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Vergesst Familie Feuerstein! Alles Quatsch – Wilma war Erfinderin, ihre kleine Schwester entdeckte das Erzählen. Und natürlich waren sie keine Weißen. Aber in ihrer Sippe gab es schon damals Verblendung, Herrschaft und Gewalt … Beim Fund eines fünfunddreißigtausend Jahre alten Tatorts wittert eine Paläontologin Morgenluft: Zeit, die patriarchale Brille abzulegen, mit der Homo sapiens bisher betrachtet, erforscht, interpretiert wurde. Diese Ausgrabung öffnet die Schleusen für eine neue Erzählung. Die französische Strafverteidigerin und Schriftstellerin Hannelore Cayre schlägt eine frische Seite in der Geschichte des subversiven Kriminalromans auf.
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Seitenzahl: 216
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Alles beginnt mit dem Wunsch nach einem privaten Swimmingpool in der sonnigen Dordogne. Doch Menschheitserforschung geht vor Eigentum, und die Dinge nehmen einen etwas anderen Verlauf …
Paläontologie ist Spurensuche. Was wir als »die Geschichte« kennen, ist weitestgehend die Interpretation männlicher Forscher. Aber lassen wir das Macho-Historikerlatein doch mal weg - dann taucht plötzlich ein Krimi auf. Im Zentrum dieser historischen Noir-Erzählung stehen Oli und ihre Sippe. Statt eines erhobenen Zeigefingers gibt es hier eher mal den ausgestreckten Mittelfinger in Richtung Patriarchat. Inklusive zwingender Gründe dafür.
Nur, warum spricht und denkt eine junge Person der Altsteinzeit genau wie wir? Ganz einfach, sie ist ein Mensch, bloß ihre Sprache ist nicht überliefert. Unumwunden »übersetzt« Hannelore Cayre in ziemlich heutiges Vokabular, was unsere Vorfahren umtrieb - und was zu diesem paläolithischen »True Crime«-Fall führte.
Else Laudan
Hannelore Cayre
FINGER AB
Deutsch von Iris Konopik
Ariadne 1279
Argument Verlag
Ariadne
Herausgegeben von Else Laudan
Titel der französischen Originalausgabe: Les doigts coupés
© Éditions Métailié, Paris 2024
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express written permission of the Publishers and the Proprietor.
Deutsche Erstausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2024
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 - Fax 040/40180020
www.argument.de
Lektorat: Else Laudan
Umschlag: Martin Grundmann
Bildmotiv: www.handpas.eu (digitale Plattform in engl. & span. Sprache)
ISBN (Buch) 978-3-86754-279-1
ISBN (Epub) 978-3-86754-793-2
Erste Auflage 2024
Für Albert, meinen Sohn,
den die Erde verschluckt hat
»Eine Baugenehmigung? Bei unserem Öko-Bürgermeister? Der hat doch die Swimmingpools auf dem Kieker, ganz zu schweigen vom Gaswerk! Nein, ich habe Winiarczyk und seine Jungs kommen lassen, um still und heimlich auszuschachten. Von der Straße kann man die Baustelle eh nicht sehen, selbst wenn man drauf achtet.«
Bei dem Wort »Swimmingpool« schaut Laurence automatisch zu ihren drei polnischen Arbeitern, die mit dem Mini-Bagger zugange sind.
»Ich hab dir eben den Link mit der Annonce geschickt. Siehst du das dritte Vorschaubild? Da, das mit den Bäumen … Man könnte meinen, das Haus steht direkt am Hang, aber in Wirklichkeit ist dazwischen so was wie ein Geröllfeld. Wenn man die ganzen Steine wegschafft, reicht der Platz genau für das Becken, von dem ein Teil dann im Schatten liegt, was genial ist, weil im Sommer in der Dordogne die Sonne bratzt. Moment, bleib mal kurz dran … Mein Chef-Polacke regt sich über irgendwas auf …«
Sie öffnet das Wohnzimmerfenster. »Ja, Slawek?«
»Gucken kommen.«
»Kann ich dich nachher zurückrufen? Ich glaube, es gibt ein Problem.«
Sie geht nach draußen und um das Haus herum zu dem Arbeiter, der mit in die Hüften gestemmten Händen vor einem Steinhaufen steht.
»Was ist los?«
»Heben Steine hoch und finden das hier …«
»Scheiße!«
Auf festem Untergrund, fast vollständig im Boden versunken, liegt zusammengekrümmt auf der Seite ein menschliches Skelett.
»Da ist Höhle drin.«
»Wenn wir das melden, Slawek, sind wir geliefert!«
»Nicht weitergraben.«
»Slawek, bitte nehmen Sie Vernunft an. Einem Freund von mir in Ostfrankreich ist dasselbe passiert. Er war so dumm, sein Skelett bei der Gendarmerie zu melden. Seine Baustelle war drei Jahre lahmgelegt wegen eines armseligen preußischen Soldaten, der 1871 erschossen wurde. Drei Jahre, Slawek! Stellen Sie sich das mal vor! Ich werde nicht drei Jahre darauf warten, in meinem Pool zu schwimmen …«
Der Angesprochene schert sich nicht um das Gefuchtel seiner Auftraggeberin und weist einen seiner Arbeiter auf Polnisch an, den Bagger auszumachen. Kurzer Wortwechsel, dann stellen sich die drei Männer um den Körper herum auf.
Tiefe Stille senkt sich über die Baustelle.
»Wir stecken die Knochen in einen Sack und reden nicht mehr drüber, okay, Slawek?«
»Ksiądz.«
»Was, ›ksiądz‹?«
Der Arbeiter tippt etwas in sein Handy und hält es Laurence fünf Zentimeter vor die Nase. Die tonlose Stimme des Google-Übersetzers sagt »Priester«.
»Ein Priester … Also bitte, Slawek, das ist völlig unsinnig, diese Person hier dürfte lange vor Christi Geburt gestorben sein … Sie kann nicht katholisch sein …«
»Baustopp. Jetzt.«
»Ach, Pater, danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Bitte sehr, es ist dort, hinter dem Haus … Wir waren dabei, den Schotter wegzuschaffen, als wir darauf gestoßen sind. Diese Herren nehmen es sehr genau mit … mit den Sakramenten.«
Jean folgt Laurence und den Arbeitern hinter das Haus.
»Haben Sie für das Ganze hier eine Genehmigung eingeholt?« Ohne die Antwort abzuwarten, kniet er sich hin. »Sieht aus, als sei sein Schädel zerschmettert worden. Hätten Sie vielleicht einen Pinsel?«
»Werden Sie ihn dann segnen?«
Slawek reicht ihm einen neuen dicken Rundpinsel, mit dem er behutsam die Schädeldecke abstaubt.
»Haben Sie diese Kalzitkristalle gesehen, mit denen die Knochen bedeckt sind? Das ist sehr, sehr alt!«
Er richtet sich auf, schaltet die Handytaschenlampe ein und schlüpft durch die vom Bagger geschaffene Öffnung.
»Das ist eine Höhle … Eine Grabstätte … Dahinten erkenne ich einen zweiten Körper …«
»Aber ich hab mein Haus gerade erst gekauft!«
Ohrenbetäubende Stille aus dem Innern der Kaverne.
»Alles in Ordnung, Pater?«
Nach fünf langen Minuten kommt er schließlich heraus.
»Werden Sie ihn nun segnen?«
Der Priester macht eine vage zustimmende Geste, während er gleichzeitig mit seinem Handy jemanden anruft.
»Er kümmert sich drum«, sagt Laurence zu den Polen und strahlt.
»Hallo, ja, ich bin’s. Ich bin froh, nicht auf deiner Mailbox zu landen. Sitzt du gut? Wenn ich dir sage: ›Sie sind hier‹, woran denkst du dann? Ich komm gerade raus, ja … Nein, noch niemand. Lass dich überraschen. Nein, ich verrate nichts! Na gut, okay, aber nur ein Wort. Mmmmh … Aurignacien. Nein, nein, ich rühr mich nicht vom Fleck.«
Laurence ist plötzlich sehr beunruhigt.
»Wer ist hier? Wer ist Aurignacien?«
»Sie dürfen nichts anfassen, Madame, denn auf den ersten Blick scheint mir, Ihre Arbeiter haben da etwas Ungeheures entdeckt.«
»Das ist ja wohl ein beschissener Albtraum!«
Mit den Fingerspitzen klopft Adrienne Célarier gegen das Mikro.
Der Hörsaal des paläontologischen Forschungszentrums ist brechend voll mit Presseleuten, die hier sind, um sie zu hören. Die großen überregionalen Tageszeitungen sind natürlich da, aber nicht nur die; auch die internationalen Fachzeitschriften haben Leute geschickt, und hier und da entdeckt sie Logos von Nachrichtensendern, ja sogar von CNN.
Die öffentliche Präsentation ihrer Höhle wird vielleicht nicht die gleiche Hysterie auslösen wie die von Chauvet, der Sixtinischen Kapelle der Urgeschichte, die mitzuerleben sie das Glück hatte, als sie noch eine kleine Doktorandin war, und wo ihrer Erinnerung nach so viele Kameras waren wie bei den Olympischen Spielen. Obwohl. Sie würde drauf wetten, dass ihr Vortrag Epoche machen wird, denn verstreut zwischen den Journalisten mit Presseausweis entdeckt sie die dreißig feministischen Bloggerinnen, die sie zu diesem Anlass eingeladen hat, damit sie die Neuigkeit in der ganzen Welt verbreiten.
Chauvet hat sie vieles gelehrt.
Vor allem über Schofeligkeit. Da waren die Dokumentenfälschung von Beamten der Regionaldirektion für kulturelle Angelegenheiten und des Kulturministeriums, die mannigfachen Drohungen gegen die Entdecker der Höhle, die juristischen Schlachten um die Verwendung der ersten Fotos von den Wandmalereien, die Frage der Bewertung der zu enteignenden Grundstücke … Oder wie ein einzigartiger Fund in einem traurigen Sumpfloch versinken kann. Denn die Urgeschichte, diese unbeschriebene Seite der Menschheit, dieses erträumte Eden - umso mehr, seit alles aus dem Lot gerät -, fasziniert alle Welt und zieht folglich riesige Geldströme an.
Einiges gelehrt auch über ihr Fach. Zwar ist die Paläontologie eine Wissenschaft, die sich mit einer sehr fernen Vergangenheit befasst, in der mit wenig Veränderungen zu rechnen ist, doch zuweilen genügt ein einziger Fund, um ein ganzes intellektuelles Konstrukt zu zerschlagen und einen Haufen Thesen zu Papiermüll zu verdammen.
Ihre Höhle ist von diesem Kaliber.
Durch einen glücklichen Zufall, einen dieser Glücksfälle, wie es sie sonst nur in Büchern gibt, war sie die erste Wissenschaftlerin vor Ort. Ihr Kindheitsfreund Jean, den ihre Eltern bis heute Kiesel-Jean nennen, weil er als Junge die Taschen immer voller Steinchen hatte, hat sie benachrichtigt. Bis sie vor dreißig Jahren zum Paläontologie-Studium nach Paris ging, haben sie auf der Suche nach Pfeilspitzen und Faustkeilen gemeinsam das Vézère-Tal und die Dordogne durchstreift. Mittlerweile ist Jean Priester, und zufällig wurde er während des Bereitschaftsdiensts von der Auftraggeberin polnischer Arbeiter gebeten, zwei Körper zu segnen, die in einer Kaverne lagen, deren Eingang ihr Bagger freigelegt hat.
Noch am selben Nachmittag war sie am Ort des Geschehens, und mit anständigem Licht drangen sie und ihr Freund als Erste ins Innere vor. Sofort war klar, dass sie es mit einer Grabstätte von großer archäologischer Bedeutung zu tun hatten, und sie hielten die Sache geheim, damit dieser außergewöhnliche Fund nicht abermals zu einem wüsten Hickhack führte.
Dann spannte sie die Grundstücksbesitzerin für ihre Zwecke ein, setzte dem Chef der besagten Polen Flausen in den Kopf, indem sie ihn als den Entdecker deklarierte und seine Entdeckung nach ihm benannte, die Winiarczyk-Höhle, und intrigierte wie der Teufel, mobilisierte alle Elitehochschul-Freunde ihrer Familie, bis sie und nur sie mit der Erforschung beauftragt wurde. Womit sie der Regionaldirektion für kulturelle Angelegenheiten ein Schnippchen schlug, wo man sie jetzt einmütig hasst.
Die Fotos, die man in diesem proppenvollen Saal zeigen wird, stammen von ihr.
Als Akademikerin hat sie das Ende des Rattenrennens erreicht, indem sie allen Fallen ausgewichen ist. Man beschimpft sie als Karrieristin, aber das ist ihr schnuppe, denn sie ist die mit dem Käsestück zwischen den Zähnen.
Sie plant heute Abend, ihren Vortrag anhand kurzer zugkräftiger Themenkomplexe aufzuziehen, mit dem notwendigen Storytelling, um ihre Erzählung unvergesslich zu machen.
Die Frau des Paläolithikums als emanzipiertes Working Girl darzustellen, ist jetzt en vogue, um zu zeigen, wie sehr sie in der Folgezeit erniedrigt wurde. Na dann mal los: Konjugieren wir die Vorzeit im Femininum!
Bis jetzt gab es nur Fabulierereien rund um ein einzelnes Skelett: eine Pseudo-Großwildjägerin 9000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, entdeckt im peruanischen Wilamaya Patjxa - wenn man schon Schwachsinn erzählt, dann wenigstens für die gute Sache! Nur handelt es sich im vorliegenden Fall nicht um ein Hirngespinst, einen tröstlichen Mythos über die großen Matriarchate; was sie all den Leuten hier enthüllen wird, ist ein sehr viel älterer weiblicher Körper, obendrein in sehr gutem Zustand. Ein Körper und ein unglaublich reichhaltiger Kontext.
Noch ehe sie loslegt, ahnt sie, was die Neider nach ihrer Präsentation hinter ihrem Rücken raunen werden: dass die angemessene Herangehensweise gewesen wäre, einem solchen Fund mit Zurückhaltung zu begegnen … Aber wir leben nicht mehr Ende des 19. Jahrhunderts, streng wissenschaftliche Referate sind nicht sexy, und vor allem verkaufen sie sich nicht. Dabei ist doch das Ziel, die Fördermittel so zu kanalisieren, dass sie noch dieses Jahr ihrer Gruppe von Doktorandinnen zufließen, und schnellstmöglich zu veröffentlichen.
Rechtfertigen muss sie sich sowieso nicht … Dies ist ihre Höhle. Dies ist ihr Moment. Sie ist diejenige auf CNN.
Saint-Acheul. Le Moustier. Châtelperron. Aurignac. La Gravette: Namen, die uns Paläontologinnen und Paläontologen erschauern lassen und die als Landmarken dienen in der Chronologie der menschlichen Evolution, wie unsere ersten Kollegen sie uns überliefert haben.
In Savignac-de-Miremont wurde soeben ein neuer Meilenstein in der Geschichte der Menschheit gesetzt - genauer gesagt: in der Geschichte der Frau, der großen Vergessenen in der Erzählung über unsere Ursprünge.
Wenn Sie heute Abend die Winiarczyk-Höhle kennenlernen, stehen Sie vor einer der bedeutendsten archäologischen Entdeckungen in Westeuropa angesichts ihrer Einzigartigkeit, ihrer Vollständigkeit, aber auch ihres bemerkenswerten Erhaltungszustands.
Wann war sie bewohnt?
Anhand eines mit Holzkohle an einer Wand ausgeführten Schablonenbilds sowie mehrerer Rußflecken von Fackeln am Eingang konnten wir die Bewohntheit mittels Radiokarbonmethode auf 35 000 Jahre vor unserer Zeit datieren, das heißt also, auf das Aurignacien. Dieser Zeitabschnitt ist die Bühne für einen beispiellosen anthropologischen Umbruch, gekennzeichnet durch das Aufeinandertreffen zweier Menschenarten: Unser Vorfahr, der kurz zuvor aus Afrika gekommene Homo sapiens, löste den Homo neandertalensis, der seit 300 000 Jahren in Europa präsent war, auf seinem angestammten Territorium ab.
Wohlgemerkt, eins der Lieblingsthemen der Science-Fiction ist unsere Begegnung mit einer intelligenten Spezies humanoider Lebewesen … Stellen Sie sich das Erstaunen unserer Vorfahren Sapiens vor, dieser hochgewachsenen, schlanken, dunkelhäutigen Wesen, als sie zum ersten Mal diese stämmigen blassen Leute mit länglich flachem Schädel, vorstehenden Brauenknochen und riesigem Brustkorb erblickten … Ein Gefühl von Andersartigkeit, das wir so nie wieder erleben werden, da diese andere Menschenart ausgestorben ist. Und doch wurden, all ihren Unterschieden zum Trotz, aus der Verbindung dieser zwei Menschenarten Kinder geboren, denn im Genom der heutigen nichtafrikanischen Populationen finden sich 1 bis 4 Prozent Neandertaler-DNA.
Begeben wir uns jetzt zum Eingang der Höhle. Sie war zunächst durch eine Art primitives Mäuerchen verschlossen. Es stammt vermutlich aus der Zeit der Bewohntheit der Höhle und sollte Bären davon abhalten, darin zu überwintern. Das Mäuerchen wurde später aufgestockt, um den Ort in eine Grabstätte zu verwandeln. Im Laufe der Zeit wurde der Eingang durch einen mehrphasigen Einbruch des Kalkgesimses endgültig versiegelt und erst im vorigen Jahr von Monsieur Winiarczyks Bagger wieder geöffnet.
Was hat sich im Inneren abgespielt?
Haben wir hier womöglich den ersten Tatort der Geschichte freigelegt?
Über den Abgrund der Zeit hinweg, der uns von unseren Vorfahren trennt, wollen wir versuchen dahinterzukommen.
Folgen wir ihren Schritten und treten ein …
Musik.
Das Licht verlöscht.
Die Projektion eines Films wird gestartet.
Das flackernde Licht einer Öllampe, von den Kalzitkristallen reflektiert, offenbart einen Körper, folgt dann Fußspuren von Kindern und Erwachsenen um ihn herum zu einem zweiten, mit allerlei Gegenständen umgebenen Körper und gleitet schließlich hoch zu den Felswänden, darauf Negativabdrücke von Händen, denen allen ein oder mehrere Fingerglieder fehlen. Dann erhellt sich die gesamte Höhle, und zutage treten zwei Bildtafeln mit hunderten Schablonen verstümmelter Hände.
Oli versuchte einzuschlafen, während ihre Schwester Rava unter den Stößen des Spinners stöhnte. Ihre beiden Brüder waren zum Glück nicht da, wahrscheinlich unterwegs, um in der Hütte nebenan das Gleiche mit Idra, Erin oder Arienne zu machen, denn hier am Flussufer waren sie nur zwei Familien. Ravas zwei Kinder und Olis Onkel, ihre kleine Schwester Clara und ihre Mutter schnarchten. Wilma hütete draußen das Feuer, während ihr Sohn neben ihr tief und fest schlief.
Männer, was für eine Plage.
Ständig beherrschten sie die Gedanken der Mädchen, dabei waren sie so widerlich mit ihrem Geruch, ihrem baumelnden Geschlecht und ihrem lüsternen Blick eines brünstigen Tiers. Sie beobachtete, wie die Hände des Spinners die Brüste ihrer Schwester kneteten, wie seine Zunge in ihren Mund eindrang, und diese Verschmelzung der Körper, die sie doch eklig fand, tat unerklärlicherweise ihre Wirkung bei ihr.
Außer ihren Brüdern und dem, der da mit ihrer Schwester rammelte, gab es in den zwei Familien keine jungen Männer. Es mit ihren alten Onkeln oder dem Spinner zu machen, kam nicht in Frage, schon allein, weil es wenigstens ein Fitzelchen Neugier brauchte, etwas Geheimnisvolles, damit sie Lust verspürte, und in diesem Fall war das schlicht unvorstellbar … Was eine Art wütendes kleines Tier nicht davon abhielt, sich jedes Mal in ihrem Geschlecht zu regen, wenn sie solchen Liebesspielen zuschaute.
Genervt sprang sie auf, verließ die Hütte und gesellte sich zu ihrer Schwester Wilma. Die lag auf der Seite wie ein verwundetes Tier, das Hemd hochgezogen, ihr riesiger Bauch entblößt, so dass deutlich zu sehen war, wie sich ihr Kind darin bewegte. Sie war so dick, dass sie seit ein paar Nächten keine Schlafposition mehr fand. Darum hatte sie sich auch zum Feuerhüten gemeldet, denn zu allem anderen war sie außerstande.
»Warum schläfst du nicht?«
»Weil Rava und der Spinner Geräusche machen, wie wenn man durch Matsch läuft.«
»Hör auf, ihn so zu nennen!«
»Er riecht nach Frettchen.«
»Du übertreibst!«
»Er taugt zu nichts.«
»Kann sein, aber er ist witzig.«
»Er quatscht einen Blödsinn nach dem anderen und versucht dabei immer, den vorherigen durch einen neuen vergessen zu machen.«
»Ein bisschen hast du recht, aber die Mädchen weiß er zu nehmen.«
»Du hast doch nie versucht, mit jemand anderem Spaß zu haben.«
Wilma kniff ihr in die Wange und schimpfte: »Seit wann redest du darüber, hm? Interessiert es dich plötzlich? Erregt es dich, wenn du hörst, wie sie sich neben deinem Ohr vergnügen? Bist du eifersüchtig?«
»Quatsch!«
»Du musst ihn nur fragen, er wird Ja sagen … Und was das Spaßhaben angeht, ich habe es auch mit Issa probiert!« Auf Olis fassungsloses Schweigen hin fügte sie hinzu: »Ist lange her; das war, bevor er mich geschlagen hat.«
Oli drückte ihre Handfläche auf den Bauch ihrer Schwester, um die Tritte des Kindes zu empfangen.
»Es ist unruhig von der Hitze des Feuers.«
»Ich fände es lustig, ein Ding im Bauch zu haben, das sich bewegt - wenn man davon nicht so plump würde wie ein Auerochse.«
»Glaubst du, mir macht es Spaß, so zu sein, dass ich nicht mal meine Füße sehen kann? Irgendwann muss es rauskommen, dieses Kleine. Und auch wenn es am Feuer immer nur um die Risiken der Jagd geht, ist das gefährlicher, glaub mir … Ja … Sehr viel gefährlicher!«
»Hast du Angst?«
»Natürlich hab ich Angst!« Und mit einer Kinnbewegung deutete sie auf ihren neben ihr schlafenden Sohn. »Sein Kopf war so groß, dass Rava mit beiden Händen in mich reingreifen musste, um ihn hervorzuholen und dann seine Schultern da rauszuziehen … Ihre beiden Hände in meinem Geschlecht, kannst du dir das vorstellen? Gebären ist wie von einer Klippe stürzen und beim Aufprall wie eine Nuss in zwei Teile zerbrechen; es gibt keinen größeren Schmerz. Du zerreißt. Aber du weißt nichts davon, denn jedes Mal, wenn es einem Mädchen passiert, versteckst du dich …«
»Diesmal bleibe ich da und gucke zu, ich versprech’s dir!«
»Besser wär’s, weil wenn du selbst an der Reihe bist, solltest du dich auskennen.«
»Oh nein, dazu wird es nicht kommen!«
»Ach, red keinen Blödsinn … Hier, guck mal in meinen Haaren, was ich gefunden habe.«
Oli wühlte in dem schwarzen Schopf ihrer Schwester. »Was soll da sein?«
»Schau hier, ich hab Haare, die weiß geworden sind. Ich werde wie unsere Mutter. Eine Alte.«
Schweigend in ihre Gedanken versunken, lauschten die Schwestern dem Knistern des Feuers, als Wilma plötzlich ausrief: »He, hast du das gesehen? Da drüben auf der anderen Flussseite … der leuchtende Punkt …«
»Wo?«
»Links von der Höhle der Ahnfrauen.«
»Sieht aus wie ein Feuer.«
»Das ist ein Feuer!«
Oli sprang auf, um die anderen zu wecken. Ihre Schwester erwischte sie am Hemdzipfel.
»Warte, warte! Sollen wir das nicht lieber für uns behalten, und morgen gehst du nachschauen, wer das ist? Und dann kommst du zurück und erzählst es mir.«
»Warum sollten wir das tun?«
»Keine Ahnung … Weil sie uns den Buckel runterrutschen können? Weil ein Geheimnis haben dich stärker macht? Das sollten wir ein bisschen ausnutzen, oder? Sobald es Tag wird, brichst du auf. Wenn jemand fragt, wo du hin bist, sage ich, du bist Treibholz sammeln.«
Oli starrte auf den winzigen leuchtenden Punkt, der die Nacht durchdrang. »Komisch, oder, dass sie sich ausgerechnet an so einem Ort niedergelassen haben. Da drüben ist nie Sonne.«
»Noch komischer ist, dass sie nicht hergekommen sind. Wenn wir ihr Feuer sehen, haben sie auch unseres gesehen, das gestern die ganze Zeit gebrannt hat.«
»Glaubst du, es sind viele?«
Die Aussicht, andere Leute zu treffen, putschte sie so auf, dass sie kein Auge mehr zubekam, während Wilma neben dem Feuer schlief wie ein Stein; als ob sie an dieser Geschichte mit der Sippe, die auf der anderen Talseite auftauchte, nur eins interessierte: alle zu belügen.
In der Tat war sie es, die Oli die Methode beigebracht hatte: »Wenn Ältester Onkel oder Issa dich befragen, zeigst du ihnen ein anderes Gesicht, als du in dir hast; du schaust geradeaus und versteckst die Wahrheit weit hinter den Augen. Als ob nichts wäre. Ruhig. Du wirst sehen, nach einer Weile geht es wie von selbst, du musst dich nicht mehr zwingen: du lügst. Lügen ist die einzige Möglichkeit, die anderen zu ertragen.«
Als die Ihren das letzte Mal anderen Leuten begegnet waren, war sie noch sehr jung gewesen, aber sie erinnerte es als umwälzend für ihrer aller Leben. Als hätte der Umstand, eine Zeitlang der Enge ihrer Hütte zu entkommen, gereicht, um den Charakter jedes einzelnen Mitglieds ihrer Familie und die Beziehungen untereinander tiefgreifend zu verändern.
Damals war ihre Schwester Clara noch nicht geboren und die vier Kinder des anderen Clans hatten sich ihnen noch nicht angeschlossen. Sie waren zu zehnt: ihr großer Bruder Lothar, ihre Schwester Rava, Wilma und schließlich sie und ihr Zwilling Daïno, außerdem natürlich ihre Mutter, deren zwei Brüder: Ältester Onkel und Issa, sowie ihre zwei Tanten, die inzwischen mit ihren Kindern an der erstickenden Krankheit gestorben waren.
In jenem Sommer waren sie viel umhergezogen, denn das Wetter war besonders gut und sie konnten draußen schlafen, ohne die Hütte mitschleppen zu müssen, und vor allem behinderte sie nicht wie heute ein Haufen Kinder. Sie begegneten einer anderen Sippe. Wie viele es waren, wusste sie nicht mehr; mindestens doppelt so viele wie sie. Sie erinnerte sich nur, dass sie mit anderen Kindern, die nicht zu ihrer Familie gehörten, gespielt hatte, während die Erwachsenen den lieben langen Tag vögelten. Die Männer nutzten zudem ihre Vielzahl, um gemeinsam Jagd auf große Beutetiere zu machen, bis zu dem Tag, als einer von ihnen von einem Wollnashorn aufgespießt wurde.
Ihre Onkel und die anderen Jäger hatten sich im Kreis um das Opfer aufgestellt, das auf einer am Boden ausgebreiteten Tierhaut lag. Nach zwei Tagen, in denen sie abwechselnd bei ihm Wache hielten, gingen alle schlafen außer Ältester Onkel, der allein bei der Leiche zurückblieb.
Oli, die von dem Hin und Her aufgewacht war, ging zu ihm. Sie sah, wie er sein Ohr an den Mund des Toten legte, um sich zu vergewissern, dass er nach wie vor nicht atmete. Nach einem Moment des Nachdenkens zog er die Felle über dem Körper beiseite, steckte seine Hand in die Wunde, die das Horn des Tieres gerissen hatte, und begann darin zu wühlen.
Sie fragte ihn mehrmals, was er da tat, aber er war zu beschäftigt damit, das Innere des Lochs zu erkunden, und gab keine Antwort, also setzte sie sich daneben und schaute zu. Unzufrieden, dass er nicht fand, wonach er suchte, nahm er seine Feuersteinklinge und schlitzte das Fleisch vom Hals bis zum Unterbauch auf, dann öffnete er den Mann einfach in zwei Teile, wie man ein Ren aufbricht.
Oli hatte ihrer Mutter schon eine Menge verschiedene Tiere zerlegen und ausnehmen geholfen, aber das Innere eines menschlichen Körpers hatte sie noch nie gesehen. Hochinteressiert beugte sie sich vor, während Ältester Onkel den gesamten Rumpf des Jägers untersuchte, indem er mit dem Messer nach und nach jedes seiner Organe anhob, um darunterzuschauen.
»Die gleichen Dinge an der gleichen Stelle wie bei allen anderen Tieren. Links das, was pocht, und das, was eklig zu essen ist, unten rechts. Die Gedärme und die atmenden Beutel in der Mitte«, verkündete sie voller Stolz, um ihm zu zeigen, wie gut sie sich mit Anatomie auskannte.
Damals hatte sie noch unbedarft versucht, seine Aufmerksamkeit zu erregen, hatte noch nicht verstanden, dass er ihr niemals das geringste Interesse entgegenbringen würde, weil sie ein Mädchen war.
Er drehte den Kopf in ihre Richtung, aber seine Augen sahen sie nicht. Er machte ein Gesicht, wie sie es noch nie an ihm gesehen hatte und das sie bei einem Anführer nicht hätte sehen dürfen: das Gesicht eines ratlosen Mannes.
Sie fragte ihn noch mehrmals, wonach er denn suche, und irgendwann kehrte er in seinen Blick zurück und nahm wahr, dass sie da neben ihm hockte.
»Gibst du jetzt mal Ruhe!«, befahl er ihr mit böser Stimme.
»Ich sehe, dass du im Körper von deinem Freund rumwühlst«, beharrte sie. »Warum tust du das?«
Woraufhin er ihr eine verpasste, dass sie ins Feuer fiel, wo sie sich obendrein verbrannte. Es war das erste Mal, dass er sie schlug, und da sie sich mit den metaphysischen Irrungen der Erwachsenen noch nicht auskannte, empfand sie es als total ungerecht.
Diese Begebenheit markierte den Beginn der Feindseligkeiten zwischen ihr und ihrem Onkel. Schlimmer noch, sie fing an, ständig seine Grenzen auszutesten, übte sich im Frechsein, verstieß gegen seine Regeln, provozierte ihn, egal was es sie kostete. So passierte es nach einem dieser Vorfälle, dass er ihr zwei Finger der linken Hand abhackte, hatte sie ihn doch aufs Äußerste herausgefordert: Entgegen dem für die Frauen und Kinder der Sippe seit undenklichen Zeiten bestehenden Verbot war sie jagen gegangen.
Eines Morgens schnappte sie sich die Lanze ihres Zwillingsbruders und brüllte wütend: »Ich bin es leid, ständig Hunger zu haben, wo ich genauso groß und stark bin wie Daïno, nur dass er alles isst, was er will, obwohl er beschränkt ist!« Dann warf sie sich vor ihren Onkeln in eine rebellische Pose und machte sich davon.
Ältester Onkel erwischte sie ziemlich weit entfernt vom Unterstand, aber nicht weit genug: Er schnappte sie, als sie das Kaninchen briet, das sie gerade erlegt hatte. Tatsächlich war er ihr von Anfang an gefolgt und wartete nur auf den erniedrigendsten Moment, um über sie herzufallen. Er zerrte sie grob zur Hütte zurück und gab das Kaninchen ihrem Bruder mit dem Befehl, es zu essen, während man sie festhielt, um ihr die Finger abzuhacken.
Nur ihre Schwester Wilma sprang ihr bei. Sie riss Daïno das Kaninchen aus den Händen und biss herzhaft hinein, um ein Maximum an Fleisch zu verschlingen, ehe ihr anderer Onkel, Issa, sie heftig schlug und es ihr aus dem Mund riss. Keine andere Frau der Sippe schritt zu ihrer Verteidigung ein: Indem sie trotz Verbot jagen ging, hatte Oli die Macht des Anführers und damit die Ordnung selbst angetastet; jene Ordnung, die sie angeblich alle vor dem Chaos bewahrte.
»Die Linie ist der Mann. Die Frau ist der Kreis.