich, gehen Sie.«

Der Mann ging, die Frau blieb.

Eine Woche lang wurden Marie und das Kind in dem großen weichen Bett umsorgt. Nie zuvor hatte Marie etwas so Wundervolles erlebt. Sie bekamen zu essen und zu trinken, von allem das Beste. Das kleine Mädchen, das im Kinderwagen gesessen hatte, fast noch ein Säugling, hockte am Fußende des Bettes und betrachtete die Neuankömmlinge mit großen runden Augen. Ab und zu schaute ein Mann herein, auch er fein gekleidet, rauchend und immer etwas zerstreut.

»Beachten Sie ihn nicht«, lachte die Frau, »er ist Architekt, also fast ein Künstler, mit den lebenspraktischen Dingen kennt er sich nicht aus.«

Marie sprach wenig. Sie sagte »danke« und »bitte« und fürchtete in einem fort, dass dieser wundervolle Traum bald enden könnte.

Das Kind, das sie in ihren Armen gehalten hatte, wurde rosiger und rosiger. Am siebten Tag tat es seinen ersten Schrei, laut und vernehmlich, als hätte es immer schon geschrien und nicht seit seiner Geburt geschwiegen.

Die feine Dame nahm es auf den Arm. Sie sprach die Frage nicht aus, doch sie lag in ihrem Blick.

»Von meiner Schwester«, antwortete Marie mit fester Stimme. »Sie ist unter der Geburt gestorben.«

»Und der Vater?«

Marie schlug die Augen nieder. Ihre Stimme zitterte nun doch.

»Über alle Berge.«

Die feine Dame entgegnete nichts. Sie legte den Säugling zurück in das große Bett und ging aus dem Zimmer.

Marie zitterte am ganzen Körper, während das Kind schrie und gar nicht mehr damit aufhören wollte.

Nach kurzer Zeit kam die Dame zurück, in der Hand eine Saugflasche mit warmer Milch und aufgelösten Haferflocken.

»So ein hübsches Mädchen«, sagte sie, während sie den Säugling fütterte. »Wenn Sie wollen, können Sie erst einmal bleiben. Wir haben unter dem Dach ein Dienstmädchenzimmer, das nicht benutzt wird. Und ich könnte Hilfe gebrauchen.«

Eine Ewigkeit war das nun schon her! Marie atmete einmal tief durch, steckte den Schlüssel in das Schloss der Ladentür und zog das Rollo hoch. Es war schwer und verkantete sich leicht. Die Schnur, an der es hing, war im Laufe der Zeit ganz dünn geworden. Die Erinnerung an den Moment, in dem Frau Kohn ihr angeboten hatte, zu bleiben, wärmte Maries Herz. Was für eine wunderbare, fürsorgliche Arbeitgeberin Frau Kohn gewesen war!

Über zehn Jahre hatte sie für die Kohns gearbeitet. Auch dann noch, als die Nazis ihnen verboten hatten, ein »arisches« Dienstmädchen zu beschäftigen. Matthias, den sie damals noch »Herr Bäckermeister« genannt hatte und der die Räume unten im Haus gepachtet hatte, hatte Marie als seine Angestellte ausgegeben.

Zum allerersten Mal in ihrem ganzen Leben hatte Marie erfahren, wie es war, wenn andere Menschen für sie sorgten. Immer war sie auf sich allein gestellt gewesen, selbst in größter Gefahr hatte es niemanden gegeben, auf den sie sich verlassen konnte. Die Begegnung mit Frau Kohn hatte alles verändert.

Der Gedanke an das Schicksal der Kohns versetzte Maries Herz einen Stich. Wo sie wohl sein mochten? Und wie es ihnen dort erging? Doch es gab niemanden, den sie fragen konnte. Ihr blieb nur die Hoffnung, dass bald eine Nachricht eintreffen möge.

Die Sorge um die Kohns ließ eine weitere Angst in Marie aufsteigen, eine, die sie weit weg in die hintersten Winkel ihres Herzens verbannt hatte. Denn wann immer sie diese Angst zuließ, schnürte sie ihr die Luft ab, und sie fürchtete, an ihr zu ersticken.

Wenn bloß niemand Matthias auf die Schliche kam! Wenn bloß niemand herausfand, was er getan hatte für die Kohns! Beim Gedanken, Matthias könnte ihr und Anna genommen werden, spürte sie einen Schmerz, so gewaltig, dass ihr beinahe schwarz vor Augen wurde.

Beruhige dich, redete sie sich selbst gut zu, beruhige dich. Er wird dir nicht genommen werden, auf gar keinen Fall.

Marie atmete noch einmal tief durch und spürte, wie die Beklemmung von ihr wich. Sie würde der Angst nicht nachgeben, niemals.

Endlich, das Rollo war oben. Im gleichen Augenblick ging draußen vor der Tür die Sonne auf. Ihre Strahlen drangen in die Bäckerei, breiteten sich aus bis in den hintersten Winkel des kleinen Ladens. Die hölzernen Regale, ganz rund geschliffen von den unzähligen Broten, die sie im Laufe der Jahrzehnte feilgeboten hatten, leuchteten wie pures Gold. Im Glasaufsatz, den Matthias auf die uralte Theke hatte setzen lassen – nicht allzu hoch, damit Marie noch gut darübergucken konnte –, schimmerte das Licht in allen Farben des Regenbogens. Auf dem Mosaikfußboden malte es leuchtende Kleckse, auf der Bank vor der Theke brachte es das Karomuster des Kissens zum Tanzen. Und der ganze Raum war erfüllt vom Duft des frisch gebackenen Brotes, das Matthias gerade hereintrug.

Die Schönheit dieses Moments zauberte augenblicklich ein Lächeln auf Maries Gesicht. Matthias warf ihr einen Blick zu, er war schon wieder halb in der Backstube, doch in diesem kurzen Blick lagen so viel Liebe und Einverständnis, dass Marie all ihre Sorgen entschlossen aus ihrem Herzen verbannte. Mein Liebster! Wie wunderbar das Leben doch sein konnte!

Heute, an diesem frühen Morgen im Juli 1941, war sie es, die die Tür der kleinen Bäckerei im Buttermarkt weit öffnete und die wartenden Menschen hereinbat.

Die Schlange aus Frauen, Kindern und Alten zog sich so weit die Gasse hinab, dass Marie ihr Ende nur erahnen konnte. Viele Bäckereien waren bereits geschlossen, weil die Bäcker an der Front kämpften. Matthias zählte zu den wenigen, die »u.k.« gestellt waren, was »unabkömmlich« bedeutete. Welch ein Glück, dass das Schicksal ihren Liebsten verschont hatte!

Marie war jeden Tag aufs Neue berührt, wenn sie erfuhr, welch weite Wege ihre Kunden auf sich nahmen, um gutes, nahrhaftes Brot zu bekommen. Matthias versorgte so viele Menschen wie nie zuvor. Von überallher strömten sie in die kleine Bäckerei, sogar von der anderen Rheinseite, aus Deutz und aus Mülheim.

Marie begrüßte sie alle mit einem strahlenden Lächeln.

»Willkommen! Treten Sie ein!«

Ganz vorn stand heute Agnes Schmitz. Gestern war sie nicht da gewesen und vorgestern auch nicht, Marie hatte sich schon gesorgt. Die Frau stützte sich schwer auf ihren Ältesten, einen hoch aufgeschossenen Jungen von zwölf oder dreizehn Jahren.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen.«

Marie rannte um die niedrige Theke herum, löste die Hand der Frau von der Schulter des Jungen und fasste sie sanft am Arm. Oje, sie konnte durch den dünnen Mantelstoff die Knochen fühlen. Fünf Kinder hatte Agnes Schmitz zu versorgen. Den Mann hatten sie gleich ’39 eingezogen, Marie war ihm nie begegnet. Ob Agnes Schmitz immer schon so verhärmt gewesen war, oder ob auch sie Liebe und Fröhlichkeit gekannt hatte?

»Möchten Sie sich kurz setzen? Kommen Sie, meine Liebe, ruhen Sie sich ein bisschen aus.«

Matthias hatte geschmunzelt, als Marie die niedrige Bank vor die Theke gestellt hatte. Als wenn es nicht schon eng genug gewesen wäre in ihrer kleinen Bäckerei! Doch Marie hatte gewusst, dass er ihr keinen Wunsch abschlagen konnte.

»Liebster, die Frauen stehen Stunde um Stunde draußen an! Viele haben kleine Kinder dabei!«

Und Matthias, der ihr einst gestanden hatte, er werde niemals im Leben vergessen, wie Marie vor der Auslage seines Schaufensters zusammengebrochen war und wie sein Herz beinahe ausgesetzt hatte, als er ihr zum ersten Mal in die Augen sah, damals, auf der engen Treppe, hatte lächelnd ein Kissen für die kleine Bank geholt.

Mit einem Seufzer ließ Agnes Schmitz sich nieder.

»Haben Sie Ihre Marken dabei? Was kann ich Ihnen bringen?«

Marie streichelte den knochigen Arm, und zu ihrer Freude erhellte sich das Gesicht der Frau für einen Moment. Ein Lächeln bezwang die Härte, wie Marie sie in so vielen Gesichtern der Frauen wahrnahm, die zu ihr in die kleine Bäckerei kamen. Eine Härte, die, da war sie sich sicher, der Krieg gebracht hatte. Seit zwei Jahren ging das nun schon, und ihr schien es, als glaubte kaum noch jemand an einen schnellen Sieg. In den Gesichtern der Frauen las Marie die Erschöpfung und die Einsamkeit, aber auch den Verdruss.

»Heil Hitler!«

Ein Zucken ging durch die Wartenden, und eine korpulente Frau kämpfte sich nach vorn, die Haare hoch aufgetürmt, um die Schultern einen Fuchs, und das mitten im Sommer. Gebieterisch streckte sie ihre Hand mit den Brotmarken über die Ladentheke.

»Geht das hier mal voran?«

Agnes Schmitz mühte sich sofort von der Bank hoch.

»Ich bin zuerst dran!«, kreischte sie. »Ich warte seit vier Uhr in der Früh!«

Ihr Ältester schaute beschämt zu Boden.

»Meine liebe Frau Schmitz, beruhigen Sie sich, bitte«, rief Marie und strich dem Jungen über das Haar, das sich ganz hart anfühlte. So viele Häuser im Martinsviertel waren renoviert worden in den vergangenen Jahren, Herr Kohn hatte als Architekt wahre Wunder vollbracht und war deshalb lange von den Nazis verschont worden, doch längst nicht jedes Haus hatte fließend Wasser oder gar ein eigenes Bad.

Marie eilte zurück hinter die Theke und reichte Agnes Schmitz’ Ältestem das Brot. Dann streckte sie den Rücken durch, um sich ein bisschen größer zu machen, als sie eigentlich war. Denn sie hatte mit einem Blick das Parteiabzeichen entdeckt, das die korpulente Frau am Revers trug. Jetzt bloß keinen Ärger provozieren.

»Heil Hitler!«, rief Marie etwas zu laut. »Was darf ich Ihnen geben?«

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Agnes Schmitz mit kleinen schnellen Schritten aus der Bäckerei eilte. Ihr Ältester folgte ihr. Er umklammerte das Brot, als rechnete er fest damit, es verteidigen zu müssen. Ganz klein waren seine Augen, zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. Doch jetzt, er war schon fast an der Tür, wandte er sich noch einmal um, er riss die Augen auf, fixierte etwas hinter ihr. Marie schaute sich um. War das Anna, die da gerade blitzschnell in der Backstube verschwunden war? War sie etwa schon auf? Um diese Zeit? Nein, beschloss Marie, das konnte nicht sein. Anna schlief ganz bestimmt noch.

»Nun aber dalli, Frau Bäckerin, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«

Die korpulente Frau fuchtelte mit den Brotmarken und pochte zugleich mit der rechten Hand auf die Theke, der goldfarbene Ehering machte ein hässliches Geräusch auf dem blank polierten Glas.

»Natürlich, bitte verzeihen Sie.«

Marie merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, als sie das Brot über die Theke reichte. Wortlos nahm die Kundin es an und rauschte davon.

»Auf Wiedersehen!«, rief Marie ihr hinter her.

Diese entsetzlichen Nazis, dachte sie. Wenn das doch bloß bald vorbei wäre.

Kapitel 3

»Himmlisch!« Anna juchzte vor Vergnügen.

Sie saß auf der Ofenbank und hatte den Mund voller warmer, flüssiger Schokolade.

»Guten Morgen, meine Große!«, hatte Onkel Matthias gerufen, kaum, dass sie die Backstube betreten hatte. »Willst du mal ins Geheimfach gucken?«

Anna hatte begeistert genickt und war sofort auf die Ofenbank geklettert, denn sonst wäre sie an das Geheimfach gar nicht herangekommen.

Der Ofen war rundum mit dicken, weißen, glänzenden Fliesen verkleidet. Zwei dieser Fliesen ließen sich herausnehmen. Sie waren ganz oben in der Ofenwand, sodass man sie nicht allzu leicht entdeckte. Man musste sehr vorsichtig beim Herausnehmen sein, damit sie einem nicht aus der Hand rutschten und womöglich kaputtgingen. Hinter den Fliesen war ein Stein, der eine besondere Musterung hatte. Die Backofenbauer, so hatte Onkel Matthias es Anna und Marie erklärt, hatten dort ihr Siegel hineingehauen. Es sah ein bisschen so aus wie das Gesicht eines Mannes mit tiefen Falten zwischen Nase und Mund. Auch der Stein ließ sich herausnehmen, er hatte dafür extra links und rechts zwei kaum sichtbare kleine Dellen.

Anna war eine Meisterin darin, das Geheimfach zu öffnen. Denn in dem nicht allzu großen Hohlraum in der gemauerten Umhüllung des Ofens stand ein Töpfchen aus Emaille. Man musste ein Tuch nehmen, um es anzufassen, der Griff konnte ganz schön heiß werden. Und in dem Töpfchen befand sich warme, geschmolzene Schokolade. Eigentlich war sie zum Verzieren von Gebäck bestimmt, aber weil es kaum noch Gebäck gab, durfte Anna ab und zu ihren Finger hineintauchen. Welche Wonne!

Während Anna ein ums andere Mal genüsslich ihren Zeigefinger abschleckte, übte Onkel Matthias mit ihr Kopfrechnen.

»Zwei Öfen voller Schwarzbrot, drei voller Graubrot, wie viele Brote werden wir heute backen?«

»Zweihundert«, antwortete Anna glucksend und zugleich ein bisschen schmollend. »Das ist viel zu einfach!«

Sie liebte diese Rechenspiele mit Onkel Matthias. Und dann noch Schokolade! Fast augenblicklich musste sie nicht mehr daran denken, wie der gemeine Willibald sie eben im Laden doof angeglotzt hatte.

»Jetzt ist es aber genug.« Onkel Matthias stellte den kleinen Topf wieder hoch ins Geheimfach und reichte ihr ein Brötchen. Es war ganz warm und kross, und als Anna ein Stückchen davon abbrach, dampfte es innen sogar noch.

»Darf ich das denn?«, fragte sie kauend und mit offenem Mund, denn natürlich hatte sie sich das Stückchen sofort in den Mund gesteckt.

Seit es Mehl nur noch auf Bezugsschein gab, waren auch Brötchen aus Weißmehl der pure Luxus. Kaum jemand konnte sie sich noch leisten, das wusste auch Anna nur zu gut.

»Aber klar darfst du das!« Onkel Matthias zog eine Augenbraue hoch. »Das wäre ja noch schöner, wenn meine eigene Familie keine Brötchen mehr essen dürfte!«

Anna lehnte sich zurück an die weiß gekachelte Ofenwand und schloss die Augen. Meine eigene Familie. Drei Worte nur. Drei Worte, die machten, dass ihr ganz warm wurde, nicht nur wegen der Schokolade und des Brötchens und wegen des bullernden Ofens. Meine eigene Familie. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte Onkel Matthias fest umarmt. Aber natürlich tat sie das nicht. Sie war ja schon ein großes Mädchen. Und Onkel Matthias war mitten in der Arbeit.

Er stand vor der offenen Ofentür, der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht. Was kein Wunder war, er hatte gerade nachgefeuert. Hinter den eisernen Klappen links und rechts der Ofentür glühten die Briketts. Mit dem Schieber holte er vierzig Graubrote aus dem Ofen, eins so ebenmäßig geformt wie das andere. Onkel Matthias schwitzte und schuftete, aber er hatte immer noch genügend Puste, um ihr, der kleinen Anna, Aufgaben zu stellen.

»Vierzig Brötchen hat der Ortsgruppenleiter bestellt.« Er zeigte auf zwei große Körbe, bis oben hin gefüllt und verführerisch duftend. »Jedes Brötchen ist heute fünf Gramm leichter. Das merken die nicht. Die Frage jedoch ist, wie viele Brötchen ergibt das für besondere Menschen?«

Anna rechnete blitzschnell.

»Sechseinhalb!«

»Oder auch fünf und ein sehr dickes Brötchen«, schmunzelte Onkel Matthias, und sein Grübchen tanzte. Die noch dampfenden Graubrote würde er gleich zu Tante Marie in den Laden tragen, damit sie Nachschub hatte, doch zuerst musste der Ofen neu befüllt werden. Er öffnete die Tür zum Gärraum neben dem Ofen, der gerade einmal so groß war, dass das Reck darin Platz hatte, ein mannshoher Ständer, belegt mit großen Brettern. Auf jedem Brett standen kleine Körbe aus Peddigrohr, und in jedem dieser Körbe ruhte der feuchte Laib eines Graubrotes. Dank ihres Onkels wusste Anna einiges über das Backhandwerk. So auch, dass Brotteig mindestens zwei Stunden in der Wärme des Gärraums ruhen musste, bis er sich prall in die Höhe wölbte.

Anna sah zu, wie Onkel Matthias sich daranmachte, die Graubrotlaibe aus den Körben zu kippen. Rasend schnell ging das, und genauso schnell waren sie im Innern des Ofens verschwunden. Er beförderte mit dem Schieber immer zwei zugleich tief in den Backraum hinein.

Anna schmiegte sich noch ein bisschen fester an die warme Ofenwand. »Brötchen für besondere Menschen« – das gehörte zur Geheimsprache, die Onkel Matthias ihr beigebracht hatte. Es gab auch »Graubrot für besondere Menschen« und »Schwarzbrot für besondere Menschen« und sogar, ganz selten, »Kuchen für besondere Menschen«. Onkel Matthias hatte ihr nie erklären müssen, wer diese besonderen Menschen waren, Anna hatte es auch so verstanden. Es waren Annas Freundin Ruth, Ruths kleiner Bruder Gerald und ihre Eltern. Seit sie nur noch in bestimmten Geschäften einkaufen durften, bekamen sie das Brot von Onkel Matthias unter der Hand.

Nur dass sie jetzt verschwunden waren. Und dass Anna gerade eines der Brötchen aß, die doch eigentlich für Ruth und ihre Familie bestimmt waren. Oder etwa nicht?

Anna biss sich auf die Lippen. Konnte sie Onkel Matthias fragen, was mit Ruth geschehen war?

»Zwanzig Pfund Roggenmehl und fünf Liter Wasser, wie viele Brote ergibt das?«

Anna brauchte nicht einmal zu rechnen, sie kannte die Antwort im Schlaf.

»Zwanzig Anderthalbpfünder.«

»Zu einfach, nicht wahr?«

Onkel Matthias hatte sich zu ihr auf die Ofenbank gesetzt. Er holte ein großes buntes Taschentuch aus seiner karierten Bäckerhose und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.

»Du hast doch was.«

Das war so typisch für Onkel Matthias!, dachte Anna. Immer sah er ihr gleich an der Nasenspitze an, was mit ihr war.

»Ruth ist weg!«, platzte es aus Anna heraus. »Und Gerald! Und die Eltern! Und oben in der Wohnung leuchtet der Globus! Und Tante Marie sagt, sie sind verreist. Aber das kann doch gar nicht sein! Dann hätte Ruth mir doch was gesagt! Und sie hat Elsbeth nicht mitgenommen! Niemals würde sie Elsbeth freiwillig zurücklassen! Onkel Matthias, was ist denn bloß passiert?«

Onkel Matthias wischte sich immer noch den Schweiß aus dem Gesicht, doch seine Bewegung war mit einem Mal schwer geworden.

Das Grübchen, das eigentlich ständig neben seinem Mund tanzte, war verschwunden.

»Anna, mein Kind«, sagte er langsam. »Es gibt Geheimnisse, die sind zu groß für ein Mädchen. Sie sind sogar zu groß für einen wie mich, und ich bin ein erwachsener Mann.«

»Aber wo sind sie denn?«

Onkel Matthias schwieg. Vorsichtig berührte er seinen Mund, als wollte er prüfen, ob die Worte, die er sagte, die richtigen wären.

»Sie sind unterwegs zu einem besseren Ort. Wo der kleine Gerald eine besondere Förderung bekommt.«

»Eine besondere Förderung?«

»Ganz genau.«

»Und«, Anna stockte einen Moment, »darf Ruth dort wieder zur Schule gehen? Und ihr Vater arbeiten? Und bekommen sie dort auch weiße Brötchen?«

»Bestimmt. Ganz bestimmt, mein Kind, all das.«

Onkel Matthias lachte, doch das Grübchen lachte nicht mit. Anna sah es genau. Da half es auch nicht, dass Onkel Matthias sie »mein Kind« genannt hatte. Zum allerersten Mal zweifelte Anna an dem, was Onkel Matthias ihr sagte. Dabei wollte sie ihm so gerne glauben! Dass Ruth wieder zur Schule ging, wo auch immer das sein mochte. Dass sie wieder weiße Brötchen aß. Dass ihr Vater wieder arbeitete und ihre Mutter wieder sang. Nur das mit der besonderen Förderung für den kleinen Gerald, das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Tante Marie kam aus dem Laden geeilt und riss Anna aus ihren Gedanken. Draußen war es jetzt ganz hell geworden.

»Hier steckst du, Anna. Zeit, zur Schule zu gehen!«

Mit fliegenden Fingern flocht Tante Marie Anna einen hohen Zopf. Annas Haar war nicht so hell wie das ihrer Tante, sondern braun, und es lag auch nicht wie ihres in Wellen, sondern hatte lauter Wirbel und neigte dazu, wirr vom Kopf abzustehen. Doch ihrer Tante gelang es wie immer im Nullkommanichts, Annas Haare zu bändigen. Es ziepte auch nur ganz wenig.

»Warte noch. Was machst du nur immer mit dieser Bluse?« Lachend knöpfte Tante Marie die Bluse wieder auf. »Immerhin, drei Knöpfe hast du richtig zugemacht!«

Anna spürte, wie ihre Ohren heiß wurden. Dass Tante Marie sich aber auch immer deswegen über sie lustig machte!

»Mach dir nichts draus, es gibt Wichtigeres.« Tante Marie küsste ihren Scheitel, während sie die Bluse blitzschnell wieder zuknöpfte. »So, mein Schatz, so geht es. In der Küche steht warme Milch für dich. Und ein Apfel. Iss alles fein auf, ja?«

Noch ein Kuss, und schon war sie wieder im Laden verschwunden.

Die Sache mit der besonderen Förderung ließ Anna den ganzen Tag nicht mehr los. Und so kam es, dass sie Fräulein Stüssgen danach fragte, während der Stillarbeit. Die anderen Kinder brüteten noch über ihren Heften. Anna war längst fertig. Denn heute hatte es nur Rechenaufgaben gegeben, und die löste sie im Handumdrehen. Schreiben fiel ihr schwerer, da purzelten die Buchstaben und die Satzzeichen immer noch durcheinander und schmuggelten sich an die falschen Stellen. Aber rechnen konnte sie, dafür hatte Onkel Matthias gesorgt.

Seit Ruth nicht mehr zur Schule ging, war der Platz neben Anna leer. Anna hatte ein Riesengeschrei veranstaltet, als die lange Lina Anstalten gemacht hatte, sich dort hinzusetzen. Fräulein Stüssgen hatte ihr deswegen gut zugeredet, sie hatte sogar geschimpft, doch es hatte alles nichts geholfen. Schließlich hatte die Klassenlehrerin klein beigegeben, und Anna durfte allein in der Bank sitzen bleiben. Sie hielt den Nebenplatz frei für Ruth.

Nun hatte Fräulein Stüssgen sich auf Ruths Platz gesetzt.

»Sehr schön! Fehlerfrei!«

Sie zückte ihren Füllfederhalter und schrieb in ihrer feinen Schrift ein »sehr gut« in Annas Heft.

Anna platzte fast vor Stolz. Sie mochte Fräulein Stüssgen sehr! Alle Kinder mochten sie. Dabei konnte Fräulein Stüssgen auch sehr streng sein. Von ihr gelobt zu werden, war das Größte.

Vielleicht war es der Stolz, der Anna übermütig werden ließ. Der sie vergessen ließ, dass Onkel Matthias von einem Geheimnis gesprochen hatte, so groß, dass nicht einmal er es tragen könne.

Vielleicht war das Geheimnis aber auch tatsächlich zu groß für Anna, die erst elf war und ihre Freundin vermisste.

»Fräulein Stüssgen«, fragte Anna, »können Sie mir sagen, was eine besondere Förderung ist?«

»Eine besondere Förderung?«

»Mein Onkel sagt, Gerald bekommt eine. Was ist das?«

»Wer ist Gerald?«

»Der kleine Bruder von Ruth. Sie wissen schon, der, der nicht ganz richtig im Kopf ist.«

Fräulein Stüssgen war zuerst nur ein wenig von Anna abgerückt. Jetzt aber wurde sie ganz weiß im Gesicht.

»Und er bekommt eine besondere Förderung?«

»Ja, sagt mein Onkel. Sie sind nämlich alle weg. Von jetzt auf gleich.«

Fräulein Stüssgen beugte sich so dicht zu Anna hinab, Anna spürte fast ihre Lippen an ihrem Ohr.

»Was sagst du da! Halt den Mund! Halt den Mund, du dummes Kind!«

Anna wusste nicht, wie ihr geschah. Was war denn bloß mit dem Fräulein los? Hatte sie ihr nicht gerade erst ein »sehr gut« ins Heft geschrieben? Und nun beschimpfte sie sie? Was hatte sie denn nur getan?

Die Lehrerin war aufgesprungen und zur Tafel geeilt.

»Noch fünf Minuten«, verkündete sie mit hochroten Wangen und sich überschlagender Stimme, »hört ihr? Noch fünf Minuten!«

Anna saß da wie vom Donner gerührt. In der Bank hinter ihr kicherte die lange Lina.

»Besondere Förderung!«, kicherte Lina. »Dass ich nicht lache! Weggeschafft haben sie das Judenpack, was denn sonst!«

Nach der Schule lief die lange Lina wie immer als Erstes zum eisernen Tor, das den Schulhof der Mädchen von dem der Jungen trennte. Auf der anderen Seite wartete ihr Bruder auf sie, ein pickliger Junge, der sogar in der Schule das schwarze Halstuch der HJ mit dem Lederknoten um den Hals trug. Linas Bruder war so lang, dass er ein ganzes Stück weit über die Schulhofmauer ragte. Lina blieb stets noch eine ganze Weile mit ihm am Tor stehen, sodass die anderen Lehrerinnen und die Kinder sie zusammen sahen.

»Wie kann man auf so einen so stolz sein?«, hatte Ruth mit abschätzigem Blick auf Linas Bruder gesagt, damals, als Ruth und Anna noch gemeinsam nach Hause gegangen waren.

Anna hatte heute keinen Blick für Linas Bruder. Alles, was sie im Sinn hatte, war, möglichst schnell an der Jungenschule vorbeizukommen. Es musste ihr doch ein einziges Mal gelingen, Willibald aus dem Weg zu gehen!

Es gelang ihr fast nie. Willibald passte sie so gut wie jeden Tag ab. Ein Steinchen, das plötzlich geflogen kam. Ein Fuß, der unvermittelt aus einem Hauseingang hervorschoss. Ein Stöckchen, über das sie stolperte.

Diesmal erwischte er sie schon mitten auf dem Wallraffplatz vor dem Hotel Monopol, wo die Menschen unter rot-weiß gestreiften Sonnenschirmen saßen, Kaffee tranken und dabei zusahen, wie die Spatzen die Kuchenkrümel vom Boden aufpickten. Wie aus dem Nichts trat er vor Anna hin, die Daumen in den Taschen seiner viel zu kurzen, mehrfach geflickten Hose, den Kopf mit dem raspelkurz geschorenen mausbraunen Haar kühn in den Nacken gelegt.

»Töff, töff, töff«, sang Willibald, »da kütt ene Jüd jefahre, töff, töff, töff, mit singe Kinderwage, töff, töff, töff, wo will dä Jüd denn hin, er will nach Palästina, wo alle Jüde sinn.«

Anna lief es kalt den Rücken hinunter. Mit solchen Spottversen hatte Willibald sie und Ruth monatelang auf dem Heimweg verfolgt. Er hatte sie in die Seiten gekniffen, an den Haaren gezogen, sie geschubst. Vor allem Ruth war niemals vor ihm sicher gewesen.

Anna umfasste die Lederriemen ihres Tornisters fester und ging schnellen Schrittes an ihm vorbei. Nicht, dass Willibald ihr den Tornister schon wieder von den Schultern reißen und den gesamten Inhalt auf den Bürgersteig kippen würde! Letzte Woche war dabei ihre Schiefertafel zerbrochen, Tante Marie hatte ihr gerade erst eine neue gekauft.

Willibald blieb dicht hinter ihr.

»Töff, töff, töff«, raunte er ihr zu, »ist das wahr, die Kohns sind weg?«

Anna gab keine Antwort. Wenn er sie nur in Ruhe lassen würde! Sie begann zu rennen. Sie rannte den breiten Boulevard hinunter zum Rhein, am Heinzelmännchenbrunnen vorbei und über den Alter Markt, wo seit den letzten Luftangriffen einige Häuser, die größtenteils noch aus dem Mittelalter stammten, keine Fensterscheiben mehr hatten und große Löcher in den Dächern.

Willibald, der Anna um mehr als einen Kopf überragte, hatte nicht die geringste Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Kurz vor ihrem Zuhause stoppte er sie. Sie waren schon in der winzig kleinen Hafengasse, nur ein paar ausgetretene Stufen noch hinab und einmal links um die Ecke, und Anna hätte es geschafft, doch die Gasse war an dieser Stelle so eng, dass Willibald nichts weiter tun musste, als Anna mit seinen langen Beinen zu überholen und die Arme weit von sich zu strecken, und schon war kein Durchkommen mehr. Mit einem triumphierenden Grinsen auf dem sommersprossigen Gesicht stützte Willibald sich locker mit jeder Hand an einer Häuserwand ab.

»Dann stimmt es also«, sagte er und packte Anna am Oberarm.

Seine Finger waren wie Schraubstöcke und bohrten sich fest in ihre Haut.

»Und du hast es dem Fräulein Stüssgen erzählt? Und die lange Lina hat es mitgekriegt?«

Anna versuchte sich loszureißen, aber sie hatte keine Chance. Willibald war älter und größer als sie, und vor allem war er viel stärker. Er beugte sich zu ihr hinunter, bis sein Gesicht ganz nah an ihrem war.

»Das wird die Kohns teuer zu stehen kommen!«

Was meinte er denn damit? Anna war mit einem Mal so elend, dass ihre Knie zu zittern begannen. Es war wegen des bösen Blitzens in Willibalds braunen Augen. Und wegen des Geruchs, der aus seinem Mund kam. Willibalds Atem roch, als hätte er einen fauligen Tümpel voller toter Frösche ausgetrunken. Und es war wegen dem, was er sagte. Hatte sie etwas falsch gemacht? Was würde die Kohns teuer zu stehen kommen? Anna kniff die Augen zusammen und überlegte fieberhaft, wie sie den gemeinen Kerl austricksen könnte.

»Pass op, do!«

Mit einem Mal war da eine vertraute Stimme, waren da Hände, die nach ihr griffen. Große, vertraute Hände, die nach Sauerteig rochen. Anna öffnete die Augen. Onkel Matthias! Er machte eine drohende Geste zu Willibald, doch der war blitzschnell um die Ecke verschwunden.

»Mein Mädchen!« Onkel Matthias hatte Anna hochgehoben, er hielt sie auf dem Arm, sie war viel zu groß dafür und eigentlich auch zu schwer, sie war auch schon viel zu alt, um zu weinen, doch nun weinte sie und drückte ihr tränennasses Gesicht in Onkel Matthias’ blütenweiße Bäckerjacke. Dieser fürchterliche Willibald!

»Mein Mädchen«, flüsterte Onkel Matthias in Annas Haar. Der Zopf, den Tante Marie ihr am Morgen geflochten hatte, hatte sich längst aufgelöst. »Ich passe auf dich auf. Hörst du, meine liebe kleine Anna? Ich passe immer auf dich auf!«

Am Nachmittag kam eine Horde Männer in langen braunen Gummimänteln und trat oben im zweiten Stock die Wohnungstür mit dem bunten Glas ein, dabei war sie doch gar nicht verschlossen gewesen. Sie rissen die Fenster auf und warfen den Hausrat der Kohns hinaus auf die Straße. Die glänzenden Kessel. Geschirr und Gläser. Den schweren Aschenbecher mit dem grauen Ascherest. Mit einem gewaltigen Krach landete alles auf dem Kopfsteinpflaster der schmalen Gasse. Sie zerrten die Spitzendeckchen von den Sesseln und den Vorhang vor Ruths Bett weg. Sie warfen die Eisenbahn des kleinen Gerald aus dem Fenster und die »Geschichten aus der Murkelei«. Anna stand im Laden, sie bekam fast keine Luft, so fest drückte Tante Marie sie an sich. Die Männer waren an ihnen vorbeigestürmt, ohne ein Wort, die Kunden waren geflüchtet. Durch das Schaufenster sahen sie das Hab und Gut der Kohns zu Bruch gehen.

Onkel Matthias war den Männern hinterhergerannt. Anna bekam mit, wie er etwas rief. Im nächsten Moment hörten sie ihn die gewundene Treppe hinabstürzen. Als er zu ihnen in den Laden kam, blutete er an der Stirn.

»Marie! Anna! Schnell!«

Anna war stocksteif vor Schreck. Sie konnte sich kein bisschen bewegen. Sosehr Tante Marie auch an ihr zerrte, sie rührte sich nicht einen Millimeter von der Stelle. Da packte Onkel Matthias sie unter den Arm, er schleppte sie nach nebenan in die Backstube, und im nächsten Moment hatte er sie zusammen mit Tante Marie in den Gärraum gesteckt.

»Bleibt hier drin! Keinen Mucks!«

Zack, und die Tür war zu. Es war sehr warm hier drin. Und stockdunkel.

»Tante Marie?«

»Pscht!«

Anna spürte eine Hand auf ihrem Mund, klein und weich. Die Hand zitterte wie verrückt.

»Ich …«, japste Anna.

»Pscht! Keinen Ton!«

Tante Marie hielt Anna eng umschlungen. Sie zitterte von Kopf bis Fuß. Und Anna zitterte mir ihr.

Gedämpft hörte sie das Trampeln von Stiefeln, dann Rufe, Türenschlagen. Es schien weit weg zu sein. Doch Anna wusste, es war ganz in der Nähe. Die Männer in den Gummimänteln waren in ihrem Haus. Und Onkel Matthias war mit ihnen allein. Nie in ihrem Leben hatte Anna eine solche Angst gehabt. Und dann spürte sie etwas Feuchtes auf ihrem Kopf, etwas, das auf sie hinabtropfte. Es waren Tränen. Tante Marie weinte.

Tante Marie hatte noch nie geweint. Anna kannte sie nur fröhlich und vergnügt. Sie lachte den ganzen Tag, sie wirbelte durchs Haus. Wo sie war, war Leichtigkeit und Leben. Nun weinte sie.

Die Angst legte sich um Annas Herz wie ein eiserner Ring, der es presste, bis es fast aufhörte zu schlagen.

Da, endlich, öffnete sich die Tür des Gärraums. Mit einer stummen Bewegung zog Onkel Matthias die beiden an sich. Anna vergrub ihr Gesicht an seiner breiten Brust. Tante Marie hielt sie immer noch fest an ihr Herz gedrückt.

»Nun ist es gut, meine Liebsten«, flüsterte sie, »nun ist alles wieder gut.«