Finnland - Rasso Knoller - E-Book

Finnland E-Book

Rasso Knoller

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Beschreibung

Der typische Finne sitzt am See, gerade aus der Sauna gekommen, greift er als Erstes zum Handy. Vermutlich ruft er aber nur seinen Anrufbeantworter an. Denn er spricht nicht gern. Das kennt man ja schon aus den Filmen von Aki Kaurismäki. Und in denen trinken die Männer auch gern. Am liebsten Bier oder Wodka. Und viel.
Dagegen macht der Nachwuchs in den PISA-Statistiken seit geraumer Zeit Furore. Lesen, Schreiben, Rechnen: Überall ist das finnische Kind ganz vorn mit dabei. Und Skispringen kann es auch, denn das lernt es ebenfalls in der Schule.
Alles Klischees? Der Journalist Rasso Knoller hat die besten Voraussetzungen, diese Frage zu beantworten. Er hat mehrere Jahre in Finnland gelebt und gearbeitet. Aber viel wichtiger: Er hat unzählige Saunagänge zusammen mit Finnen hinter sich. Bei knapp hundert Grad wird auch der schweigsamste Finne gesprächig. Und erzählt dann, wie es wirklich zugeht in seinem Land.

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Seitenzahl: 264

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Rasso Knoller

Finnland

Ein Länderporträt

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Mai 2012 (entspricht der 1. Druck-Auflage von September 2011)

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos von einer Saunahütte

am Pitkäjärvisee, 2008 (imago / blickwinkel)

Karte: Christopher Volle, Freiburg

Lektorat: Günther Wessel, Berlin

eISBN: 978-3-86284-172-1

Inhalt

Einleitung

Wo die Moderne Einzug in das Schweigen hält:

Vorzeigeeuropäer am Rande des Kontinents

Janten laki: Mit Bescheidenheit zum Ziel

Finnen besuchen, aber richtig:

Ein Kniefall vor dem Gastgeber

Finnland und Deutschland:

(Nicht nur) Brothers in Arms

Die kurze Geschichte eines jungen Landes

Am Anfang war die Leere

Auf Stein gebaut

Die Finnen – eine römische Erfindung

Unter der Fuchtel der Schweden

Die Russen in Finnland:

Wie aus Freunden Feinde wurden

Das Kalevala: Verse für den nationalen Stolz

Helsinki als Double für St. Petersburg

Der Bürgerkrieg:

Ein blutiger Start in die Unabhängigkeit

Die erfolglose Suche nach einem König

Die Ålandinseln: Klein-Schweden in Finnland

Ein Land als Spielball der Diktatoren

Retter Finnlands oder »blutiger Baron«?

Finnische Großmachtsträume

Himmelblaue Hakenkreuze

Schimpfwort Finnlandisierung

Immer wieder Kekkonen

Europa: Dabei sein oder lieber frei sein?

Das politische Finnland

Schönheitsköniginnen und Autorennfahrer:

So wird Finnland regiert

Die finnische Parteienlandschaft:

Miteinander statt Gegeneinander

Immer an der Spitze: Vorzeigeland Finnland?

Das Schulsystem: Finnische Besserwisser

Ladies First

Finnland fürchtet Flüchtlinge

Umwelt: Man sieht den Naturverlust

vor lauter Bäumen nicht

Finnenkraft aus dem Atom

Finnische Besonderheiten

Jedem Finnen seinen See

Wenn Finnen feiern

Die Finnen und der Alkohol: Immer wieder freitags

Finnisch trinken, leicht gemacht

Die schwarze Leidenschaft der Finnen:

Kaffee for ever

Das Schweigen der Finnen

Mit sisu zum Ziel

Ein Volk aus Moll

Erlaubt ist, was gefällt: Saunieren in Finnland

Ganz schön sportlich: Eishockey und pesäpallo

Was finnische Männer wirklich mögen:

Eisangeln und Jagen

Jedem Finnen seine Waffe

Luftgitarre und Schlammfußball –

die Finnen suchen die wahren Weltmeister

Kultur im Land der Finnen

Die Sami in Finnland: 10 000 unter fünf Millionen

Die finnische Sprache:

Von der Mühe, einen Zugfahrplan zu entziffern

Finnische Literatur:

Vom Neuen Testament bis zur Giftköchin

Musikalische Finnen:

Lordi, Leningrad Cowboys und Linda Lampenius

Finnischer Tango – Melancholie auf dem Tanzboden

Aki Kaurismäki und der finnische Film

Architektur und Design:

Vasen und Opernhäuser von Aalto

Kalakukko, laatiko und mämmi –

Exotisches auf finnischen Tischen

Jedes Fest hat seine Speise

Anstelle eines Nachworts

Anhang

Lesetipps

Danksagung

Basisdaten Finnland

»Gehen wir von den Kolalappen südwärts, so kommen wir nach Finnland, einem Land von so eigenartigem Charakter wie kaum ein anderes.« (aus: Völker der Erde. Eine Länderkunde aus dem Jahre 1890)

Einleitung

Wo die Moderne Einzug in das Schweigen hält:Vorzeigeeuropäer am Rande des Kontinents

Ein Deutscher, ein Franzose und ein Finne sind in Kenia auf Safari. Sie treffen einen Elefanten. Der Deutsche denkt: Wie viel Geld könnte ich wohl verdienen, wenn ich den Elefanten erlege und dann das Elfenbein verkaufe? Der Franzose denkt: Oh was für ein herrliches Tier! Der Finne versteckt sich hinter dem nächsten Busch und denkt: Um Himmels Willen, was denkt der Elefant wohl von mir?

(finnischer Witz)

»Wir sind eben europäischer geworden« – mit diesem Satz versuchte mir ein finnischer Freund zu erklären, warum man in seinem Land neuerdings spricht. Hatten nicht Reiseführer vor 15 Jahren die Finnen noch als extrem schweigsam beschrieben? Und damit ihre Leser durchaus richtig auf deren Reise ins Land der tausend Seen vorbereitet?

Die Finnen waren natürlich auch damals schon freundlich und hilfsbereit, wenngleich gleichzeitig extrem zurückhaltend. Wer einem finnischen Mann – die eindeutig schweigsamere der beiden besseren Hälften – mehr als zwei Sätze in Folge entlocken konnte, der durfte sich früher diesen Tag getrost im Kalender markieren.

Auf dem Land und in den meisten Dörfern hat sich daran bis heute nicht viel geändert. Die Städter hingegen sind in den vergangenen Jahren weltoffener und auch souveräner geworden. Seit ihrer Aufnahme in die EU 1995 fühlen sich die einstigen »Außenseiter« am äußersten Ende des Kontinents als Europäer. Früher hatte sich ein Finne auf dem Weg in den Urlaub nach Deutschland oder Italien mit den Worten verabschiedet, er fahre jetzt nach Europa. Inzwischen ist Finnland in Europa angekommen. Mehr noch: Die Finnen sind regelrechte Vorzeigeeuropäer: Kaum ein Land hat sich in den vergangenen Jahren so sehr für die europäische Integration eingesetzt wie eben Finnland.

Doch wird das so bleiben? Bei den Wahlen im April 2011 erzielte die rechtspopulistische Partei »Wahre Finnen« einen sensationellen Wahlerfolg. Sie stellt jetzt mit 19 Prozent die drittstärkste Partei im Land – mit einem stramm anti-europäischen Programm.

Dass die Finnen plötzlich etwas gesprächiger geworden sind, könnte auch an der modernen Technik liegen. Denn am Mobiltelefon kann man sich nur schwer anschweigen. Und Finnland ist das Land mit der höchsten Handydichte der Welt. Selbst Zehnjährige verabreden sich heute per Mobiltelefon. Kein Wunder – schließlich hat die Firma Nokia, der größte Mobiltelefonhersteller der Welt, ihren Sitz in Finnland. Auch in Fragen des Internets sind die Finnen Vorreiter. Nahezu jeder Haushalt ist an das World Wide Web angeschlossen. Selbst in den entlegensten Gegenden befinden sich die Leute auf dem neuesten Stand der Technik und surfen durch die unendliche Medienwelt.

Finnen gelten als stur. Dabei sind sie nur zielstrebig. Sie lassen sich ungern von einem einmal avisierten Ziel abbringen. Wahrscheinlich haben sie auch deswegen nach der großen Wirtschaftskrise zu Anfang der 1990er den schnellen Aufstieg zur Hightechgroßmacht geschafft.

Diese Mischung aus Zähigkeit und Ausdauer ist so typisch für den Nationalcharakter, dass es dafür ein eigenes, nicht ins Deutsche übersetzbare Wort gibt: sisu. Sisu – das ist eine Mischung aus Ausdauer, Zähigkeit und Sturheit. Sie hat dem Langläufer Paavo Nurmi zu seinen Olympiamedaillen verholfen. Dank sisu gelang es der finnischen Armee im Zweiten Weltkrieg, den Angriff der übermächtigen Sowjets zurückzuschlagen. Gegen sisu hat nicht einmal eine Betonwand eine Chance: Der Finne rennt einfach so lange dagegen, bis sie nachgibt. Sisu braucht viel Zeit – und die hat man in Finnland eher als im hektischen Deutschland.

Und das vor allem im finnischen Sommer. In dieser Jahreszeit verordnet sich das gesamte Land für einige Wochen eine Auszeit. Die meisten Behörden und Unternehmen sind während der Sommermonate geschlossen, überall wird nur mit einer Notbesatzung gearbeitet. Wer im Juli einen Termin vereinbaren will, stößt in der Regel auf verständnisloses Kopfschütteln. Denn wer kann, sitzt in diesen warmen Wochen auf der Veranda seines Sommerhauses, dem mökki, und genießt dort die Ruhe und die Einsamkeit. Die Sonne und die hellen Sommernächte versetzen das ganze Land in einen kollektiven Glücksrausch. Ein Rausch, der nur durch den allabendlichen Saunagang gesteigert werden kann. Während des Sommers tanken die Finnen die Kraft und Energie, die sie dringend brauchen, um die langen Herbst- und Winternächte zu überstehen. Trotzdem bricht die Melancholie immer wieder an die Oberfläche. Um sie zu bekämpfen – und auch um das selbst geschaffene Gefängnis des Schweigens zu durchbrechen –, greifen dann viele Finnen zum Alkohol. Weil sie dann auf Wirkung trinken und am Ende des Abends lallend durch die Gegend torkeln, haben die Finnen den Ruf, besonders wilde Trinker zu sein. Doch das sind sie nicht. In Deutschland beispielsweise trinkt der Durchschnittsbürger mehr als in Finnland.

Janten laki:Mit Bescheidenheit zum Ziel

Wer das Jantegesetz, das Janten laki, nicht beachtet, wird es in Finnland und auch in jedem anderen Land Nordeuropas schwer haben. Deswegen steht dieses Kapitel auch ganz am Anfang dieses Buches: Nur wer das Janten laki versteht, wird (irgendwann) auch die Finnen verstehen.

Das Janten laki besagt in groben Zügen, dass man niemals glauben soll, etwas Besseres zu sein als der andere. »Erfunden« hat es der dänische Schriftsteller Axel Sandemose in seinem Roman Ein Flüchtling kreuzt seine Spur, der 1933 erschienen ist. Benannt ist das Gesetz nach der fiktiven dänischen Stadt Jante, Gültigkeit hat es aber im ganzen Norden.

Interpretiert man es positiv, steht das Jantegesetz für Bescheidenheit und Gerechtigkeit, die Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstreflexion.

Während man in den meisten anderen Ländern danach strebt, der Beste zu sein, bemüht man sich in den nordischen Ländern, so wenig wie möglich aus der Menge herauszustechen. Selbst wer große Leistungen vollbringt, bleibt bescheiden und stellt sich so durchschnittlich wie möglich dar. »Ach, was sind denn schon drei Olympiagoldmedaillen« oder »So besonders war meine Erfindung nun auch wieder nicht, dass man mir den Nobelpreis hätte geben müssen« – das wären zwei Aussagen, die eines finnischen Medaillengewinners oder Nobelpreisträgers würdig sind.

Ein Deutscher, der so seine Bescheidenheit nach außen kehrt, tut das, um Widerspruch zu provozieren – und um für seine Olympiamedaillen und seinen Nobelpreis gelobt zu werden. Ein Finne hingegen meint es genauso, wie er es sagt. Mehr noch: Wenn der finnische Langlaufheld nach Hause in sein Dorf kommt, kann er sicher sein, dass er von nun an argwöhnisch beäugt wird: Er könnte ja doch vielleicht ein bisschen hochnäsig geworden sein. Und die Professoren an der Uni werden ganz genau hinschauen, ob sich der hoch dekorierte Kollege in der Essensschlange der Mensa auch weiterhin brav hinten anstellt.

Mit überlegenem Wissen gibt man in Finnland ebenso wenig an wie mit offen zur Schau getragenem Reichtum. Ferrari macht dort nicht nur wegen der winterlichen Straßenverhältnisse ein schlechtes Geschäft. Und damit auch jeder sehen kann, was der andere verdient, sind alle Steuerdaten für jedermann im Internet einsehbar. Einfach die Seiten des Finanzamts aufrufen – und schon weiß man, wie es dem Nachbarn finanziell geht. Bei den ganz Reichen erledigt das sogar die Boulevardpresse für den gemeinen Bürger: Ihr Einkommen wird jedes Jahr in der Zeitung veröffentlicht.

Auch die Politiker müssen sich an die ungeschriebenen Regeln des Jantegesetzes halten. Wer in Fernsehdiskussionen besserwisserisch auftritt, wie das die beiden deutschen Ex-Bundeskanzler Schröder und Kohl so gerne taten, hat in Finnland keine Chance. Demonstrativ zur Schau getragene Selbstsicherheit wird nicht als Führungsstärke betrachtet, sondern als Arroganz.

Wer auf seinen Visitenkarten mit dem Doktortitel prahlt oder gar seinen Magistertitel in gedruckter Form vor sich herträgt, erntet in Finnland keine Bewunderung, sondern stillen Spott. Der Finne wird zwar nichts sagen, sich aber denken: »Der muss es ja nötig haben, mit dem Titel hausieren zu gehen.«

Auch im Geschäftsleben bringt allzu forsches Auftreten nichts. Damit haben deutsche Manager, die mit einem finnischen Unternehmen ins Geschäft kommen wollen, häufig Probleme. Sie sind harte Diskussionen gewöhnt, pochen auf ihren Standpunkt und rücken nur widerwillig von ihren Forderungen ab. So mancher deutsche Firmenchef ist schon zufrieden lächelnd und die Hände reibend aus einer Verhandlung gegangen, weil er sich vermeintlich durchsetzen konnte – um dann später erstaunt festzustellen, dass der avisierte Vertrag nicht zustande kam.

Dabei muss er sich gar nicht wundern: Er hat einfach gegen das Janten laki verstoßen und getan, als sei er etwas Besonderes.

In der Regel wird überall in Nordeuropa so lange verhandelt, bis ein Konsens gefunden ist. Dabei verlieren ausländische Gesprächspartner schnell die Geduld und wollen das Verfahren durch vermeintliche Entschlossenheit abkürzen. Einen Konsens zu finden ist in Finnland oft noch schwieriger als in den übrigen nordischen Ländern. Denn die Verhandlungen bestehen oft aus viel Schweigen – und eventuell einem Saunabesuch.

Das sind die Deutschen nicht gewohnt. Sie wollen möglichst schnell und effektiv ihre Interessen durchsetzen: Verhandeln, unterschreiben und heimfahren – das ist ihre Devise. Doch »Zack, Zack« geht in Finnland gar nichts.

Wer in Finnland einen Job annimmt, sollte sich hüten, gleich irgendwelche Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. In Deutschland mag so etwas als engagiert gelten, als besonderer Einsatz für die Firma. In Finnland würde man aber eher denken: Was bildet sich der Kerl ein? Da ist er gerade erst ein paar Monate (oder auch Jahre) in der Firma, und schon glaubt er, alles besser zu wissen. Anpassung wird aber nicht nur von Ausländern erwartet, sondern auch von den eigenen Leuten. »Wir machen das hier so und so« ist eine oft gehörte nordische Floskel, die sich auf jeden Lebensbereich anwenden lässt. Sie heißt nichts anderes als: »Wenn du dazugehören willst, dann mach es so wie wir. Wir sind nichts Besonderes, aber du bist es auch nicht.«

Professor Bernd Henningsen, der in der Autorenzeile unter seinem Artikel über das Jantegesetz im Internet ganz skandinavisch seinen Titel weggelassen hat, schreibt dazu ziemlich kritisch:

»Das Gesetz von Jante beschreibt den Kleinmut und das Minderwertigkeitsgefühl, das den Menschen im provinziellen Milieu anerzogen wird; es beschreibt die Vorherrschaft des Spießers, der in seiner bornierten Ignoranz alles besser weiß und der alle Qualität und alle Exzellenz niedermacht; was über sein Mittelmaß hinauskommt, erst recht was den Vorsatz hat, über das Mittelmaß hinauskommen zu wollen, wird sozial geächtet ...«

Da ich nicht annehme, dass ich klüger bin als der Professor, bei dem ich einst meine Magisterprüfung abgelegt habe, lasse ich das einfach mal so stehen.

Finnen besuchen, aber richtig:Ein Kniefall vor dem Gastgeber

»Mit Fremden wird der Finne, so gastfreundlich er ihn aufnimmt, nicht leicht vertraut; auch ist er Feind aller Neuerungen, und jemand durch Schmeichelei für sich zu gewinnen, wie es die russischen Bauern zu tun pflegen, ist dem Finnen zuwider. Im Zustand der Gereiztheit ist er auffahrend und rachsüchtig.«

(Meyers Konversationslexikon von 1890)

Nach eineinhalb Jahren ist es soweit: Ich bin bei meinen besten Freunden zu Gast. Ana und Juha haben mich zum Abendessen gebeten. Vielleicht ging es deswegen so schnell, weil Ana in Deutschland studiert hat und irgendwie ganz unfinnisch ist. Eineinhalb Jahre Freundschaft sind nach finnischem Verständnis nicht viel. So schnell wird man normalerweise nicht in einen finnischen Haushalt eingeladen. Eine Einladung nach Hause ist nämlich ein ganz besonderer Vertrauensbeweis. Und der wird nicht so ohne Weiteres ausgesprochen.

Große Gastgeschenke erwartet niemand in Finnland. Obwohl sich Ana wie alle Frauen sicherlich über einen Blumenstrauß freuen würde. Doch Ana und Juha bekommen von mir eine Flasche Wein. Das ist die praktische Variante. Alkohol ist in Finnland nach wie vor recht teuer. Und deswegen wird es gern gesehen, wenn der Gast seinen Trinkvorrat quasi selbst mitbringt – vorausgesetzt, die Gastgeber trinken Alkohol.

Denn der Eindruck, den man auf mitteleuropäischen Skipisten gewinnt, dass Nordeuropäer ständig betrunken sind, hat mit der Realität nur wenig zu tun (ein bisschen aber doch, doch dazu weiter unten mehr). Viele Finnen sagen zu einem guten Schluck nicht nein. Überraschend viele aber lehnen das »Teufelszeug« ganz ab. Das hat wohl noch ein bisschen mit der protestantischen Tradition und der Abstinenzlerbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu tun.

Ana und Juha aber gehören zur ersten Gruppe – die Flasche Rotwein kommt bei ihnen gut an. Bevor ich losfahre, rufe ich lieber nochmal an und gebe Bescheid, dass ich gleich kommen werde. Sicher ist sicher.

Finnen ist ihre Privatsphäre heilig. Niemand drängt sich dem anderen auf – will im Gegenzug aber auch selbst in Ruhe gelassen werden. Es gilt in Finnland als sehr unhöflich, einfach mal »auf einen Sprung« beim anderen vorbeizuschauen. Wer einen finnischen Bekannten spontan besuchen will, ruft vorher an! Das ist auch deswegen wichtig, weil viele Häuser keine Klingeln haben oder man nur nach Eingabe eines Nummerncode reinkommt. Und den muss man vorher erst beim Besitzer erfragen.

Bei Ana wären solche Formalitäten zwar nicht nötig – sie hat, wie gesagt, in Deutschland studiert –, doch einen Nummerncode braucht man auch für die Eingangstür zu ihrem Appartementblock. Anas Haus hat sogar eine Klingel, doch wie ich später erfahre, wird die abends abgeschaltet.

Nachdem mir Ana die Wohnungstüre geöffnet hat und ich ihr den Wein überreicht habe (die Flasche als Geschenk einzupacken ist nicht nötig, denn es ist klar, dass eine mitgebrachte Flasche Alkohol im Laufe des Abends zusammen geleert wird), falle ich vor ihr auf die Knie. Das allerdings nur, um mir die Schuhe auszuziehen. In einer finnischen Wohnung geht man nämlich »unten ohne«. Und da ist auch Ana sehr finnisch. Praktisch ist das allemal, denn angesichts des Wetters sind die Schuhe oft schmutzig. Ins Theater oder Konzert bringen die Damen deswegen oft ihre Highheels in einem kleinen Täschchen mit. Dann geben sie die Allwetterboots an der Garderobe ab und stöckeln elegant in den Konzertsaal.

Eine normale finnische Begrüßung würde normalerweise ohne großes Hallo ablaufen. Man gibt sich nur selten die Hände. Umarmungen sind – besonders unter Männern – absolut tabu. Ein schlichtes hei – »Hallo« – oder hyvä ilta – »Guten Abend« – genügt völlig.

Ana ist anders – eine ausgiebige Umarmung und das Küsschen links und rechts auf die Wange gehören zu ihrem Standardprogramm. Ana sagt, das liege daran, dass sie in Oulu geboren wurde und die Menschen dort temperamentvoller seien als in Helsinki – eine Behauptung, die ich nicht wirklich nachvollziehen kann. Und ich war schon oft in Oulu. Juha begrüßt mich hingegen ganz finnisch. Moi, sagt er. Moi – so begrüßt man sich unter Freunden.

Ana hat gekocht, und sobald das Essen auf dem Tisch steht, wird ohne lange Vorrede losgefuttert. Auch das ist typisch: Einen guten Appetit wünscht man sich nur sehr selten. Dafür bedankt man sich hinterher beim Gastgeber mit einem kiitos ruosta – »danke für das Essen«.

Ebenfalls typisch finnisch wäre es, während des Essens erst mal tüchtig zu schweigen. Juha führt das exemplarisch vor. Ana dagegen ist eine richtige Schwatztante. Mit ihr kann man so richtig schön über den Chef lästern – wir kennen uns vom Job, und da gibt es einiges zu erzählen.

Ana spricht, Juha schweigt – ein typisches Bild bei vielen finnischen Paaren. Deutsche Frauen, die ihren Männern vorwerfen, sie könnten nicht reden, sollte man mal nach Finnland schicken.

Deswegen hier ein kleiner Einschub zum Thema Schweigen:

Finnen gelten als mundfaul. Deswegen kann es schon mal vorkommen, dass das Gespräch bei Tisch einschläft. Das ist aber kein Grund zur Panik: Schweigen empfinden Finnen nicht als unangenehm. Im Gegenteil: Lange Pausen sind Teil der Gesprächskultur. Wenn man ab und an nickt und jede halbe Stunde ein niin vor sich hinmurmelt, reicht das aus, um als sehr aufmerksamer Zuhörer und interessanter Gesprächsteilnehmer zu gelten. Während es in Deutschland als höflich gilt, im Gespräch nachzufragen und die Worte des anderen regelmäßig durch ein »Ja«, »Hmm« oder »Genau« zu unterstützen, wird das in Finnland als eine unhöfliche Unterbrechung verstanden. Man sitzt einfach da und hört zu. Erst wenn der andere mit seiner Rede fertig ist, kommt man selbst an die Reihe.

Nicht nur in der Art, wie man sich unterhält, sondern auch, was den Inhalt angeht, ist der Finne zurückhaltend. Eigene Ansichten äußert er nur vorsichtig. Man will sie dem anderen keinesfalls aufdrängen. Deswegen gilt: Lieber nichts sagen, als den anderen verärgern. Die Antwort »vielleicht« ist da schon eine starke Meinungsäußerung. Allerdings sollte man nie den Fehler begehen zu glauben, dass das Gegenüber keine eigene Meinung hat – nur weil es sie nicht äußert. Das Gegenteil ist der Fall, und im Streitfall wird es auch entschlossen auf sie beharren.

Schweigen ist in Finnland aber ein so wichtiges Thema, dass es in diesem Buch ein eigenes Kapitel bekommt.

Die Rotweingläser sind schon zum zweiten Mal gefüllt worden – und Ana redet noch immer. Nach dem ersten Zuprosten, untermalt vom Trinkspruch kippis, wird ohne weitere Förmlichkeiten weitergetrunken. Kippis ist eines der wenigen Wörter, die sich auch Finnlandtouristen – dank einer kleinen Eselsbrücke – leicht merken können. »Kipp es« hört sich für einen Trinkspruch ja auch durchaus passend an.

Doch Achtung: Wer nicht dazu eingeladen wurde, über den Chef zu lästern, sondern vom Chef selbst, dem seien etwas förmlichere Trinksprüche angeraten: Maljanne oder das noch distanziertere terveydeksi – »sehr zum Wohle« – sind dann eher angebracht.

Typisch finnisch wird es dann erst wieder nach dem Essen. Dann bietet Ana nämlich Kaffee an. Kaffee gibt es in Finnland immer und überall! Die Finnen sind die Weltmeister im Kaffeetrinken, und im Durchschnitt trinkt jeder von ihnen – Kinder eingeschlossen – vier Tassen täglich.

Normale Einladungen sind nach dem Kaffee (es darf aber gerne eine zweite oder dritte Tasse getrunken werden) zu Ende – ich spreche von Einladungen und nicht von Partys, bei denen es eher ums Trinken denn ums Essen geht. Jeder Gast weiß, nach dem Kaffee ist es Zeit, sich zu verabschieden.

Finnen sind zwar gute und aufmerksame Gastgeber. Doch auch als Gastgeber bleiben sie Finnen – und das heißt: Selbst wenn der Gast noch so sympathisch ist, am schönsten ist es doch allein. Deswegen gilt es als unhöflich, die Gastfreundschaft überzustrapazieren. Im Regelfall sollte man noch vor Mitternacht näkemiin, »auf Wiedersehen«, sagen.

Beim Abschied sind die Finnen praktisch veranlagt. Sind mehrere Gäste eingeladen, gehen alle zusammen. So spart man sich das ewige verabschieden. Und nicht vergessen: Immer schön Abstand halten. Auch beim Abschied sind Umarmungen verpönt.

Ein guter Gast greift am Tag nach der Einladung zum Telefonhörer und bedankt sich bei seinen Gastgebern mit einem kiitosviimeistä – »danke für das letzte Mal«. In derselben Form zeigt man seinen Dank, wenn man seine Gastgeber später noch zufällig irgendwo trifft – das kann auch noch Wochen nach der Einladung sein.

Finnland und Deutschland:(Nicht nur)Brothers in Arms

»Berlin ist meine Stadt, denn wie Du weißt, schätze ich die Annehmlichkeiten des Lebens, und in dieser Hinsicht hat der Deutsche alles bestens geregelt.« (der finnische Schriftsteller Eino Leino 1909 in einem Brief) »Ich muss zugeben, dass es mir trotz aller Bemühungen, mein Vaterland zu diffamieren, lächerlich zu machen und zu verunglimpfen, nicht gelungen ist, das gusseisern positive Deutschlandbild der Finnen zu beeinflussen.« (der deutsche Journalist und Schriftsteller Roman Schatz, der seit fast 30 Jahren in Finnland lebt, in einem Interview 2010)

Als Deutscher ist man es nicht unbedingt gewohnt, auf Auslandsreisen mit offenen Armen empfangen zu werden. Als arrogant und besserwisserisch sind wir vielerorts verschrien, als Pedanten und Nörgler. Dort sind wir dann eben die Handtuchdeutschen, die schon am Morgen den Platz am Strand belegen – oder die Wohnmobilfahrer, die ihr Auto bis oben hin mit heimischen Vorräten vollpacken, um im Ausland immer ein Stück Deutschland dabeizuhaben.

Und in manchen Ländern hat man, denkt man an »die Deutschen«, immer noch die Bilder von marschierenden Nazisoldaten im Kopf.

Nicht so in Finnland. Wer seinen Urlaub in einem Land verbringen will, in dem man Deutsche mag, für den kann das Reiseziel nur Finnland heißen. Hier sind wir wirklich beliebt. Ob es daran liegt, dass den schweigsamen Finnen mit dem etwas stoffligen Deutschen eine Wesensverwandtschaft verbindet?

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verbrachten fast alle wichtigen finnischen Künstler eine gewisse Zeit in Berlin. Die preußische Hauptstadt wurde für sie zu einem Zentrum der Inspiration. Vermutlich aber schätzten die Finnen auch die damals schon lebhafte Kneipen- und Kaffeehausszene der Millionenmetropole. Der berühmte Komponist Jean Sibelius lebte hier ebenso wie die Maler Akseli Gallén-Kallela und Albert Edelfelt. Finnische Opernsänger und -sängerinnen traten regelmäßig in den Berliner Theatern auf. Der finnische Schriftsteller Eino Leino schrieb 1911 in einem Roman, dass Berlin der absolute Auslandstreffpunkt aller Finnen sei. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich in Berlin eine kleine finnische Künstlerkolonie, deren Mitglieder sich regelmäßig im Café Bauer Unter den Linden trafen.

Die politischen Verknüpfungen zwischen Deutschland und Finnland sind seit jeher eng und ziehen sich durch die gesamte – kurze – Geschichte des Landes.

Im Finnischen Bürgerkrieg 1918 wurden finnische Soldaten in Preußen ausgebildet. Zudem griffen die kaiserlichen Truppen auf der Seite der Bürgerlichen in die Kämpfe ein und sicherten deren Sieg gegen die Kommunisten. Danach sollte sogar ein Deutscher – der hessische Prinz Friedrich Karl – finnischer König werden. Der Plan scheiterte nur daran, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg verlor und ein Deutscher auf dem Königsthron eines neu gegründeten Staates nicht mehr opportun war. Trotzdem war Finnland eines der wenigen Länder, das auch nach dem Krieg freundschaftliche Beziehungen zum »Weltkriegsverlierer« Deutschland unterhielt.

Im Zweiten Weltkrieg kämpften die Finnen von 1941 bis 1944 im »Fortsetzungskrieg« Seite an Seite mit der Wehrmacht gegen Stalins Armee. Für diese »Waffenbrüderschaft« ist man Deutschland in Finnland noch heute dankbar. Ohne die Zusammenarbeit mit Nazideutschland hätte vermutlich die Rote Armee das Land besetzt und Finnland seine Unabhängigkeit verloren. Dass es zuvor Hitler war, der Finnland 1939 in dem geheimen Zusatzprotokoll zum Deutsch-Sowjetischen Freundschaftspakt an Stalin »verschenkt« hatte und dass sich zum Ende des Krieges Finnen und Deutsche in Lappland als Feinde gegenüber standen, tut dem positiven Deutschenbild komischerweise keinen Abbruch.

Lange Zeit galt es in Finnland als nicht hinterfragte Wahrheit, dass der Fortsetzungskrieg ein »sauberer« Krieg war, in dem sich Finnland trotz seiner Zusammenarbeit mit den Nazis keinerlei Verbrechen schuldig gemacht hatte. Und auch von deutscher Seite hatte man sich nicht sonderlich bemüht, diese Theorie zu widerlegen. Inzwischen weiß man allerdings, dass die deutschfinnische Freundschaft auch dann nicht aufhörte, wenn man gemeinsam Verbrechen beging.

Finnland hat während des Krieges im Einzelfall nicht nur Juden an die Nazis ausgeliefert, sondern auch eifrig sowjetische Kriegsgefangene in das deutsche Lager Stalag 309 im nordfinnischen Salla überstellt. Da auch den Finnen klar war, dass die Gefangenen dort dem Tod geweiht waren, machten auch sie sich der Menschenrechtsverletzungen schuldig. Außerdem stellten die Finnen sogar Teile des Lagerpersonals, und finnische Wächter waren an der Erschießung sowjetischer Kriegsgefangener beteiligt.

Weil viele der deutsch-finnischen Gemeinsamkeiten einen militärischen Hintergrund haben, bekam man lange Zeit als deutscher Tourist in Finnland Beifall von einer Seite, von der man das nicht unbedingt wollte. So wurde ich in den 1970er Jahren als Jugendlicher während meiner ersten Finnlandreisen mitunter mit einem freundlichen »Heil Hitler« begrüßt. Der Grüßende war dabei nicht notwendigerweise rechtsradikal eingestellt, sondern wandte vielleicht einfach den Gruß an, den er von den »deutschen Kameraden« aus Kriegszeiten kannte. Irritierend fand ich damals auch, dass viele Finnen problemlos die Liste sämtlicher deutschen Wehrmachtsgeneräle herunterbeten konnten und die Namen der berühmtesten Kampfflieger der Nazis samt der Zahl ihrer Abschüsse kannten.

Bis weit in die 1950er Jahre war Deutsch die erste Fremdsprache an finnischen Schulen. Auch später lernten noch viele Finnen Deutsch. Wer damals als Student ins Ausland ging, studierte entweder in Schweden oder Deutschland. Schon in den 1960er Jahren zählte dann die Bundesrepublik wieder zu den wichtigsten Handelspartnern Finnlands. Seit Ende der 1990er Jahre – nach der Wende und dem Zerfall der Sowjetunion – steht Deutschland sogar wieder an erster Stelle dieser Statistik.

Während der Zeit der deutschen Teilung hielt Finnland in Bezug auf Deutschland streng an seiner Neutralitätspolitik fest. In beiden deutschen Staaten eröffnete das Land Handelsvertretungen – Botschaften aber gab erst nach 1973. Damals erkannte Finnland als letztes westliches Land die Bundesrepublik an und zeitgleich mit ihr auch die DDR. Für viele Bürger der DDR war Finnland das einzige westliche Land, das – zumindest theoretisch – bereist werden durfte. Entsprechend groß war auch die Neugier auf das Land und seine Kultur. Als Journalist arbeitete ich Ende der 1980er Jahre beim deutschsprachigen Auslandsfunk des Finnischen Rundfunks und konnte damals das Interesse der DDR-Bürger an Finnland hautnah erleben: Mindestens 90 Prozent unserer Hörerpost kam aus dem Ostteil Deutschlands.

Doch es gibt nicht nur in der Kunst, Politik und Wirtschaft enge Verbindungen zwischen Deutschen und Finnen. Ein weiteres verbindendes Element ist die Liebe. 12 000 Finnen leben in Deutschland – davon sind mehr als 80 Prozent Frauen, und die wiederum sind nahezu ausnahmslos hier, weil sie sich in einen deutschen Mann verliebt haben. Den umgekehrten Fall – finnische Männer, die mit deutschen Frauen verheiratet sind – trifft man wesentlich seltener an. Warum das so ist, darüber werden sich die Leser, nachdem sie dieses Buch zu Ende gelesen haben, sicher ihre eigene Theorie bilden können. Wer nicht so lange warten mag, kann ja schon mal zum Kapitel »Das Schweigen der Finnen« vorblättern.

Die kurze Geschichteeines jungen Landes

»Am wohlsten fühlen wir uns, wenn wir betrunken in der dunklen Sauna sitzen und über den Tod reden.« (finnische Selbsteinschätzung)

Am Anfang war die Leere

Bei einem Streifzug durch die finnische Geschichte kann man den Anfang fast überspringen: Bis zum 13. Jahrhundert ist eigentlich nicht viel passiert.

Man vermutet, dass schon vor 120 000 Jahren Neandertaler auf dem Gebiet des heutigen Finnland lebten. In der susiluola, der Wolfshöhle, in Westfinnland fand man Steinwerkzeuge, die so alt sind. Sie wären damit der einzige Nachweis für den Neandertaler in Nordeuropa. Gesichert ist die Besiedlung durch den Homo sapiens ab 8500 v. Chr. Aus dieser Zeit liegen heute Steinscherben im Nationalmuseum in Helsinki. Allerdings sehen diese Scherben ziemlich unspektakulär aus. Auch die 5000 Jahre alten Steinritzungen, die man auf Inseln im Kolovesi Nationalpark in der Nähe von Savonlinna entdeckte, sind nicht gerade ein Hingucker – vor allem wenn man bedenkt, dass sie ebenso alt sind wie die Pyramiden von Gizeh. Während die Ägypter schon Megabauten in den Wüstensand setzten, saßen die Menschen in Finnland am Meeresufer und klopften mit Steinkeilen auf Felsen herum. Damals war nur ein dünner Küstenstreifen im Süden besiedelt. Wer sich jetzt wundert, warum man heute einige hundert Kilometer ins Landesinnere zu den Steinritzungen von Kolovesi fahren muss, den möchte ich jetzt zu einem kleinen Exkurs in die Geologie Finnlands einladen.

Auf Stein gebaut

Finnland steht im wahrsten Sinne des Wortes felsenfest. Wer zur Schaufel greift und an einem beliebigen Ort zu graben anfängt, stößt schon nach wenigen Metern auf eine Schicht aus Granit, Gneis oder Lavagestein. Während der letzten Eiszeit, die vor etwa 100 000 Jahren begann und erst vor 7000 Jahren endete, bedeckten Gletscher das ganze Land. Als sie abschmolzen, versank Finnland in einem riesigen See. Doch langsam – endlich vom Druck des Eismantels befreit – stieg das Land wieder nach oben und tauchte aus dem Wasser auf. Dieser Prozess ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Den Finnen kann’s recht sein, denn so wächst ihr Land jedes Jahr um sieben Quadratkilometer. Viele Orte in Westfinnland, die bei ihrer Gründung im 14. und 15. Jahrhundert direkt am Wasser lagen, sind seitdem landeinwärts »gewandert«. Die Stadt Vaasa ist solch ein Beispiel: Die einst am Meer erbaute Altstadt liegt heute sieben Kilometer vom Wasser entfernt.

Die Finnen – eine römische Erfindung

Doch zurück in die Steinzeit: Die ersten Steinzeitmenschen, die in Finnland lebten, hatten mit den heutigen Finnen nichts zu tun. Deren Vorfahren kamen erst um 5000 vor unserer Zeitrechnung aus einem Gebiet östlich des Urals ins Land. Früher wurden diese finnougrischen Stämme als die Vorfahren der heutigen Finnen betrachtet. Inzwischen ist die Forschung weiter. Man weiß, dass die Finnen eine Mischung aus den finnougrischen Stämmen und indogermanischen Zuwanderern sind. Zum Leidwesen jedes Sprachschülers hat sich bei der Verschmelzung der Stämme die finnougrische Sprache durchgesetzt und sich seit jenen Tagen zum heutigen Finnisch entwickelt. Da aber die finnische Sprache ein ganz besonderes Kapitel ist, soll sie auch ein solches erhalten.

Den Namen »Finne« hat übrigens ein Römer erfunden: Der Geschichtsschreiber Tacitus. Er hat in seiner Germania vom Volk der Fenni gesprochen. Das waren angeblich wilde Leute, die keine Häuser kannten und ungeschützt vor der Witterung im Freien auf dem Boden schliefen. Ob’s stimmt? Man weiß es nicht. Tacitus selbst war nie im hohen Norden. Außerdem hat er mit den Fenni vermutlich ohnehin nicht die Finnen, sondern die Sami gemeint.

Ab dem späten 8. Jahrhundert kamen regelmäßig Wikinger aus Schweden an die Küste Finnlands, um dort Pelze zu kaufen. Um die Tiere zu jagen, wagten sich jetzt erstmals die Menschen hinein ins Landesinnere. Doch damals lebten in Finnland nicht nur die Vorfahren der heutigen Finnen, sondern auch die der Sami. Diese Volksgruppe wurde im Laufe der Jahrhunderte von den nachrückenden finnischen Stämmen immer weiter nach Norden verdrängt.

Weil in Finnland nur sehr wenige Menschen lebten, formte sich im Unterschied zu den meisten anderen Ländern Europas kein zusammenhängendes Reich. Die einzelnen finnischen Stämme und Familien waren unter keinem gemeinsamen Fürsten, König oder Kaiser vereint.