Finsteres Meer - Cristina Cassar Scalia - E-Book

Finsteres Meer E-Book

Cristina Cassar Scalia

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Beschreibung

Der dritte Fall für die eigenwilligste Ermittlerin Siziliens: Giovanna Guarrasi!

Eine junge Reisende entdeckt auf dem Parkplatz des Flughafens von Catania eine Leiche. Die hartgesottene Kommissarin Giovanna Guarrasi ist mit ihrer Mannschaft sofort zur Stelle – aufgrund der zweifelhaften Vergangenheit des Toten geht man zunächst von einem Mafiamord aus. Doch der Fund einer zweiten Leiche, die mit dem Toten am Flughafen in Verbindung steht, bringt die Ermittler auf eine neue Spur für den Fall – der schon bald internationale Ausmaße annimmt. Tatkräftig unterstützt wird Giovanna wieder einmal von Biagio, Kommissar im Ruhestand. Kann es Guarrasi schaffen, Licht ins Dunkel zu bringen? Und will sie das überhaupt? Denn diese Ermittlung verlangt der sonst so toughen Polizistin einiges ab – wie zum Beispiel die Konfrontation mit ihrer eigenen dunklen Vergangenheit …

Authentisches Sizilien-Feeling und Urlaubsspannung pur – begleiten Sie Giovanna Guarrasi auch bei ihren weiteren Fällen: »Schwarzer Sand« und »Tödliche Klippen«.

Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.


Alle Bände sind eigenständige Fälle und unabhängig voneinander lesbar.

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Buch

Der dritte Fall für die eigenwilligste Ermittlerin Siziliens: Giovanna Guarrasi!

Eine junge Reisende entdeckt auf dem Parkplatz des Flughafens von Catania eine Leiche. Die hartgesottene Kommissarin Giovanna Guarrasi ist mit ihrer Mannschaft sofort zur Stelle – aufgrund der zweifelhaften Vergangenheit des Toten geht man zunächst von einem Mafiamord aus. Doch der Fund einer zweiten Leiche, die mit dem Toten am Flughafen in Verbindung steht, bringt die Ermittler auf eine neue Spur für den Fall – der schon bald internationale Ausmaße annimmt. Tatkräftig unterstützt wird Giovanna wieder einmal von Biagio, Kommissar im Ruhestand. Kann es Guarrasi schaffen, Licht ins Dunkel zu bringen? Und will sie das überhaupt? Denn diese Ermittlung verlangt der sonst so toughen Polizistin einiges ab – wie zum Beispiel die Konfrontation mit ihrer eigenen dunklen Vergangenheit …

Giovanna Guarrasi ermittelt in:

Schwarzer Sand

Tödliche Klippen

Finsteres Meer

Alle Bände sind eigenständige Fälle und unabhängig voneinander lesbar.

Die Autorin

Cristina Cassar Scalia stammt aus dem spätbarocken Noto und hat sich schon immer gewünscht, Sizilien zum Schauplatz eines Romans zu machen. Wenn sie ihre Leser durch die Lektüre dazu inspirieren kann, ihrer Heimat einen Besuch abzustatten, so sagt sie, hat sie ihren Job gut gemacht. Wenn sie nicht gerade schreibt, arbeitet sie als Augenärztin in Catania. Nach »Schwarzer Sand« und »Tödliche Klippen« ist »Finsteres Meer« ihr dritter Roman um die hartgesottene Ermittlerin Giovanna Guarrasi.

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Cristina Cassar Scalia

Finsteres Meer

Giovanna Guarrasi ermittelt in Sizilien

Aus dem Italienischen von Christiane Winkler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Cristina Cassar Scalia

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Limes Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Friedel Wahren

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: mauritius images / Marco Simoni

LO · erstellung: DiMo

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30196-5V002

www.blanvalet.de

Für meinen Vater,einen besseren hätte ich mir nicht wünschen können

Dorthin habe ich die versprochenen Blumen und den Kranz getragen. Von Zeit zu Zeit begebe ich mich hin, um mich tot und begraben zu sehen. Manch ein Neugieriger folgt mir von weitem; dann, wenn ich umkehre, gesellt er sich zu mir, lächelt und fragt: Darf man wissen, wer Sie sind?Ich zucke mit den Achseln, schließe die Augen halb und antworte: Ja, mein Lieber … Ich bin der selige Mattia Pascal.

Luigi Pirandello

1

Lella Canton drückte die Nase gegen das Fenster und prüfte dann die Fotos, die sie gerade mit ihrem Handy gemacht hatte. Es waren ein paar darunter, die ihre Follower auf Instagram neidisch gemacht hätten. Wolkenloser blauer Himmel, idealer Hintergrund. In den letzten zehn Minuten waren erst die Äolischen Inseln, dann die Straße von Messina und schließlich die fantastischste Landschaft, die sie je gesehen hatte, vor ihr vorbeigezogen. Der majestätische Berg, der schwarze mit Schnee gesprenkelte Fels und die Rauchfahne, die von seinem Gipfel aufstieg. Das alles war geradezu Ehrfurcht gebietend.

Das Flugzeug war morgens um halb sieben in Mailand-Malpensa gestartet und kreiste nun über dem Vulkan, während die Windböen den Sinkflug zum Flughafen Catania Fontanarossa verlangsamten. Mit jeder Drehung veränderte sich die Aussicht aus dem Fenster: Meer, Berge, wieder Meer, wieder Berge.

Der Pilot teilte mit, dass sie in wenigen Minuten landen würden, der Himmel sei klar, und die Temperatur betrage sechs Grad Celsius.

Lella wog den leichten Mantel in der Hand, den sie als einzigen Überzieher für diese erste Reise mitgebracht hatte. Wärmere Kleidungsstücke hatte sie bewusst abgelehnt. In Sizilien herrscht immer Frühling, sagte sie sich und ärgerte sich über sich selbst.

Sie wartete, bis das Flugzeug gelandet war, und rief ihre Wetter-App auf, in der Hoffnung auf eine beruhigende Nachricht. Sie war sich fast sicher, dass es im Laufe des Tages noch wärmer würde. Stattdessen: Mindesttemperatur vier, Höchsttemperatur neun. Bewölkt mit vereinzelten Regenschauern.

Das Pharmaunternehmen, für das sie seit zehn Jahren als Referentin in ihrer Region Venetien arbeitete, hatte sie gerade zur Gebietsleiterin befördert und ihr das einzige Gebiet zugewiesen, das zu diesem Zeitpunkt verfügbar war: den Süden und die Inseln. Für Lella bedeutete das eine radikale Veränderung, die sie ohne Zögern angenommen hatte. In mageren Zeiten eine Beförderung mit Gehaltserhöhung abzulehnen, nur weil dies einen Wechsel des Arbeitsbereichs bedeutete, erschien ihr nahezu unmoralisch.

Antonino Falsaperla, der sizilianische Pharmareferent, der sie auf dem Flug begleitete, war durch den Ruck bei der Landung aufgewacht.

Blitzschnell schnallte er sich ab. »Wir sind da! Ich kümmere mich um das Gepäck«, sagte er und stand sofort auf, um noch vor den anderen Passagieren zum Gepäckfach zu gelangen.

Lella sah aus dem Fenster. Sie parkten neben einem anderen Flugzeug, ein Shuttlebus stand schon bereit. Lella verstand nicht, warum sie es so eilig hatten.

»Wir müssen sowieso noch warten«, bemerkte sie. »Ich glaube kaum, dass der Bus mit uns allein losfährt.«

Antonino schaute enttäuscht auf seine Uhr. Sie hinkten eine halbe Stunde hinter dem Zeitplan her. »Wenn die Tür endlich geöffnet wird, haben wir vielleicht noch Zeit für ein Frühstück.«

Antonino hob die beiden Trolleys herunter und zog seine Jacke an, einen dick gefütterten Parka mit Pelzkragen an der Kapuze, den er drei Tage lang im hohen Norden getragen hatte. Er machte Lella den Weg zum Ausgang frei.

Es wehte ein so starker Wind, dass die Flugzeugtreppe unter ihnen wippte, und es war so kalt und feucht, dass Lella nach nur wenigen Schritten der Kopf kribbelte. Vergeblich kramte sie in ihrer Tasche nach der Wollmütze, die sie für den Fall der Fälle darin aufbewahrte, und hoffte, dass sie sie nicht vergessen hatte, als sie ihr Gepäck für den Süden des Landes zusammengestellt hatte. Aber sie hatte ganze Arbeit geleistet.

Andererseits hatte Lella Canton Sizilien nur in der Sommerversion erlebt. Sieben Tage an Bord eines Schiffs in der Gegend von Trapani mit Ausflug zu den Ägadischen Inseln. Fünfunddreißig Grad und eine erbarmungslose Sonne. Also hätte der November logischerweise eine Zwischensaison sein müssen.

»Diese Kälte ist nicht normal«, entschuldigte sich Antonino fast bestürzt. Und da sie schon einmal beim Pech waren, wurde seine neue Chefin nun auch noch so von seiner Heimatstadt empfangen. Diese Kälte war sonst nicht einmal im Januar zu spüren. Schlimmer noch als in der Brianza.

Der voll besetzte Shuttlebus fuhr ruckartig an und entlud in wenigen Minuten die Hälfte der Passagiere vor dem Ankunftsgate für Inlandsflüge.

Lella lief mit langen Schritten hinter Antonino her, der im Zickzack durch die Korridore rannte. Übergroße Plakate von barocken Monumenten und schönen Buchten wechselten sich mit Werbedisplays an den Wänden ab. Am Ende davon hing ein Plakat mit einem Bild von Pirandello und einem Zitat darunter.

Obwohl es erst acht Uhr morgens war, herrschte außerhalb des Ausstiegsbereichs bereits reges Treiben. Dutzende Fahrer mit Plakaten und Reiseveranstalter standen rechts unter der Rolltreppe, die zu den Abflügen führte, während sich vor den Fenstern eine Schlange aufgeregt wartender Passagiere gebildet hatte. Ganze Familien, einschließlich Kindern und älteren Menschen. Es herrschte ein Gefühl menschlicher Wärme, dem sich selbst die zurückhaltende Dottoressa Lella Canton nicht entziehen konnte.

Falsaperla verschlang zwei Croissants und spülte innerhalb von fünf Minuten ‒ so lange, wie seine Chefin brauchte, um einen Orangensaft zu trinken ‒ zwei Tassen Kaffee hinunter. Dann machte er sich auf den Weg zum Ausgang in Richtung des Parkplatzes, auf dem er drei Tage zuvor sein Auto abgestellt hatte. Ein kalter Wind schlug Lella entgegen, die sich in den einzigen Schal einwickelte, den sie dabeihatte.

»Ist es sehr weit?«, fragte sie, während sie einen breiten Bürgersteig entlangtrabten, der von einer Wand voller riesiger Plakate gesäumt war, neben denen, die im Terminal wie Poster gewirkt hatten. Ragusa, Noto, Taormina …

»Nein, wir sind fast da«, antwortete Antonino und deutete auf ein zweistöckiges Parkhaus.

Er bezahlte und ging seiner Chefin voraus zu einem Gittertor. Dort blieb er stehen und sah sich um.

»Mir muss nur noch einfallen, wo ich es abgestellt habe … Meine Güte, nachdem ich in letzter Zeit jeden zweiten Tag am Flughafen war, komme ich jedes Mal durcheinander, wenn ich das Auto abholen muss! Aber ich glaube, wir müssen in diese Richtung gehen.«

Lella starrte ihn an. Ihr schlugen die Zähne aufeinander, während er Zeit vertrödelte. So wie er gekleidet war, hätte er problemlos am Nordpol stehen können. Gut, dass sie sich wenigstens im Innern des Gebäudes aufhielten. Sie betraten einen Flur, den sie bis zum Ende entlanggingen, dann standen sie vor einem grauen Renault Scénic.

Während Antonino sich noch darüber freute, dass er den Wagen auf Anhieb gefunden hatte, und das Gepäck im Kofferraum verstaute, fiel Lella eine große dunkle Limousine auf, die mit eingeschalteten Scheinwerfern vor ihnen stand.

»Sehen Sie sich an, wie die geparkt haben!«, murmelte sie. So etwas passierte einem nur im Süden.

Sie näherte sich neugierig der Beifahrerseite, die Scheinwerfer blendeten sie, und linste hinein.

Der Schrei, den sie ausstieß, war bis zum Gipfel des Ätna zu hören.

2

Salvatore Fratta, auch Bazzuca genannt, war abgehauen. Als die Männer der Abteilung Catturandi der Mobilen Einheit von Palermo das Versteck durchsuchten, in dem sich der Flüchtige während der letzten Tage versteckt hatte, fehlte jede Spur von ihm.

Die stellvertretende Polizeichefin Vicequestore Giovanna Guarrasi, genannt Vanina, hätte sich eigentlich nicht an dieser Aktion beteiligen dürfen. Seit fast vier Jahren gehörte Palermo nicht mehr zu ihrem Zuständigkeitsbereich, das hatte sie selbst so entschieden. Auch die Abteilung für organisiertes Verbrechen hatte sie aus freien Stücken verlassen.

Vanina war beim Mobilen Einsatzkommando in Catania für die Abteilung für Straftaten gegen die Person zuständig, die früher einmal Mordkommission genannt worden war. Am Tag der Razzia, hatte sie sich, vorgewarnt von Angelo Manzo, ihrer ehemaligen rechten Hand, in ihr früheres Büro begeben und gebeten, an der Aktion teilnehmen zu dürfen. Das hatte den Unmut des halben Polizeipräsidiums von Palermo hervorgerufen. Am Ende hatte sie sich jedoch durchgesetzt.

Und nun war sie dort für zwei Wochen der Abteilung der Catturandi zugeteilt, der Mobilen Anti-Mafia-Einheit von Palermo, und zwar auf förmliches Ersuchen des Polizeichefs und mit einer mehr als legitimen Begründung. Die lautete nämlich, dass sie sich sechs Jahre ihres Lebens der Suche und Festnahme von Salvatore Fratta, genannt Bazzuca, und seines Clans gewidmet hatte. Bis die Inszenierung seines Todes, den nur sie entgegen aller Beweise nicht hatte wahrhaben wollen, den Ermittlungen ein Ende gesetzt hatte. Doch die jüngsten Entwicklungen hatten ihr recht gegeben. Die Fülle an Informationen, über die Vanina Guarrasi verfügte und die in ihrem Gedächtnis verankert waren, machte sie für ihre Kollegen unentbehrlich. Die mussten nun die losen Enden verknüpfen und die Jagd nach dem Flüchtigen neu organisieren.

Vaninas zwei Wochen bei den Catturandi liefen an diesem Tag ab. Wenn sie gewollt hätte, hätte der Polizeipräsident von Palermo – der sich mit der Festnahme von Flüchtigen auskannte – Guarrasis Aufenthalt verlängern können, wofür sich auch der leitende Angestellte Corrado Ortès stark gemacht hatte.

Doch Vanina schien nicht bleiben zu wollen.

Die Sitzung hatte in Ortès’ Büro begonnen, einem Raum mit Blick auf die Piazza della Vittoria und die benachbarte Villa Bonanno, dessen Wände mit Erinnerungsstücken an die im Lauf der Jahre verhafteten Flüchtigen geschmückt waren. Eine Vitrine enthielt einen Stock, eine andere ein Hemd, wieder eine andere ein Gewehr. Ganz oben in einem Bücherregal lag ein Motorradhelm. Beweisstücke, auf die all jene stolz waren, die an den Operationen beteiligt gewesen waren. Kurz darauf begab sich die Gruppe nach unten in das Büro des Leiters des Mobilen Einsatzkommandos.

Das Team, das mit der Suche nach Bazzuca beauftragt gewesen war, bestand aus fünf Mitgliedern und natürlich dem Einsatzleiter. Darunter befanden sich neben zwei ausgewählten Beamten und zwei Inspektoren, darunter eine Frau, auch Angelo Manzo, Vaninas ehemaliger Mitarbeiter, der sie immer gemocht hatte und gerade zum stellvertretenden Inspektor befördert worden war.

Auch Vanina nahm an der Sitzung teil, denn sie wusste, dass es vermutlich ihre letzte war. In den vergangenen zwei Wochen hatte sie Akten gewälzt, mit deren Lektüre sie nie mehr gerechnet hatte. Sechs Jahre Ermittlungen und zahlreiche Verhaftungen, von denen drei eine große persönliche Racheaktion für sie bedeuteten, obwohl sie sich lieber einen Arm hätte abhacken lassen, als dies zuzugeben.

»Es ist also bestätigt, dass sich Fratta in diesem Haus aufhielt«, fasste der Leiter des Mobilen Einsatzkommandos zusammen.

»Ja, Chef. Die Wohnung war zwar fast völlig ausgeräumt, und es wurden keine persönlichen Gegenstände gefunden. Unserem Kollegen von der Spurensicherung gelang es aber, DNA aus einem Cracker zu isolieren, der zwischen den Polstern eines Sessels gesteckt hatte. Sie stimmt mit der DNA von Fratta überein, die bei den Ermittlungen vor seinem angeblichen Tod sichergestellt wurde. Das beweist, dass er dort gewesen sein muss. Außerdem haben wir auf der Matratze ein langes Haar gefunden. Auch hier konnte man eine DNA isolieren. Sie gehört einer weiblichen Person.«

»Und wir wissen natürlich nicht, zu wem sie gehört.«

»Leider nicht.«

»Aber in dem Haus wohnte jemand bis wenige Stunden vor unserer Razzia«, schloss der Chef.

Ortès bestätigte.

Die kleine Villa, die ein Justizangestellter als Bazzucas Versteck angegeben hatte, gehörte offenbar zu einer scheinbar unbewohnten Sommerresidenz. Die Wohnung, in der der Flüchtige gewohnt haben sollte, schien in Ordnung zu sein. Obwohl der Strom abgestellt worden war, enthielt der Boiler noch immer lauwarmes Wasser. Und die Wände des Apartments waren für die aktuellen Wetterverhältnisse nicht feucht genug und noch zu warm. Vanina hatte als Erste die Mülltüte im einzigen Mülleimer entdeckt. Darin fand man Reste von nicht verwestem Brathähnchen, frische Salatblätter und den Rest eines Apfels, der nicht allzu alt sein konnte. In den Essensresten hatte sich auch eine Tablette gefunden, welche die Gerichtsmediziner als blutzuckersenkendes Mittel identifiziert hatten. Die anderen hatten vielleicht keine Zeit gehabt, es herauszufinden, doch Vanina erinnerte sich gut daran, dass Salvatore Fratta Diabetiker war.

»Corrado, du weißt, was das heißt, oder?«, fragte der Chef.

Ortès nickte.

Jeder wusste, was das bedeutete. Und niemandem gefiel es.

Vaninas Telefon vibrierte, auf dem Display erschien das Foto von Chefinspektor Carmelo Spanò. Der beste Mann, der auf dem Polizeirevier am Ätna zu finden war.

»Spanò«, sagte sie leise und verließ das Büro.

»Dottoressa, guten Morgen. Sind Sie noch in Palermo?«

»Ja, warum?«

»Uns wurde ein schweres Verbrechen gemeldet.«

Vanina lehnte die Tür an und entfernte sich.

»Was ist passiert?«

»Heute Morgen wurde auf einem Flughafenparkplatz eine Leiche gefunden. Die Grenzpolizei hat uns soeben informiert.«

»Wie wurde die Person ermordet?«, fragte Vanina ohne Umschweife.

»Mit einer Schusswaffe. Sie lag im Auto. Mehr wissen wir noch nicht.«

»Was sagt Macchia dazu?«

Tito Macchia, Leiter des Mobilen Einsatzkommandos, hatte für den Zeitraum, in dem Vanina abwesend war, ihre Abteilung zunächst dem Leiter der Abteilung für organisiertes Verbrechen übertragen. Am Ende hatte er dann aber doch alles selbst in die Hand genommen.

»Er meinte, ich solle schon mal vorgehen, er komme gleich nach. Sie wissen ja, bei Bonazzolis Tempo sind wir in fünf Minuten vor Ort. Vorausgesetzt, wir überleben es. Fragapane wirkt bereits äußerst angespannt.«

Vanina musste lächeln. Sie sah förmlich vor sich, wie Fragapane Marta Bonazzolis lässigem Fahrstil ausgeliefert war. Auf dem Rücksitz, in der Mitte, die Arme wie Christus am Kreuz weit ausgestreckt und die Hände an den Autogriffen verankert, um das Auf und Ab des Dienstwagens auf einer Straße voller Schlaglöcher besser zu ertragen.

»Rufen Sie mich an, sobald Sie vor Ort sind! Am frühen Nachmittag fahre ich zurück nach Catania.«

Aus dem Auto waren Ovationen und Beifall zu hören.

»Tut mir leid, Boss, die Freisprechanlage ist eingeschaltet«, gab Carmelo Spanò zu.

»Das habe ich mir schon gedacht. Fährt Lo Faro zufällig mit?«

»Ja, Bo… äh … Dottoressa«, antwortete der angesprochene Beamte. Seit über einem Jahr versuchte er, sie mit Boss anreden zu dürfen. Aus irgendeinem Grund gelang es ihm jedoch nie, sich das zu verdienen.

Vanina schüttelte den Kopf. Wenn jemand nun mal unterbelichtet war …

»Lo Faro, Sie wissen, dass Sie ein Masochist sind, nicht wahr?«

»Aber warum? Was habe ich denn getan?«

»Zehn Schritte zurück!«

Aus ihrem Schweigen folgerte er, dass dieser Witz schon gereicht hatte, um sein Spatzenhirn unter Beweis zu stellen.

»Lassen Sie den Quatsch und seien Sie froh, dass ich nicht da bin! Sonst hätte ich Sie längst aus dem Auto geschmissen. Was unternehmen wir gerade, einen Schulausflug? Nein, wir haben es mit Mord zu tun, und ein paar mitfühlende Kollegen geben Ihnen die Möglichkeit, sie zu begleiten. Also vermasseln Sie es nicht!«

»Natürlich, Dottoressa. Entschuldigen Sie.«

»Spanò?«

»Ja, Boss?«

»Haben Sie den Staatsanwalt schon informiert?«

»Hallo, Vanina! Ich habe ihn angerufen. Es ist Terrasini«, war plötzlich Martas Stimme zu hören. Glücklicherweise konnte sie diesen Fall zumindest mit dem richtigen Fuß beginnen. Staatsanwalt Terrasini war ein Mann, mit dem sie gut und harmonisch zusammenarbeitete, was nicht selbstverständlich war.

»Ich habe die Spurensicherung verständigt. Pappalardo kommt«, sagte Fragapane.

Auch das war eine gute Nachricht. Capo Pappalardo war zehnmal so viel wert wie sein Vorgesetzter.

»Haltet mich auf dem Laufenden!«, schloss Vanina und beendete das Gespräch.

Ein paar Minuten am Telefon mit Spanò hatten sie in ihr richtiges Leben zurückgebracht. Die Entscheidung, nach Catania zurückzukehren, hatte sie nie infrage gestellt, doch dieser Anruf hatte noch eins draufgesetzt.

Sie sah sich um und betrachtete die Gesichter auf den Bildern, die an den Wänden des Vorzimmers hingen. Gesichter, die in die Geschichte eingegangen waren, weil sie in Ausübung ihrer Pflicht ihr Leben verloren hatten. Die gleichen Gesichter, deren Namen auf der Gedenktafel am Eingang des Mobilen Einsatzkommandos eingraviert waren. Instinktiv ging Vanina auf das Foto zu, das sie sonst nie betrachtete. Das Bild ihres Vaters, Inspektor Giovanni Guarrasi, das sie anzustarren schien.

Es war an der Zeit, die Zelte abzubrechen.

Carmelo Spanò konnte Lo Faro keinen Vorwurf machen. Mit einer völlig unangemessenen Inbrunst und wahrscheinlich getrieben von seinem unbeherrschbaren Drang, sich einzuschleimen, hatte der Junge jedoch eine Empfindung geäußert, die sie alle verband. Zwei Wochen ohne die Guarrasi waren hart gewesen, besonders für Carmelo. Der Leiter, der Vanina vertreten hatte, hatte sich in allen Fragen an ihn gewandt, genau wie der Big Boss.

Es war nicht leicht gewesen, besonders in einer Zeit wie dieser, in der Spanò keine Ruhe fand.

Die Einfahrt zum Parkhaus war bereits abgeriegelt worden. Der Dienstwagen, in dem die Hälfte des Mobilen Einsatzkommandos des Ätna saß, fuhr an der Absperrung im Erdgeschoss vorbei und auf die kleine Menschenmenge zu, die sich am Ende des ersten Korridors gebildet hatte. Staatsanwalt Terrasini war bereits eingetroffen. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, den Hals in den Mantelkragen gesteckt, schützte er sich so gut wie möglich gegen den heimtückischen Wind, der zwischen den Betonpfeilern des Parkplatzes hindurchpfiff und auf seine Nase zielte. Neben ihm stand der Leiter des Grenzschutzes, der das Gelände inzwischen abgesperrt hatte und die Gemüter der Leute zu beruhigen versuchte. Die standen auf dem Parkplatz und wollten wissen, was passiert war und warum sie dort eingeschlossen waren.

Der Staatsanwalt zog seine Hand aus der Tasche und beeilte sich, Marta Bonazzolis Hand zu schütteln. Dann wandte er sich an Spanò, der sich ein Lächeln kaum verkneifen konnte. Selbst Terrasini, bekannt für seinen Ernst und seine Gewissenhaftigkeit, konnte sich dem Charme der Polizistin aus Brescia nicht entziehen.

»Ich habe den Gerichtsmediziner gerufen, er wird gleich hier sein«, sagte Terrasini.

»Wer ist es?«, fragte Spanò.

»Dottore Calì.«

Auch Giovanna hätte sich darüber gefreut, Adriano Calì gehörte zu ihren engsten Freunden.

Inspektor Spanò und Marta schlüpften unter dem Absperrband hindurch und näherten sich dem schwarzen Mercedes. Der Inspektor streckte den Kopf von der Beifahrerseite aus in den Wagen, hielt sich an der offenen Tür fest, um den Sitz nicht zu berühren, und sah sich dem toten Mann gegenüber. Er saß auf dem Fahrersitz, ihm leicht zugewandt, die Augen weit geöffnet. Ein Blutfleck breitete sich auf seinem weißen Hemd unter dem blauen Jackett auf Höhe des Herzens aus. Er trug eine dunkelrote Krawatte und ein dazu passendes Einstecktuch, das aus der Hemdtasche ragte. Beides zeugte von makelloser Sorgfalt. Am rechten Handgelenk trug er ein Goldarmband, eine Uhr, ebenfalls aus Gold, an der linken Hand. Seine Schultern lehnten am Rücksitz, die Linke gegen das Fenster gedrückt, die Rechte zwischen Ledersitz und Fahrertür.

»Er wirkt verängstigt«, bemerkte der Inspektor, zog sich zurück und ließ Marta Bonazzoli ebenfalls einen Blick in den Wagen werfen.

»Vielleicht war er es ja«, sagte Marta.

Spanò zog Handschuhe an und öffnete die Hintertür. Auf dem Sitz, der zur Hälfte mit einem beigefarbenen Mantel bedeckt war, lag ein Rollkoffer mit halb geöffnetem Reißverschluss.

Als er danach griff, klingelte das Telefon in seiner Tasche. Es war Vicequestore Vanina Guarrasi.

»Boss.«

»Und, Spanò, was gibt’s?«

»Männliche Leiche, um die siebzig. Sieht aus, als hätte man ihm ins Herz geschossen.«

»Wer hat den Toten gefunden?«

»Wie der Kollege vom Grenzschutz berichtet, wurde er von einem Mann und einer Frau entdeckt, die gerade gelandet und unterwegs zum Auto auf dem Parkplatz waren«, sagte er und sah sich um. »Bisher habe ich sie aber noch nicht gesehen.«

»Was sagt der Gerichtsmediziner?«

»Er ist auf dem Weg. Ihr Freund Dottore Calì kommt.«

»Das ist gut. Ich denke, das Team ist gut aufgestellt.«

Marta Bonazzoli tippte ihrem Kollegen auf die Schulter und deutete auf eine Gruppe von Neuankömmlingen.

»Boss, sagen Sie das nicht zu laut!«, antwortete Spanò.

»Warum?«, fragte Vanina beunruhigt.

Der Inspektor beschränkte sich darauf, sein Handy so zu kippen, dass das Mikrofon nach außen zeigte.

Der stellvertretende Leiter der Spurensicherung Cesare Manenti rückte mit großem Klamauk an der Spitze eines in Schutzanzügen vermummten Teams an und blieb ehrfurchtsvoll vor Staatsanwalt Terrasini stehen.

»Haben Sie gehört?«, fragte Spanò und hielt das Handy wieder ans Ohr.

Giovanna Guarrasi schnaubte hörbar. Unverwechselbar. »Verdammter Mist!«

Sie hatte es gehört. Und in Anbetracht der geringen Sympathie, die sie für den Kollegen von der Spurensicherung empfand, hörte Carmelo Spanò förmlich, wie sie in allen Sprachen fluchte.

Er beeilte sich, den Rollkoffer ganz zu öffnen, bevor er ihn an die Spurensicherung übergeben musste, die sich im Eiltempo näherte. Marta hielt den Beamten auf, damit Spanò rasch den Inhalt des Koffers überprüfen konnte.

Vanina war immer noch am anderen Ende der Leitung. »Spanò? Wo sind Sie?«

»Ich bin hier, Dottoressa. Entschuldigen Sie mich für einen Moment, ich werfe nur kurz einen Blick in den Koffer, bevor sie ihn konfiszieren.«

»Was enthält er?«

»Kleidung. Durchwühlt, als wäre der Koffer auf dem Sitz ausgeleert und dann wieder gefüllt worden. Ein Hemd, ein paar Baumwollboxershorts, ein durchsichtiger Beutel mit Cremes und einem Rasierapparat. Eine Krawatte und natürlich das entsprechende Einstecktuch. Der Kerl war wohl ziemlich eitel.«

»Hat der Koffer keine Seitentaschen?«

»Die sind offen und leer.«

»Dokumente? Handy?«

»Bisher nicht. Mal sehen, was die Spurensicherung zutage fördert.«

»Ja, mal sehen. Ist Capo Pappalardo überhaupt da?«, fragte Vanina.

Spanò drehte sich um, um nachzusehen.

»Ich glaube nicht.«

Vanina fluchte vor sich hin.

»Wie kann man nur so ein Mistkerl sein?«, platzte es aus ihr heraus. »Es muss ihn wahnsinnig ärgern, dass jemand in seinem Team besser ist als er selbst.«

Es war die übliche Geschichte. Je mehr sie das Täubchen Pappalardo zu schätzen wusste, desto öfter schloss Manenti ihn absichtlich aus. Vor allem, weil jeden Moment ein neuer Abteilungsleiter eintreffen und ihm seinen Posten als Leiter der Spurensicherung streitig machen konnte. Denn es gab Gerüchte, er sei sogar jemand mit Eiern, ein guter Freund von Vanina Guarrasi. Schlimmer konnte es für den Niemand Cesare Manenti nicht kommen.

Das dachte Vanina, als sie das Telefonat mit Spanò beendete und in ihren Wagen stieg. Sie hatte sich von ihren Kollegen in Palermo verabschiedet, die nicht mehr versucht hatten, sie zurückzuhalten, wie sie es noch am Anfang getan hatten. Die Jagd nach dem Flüchtigen ging sie nichts mehr an, und für nichts auf der Welt wäre sie in Palermo geblieben, nicht einmal vorübergehend. Solche Operationen konnten ewig dauern. Noch bis vor wenigen Jahren hätte sie sich kopfüber in solche Unternehmungen gestürzt, aber jetzt hatte sie keine Lust mehr dazu. Vanina wusste sehr wohl, dass es keine gute Idee gewesen wäre, sich in die vorderste Reihe zu stellen, selbst wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte. So wie es keine gute Idee gewesen wäre, dem letzten Überlebenden der Cosa Nostra gegenüberzustehen, der vor über fünfundzwanzig Jahren ihren Vater, Inspektor Giovanni Guarrasi, vor den Augen seiner entsetzten vierzehnjährigen Tochter ermordet hatte, die damals schwor, dass er damit nicht davonkommen würde.

Wenn sie schon bei der Verhaftung der anderen drei mit sich hatte kämpfen müssen, um sie nicht schon vor dem Anlegen der Handschellen zu töten, wollte sie sich gar nicht ausmalen, wie ihr das Blut zu Kopf gestiegen wäre, wenn sie dem Boss des Clans gegenübergestanden hätte. Nur sie wusste, dass so ein Morast nicht ohne einen bestimmten Grund und vor allem nicht ohne die prompte Reaktion innerhalb des Clans hätte beseitigt werden können. Aber sie wusste auch, dass ihre Stimme nicht ungehört geblieben war und dass einer – vielleicht sogar mehr als einer – immer wieder überprüft hatte, ob ihre Zweifel begründet waren. Vor allem ihnen war sie zu großem Dank verpflichtet: Angelo Manzo, dem vertrauenswürdigsten ihrer Männer in Palermo, der niemals die Hoffnung aufgegeben hatte; und Corrado Ortès, der in den vergangenen vier Jahren die Operation Catturandi geleitet hatte.

Und am Ende er. Immer wieder er. Der Staatsanwalt Paolo Malfitano. Der in Sizilien meistbedrohte und -verabscheute Staatsanwalt, und nicht nur das. Der einzige Mann, den sie jemals wirklich geliebt und vor dem sie in der Überzeugung weggelaufen war, dass sie Frieden finden würde, wenn sie ihn, Palermo und die Anti-Mafia-Einheit verlassen würde. Doch so war es natürlich nicht gekommen, zumindest nicht gänzlich. Vor allem in letzter Zeit, da das über vier Jahre der Entfernung geschaffene Gleichgewicht gestört und die Vergangenheit in ihr Leben zurückgekehrt zu sein schien.

Sie musste Paolo sagen, dass sie nach Catania zurückkehren würde, hatte aber keine Lust, dies am Telefon zu tun. Sie blickte auf die Uhr: Um diese Zeit musste er im Büro sein.

Vanina zündete sich eine Gauloise an und fuhr los. Sie verließ den Innenhof des Polizeipräsidiums und fuhr auf die Piazza della Vittoria hinaus. Sie nahm die Via Vittorio Emanuele und bog dann ab, ließ die Kathedrale rechts liegen und fuhr durch das Viertel – oder besser gesagt den Bezirk – Monte di Pietà. Sie drehte gerade eine Runde um den Platz, um in die Tiefgarage des Gerichtsgebäudes zu fahren, als ihr Handy mit der Nummer klingelte, die sie inzwischen auswendig konnte, die sie aber nicht auf ihrem Handy speichern wollte. Als wäre das eine Garantie für ihre Vergänglichkeit gewesen.

Sie schaltete die Freisprechanlage ein.

»Ciao, Paolo.«

»Du bist doch nicht etwa losgefahren, ohne dich von mir zu verabschieden, oder?«

Sie hätte gern erfahren, wer der Spion war, der ihn in Echtzeit über alle ihre Bewegungen informiert hatte. Sie hatte so einen Verdacht.

»Und, was hast du Angelo Manzo versprochen? Kaum sagt man ihm etwas, trägt er es auch schon weiter.« Sie warf die Worte einfach in den Raum und traf damit den Nagel auf den Kopf.

Paolo lachte. »Jetzt sei nicht gleich sauer! Ich habe einen Verbündeten gefunden. Angelo liebt dich, das weißt du doch.«

Sie wusste es. Und sie wusste auch, dass der frischbeförderte Vizeinspektor alles dafür getan hätte, sie beim Mobilen Einsatzkommando in Palermo wiederzusehen. Paolo Malfitanos Unterstützung war ihm vermutlich als gute Strategie erschienen.

»Wie dem auch sei, nein, ich bin noch nicht weg. Ich bin gerade auf dem Weg in die Staatsanwaltschaft, um Hallo zu sagen.«

»Wie nett. Ein kurzes Hallo, in meinem Büro, vielleicht mit einem Polizisten neben mir, der auf mich aufpasst.« Der Ton in seiner Stimme klang sarkastisch und verbittert.

»Besser ein Polizist. Du weißt schon.«

Den Worten folgte ein längeres Schweigen.

»Nun ja, du hast recht. Wir sollten die Sache nicht bagatellisieren. Trotzdem ändert sich nichts daran.«

Vanina ging nicht auf die Provokation ein.

»Ich komme gleich, lass mich nur noch kurz parken.«

»Ich bin nicht im Büro, sondern zu Hause.«

»Warum zu Hause?«, fragte Vanina alarmiert.

Malfitano kicherte. »Du machst mich wahnsinnig, Vicequestore! Du hast Todesangst, dass mir jemand etwas antun könnte. Dabei bist du die Erste, der ich das zutraue.«

Vanina kassierte den Schlag.

»Sagst du mir, was los ist?«, beharrte sie.

»Nichts, Vanina, was soll los sein? Ich habe Halsschmerzen, leichtes Fieber, und es ist absurd kalt draußen, wie im Januar. Also bleibe ich lieber zu Hause und arbeite. Ich habe einen Berg unangenehmer Schriftsachen zu stemmen.«

Er klang wütend, doch damit hatte Vanina gerechnet. Die gemeinsame Zeit unter demselben Himmel hatte keinem von beiden gutgetan. Ihr nicht, weil die Häufigkeit der mit ihm verbrachten Stunden – und Nächte – ihr bestätigt hatte, wie unbedingt sie aus Palermo verschwinden musste. Und ihm nicht, weil die kurze Annäherung die Hoffnung in ihm gestärkt hatte, dass er sich wieder einen Platz an ihrer Seite erobern konnte.

Eine Glut, die wieder entflammt war.

»Ich komme bei dir vorbei«, schloss Vanina.

Marta Bonazzoli war von Dottoressa Lella Canton praktisch in Beschlag genommen worden. Sobald die Pharmareferentin den Dialekt der Polizistin aus Brescia hörte, klammerte sie sich an sie wie eine Schiffbrüchige an einen Felsen. Nach und nach hatte sie sich von ihrer Ohnmacht erholt, nachdem sie die Leiche entdeckt hatte. Nun saß sie im Büro der Flughafenpolizei neben ihrem Kollegen Antonino Falsaperla, der immer wieder ängstlich auf seine Uhr linste und sichtlich besorgt über die Verzögerungen in seinem Zeitplan war.

Spanò nahm vor den beiden Platz und stellte Dottoressa Canton einige Fragen.

»Ein erschreckender Anblick, Ispettore! Ein Mann mit einem Loch in der Brust … das wünsche ich keinem«, stieß sie hervor, sah sich um und hoffte auf Marta Bonazzolis tröstende Blicke.

»Das kann ich mir vorstellen, Signora«, erwiderte Spanò und versuchte, ihr Mut zu machen. »Aber erzählen Sie mir so detailliert wie möglich, was Sie gesehen haben!«

»Das Auto stand dort mit eingeschalteten Scheinwerfern und versperrte praktisch die Fahrbahn. Während mein Kollege Antonino die Koffer verstaute, trat ich an die Fahrertür und wollte den Fahrer bitten, zur Seite zu fahren, damit wir den Parkplatz verlassen konnten. Da sah ich ihn mit dem Rücken ans Fenster gelehnt. Als er mich nicht bemerkte, ging ich zur Beifahrerseite. Ab da verschwamm mir alles vor Augen, das Loch in seiner Brust, Ispettore. Wer könnte das vergessen?«

»Die Scheinwerfer waren also an.«

»Ja, ja. Sehr hell.« Sie beugte sich über den Schreibtisch nach vorn. Dann senkte sie die Stimme. »Wenn ich fragen darf … glauben Sie, es handelt sich um ein Verbrechen … um die Mafia?« Allein bei der Erwähnung der kriminellen Vereinigung erblasste sie.

»Du hast dich förmlich darauf versteift, Lella! Warum muss es denn ausgerechnet ein Mafiamord sein?«, schaltete sich Falsaperla ein.

Dottoressa Canton sah ihn an, ohne ihm zu antworten, doch ihrem Gesichtsausdruck war abzulesen, was sie dachte: Wir sind hier auf Sizilien.Und auf Sizilien gibt esdie Mafia.

»Für Spekulationen ist es noch etwas zu früh, Signora«, antwortete Spanò.

»Entschuldigen Sie, aber ich möchte in keine gefährlichen Aktionen verwickelt werden.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Marta.

»Sie wissen ja, wie das ist. Wenn diese Typen denken, dass man zu viel gesehen hat, bekommt man Ärger.«

Falsaperla sah sie an, als käme sie vom Mars.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Signora, glauben Sie mir!«, beruhigte Marta sie.

Spanò nickte, ernster, als er es hätte tun sollen, um seine Belustigung zu verbergen. »Schade, dass Vicequestore Guarrasi nicht dabei war!«

»Erinnern Sie sich noch an weitere Details?«, fragte Marta Bonazzoli. Dottoressa Canton schüttelte den Kopf.

Spanò wandte sich an Falsaperla: »Und Sie? Erinnern Sie sich zufällig, ob Sie auf dem Weg zum Auto eine Person zu Fuß gesehen haben? Eventuell im Vorbeigehen?«

»Wie soll ich das sagen, Ispettore? Um diese Zeit kommen viele Menschen auf den Parkplatz. Ehrlich gesagt, habe ich es nicht einmal bemerkt. Gibt es dort denn keine Überwachungskameras?«

Wieder so ein Fan von Überwachungskameras.

»Wir überprüfen das«, schaltete sich der Inspektor ein.

Er hatte Lo Faro bereits losgeschickt, um sich der Sache anzunehmen, während Fragapane den Tatort überwachte, sich bei Manenti einschleimte und auf den Gerichtsmediziner wartete.

»Also gut. Sie können jetzt gehen. Aber bitte hinterlassen Sie Ihre Kontaktdaten bei Ispettore Bonazzoli. Dottoressa Guarrasi will Sie wahrscheinlich in den nächsten Tagen treffen«, sagte er und stand auf.

»Ach, sie ist also für diesen Fall zuständig!«, rief Falsaperla und wirkte ziemlich zufrieden.

Die beiden Polizisten musterten ihn verwirrt.

»Sie leitet die Abteilung«, erklärte Spanò im Tonfall eines Grundschullehrers.

»Ja, ja, natürlich«, stimmte Antonino zu und rieb sich die Hände. »Wer hätte gedacht, dass ich sie einmal persönlich treffen würde!«

Allmählich verlor Marta die Geduld. Diese Frau schien der Prototyp der Norditalienerin aus dem letzten Jahrhundert zu sein. Ihr Begleiter hingegen, der anfangs noch gleichgültig gewirkt hatte, schien geradezu begeistert, dass er einen Toten gefunden hatte. Das ermöglichte ihm, Vanina kennenzulernen. Als wäre sie ein Rockstar, den er um ein Autogramm bitten wollte.

Vielleicht war es an der Zeit, die Dinge wieder zurechtzurücken.

»Signor Falsaperla, darf ich Ihnen einen Rat geben?«

»Gern, worum geht’s?«

»Hoffen Sie lieber, dass Vicequestore Guarrasi Sie nicht sehen will«, bluffte sie.

Dem brauchte sie nichts weiter hinzuzufügen.

Der Mann starrte sie wie versteinert an, sein Ausdruck sprach für sich.

Vanina hatte zwei Zigaretten geraucht, während sie dreimal um den Block fuhr und darauf achtete, die Verkehrsbeschränkungszone zu umfahren und alle Straßen nach einer Lücke zu durchsuchen, in der sie ihren Mini parken konnte. Schließlich gab sie entnervt auf, bog in die Via Cavour ein und steuerte die Tiefgarage an, die unter dem Wohnhaus ihrer Mutter lag.

Sie stellte das Auto auf Federico Calderaros Parkplatz ab, des Ehemannes ihrer Mutter, der um diese Zeit bestimmt an einem OP-Tisch stand. Und selbst wenn er zurückgekehrt wäre …

Während Vanina die etwa sechshundert Meter bis zu Paolo Malfitanos Haus zurücklegte, sah sie Federico Calderaros glückliches Gesicht vor sich, wenn er den weißen Mini entdeckt hätte, der friedlich auf dem Platz seines Jaguars parkte. Er hätte es als Sieg gewertet. Eine kleine Genugtuung im Gegensatz zu den Enttäuschungen, die ihm seine geliebte Stieftochter in den vergangenen dreiundzwanzig Jahren beschert hatte. Ein Schritt nach vorn in seinem Bemühen, sie endlich davon zu überzeugen, dass seine ganzen Besitztümer auch ihr gehörten. Im gleichen Maß, wie sie Constance gehörten, der Tochter, die er mit Vaninas Mutter noch bekommen hatte.

Vanina hätte es niemals zugegeben, doch der Wunsch, Paolo Malfitano zu sehen, nagte an ihr. Aber das war nichts Neues. Die Tage vergingen, um den richtigen Abstand zu ihm aufzubauen, und dann, ganz plötzlich … zack! Ein Anruf, einige Worte, und der diabolische Mechanismus ging von vorn los.

Nach der Trennung von seiner Frau, die er nur zwei Jahre zuvor geheiratet und mit der er eine Tochter hatte, war Paolo in die alte Wohnung in der Via Mariano Stabile zurückgekehrt, die er und Vanina so lange geteilt und in der sie ihn ohne jede Erklärung verlassen hatte. Danach hatte es sie nach Mailand verschlagen, um ihm möglichst fern zu sein. Zwei absurde Jahre, fern der Realität, hatte sie dort verbracht. Dann war sie nach Sizilien zurückgekehrt und hatte sich in Catania niedergelassen.

Logischerweise hätte es ihr gefallen müssen, dass er in ihre alte Wohnung zurückgekehrt war, jetzt, da sie einander wieder nähergekommen waren.

Stattdessen quälte es sie.

Immer wenn Vanina die wenigen Meter auf diesem Bürgersteig entlangging, legte sich ein Felsbrocken auf ihre Brust und schnitt ihr die Luft ab. Jedes Mal, wenn ihr Blick auf den gegenüberliegenden Tunnel fiel, hatte sie das Gefühl, jeden einzelnen Augenblick noch einmal zu durchleben. Die beiden Dreckskerle vor sich zu sehen, die überraschend vor ihnen aufgetaucht waren und einen von Paolo Malfitanos Begleitern niederschossen, während die anderen sich schützend vor Paolo stellten. Trotzdem traf ihn eine Kugel und durchbohrte ihm den Oberschenkel. Das alles war in einem einzigen Augenblick passiert … der richtige Ort zur richtigen Zeit. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte sie plötzlich ihre Dienstwaffe in der Hand gehalten und geschossen. Sie hatte so lange gefeuerte, bis sie sicher war, dass Paolos Angreifer ausgeschaltet waren und sich keine weiteren Personen in der Nähe befanden. Eine Minute mehr hätte gereicht, die Zeit, um am Briefkasten stehen zu bleiben, eine Zigarette anzuzünden, einen Schuh zuzubinden. Wäre sie nicht dort gewesen, hätte sie in diesem Moment nicht die Tür geöffnet, wären von Paolo und seinen Begleitern nur ein Grabstein geblieben. Einer von vielen, mit denen Palermo übersät war

Und der zweite in ihrem Leben.

Und sie hätte nicht mehr die Kraft gehabt, sich dem auch noch zu stellen. So war es, und so würde es immer sein. Sinnlos, sich etwas vorzumachen.

3

Seit dem Verlassen von Paolos Haus hatte sie sich nur noch abgehetzt. Sie war nach Hause geeilt, hatte eilig alles zusammengepackt, obwohl ihre Mutter und ihre Stiefschwester ihr im Weg standen. Sie wollten unbedingt noch mit ihr zu Mittag essen. Die Mutter, Signora Marianna, konnte einfach nicht hinnehmen, dass keine ihrer Bemühungen ihre älteste Tochter zur Rückkehr nach Palermo bewegen konnte. Nicht einmal der Versuch, Paolo Malfitano zu Federicos Party einzuladen, hatte dazu beigetragen, Vanina nach Palermo zurückzulocken. Ihr wurde nicht einmal die Zeit gewährt – und davon brauchte sie wirklich wenig –, sich wieder an ihre Anwesenheit zu gewöhnen, da reiste sie auch schon wieder in demselben Eiltempo ab, mit dem sie vor einigen Wochen plötzlich ins Haus gestürmt war.

Als Adriano Calì sie anrief, war sie bereits auf halber Strecke zwischen Palermo und Catania.

»Vanina, wo steckst du?«, fragte der Gerichtsmediziner.

»Ich halte gleich an der Raststation von Enna.«

»Ach, da erwische ich dich wohl immer!«

Vanina lachte. »Das ist wahr. Jedes Mal, wenn ich hier pausiere, rufst du mich an und störst mich bei meinem Espresso.« Das letzte Mal hatte er sie angerufen, als sie ein paar Monate zuvor nach Palermo gefahren war, um im Gefängnis Ucciardone einen Mafiaaussteiger zu vernehmen. Da hatte sie Paolo Malfitano nach Jahren zum ersten Mal zufällig wiedergesehen.

»Eine Kaffeepause? Wie ich dich kenne, trinkst du mindestens einen Cappuccino, isst einen Nutellamuffin und rauchst eine Zigarette. Und du steigst erst wieder ins Auto, wenn du dich mit Schokolade für die ganze Woche eingedeckt hast«, hörte sie ihn kichern.

»Adriano Calì, weißt du, was du mich mal kannst?«

»Sei doch nicht so empfindlich!«

»Verrätst du mir, warum du mich anrufst?«

»Du hast recht. Ich rufe dich an, um dich über die Männerleiche am Flughafen zu informieren. Ich habe Spanò bereits alles erzählt, würde dir aber gern persönlich meine ersten Eindrücke schildern.«

»Und?«

»Er ist heute Morgen gegen sieben Uhr gestorben. Schusswunde ins Herz, wahrscheinlich von rechts.«

»Was heißt das?«

»Dass der Angreifer höchstwahrscheinlich auf dem Beifahrersitz saß.«

»Woran ist das zu erkennen?«

»Natürlich kann ich mir bis zur Obduktion noch kein genaues Bild machen. Aber aufgrund der Tatsache, dass die Leiche in einer ruhenden Position lag, und nach einer ersten Untersuchung der Einschusswunde scheint die Kugel schräg eingedrungen und von rechts abgefeuert worden zu sein.«

»Wann wirst du mit der Obduktion anfangen?«

»Heute Nachmittag.«

»Sehr zuvorkommend.«

»Du weißt ja, dass deine Leichen Sonderstatus genießen. In meiner Klinik gibt es keine Warteliste für sie.«

»Du bist ein wahrer Freund, danke.«

»Je schneller ich mich dranmache, desto schneller bringe ich es hinter mich. Denn deine Leichen, liebe Vaninuzza, sind immer …«

»Das nervt, ich weiß«, unterbrach ihn Vanina und nahm ihm die Erklärung vorweg. »Du sagst jetzt besser nichts. Beinahe hattest du mich so weit, dass ich dachte, du tätest mir einen Gefallen damit. Aber wenn wir so weitermachen, dann willst du nicht mehr mit mir arbeiten.«

»Das stimmt nicht! Aber du musst zugeben, dass du mir in letzter Zeit Patienten verschafft hast, die ich in meiner fünfzigjährigen Karriere nie gesehen hätte. Zuerst die mumifizierte Leiche, die ein halbes Jahrhundert lang in einem Aufzugschacht gelegen hatte … Dann … Egal, wenn jemand dazu berufen ist, schwere Fälle zu lösen, bekommt er auch immer schwere Fälle. Das ist bei Ärzten nicht anders.«

»Ja, aber Ärzte werden – abgesehen von solchen wie du – von ihren Patienten freiwillig gewählt. Assistenten der Kriminalpolizei hingegen bekommen ihre Fälle durch Zufall.«

»Bist du da sicher?«, fragte der Gerichtsmediziner.

Vanina dachte einen Moment lang nach und erinnerte sich an den letzten Fall. An eine Mädchenleiche, die im Meer verschwunden war. Diesen Fall hatte sie nicht übernommen, weil jemand unbedingt sie dafür angefordert hatte.

»Nein, ich bin mir nicht sicher. Aber auf diesen Fall trifft es zu.«

»Das würde ich nicht behaupten.«

»Warum nicht?«

»Weil du nur nach Palermo zurückkommst, um ihn zu übernehmen.«

»Adriano, du nervst.«

Während Vanina mit dem Arzt telefonierte, griff sie ohne Nachdenken nach allem, was irgendwie Zucker enthielt, und machte dabei jeden Vorsatz zum Gewichtsverlust zunichte. Das waren Kekse, Waffeln, Gebäck und Schokolade in allen Variationen und mit den verschiedensten Kakaoanteilen, die es gab. Sie sortierte aus, was sie brauchte und wonach sie geistesabwesend gegriffen hatte. Was blieb, waren eine Tafel Schokolade und eine Packung mit Schokokeksen, die sie sonst nirgends gekauft hätte.

Sie ging zur Kasse und bezahlte. Dann fügte sie einen Cappuccino und einen Nutellamuffin hinzu. So viel zu Adriano und seiner Ironie. Es gab ohnehin keine Zeugen.

Sie genoss ihren köstlichen Imbiss und machte sich frisch gestärkt wieder auf den Weg.

Eine Stunde später war sie in Catania.

Sie fand einen Parkplatz auf der Piazza Pietro Lupo, dicht vor dem grünen Gittertor mit der blauen Aufschrift Questura di Catania – Squadra Mobile.

Und fast kamen ihr die Tränen. Wie sehr hatte sie diesen Ort vermisst! Ihr als gebürtiger Palermitanerin fiel es schwer, das zuzugeben, doch die Luft in Catania wirkte sich auf ihre Stimmung besser aus als ein Antidepressivum. Ein paar Tage länger in Palermo, und sie hätte wirklich eine Tablette gebraucht.

In dem Raum, den die beiden Dienstältesten – Spanò und Fragapane – Jungszimmer nannten, hatte sich die gesamte Abteilung für Straftaten gegen Leib und Leben versammelt, um auf ihren Boss zu warten. Die vier, die gerade vom Flughafen zurückgekehrt waren, informierten Nunnari, der als Einziger im Büro geblieben war, über alles, was sie über den jüngsten Mord in Erfahrung gebracht hatten.

Vanina betrat den Gang, als Dottore Tito Macchia gerade sein Büro verließ.

»Spanò, wann kommt Dottoressa Guarrasi zurück?«, fragte er mit voller Stimme.

»Hallo, Chef!«, antwortete Vanina.

Tito Macchia begrüßte sie mit einem Lächeln. Sein dunkler Bart wirkte gepflegter als sonst, und wie immer klemmte eine Zigarre unangezündet zwischen seinen Lippen. Er wirkte so stattlich wie Gulliver, der in Lilliput gelandet war.

»Willkommen zurück.«

»Danke.«

Vanina betrat ihr Büro und öffnete sofort die Fensterläden.

Macchia folgte ihr. »Es tut mir leid, dass der Flüchtige nicht zu fassen war. Ich weiß, wie sehr du dich bemühst, vielleicht mehr als jeder der Kollegen in Palermo.«

Vanina hob die Hände zum Stoppzeichen und setzte sich hinter ihren Schreibtisch.

»Danke, Tito. Es tut mir auch leid, aber ich möchte lieber nicht darüber sprechen. Ich würde jetzt gern wieder ins wirkliche Leben zurückkehren.«

Macchia nickte.

»Hast du von der Leiche am Flughafen gehört?«, fragte er.

»Ja, ich habe den ganzen Morgen mit Spanò telefoniert.«

»Wie es aussieht, wird das kein leichter Fall.«

»Weiß man inzwischen, wer der Mann ist? Oder besser gesagt, wer er war?«

»Über die Autopapiere im Wagen konnte man ihn identifizieren. Er ist Ausländer mit spanischem Namen, an den ich mich nicht mehr erinnere. Marta hat es mir am Telefon erzählt, während ich in einer Sitzung mit der Abteilung für organisiertes Verbrechen saß. Ich hatte noch keine Zeit, mehr herauszufinden.«

Innerhalb einer halben Minute setzte sich eine Prozession aus dem Jungszimmer in Bewegung.

Spanò und Marta gingen auf Vanina zu, gefolgt von Nunnari und schließlich Fragapane, dem Lo Faro an den Fersen klebte. Marta Bonazzoli küsste Vanina und umarmte sie.

»Nun, meine Täubchen, was wollt ihr mir sagen?«, fragte Vanina, lehnte sich zurück und zog an ihrer Zigarette. Macchia, der auf einem Stuhl vor ihr Platz genommen hatte, hob die Brauen.

»Tito, warum zündest du deine Zigarre nicht auch an?«, schlug sie vor.

Tito Macchia gab es auf. Er zündete sich seine Zigarre an, bat aber Lo Faro, die Fenster zum Balkon zu öffnen.

»Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass es draußen kalt geworden ist«, gab Vanina zu bedenken.

»Jetzt verlangst du zu viel, Guarrà.«

Wenn bei Macchia der neapolitanische Akzent durchkam, bedeutete dies das Ende der Diskussion.

Spanò berichtete über den Vormittag. »Also, Dottoressa Guarrasi … der Name des Toten lautet Esteban Torres, geboren am 3. Februar 1942 in Havanna.« Er reichte ihr das Handy mit den Fotos, die er gemacht hatte. Vanina vergrößerte das Bild und zoomte auf das Gesicht des toten Mannes. Anthony Quinn in der Rolle des Tiburon Mendez in dem Film Eine gefährliche Affäre. Wer wusste es schon … vielleicht war der Mann ebenfalls von seiner Frau betrogen worden und hatte sie verstümmelt und sterbend in einem Kloster zurückgelassen.

»Spanò, fahren Sie fort!«

»Doppelte Staatsbürgerschaft, amerikanisch und italienisch, Wohnsitz in der Schweiz. In Ascona, um genau zu sein. Verheiratet mit einer Italienerin, keine Kinder. Der Mercedes, in dem er getötet wurde, gehörte ihm. Er wohnte ein paar Tage im Palace Hotel, dann checkte er aus, und von diesem Moment an verliert sich jede Spur. Bis heute Morgen, als er um 8:30 Uhr den Flug nach Mailand Malpensa nehmen will. Zudem hatte er für den übernächsten Tag einen Rückflug von Malpensa nach Catania gebucht. So viel haben wir bis jetzt herausgefunden.«

»Kuba, die Vereinigten Staaten, die Schweiz … Vanina, ich habe dir doch gesagt, dass mir dieser Mord alles andere als einfach erscheint«, schloss der Big Boss, in eine Rauchwolke gehüllt, die seine Toscanozigarre produzierte.

»Haben wir sein Handy gefunden?«, fragte Vanina.

»Leider nicht«, antwortete Spanò. »Sowohl das Handy als auch Unterlagen sind verschwunden. Und vielleicht der Laptop, der in einer Seitentasche des Trolleys gesteckt haben muss. Jemand von der Spurensicherung meinte, dass es Abdrücke davon gibt.«

»Nach Angaben des Gerichtsmediziners Calì soll der Tod gegen sieben Uhr heute Morgen eingetreten sein«, erklärte Vanina. »Gibt es Zeugen, die sich zu dieser Zeit auf dem Parkplatz aufhielten?«

»Ziemlich viele, soweit man sie als Zeugen bezeichnen kann. Die meisten waren in Eile und achteten nicht darauf, was auf dem Parkplatz geschah.«

»Es fielen Schüsse. Jemand muss die Schüsse gehört haben, es sei denn, die Waffe war mit einem Schalldämpfer versehen. Kameras?« Lo Faro trat hervor, so eingeschüchtert, wie ihm das bei keinem anderen passierte, nicht einmal beim Big Boss.

»Ich habe das gesamte Filmmaterial beschlagnahmt, Dottoressa.«

»Und, haben Sie es sich angesehen?«

»Noch nicht …«

Vanina wandte sich an Nunnari, der sich besser mit Filmaufnahmen auskannte. »Nunnari, gehen Sie ihm zur Hand. Vier Augen sehen mehr als zwei.«

Wie Vanina bemerkte, wirkte Lo Faro enttäuscht.

»Es ist nicht so, dass ich Ihnen nicht vertraue, Lo Faro, glauben Sie mir. Aber es ist besser, wenn zwei Personen diese Aufgabe übernehmen.« In Wirklichkeit vertraute sie ihm tatsächlich nicht.

Macchias Anwesenheit bewahrte Nunnari davor, sich mit zwei Fingern an die Stirn zu tippen, um das zu vermeiden, was Vanina als Marines-Syndrom bezeichnete, das auf seine Liebe zu einem amerikanischen Film zurückzuführen war, dessen Protagonist ein Soldat, ein Fähnrich oder Ähnliches war. In letzter Zeit trug er sogar T-Shirts mit Tarnmuster. Die auf seinem feisten Körper alles andere als gut aussahen.

»Aye-aye, Sir …«, entwich es ihm.

»Was für Aye-aye, Sir?«, lachte Tito Macchia.

Vanina machte es kurz.