5,99 €
Anastassia war eine ganz normale Studentin – bis eine einzige Nacht ihr Leben für immer veränderte. Eine unbedachte Bewegung, ein Schnitt an einer Scherbe und plötzlich wird sie in eine fremde, dunkle Welt gezogen: Fintjia, die Spiegelwelt. Dort existieren magische Wesen, die Menschen als Gefäße wählen, um ihre Macht zu entfesseln. Mike, Luca und Kai, ihre vermeintlichen Verbündeten, tragen das Erbe dieser Kreaturen – und mit ihnen lauern längst vergessene Gefahren. Doch der wahre Albtraum beginnt erst, als Kai von der dunklen Macht seines Phönix übernommen wird und die Grenzen zwischen Freund und Feind zu verschwimmen beginnen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 421
Veröffentlichungsjahr: 2025
Fintija
Magic of the Mirror World
Impressum
Autor/Herausgeber:
Nadine Igler
Weiherhofer Hauptstraße 65
90513 Zirndorf
Kontakt:
E-Mail: [email protected]
Verlag:
tredition GmbHHeinz-Beusen-Stieg 522926 Ahrensburg
Druck:
TreditioGmbHHeinz-Beusen-Stieg 522926 Ahrensburg
ISBN:
978-3-384-50828-7
Copyright:
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden. Cover Nadine Igler
Fintija
Magic of the Mirror World
Nadine Igler
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 110
Kapitel 222
Kapitel 338
Kapitel 450
Kapitel 560
Kapitel 672
Kapitel 784
Kapitel 892
Kapitel 9102
Kapitel 10110
Kapitel 11110
Kapitel 12129
Kapitel 13142
Kapitel 14155
Kapitel 15169
Kapitel 16184
Kapitel 17192
Kapitel 18207
Kapitel 19218
Kapitel 20226
Kapitel 21244
Kapitel 22249
Kapitel 23260
Kapitel 24270
Kapitel 25280
Kapitel 26292
Kapitel 27304
Kapitel 28318
Kapitel 29325
Kapitel 30………………………………………………………………………………………340
Dankessegnung
Mein herzlichster Dank gilt all den wunderbaren Menschen, die mich auf meinem Weg begleitet und dieses Buch überhaupt erst möglich gemacht haben. Ohne euch hätte ich diese Reise niemals antreten können. Ihr habt mich motiviert, mir Mut zugesprochen und mich immer wieder geerdet, wenn ich mal glaubte, zu hoch hinauszufliegen.
Beginnen möchte ich mit meinem Mann. Du warst meine größte Stütze, hast immer an mich geglaubt und mich nie aufgegeben – selbst dann nicht, wenn ich dich oft genervt habe. Dein unerschütterlicher Glaube an mich hat mir die Kraft gegeben, weiterzumachen. Danke, dass du immer an meiner Seite warst.
Ein besonderer Dank geht an meine Alfa-Testleserin, Autorin Anndra McGreen. Trotz deines eigenen Projekts hast du so viel Zeit und Energie in meine Arbeit investiert. Deine Ideen, dein Blick für Details und dein Einsatz haben dieses Buch geprägt – ohne dich wären diese Zeilen nie entstanden.
Natürlich möchte ich mich auch bei meiner Familie bedanken, die mich mit ihren unermüdlichen Ideen inspiriert und meinen Horizont erweitert haben. Eure Unterstützung, euer Zuspruch und eure Geduld bedeuten mir mehr, als Worte ausdrücken können.
Dieses Buch ist das Ergebnis einer gemeinsamen Reise, und ich bin zutiefst dankbar, dass ich sie mit euch gehen durfte.
Eine eisige Brise peitscht durch den Wald und wirbelt den Schnee in glitzernden Strudeln auf. Nur meine schnellen Schritte durchbrechen die unheimliche Stille des Nadelwaldes. So schnell ich kann, eile ich durch die tanzenden Schneeflocken und überspringe, wie vom Winde getragen, über eine große, überhängende Wurzel. Meine silbernen Haare, als Undercut geschnitten, glänzen im Mondlicht. Der Fahrtwind wirbelt sie auf.
Meine Haut glüht von der eisigen Kälte, die meinen Körper trotz der langen schwarzen Hose und dem enganliegenden weißen Hemd, das meine Muskeln entblößt, wie eine unwillkommene Aura umgibt. Um mich vor der kalten Luft zu schützen, lege ich den Kopf schief und versuche, meine Nase in einem langen weißen Schal zu verbergen. So schnell mich meine Beine tragen, renne ich durch den dichten Wald der mystischen Welt Fintija, in die ich unfreiwillig hineingeboren wurde. Schon wieder streift ein schmaler Ast meine hohen Wangen und hinterlässt einen feinen Schnitt auf meiner hellen Haut. Bei der niedrigen Temperatur kommt sogar mein Blut augenblicklich zum Stillstand. Wie bei einem sanften Haustiger brennen die zarten Kratzer, die ich schon von anderen Ästen bekommen habe und die meinen durchtrainierten Körper zeichnen. Der Wald ist gnadenlos und zwingt mich immer wieder zu einem Sprung. Entweder ist es ein Baumstamm, der mir den Weg versperrt, oder ein Felsbrocken. Ich versuche, die Hindernisse zu ignorieren und elegant darüber zu springen. Auf keinen Fall will ich stehen bleiben! Das darf ich nicht. Das blasse Licht des Vollmonds taucht den Wald in silberne Schatten. Das laute Brüllen meines Verfolgers dringt an mein Ohr. Wenn ich ihn nicht vorhin gesehen hätte, würde ich denken, ein riesiges Tier jagt mich durch diese verdammte Gegend. Aber er ist kleiner und zierlicher als ich. Seine langen, haselnussbraunen Haare wehen im Wind. Seine Fangzähne blitzen gefährlich unter der Unterlippe hervor und seine Klauen sind bestialisch lang. Trotz seiner zarten Gestalt nehme ich ihn ernst und beschleunige meine Schritte ein letztes Mal mit aller Kraft. Die Stimme meines Gegners wird lauter und ich spüre, wie er immer näherkommt. Ich muss so schnell wie möglich laufen und darf auf keinen Fall langsamer werden. Egal wie sehr meine Beine schon schmerzen und wie sehr meine Kräfte schwinden. Ich bin kurz davor, mein Ziel zu erreichen.
Auf einmal spüre ich einen starken Druck auf meinem Oberkörper und verliere die Kontrolle über meine Beine. Mit dem Gesicht voran schlage ich hart auf dem schneebedeckten Boden auf. Wie in kalte Watte sinke ich sofort in den Schnee ein und meine Gesichtshälfte verfärbt sich in einen Rosaton und ächzt vor Schmerzen. Das Monster in Menschengestalt ist auf mich hemmungslos gesprungen und drückt mich mit seinem eigenen Körpergewicht zu Boden. Ich atme die eisige Luft ein, die wie Feuer in meinen Lungen brennt. Warme Flüssigkeit rinnt mir von der Stirn und tropft in den Schnee, der sich schnell rötlich färbt. In meinem Kopf dröhnt es und in meinen Ohren rauscht es immer noch. Alles dreht sich wie auf einem Karussell. Mit meinen rubinroten Augen versuche ich, die Umgebung neu zu ordnen, doch so sehr ich sie auch zusammenziehe, meine Sicht verschwimmt immer mehr. Nicht einmal eine große Fichte, die vor mir ihre Wurzeln in die Erde gesteckt hat, kann ich klar vor mir sehen. Nein! Langsam aber sicher kehrt meine Kraft zurück. Ich drehe mich auf einmal um und versuche, den Angreifer abzuwerfen.
Aber vergeblich! Er hat sich so fest an mich geklammert, dass ich keine Lücke finde, um ihn abzuschütteln. Ein dumpfer Schlag trifft meine Wange, lässt Sterne vor meinen Augen tanzen. Dann noch einer. Und noch einer. Mein Schädel hämmert, meine Sicht flackert. Erst mit der einen Hand, dann mit der anderen. Unaufhaltsam trifft er mich. Ich bin schon zu benebelt, um die Wucht zu spüren, mit der er meinen Kopf trifft. Der brennende Schmerz reißt mich aus meiner Trance. Ich schmecke Metall auf meiner Zunge. Blut. Der rostige Geschmack umhüllt meine Zunge und ich versuche, es hinunterzuschlucken. Doch mit einem weiteren Schlag spucke ich alles wieder aus. Genau in sein Gesicht. Mein Angreifer hält abrupt inne und wischt sich mit dem Arm über das Gesicht.
Das ist die Chance! Ich stoße ihn von mir weg und verpasse dem Menschenmonster einen tiefen Faustschlag in die Magengrube. Ein schmerzerfülltes Stöhnen entweicht seiner Kehle. Ich muss hier raus und zwar schnell! Schießt es mir durch den Kopf. Ich hebe schnell meine Arme vom Boden und drücke mich mit einem Ruck nach oben. Die Welt dreht sich immer noch um mich, aber das Adrenalin schießt wieder durch meine Adern und meine Beine setzen sich sofort in Bewegung, ohne dass mein Gehirn ihnen das Signal dazu gibt. Ich bin schon seit Stunden auf der Flucht und langsam macht sich die Verfolgungsjagd auch bei mir bemerkbar. Ich bin gut trainiert und einer der besten Kämpfer in diesem Land, aber auch meine Reserven sind so gut wie aufgebraucht. Ich schaue kurz zurück und erkenne sofort die Bestie, die sich längst von meinem Schlag erholt hatte und die Verfolgung wieder aufgenommen hat.Es ist zu schnell!
Scheiße, ist das einzige, was mir durch den Kopf geht, als ich sehe, wie mein Angreifer immer näher kommt. Ich drehe mich nicht noch einmal um und laufe weiter. Gerade noch rechtzeitig drehe ich mich nach vorne und weiche einem Baum aus, dessen raue Rinde meine Haut an der Hüfte aufscheuert. Ich versuche, den Schmerz, der in meinem Becken pocht, mit der Hand wegzudrücken. Natürlich gelingt es mir nicht. Das wäre auch zu schön gewesen um wahr zu sein. Die neue Wunde brennt noch heftiger, als mich ein weiterer Windstoß trifft. Dann geht alles zu schnell. Schneller als mir lieb ist, hat er mich eingeholt und greift nach meinem weißen Schal. Wie eine Schlinge um meinen Hals schnürt mir der Schal die Kehle zu und nimmt mir die Luft zum Atmen. Mit einem weiteren Ruck schleudert er mich rückwärts gegen einen großen Baum, der direkt hinter mir steht.
Ein schmerzhaftes Stöhnen entweicht meiner Kehle, als ich mit dem Rücken auf das Holz falle. Als wäre das noch nicht genug, tritt aus meinen Mundwinkeln wieder die rote, warme Substanz, die eigentlich in meinem Körper sein sollte. Wieder treffen mich harte Schläge an Schläfe und Oberkörper. Wie ein Gorilla, der auf einen Sack einschlägt, wird auf mich eingedroschen. Das Monster lässt mir nicht einmal Zeit zum Atmen. Natürlich habe ich gelernt, das auszuhalten. Aber es ist nicht immer so einfach, wie es aussieht. Ich atme tief durch und versuche, mich auf den Rhythmus der Bewegungen zu konzentrieren. Viele Kämpfer haben ein Muster und das muss ich finden und durchschauen. So wie es mir mein Vater mit harter Strenge beigebracht hat. Ich muss kämpfen! Entweder ich oder dieses Monster. Nur einer kann diese Geschichte überleben.
Und das kann nur ich sein!Mein Gegner scheint meine innere Ruhe zu bemerken und greift erneut nach meinem verfluchten Schal und wirbelt mich wie eine Feder durch die Luft.
»Lass mich das beenden, Meister! «
Flüstert eine mir bekannte und insgeheim vermisste Geisterstimme in meinem Kopf. Soll ich es wirklich tun? Soll ich Fly befreien? Es gibt nichts zu verlieren! Völlig erschöpft blicke ich nach unten und sehe, wie der junge Mann mit den braunen Haaren zum letzten Schlag ausholt. Die Aura um seine Faust ist so groß geworden, dass es ihm ein Leichtes sein wird, mir den Brustkorb zu zertrümmern. Eine kurze silberne Haarsträhne fällt mir vor die Augen, bevor ich die Lider schließe.
»Diese verdorbene Seele hole ich mir! «
Ich spüre, dass Fly nach Rache dürstet. Sie wird kurzen Prozess mit dem jungen Mann machen, da bin ich mir sicher. Aber ich bin zu erschöpft. Mein Gegner soll mich besiegen. Das ist mir hundertmal lieber, als noch einmal die Kontrolle über mein Dasein zu verlieren. Das Risiko ist mir zu groß.
»Nein, Kai! «, ruft eine Männerstimme verzerrt durch den dichten Nadelwald.
Er ist tatsächlich entkommen. Er hat überlebt! Wenn er es geschafft hat, werden sie es vielleicht auch geschafft haben. Im nächsten Moment reiße ich meine roten Augen auf. Im Mondlicht leuchten sie so hell wie eine Kerze und wilde Flammen züngeln um meine Iris, bis sie sie mit einem Mal verschlingen.
»Bring es zu Ende! « Sind die letzten Worte, die ich flüstere, bevor meine Welt in einen dunklen Schleier gehüllt wird. Plötzlich entfacht sich ein gewaltiger Tornado aus wilden Flammen wie von Geisterhand zu Boden und umhüllt das Ungeheuer. Mein Gegner ist auf diesen Angriff nicht vorbereitet und wird von den wilden, rötlichen Flammen förmlich verschlungen. Man hört qualvolle Schreie, die durch die verzauberte Winterlandschaft dringen. Das lodernde Feuer kennt keine Gnade und verkohlt rasend schnell eine Hautschicht nach der anderen. Nach und nach verstummen die Schreie und die Flammen erlöschen so schnell, wie sie gekommen sind. Wie vom Wind getragen, schwebe ich noch eine Weile in der Luft, bevor ich unkontrolliert zu Boden falle. Mein Körper ist so schwer, dass ich mich nicht mehr bewegen kann. Ich habe noch rechtzeitig aufgefangen werden können, bevor ich unglücklich auf dem erdigen Boden aufgeschlagen wäre. Jemand hat mich am Arm gepackt und mich schützend an seine Brust gezogen. Ein leichtes Lächeln umspielt meine Lippen, als mir der warme Duft eines vertrauten Parfüms in die Nase steigt. Sein schulterlanges schwarzes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, weht noch im Wind, als seine Füße den Boden berühren. Die schwarzen Augen in seinem feinen, glatten Gesicht spiegeln mein Gesicht und wirken dadurch so leer. Luca, mein Held. Auf meinen Freund ist immer Verlass. Luca ist lang und schlank, aber alles andere als dürr. An seinem Körper zeichnen sich feine Muskeln ab, die von seiner Kraft zeugen. Ich reiße mich dennoch mit letzter Kraft von der stützenden Berührung los. Fremde würden sagen, ich sei stur, aber nein, ich bin viel zu stolz, um mich wie ein Mädchen tragen zu lassen. Das kommt für mich nicht in Frage. Eher würde ich in Flammen aufgehen, als mich so zeigen zu lassen. Ich weiß, dass mein Freund nur nett sein will, aber ich schleppe mich lieber allein von der verbrannten Leiche weg.
»Du bist spät dran«, stelle ich mit ruhigem Ton fest. Ich starre auf den weißen Boden und stecke meine Hände in die Hosentaschen. Versuche, so gelassen und kühl wie möglich zu wirken, um meinem Freund meinen wahren Zustand nicht zu verraten. Wie gesagt, ich bin stolz. Luca mustert mich mit diesem unverschämten Grinsen, das er immer aufsetzt, wenn er weiß, dass er mir überlegen ist.
»Aber immer noch pünktlich.« Ich sage nichts, denn meine Kraft reicht nicht einmal, um mit ihm zu sprechen, ich verdrehe nur genervt die Augen. Innerlich weiß ich es natürlich zu schätzen, dass er trotz allem immer pünktlich kommt. Er ist meine Rettung gewesen. Eine mystische Stille umgibt den Wald und nur das Knirschen des Schnees unter unseren Füßen ist zu hören, als wir endlich das Ende des Waldes und eine Lichtung erreichen, die vom Mond und seinem Sternenvolk in Licht getaucht wird. Haben wir es wirklich geschafft? Sind wir der Hölle entkommen? Oder ist es nur ein kurzes Aufatmen? Noch weiß keiner von uns, ob es vorbei ist. Der Wald endet und eine Lichtung kommt in Sicht. Feine, saftgrüne Grashalme ragen aus der Schneedecke und streifen meine schwarze Hose auf Höhe meiner Waden. In der Mitte der Lichtung liegen große Steine, die einen Kreis bilden. Zuerst erreichen wir die Stelle, an der wir uns treffen wollten. Genau in der Mitte bleiben wir stehen und ich lasse mich auf einen der großen Steine gleiten und setze mich auf ein kleines Stück. Luca hat noch genug Power, um einen alten Altar zu erkunden, der auf einem Steinsockel steht und mit alten Inschriften übersät ist. Er versucht angestrengt, die Schrift zu entziffern, aber wir sind nicht in der Lage, die Hieroglyphen zu lesen. Ich versuche es erst gar nicht.
Ich kann nicht anders und ein leichtes Lächeln überkommt mich, als ich sehe, wie Luca sich an der Nase krault und eine Augenbraue hochzieht. Jedes Mal, wenn wir diesen Ort besuchen, versucht er sein Glück und hofft, in der Zwischenzeit weißer geworden zu sein, was er natürlich nicht einfach so über Nacht geworden ist. Obwohl wir nicht zum ersten Mal hier sind, hoffe ich innerlich, dass es das letzte Mal sein wird. Luca streicht sich ungeduldig eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schaut in die Ferne. Ich folge seinem Blick mit den Augen und starre in die Leere. Kein Mensch ist zu sehen, keine Veränderung zu hören. Wir sind noch nicht vollzählig! Vielleicht haben sie es doch nicht geschafft? Nein, sie müssen es schaffen, ermutige ich mich in Gedanken. Noch in der Ferne erkennen Luca und ich zwei zierliche Gestalten, die am anderen Ende aus einem Waldstück treten. Es ist eine Frau in Begleitung eines jungen Mannes, der aufgrund seiner Größe eher kindlich wirkt. Das Haar der beiden schimmert gelblich, als das Mondlicht auf ihren Schopf fällt. Allein von der Haarfarbe her würde jeder Außenstehende die beiden für Geschwister halten. Dabei sind sie nicht einmal blutsverwandt. Mike und Victoria mögen sich nicht einmal. Mike hat sie nur meinetwegen in die Gruppe aufgenommen. Am liebsten würde er Victoria packen und auf dem Scheiterhaufen verbrennen, wie es vor Hunderten von Jahren üblich war.
Aber nein, er überspielt seinen inneren Groll und lächelt der Frau sogar noch verlogen ins Gesicht. Ich atme hörbar erleichtert aus, als ich die engelsgleiche Gestalt der jungen Frau erkenne. Noch nie war er so glücklich, sie am Horizont zu sehen. Mit schweren Schritten stapfen beide durch das Gras auf uns zu. Ihre Kleidung ist an einigen Stellen zerrissen, Schrammen zeichnen ihre nackte Haut. Auch sie haben einige Hindernisse auf ihrem Weg überwunden. Je näher sie kommen, desto mehr verzieht Luca seine Lippen zu einem hämischen Grinsen. Seine Kleidung tropft vor Nässe und auf Viktorias Haut bilden sich kleine Hügel.
»Na, wie war das Bad? «, ruft Luca spielerisch aus der Ferne. Auch ich kann mir ein leises Lachen nicht verkneifen und versuche, meinen Kopf in meinem Schal zu verstecken. Entweder sind sie in den zugefrorenen See gefallen, der sich ihnen in den Weg gestellt hat, oder Mike hat sich mal wieder nicht beherrschen können und eine gewaltige Sintflut erzeugt. Sichtlich verärgert zwirbelt die junge Frau ihr blondes, gewelltes Haar zusammen, um das aufgesogene Wasser wieder loszuwerden. Wie eine Schlange dreht sie ihren Kopf und fixiert Luca mit einem wütenden „Ich bring dich um“-Blick. Doch zu meiner Überraschung lässt Victoria sich nicht auf den Kindergarten ein und schenkt mir ihre Aufmerksamkeit. Kaum wendet sie sich mir zu, verwandelt sich ihr überheblicher Blick in ein sanftes, frühreifes Lächeln.
»Mein Schatz, hast du es? « frägt sie mich und ignoriert Luca gekonnt. Natürlich habe ich es! Und wenn ich es nicht hätte, dann hätte es Luca. Luca ist einer der besten Diebe Fintijas. Sein Vater, dem wir es geklaut haben, hat es noch nicht einmal vermisst. Mit einem kräftigen Ruck erhebe ich mich von den kleinen Brocken und greife ohne zu zögern in meine Gesäßtasche. Wie ein rohes Ei ziehe ich ein dunkelbraunes Stück Leder heraus und reiche es Victoria. Nur sie kann das Amulett aktivieren. Wir Männer gehören zwar zu den besten Kriegern des Landes und haben ein mächtiges Wesen in uns, aber ohne einen Funken Magie sind auch wir hier aufgeschmissen. Hier kommt Viktoria ins Spiel. Sie ist eine Hexe. Hexen sind in unserer Zeit selten geworden. Sie sind mit der Zeit ausgestorben. Um eine zu finden, braucht man mehr als eine große Portion Glück. Ich bin so froh und erleichtert, dass ich eine getroffen habe. Normalerweise erschrecke ich sie immer sofort mit meinem Talent. Nicht jede Hexe erträgt meine ruppige Art und vor allem den kleinen Fluch in mir. Die junge Frau betrachtet das Amulett in aller Ruhe mit ihren dunkelblauen Augen. Dann legt sie es vorsichtig in eine glatte, in den Stein gehauene Vertiefung. Die kleinen Diamanten an den Spitzen der Sterne reflektieren das Mondlicht in allen Farben. Langsam beginnt das Pentagramm zu leuchten, das es in einem Ring umgibt. Es dauert eine Weile, bis jeder einzelne Diamant, der den Stern umgibt, von der Helligkeit erfasst wird. Gebannt beobachten wir das Geschehen und warten geduldig auf den nächsten Schritt. Mike rutschte nervös mit den Fingern hin und her. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, als die Worte durch die Luft schneiden.
»Du elende Hexe! « Die Stimme ist von Hass zerfressen, giftig und erfüllt von mörderischer Absicht. Ich drehe mich ruckartig um – zu spät. Ein ekelregendes, nasses Geräusch zerreißt die angespannte Stille. Wie in Zeitlupe spritzt mir warmes Blut ins Gesicht. Der metallische Geruch dringt mir sofort in die Nase, noch bevor mein Verstand begreift, was gerade passiert ist. Victoria steht in der Mitte des Altars, ihre blauen Augen weit aufgerissen, als könnte sie selbst nicht glauben, was gerade mit ihr geschieht. Aus ihrer Brust ragt ein Speer aus purem, glitzerndem Eis, sein tödlicher Glanz im Mondlicht beinahe makellos. Ich reiße die Augen auf.
»Nein… «
Mein Schrei bleibt mir im Hals stecken. Ihre zierliche Gestalt beginnt zu schwanken. Ihre Lippen formen meinen Namen – lautlos. Dann gibt ihr Körper nach. Sie kippt unendlich langsam nach hinten, wie eine Statue. Mein Blick folgt dem Blut – zu viel Blut – und erstarrt. Victoria steht noch wippend mitten im Kreis des Altars, ihre blauen Augen weit aufgerissen, als könnte sie selbst nicht glauben, was gerade mit ihr geschieht. Aus ihrer Brust ragt ein Speer aus purem, glitzerndem Eis, sein tödlicher Glanz im Mondlicht beinahe makellos. Wie ein Sack Kartoffeln, schlägt sie neben dem blutgetränkten Altar auf den gefrorenen Boden. Ein dumpfes Geräusch. Ihr goldblondes Haar breitet sich wie ein Heiligenschein um ihren Kopf aus. Sie rührt sich nicht mehr.
Etwas in mir zerbricht. Die Welt um mich herum verliert ihre Farbe, alles verschwimmt. Ich will losrennen, will sie halten, will diesen verdammten Speer herausreißen -aber ich kann nicht. Ein greller Lichtstrahl schießt plötzlich aus dem Pentagramm in den Himmel und umschließt mich, Luca und Mike wie eine magische Wand. Ein starker Sog erfasst uns. Ich versuche, mich zu befreien, hämmere mit aller Kraft gegen das unsichtbare Gefängnis.
»NEIN! ICH MUSS ZU IHR!«
Fly brüllt in meinem Kopf, fordert, dass ich sie endlich befreie, dass ich unsere Feinde niederbrenne, dass ich Victoria rächen. Der Zauber ist zu stark. Der Sog zieht uns weiter nach oben, fort von der Lichtung, fort von Victoria. Mein Blick bleibt an ihr hängen. Sie liegt still, der Mondschein malt eine silberne Spur auf ihr Gesicht. Ihr Blut sickert unaufhaltsam in den Schnee und färbt ihn rot. Neben ihr taucht eine Gestalt auf. Ein junger Mann mit feuerrotem Haar kniet sich neben sie, hebt langsam den Kopf und starrt mir mit eiskalten, blauen Augen direkt in die Seele. Ein Versprechen brennt sich in mein Herz.
Ich werde dich rächen.
Mein Blick bleibt an Victorias lebloser Gestalt hängen, bis die magische Kraft uns endgültig fortreißt. Und dann ist sie weg. Mit ihr stirbt ein Teil von mir – für immer.
»Deine Miete ist längst überfällig! «, ertönt eine tiefe, drohende Stimme vom Ende eines langen Ganges. Erschrocken zucke ich zusammen und rühre mich nicht mehr. Schwungvoll werfe ich mein langes, schwarzes Haar hinter meine zierlichen Schultern, die wie Wellen über meinen Rücken fallen, und drehe mich wie in Zeitlupe um. Aus einer dunklen Ecke des schmalen Flures tritt ein dicker Mann mit fettigen schwarzen Haaren hervor und starrt mich wütend mit seinen rehbraunen Augen an. Vor Ekel stellen sich die feinen Härchen auf meinen Armen auf, als ich seine dicken, dunklen Augenbrauen sehe, die kreuz und quer und viel zu lang sind. Beim weiteren Betrachten seiner Kleiderwahl wird es nicht besser und ich bin kurz davor, mir die Nase zuzuhalten, als mir der Geruch von Schweiß, der bestimmt schon seit drei Tagen an ihm klebt und kaltem Zigarettenrauch entgegenweht. Sein gestreiftes T-Shirt umschließt seinen Bauch nicht ganz, sondern ragt am Ende mit einer Wölbung heraus. Ein unangenehmes Gefühl schiebt sich die Speiseröhre hinauf und das Müsli von heute Morgen sucht sich bereits seinen Weg nach oben. Mit einem tiefen Schluck befördere ich meine Mahlzeit zurück in die Magengrube, wo sie hingehört, und mein Blick wandert von seiner dreckigen Adidas-Hose zurück in seine Augen. Sein Gesicht ist tausendmal besser als das darunter.
Scheiße, natürlich habe ich das Geld nicht dabei. Meine Gedanken überschlagen sich ein paar Mal in meinem Kopf. Dabei reibe ich mir gedankenverloren den Nasenrücken. Jetzt aber schnell. Komm schon, Hirn, lass dir was einfallen, fordere ich mich in Gedanken auf und suche mit den Augen den trostlosen Gang ab. Wie kann ich diesmal meinen protzigen Vermieter besänftigen? Wie ...?
»Hallo ... Herr ... Meyer«, beginne ich hastig zu stottern, immer noch die Antwort auf den gelblichen Fliesen suchend. Auf keinen Fall will ich diesen widerlichen Mann zu lange anstarren und unterbreche absichtlich immer wieder den Blickkontakt. Mich vor ihm zu übergeben erscheint mir im Moment mehr als unpassend. Doch das Glück ist nicht auf unsere Seite. Durch »Ähm« beginne ich wieder und reibe mir nervös den Hinterkopf, während ich mit der anderen Hand kurz mit einer langen Locke zwischen meinen Fingern spiele.
»Natürlich werde ich die ausstehende Miete heute Nachmittag überweisen! Ich habe gerade kein Geld bei mir! «, versuche ich mich aus der misslichen Lage zu befreien. Ungläubig starrt mich der dicke Mann mit den rehbraunen Augen an. Sein Blick spricht Bände. Er glaubt mir kein Wort und zieht nur die Augenbrauen hoch.
»Also, wenn das heute Nachmittag nicht bezahlt wird, Frau Sillia, dann können Sie sich schon mal ein paar Kisten kaufen!« Ich nicke ihm wortlos zu und ziehe ein gespielt freundliches Lächeln um die Lippen. Ohne einen weiteren Kommentar dreht er sich um und stapft mit seinen dicken Beinen davon. Mehr hat er mir nicht zu sagen. Das war’s und ich darf nach der Uni auf jeden Fall meine Kartons holen.
»Na toll«, flüstere ich kaum hörbar vor mich hin. Ab morgen bin ich obdachlos! Nie im Leben kann ich ihm bis heute Nachmittag die 600€ geben. So viel Geld habe ich einfach nicht. Hätte mir nicht so ein Idiot von der Uni die Reifen zerstochen, wäre ich jetzt noch eine einfache Kellnerin in der Moonlight Bar und könnte ihm allein vom Trinkgeld die Miete zahlen.
Kellnern war zwar nicht das, was ich mir immer vorgestellt hatte, aber es war tausendmal besser als Zeitungen auszutragen. Wenigstens war ich in einer warmen Umgebung und musste nicht bei Wind und Wetter durch die Gegend laufen. Die Männer und auch die Frauen, die diesen Schuppen besuchten, waren immer freundlich zu mir, und irgendwie vermisse ich diese netten Stammgäste sehr. Aber diese dumme Person, die mich zufällig für ihre Lust am Vandalismus ausgesucht hat, macht alles kaputt. Mein Ex-Chef war so sauer, dass er mich noch am selben Tag rausgeschmissen hat.
»Ich brauche keine unzuverlässigen Kellner wie Sie«, hallen seine Worte vom Vorabend noch in meinem Unterbewusstsein nach. Mein Blick versteinert, mein Gesicht wird starr. Er hat recht, auch wenn ich es mir nicht eingestehen will. Zu sehr hat der Hass mein Urteilsvermögen getrübt. Dieses blöde Loch ist wie ein Déjà-vu! Mindestens einmal in der Woche komme ich viel zu spät zur Arbeit, und das nur, weil sich jemand einen Spaß daraus gemacht hat, meine Reifen zu zerstechen. Ein Zufall? Auf keinen Fall! Wenn, dann eher ein Zeichen einer höheren Macht, dass ich aufhören soll, ein geregeltes Leben zu führen. Das Glück hat mich in dem Moment verlassen, als ich mein behütetes Elternhaus verlassen habe. Natürlich kann ich Papa um Hilfe bitten, aber das ist nur eine weitere Gelegenheit für ihn, mich zu demütigen. Wie ein Geist spiegelt sich sein Gesicht in einer schmutzigen gelben Kachel an der Wand. Sein schwarzes Haar ist wie immer perfekt mit Haarspray zur Seite gekämmt und sein breiter Kiefer hat sich in ein höhnisches Grinsen verwandelt. Wild wackele ich mit dem Kopf, wobei mir wieder eine dicke schwarze Locke ins Gesicht fällt und verdränge meinen Vater aus meinen Gedanken.
Nein! Auf keinen Fall werde ich ihm diesen Gefallen vor die Füße werfen. Lieber schlafe ich unter einer Brücke oder auf einer Parkbank. Nicht umsonst habe ich ihm vor genau einem Jahr, kurz nach meinem 18. Geburtstag, gedroht, zu verschwinden. Mein Zuhause war mein eigener goldener Käfig und es wurde immer schlimmer, je älter ich wurde.
Ich wollte in die Stadt. Einen Neuanfang, ganz allein, ohne Hilfe. So in Gedanken versunken merke ich nicht, wie ich mit meinen eisblauen Augen die Wand anstarre und wie eine Puppe regungslos im Flur stehe. Was sich für mich nur wie ein paar Sekunden anfühlte, war in Wirklichkeit mehr als zehn Minuten lang Realität, in der ich in meiner eigenen Traumwelt verweilte. Doch ohne noch einmal nachzudenken, greife ich nach meinem Schlüssel, schließe ab, was ich vor 10 Minuten tun wollte und eile die Treppe hinunter. Mein schwarzer Faltenrock flattert im Wind und wenn jemand unter mir gewesen wäre, hätte er vielleicht einen kurzen Blick auf mein Höschen werfen können. Zum Glück bin ich die Einzige im dunklen Treppenhaus. Elegant schwinge ich mich auf mein rot-schwarzes Fahrrad, das ich erfolgreich mit Klebeband geflickt habe, und fahre zügig die holprige Straße entlang. Kräftig trete ich in die Pedale und düse los. Ohne Rücksicht auf Verluste fege ich über die holprigen Straßen der Altstadt, die mich von der Universität trennen. Nürnberg ist eine der schönsten Städte, die ich je gesehen habe. Na ja, viel Auswahl hatte ich auch nicht. Zum Leidwesen meines Vaters war ich gezwungen, nur unser Dorf zu besuchen. Er meinte, die Städte seien viel zu gefährlich. Natürlich besteht immer die Gefahr, ausgeraubt zu werden, aber wie in vielen Dingen übertreibt er maßlos.
Der Zorn, der in mir aufsteigt, verfliegt schnell, als ich die herrlichen alten Bauwerke dieser Stadt sehe, die mein kleines Herz höherschlagen lassen und meine Seele besänftigen. Vor allem das Alte Schloss zieht mich an sonnigen Abenden magisch an, so dass ich oft stundenlang zwischen den alten Sandsteingemäuern spazieren gehe und so meine Freizeit verbringe.
Egal, wie schwierig die Lebensumstände auch sein mögen, diese alten Mauern zaubern mir immer ein Lächeln ins Gesicht. Schnell parke ich mein treues Gefährt in einem der Stellplätze unter einem in die Jahre gekommenen Carport und eile in das große Gebäude, das, wie in dieser Stadt üblich, aus Sandstein erbaut ist. Zu meinem Glück haben die Vorlesungen noch nicht begonnen, und ich erreiche den Hörsaal noch rechtzeitig. Ich schaue weder nach links noch nach rechts, als ich eintrete. Erleichtert atme ich hörbar aus. Niemand hat es gewagt, sich auf meinen Stammplatz zu setzen. Wie ein schwerer Kartoffelsack plumpse ich auf ihren Stuhl und hole meine Schreibutensilien aus dem Rucksack.
»Oh, hallo schöne Frau, ich bin Mike«, ertönt eine harmonische Stimme neben meinem rechten Ohr. Überrascht zucke ich zusammen und drehe mich der Stimme zu. Ein junger Mann mit blonder Strubbelfrisur und meerblauen Knopfaugen hat sich bereits neben meinen noch leeren Platz gesetzt. Ich kann nicht anders und mustere ihn ausgiebig. Er ist irgendwie anders! Im Vergleich zu meinen Mitschülern wirkt er eher kindlich. Er ist klein und schmächtig, scheint aber nicht viel jünger zu sein als ich. Mike trägt ein olivfarbenes Tank Top und hellbraune Shorts, die in der Sonne fast beige wirken. Seine Haut hat einen gesunden Teint und feine Sommersprossen zieren seine zierliche Nase.
»Hallo, ich bin Anastasia«, stelle ich mich höflich vor und reiche Mike mit einem freundlichen Lächeln die Hand. Mein Anstand siegt über meine Überraschung. Schließlich bin ich es durch das Dorfleben gewohnt, jeden zu grüßen und zeige mich von meiner besten Seite. Übereifrig greift Mike nach meiner Hand und strahlt über beide Wangen. Wie ein kleines Kind an Weihnachten freut er sich über meine ausgestreckte Hand und schüttelt sie schnell auf und ab. Noch bevor Mike mir vor Freude den Arm ausrenkt, lässt er sie wieder los und stützt verträumt seinen Kopf mit der Hand ab, wendet aber den Blick von mir ab und umschmeichelt mich nur mit seinen verführerischen Augen. Eine Schamröte färbt meine helle Haut ein wenig dunkler, als wir direkten Blickkontakt haben.
»Sag mal, warum willst du Ärztin werden? «, unterbricht Mike die entstandene Stille und beobachtet mich. Tatsächlich muss ich kurz in mich gehen und starre bewusst an die Decke des Hörsaals. Alle anderen haben sicher ihre Gründe. Nur ich nicht. Warum wollte ich eigentlich Ärztin werden? Vielleicht um in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten? Oder nur, um meinem Vater zu zeigen, dass ich es genauso gut kann? Oder vielleicht aus dem einfachen Grund, Menschen zu helfen? Ich weiß es nicht so genau. Es ist einfach so, wie es ist. Mike schaut mich mit seinen blauen Seelenspiegeln erwartungsvoll an. Als ich in seine Augen schaue, verliere ich mich in ihnen. Sie sind so schön, dass sie nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Kurz, aber wirklich nur für eine Sekunde, spiegelt sich das ungezähmte Meer in seinen Augen und meine Augen weiten sich bei diesem Anblick.
»Ich weiß nicht genau. Warum willst du Arzt werden? «
»Ich glaube, ich brauche das in meinem Leben«, sprudelte die Antwort aus Mike heraus und er verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ich ziehe erstaunt die Augenbrauen hoch. Meine Antworten waren schon besser. Aber sein kindliches Lächeln versüßt mir insgeheim meinen chaotischen Tag und ich gebe mich mit seiner Antwort zufrieden. Ich drehe meinen Kopf wieder zur Tafel und konzentriere mich erneut auf unseren Dozenten. Der junge Mann mit den dunklen, kurz geschnittenen Haaren und der Hipster Brille auf der Nase hat längst mit seiner Vorlesung begonnen und tippt mit einem langen Stab auf einen vom Beamer erzeugten menschlichen Körper. Nicht schon wieder das Herz, schießt es mir durch den Kopf, als ich das Ziel seines Stöckchens erkenne. Zu meinem Glück hat Mike andere Pläne mit mir und drückt seinen Zeigefinger leicht auf meine schmale Schulter.
»Woher kommst du? «, beginnt Mike sein Frage-Antwort-Spiel. Verärgert reibe ich mir die Schläfe. Mike scheint sich mehr für mich als für den Dozenten zu interessieren. Ein kleines Kennenlernspiel würde mir guttun und ein dezentes Lächeln verzieht meine vollen Lippen. Ich lasse den Stift zur Seite fallen und klappe mein Buch zu. Wahrscheinlich würde ich heute nicht mehr zu dem brillanten Vortrag kommen. Aber um ehrlich zu sein, finde ich nichts Verwerfliches an dem kleinen Plausch, schließlich bin ich eine der besten Studentinnen im Fach Kardio und beherrsche es im Schlaf. Ich stütze meinen Kopf in die Handfläche und widme dem Sunnyboy meine volle Aufmerksamkeit. Wer kann diesem freundlichen Lächeln schon böse sein? Außerdem interessiert sich kaum einer meiner Mitschüler für meine Existenz. Es tut einfach gut, bei einem so hübschen Mann so viel Interesse geweckt zu haben.
»Das ist doch nur ein Kuhdorf! Das kennst du sicher nicht. Und woher kommst du? «, schaue ich Mike mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck an.
»Na ja, ich bin hier aufgewachsen, aber ursprünglich komme ich aus Amerika. Was ist deine Lieblingsfarbe? «, Mike überlegt kurz und verzieht sein hübsches Gesicht.
»Meine Lieblingsfarbe ist blau. Wie das Meer.« Ich staune nicht schlecht. Irgendwie habe ich seine Lieblingsfarbe schon erraten. Auch wenn es nur seine strahlenden Augen sind, fühlt es sich in diesem Moment richtig an.
»Meine ist rot. Wie die Liebe«, ich senke zufrieden den Kopf und spiele mit einer Locke meiner widerspenstigen Mähne. Mit Mike an meiner Seite verging die Zeit wie im Flug und keiner von uns schaute mehr nach vorne. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt. Ich habe mich schon lange nicht mehr so begehrt gefühlt wie in dieser Stunde. Das laute Ende der Vorlesung reißt uns beide aus unserem Gespräch. Erschrocken zucken wir zusammen und reißen hastig die Köpfe hin und her.
»Oh, schon vorbei? «, kommt es überraschend von Mikes zart geschwungenen Lippen. Recht hat er. Auch ich kann kaum glauben, dass anderthalb Stunden so schnell vergangen sind. Schnell packen wir unsere Sachen zusammen und gehen gemeinsam aus dem Hörsaal.
»Ich muss da lang«, Mike zeigt mit dem Zeigefinger geradeaus über die Straße.
»Ich eigentlich auch. Aber ich muss erst mein Auto holen«, sage ich ruhig und zeige in die andere Richtung des Universitätsgeländes. Mike scheint nicht damit gerechnet zu haben, dass ich den Weg alleine gehen muss und folgt mir schweigend. Wie ein Hund folgt er mir, leichtfüßig wie ein Tänzer. Wie schön, denke ich, als ich bemerke, dass er mir immer noch folgt. Selbst jetzt kann er sich nicht von mir trennen.
»Sag mal, wohnst du hier alleine oder mit deinen Eltern?«, ich überlege kurz wie ich seine Frage beantworten soll. Eigentlich darf ich niemandem sagen, wo ich wohne oder mit wem ich zusammenlebe, allein schon wegen der Strenge meines Elternhauses. Nicht nur mein Vater, auch meine Mutter hat irgendwie zu viel Angst vor der Kriminalität, die diese Großstadt bietet. Mein Verstand sagt nein, aber mein Herz drängt mich zu diesem Schritt. Schließlich kann ich noch kein Vertrauen zu Mike aufbauen. Aber allein will ich auch nicht mehr sein. Ich habe schon so viele mit meiner eisernen Mauer verschreckt. Das will ich nicht noch einmal machen. Außerdem, was kann mir dieser kleine, zierliche Kerl schon anhaben? Er ist ein ganzen Kopf kleiner als ich und sieht nicht gerade wie einer der meistgesuchten Verbrecher aus. Nur die leichten Muskeln, die sich unter seinem Oberteil abzeichnen, machen ihn männlich. Wenn ich wollte, könnte ich ihn mit einem Stoß zu Boden werfen. Von ihm geht keine Gefahr aus.
»Ich lebe allein. Ich habe eine kleine Wohnung ein paar Straßen weiter. « Begeistert zieht Mike die Augenbrauen hoch.
»Boa, voll geil! «, schießt es wie aus der Pistole geschossen aus seinem Mund. »Ich leider nicht. Ich lebe in einer Art Zweckgemeinschaft. « Sein Blick geht zu Boden. Ein bisschen beneide ich ihn. Die Art, wie er den Boden musterte, wirkt nicht gerade glücklich und sein Lächeln verpuffte bei dem Satz wie eine Rauchwolke.
»Das ist echt cool! Ich wäre froh, wenn ich mit Freunden zusammenwohnen könnte. So alleine ist es auch nicht immer schön«, versuche ich ihn aufzumuntern. Stille bricht über uns herein und der Wind wirbelt einen Haufen welker Blätter auf und wirbelt sie so hoch in die Luft, dass sich ein Blatt in meiner Mähne verfängt. Mike sieht es, lacht laut auf und wischt mit einer Bewegung meinen unfreiwilligen Haarschmuck weg.
»Tja, der eine mag’s so, der andere so«, lockert Mike die Stimmung auf und schmeißt das braune Ahornblatt zu Boden. Er will gerade sein Skatboard wieder in Schwung bringen, als er aus unerfindlichen Gründen die Bordsteinkante übersieht und auf die Straße fällt. Ich fange sofort an zu lachen und halte mir den Bauch, der vor Lachen schon schmerzt. Nachdem ich mir ein paar Tränen aus den Augen gewischt habe, reiche ich Mike die Hand und helfe ihm aufzustehen. Es war eine gute Idee, die Zeit mit ihm zu verbringen. Ich habe schon lange nicht mehr so herzlich gelacht. Nach einem kurzen Fußmarsch bleiben wir vor einem grauen Gebäude stehen. Hier ist es zu Ende. Dieses farblose, aus Stein gebaute Gebäude ist mein jetziges Zuhause. Wie vom Blitz getroffen geht mir die Situation von heute Morgen durch den Kopf. Mist, das hatte ich total vergessen. In Gedanken gehe ich alle Szenarien durch. Aber nichts hilft. Sobald ich durch diese Tür gehe, muss ich dem dicken, stinkenden Mann sein Geld geben. Ich brauche mehr Zeit.
Ich muss mich irgendwo verstecken, aber wo? Automatisch fällt mein Blick auf den blonden Mann, und von diesem Moment an ist die Antwort mehr als klar.
»Sag mal, was machst du heute noch so? « Überrascht sieht mich Mike mit seinem Hundeblick an.
»Ich? «, er reibt sich nachdenklich den Nasenrücken und schaut in den Himmel, wo eine dicke, flauschige Wolke langsam die Erde umkreist.
»Hm, eigentlich nichts Besonderes. Warum? « Er ist meine Rettung. Meine Lösung für dieses Problem. Wenn er das nur ahnen würde, wäre er bestimmt nicht mehr so lieb zu mir. Ohne lange nachzudenken, lädt mich Mike zu sich nach Hause ein und ich nehme gespielt überrascht an. Gott sei Dank ist er so schnell auf mein Vorhaben angesprungen, dass ich nicht weiter nachfragen musste. Nach ein paar weiteren Minuten sind wir endlich am Ziel. Mike erklärte mir, dass sein Zuhause im 5. Stock sei und zeigte auf das moderne Hochhaus direkt vor unserer Nase. Mindestens 10 Stockwerke ragt der Turm in die Höhe. Staunend und mit weit aufgerissenem Mund schaue ich nach oben. Gemeinsam fahren wir mit dem Aufzug nach oben, denn auch Mike hat wenig Lust, mit mir die Treppen zu steigen. Zögernd schließt Mike die Wohnungstür auf und tritt in den erleuchteten Flur. Obwohl Mike mir auf dem Weg hierher erzählt hat, dass seine Mitbewohner spitze sind, wundere ich mich doch über seine Scheu, ihnen zu begegnen. Ich würde sogar sagen, dass er Angst vor ihnen hat, wenn wir hier zu zweit sind. Als ich endlich an ihm vorbeigehen konnte, wurden meine Augen noch größer als sie ohnehin schon sind. Allein der Flur reichte mir, um zu merken, wie viel Geld sie hatten. Er war breit und lang. Auf jeder Seite waren vier Zimmer. Am Ende des Ganges war ein großes, breites Fenster. Es reicht bis zum Boden und flutet den Flur mit warmem Tageslicht. Mike führt mich ins Wohnzimmer. Überwältigt von den Eindrücken fällt mir die Kinnlade herunter. Im Wohnzimmer steht eine wunderschöne Wohnlandschaft aus einem Dreier- und einem Zweiersofa. Sie ist mit schwarzem Leder bezogen. Allein der Fernseher ist fast größer als ich und so flach, dass man nicht sieht, wo die Technik eingebaut ist. Die Wohnwand spiegelt sich in einem schneeweißen Farbton. Selbst der Couchtisch wirkte so edel, dass ich mich nicht getraut hätte, auch nur ein Glas darauf abzustellen.
»Komm, setz dich, ich hol dir was zu trinken«, befiehlt mir Mike freundlich und deutet auf die Ledercouch. Oh Gott, hoffentlich hinterlasse ich keinen Schweißfleck darauf, bei den heißen Temperaturen draußen.
»Sag mal, wie kannst du dir so eine Einrichtung leisten?« Mike reibt sich verlegen den Hinterkopf und schließt die Augen.
»Ach, das ist alles von Kai«, gibt er zu, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann erklärt er mir, dass Kai eine eigene Firma hat und sich deshalb, dass alles leisten kann und ihm das Studium bezahlt. Laut Mike könnten sie sich locker ein Haus leisten, aber das will Kai auf keinen Fall, weil es viel zu viel Arbeit macht es zu pflegen und zu unterhalten. Gut, klein ist ihre Wohnung trotzdem nicht geworden, schließlich müssen drei Leute darin leben, ohne sich auf die Füße zu treten. Jeder von ihnen liebt sein eigenes Reich und kann es nicht leiden, wenn einer von ihnen auch nur in die Nähe seiner Persönlichkeit kommt. Sie sind drei Freigeister und wollen es auch bleiben.
Mike stellt zwei Gläser mit Cola auf den Couchtisch, dessen Deckel aus Milchglas ist. Dankbar nehme ich das Glas vor meine Nase und nippe vorsichtig daran. Ein klirrendes Geräusch aus dem Eingangsbereich unterbricht unser Gespräch und wir drehen beide unsere Köpfe in Richtung Eingang. Es ist ein Schlüssel, der gerade das Schloss entriegelt. Wie von der Tarantel gestochen springt Mike vom Sofa auf und eilt mit schnellen Schritten zur Tür. Ein stattlicher, breitschultriger Mann mit seitlichem Undercut tritt ein. Sein silbernes Haar glänzt in der Sonne und passt perfekt zu seiner blassen Haut.
»Hi Kai... wie... du... bist... schon zu Hause? «, stottert Mike und ich erkenne, dass er der Mann ist, vor dem er sich insgeheim fürchtet. Wütend wirft der Neuankömmling seinen Schlüssel auf die Arbeitsplatte in der Küche. Ohne seinen Mitbewohner eines Blickes zu würdigen, geht er erhobenen Hauptes an ihm vorbei. Selbst ich, obwohl ich ihn nicht kenne, merke, dass er keine Lust hat, auch nur eine Silbe mit Mike zu wechseln. Er macht auf mich den Eindruck, als wolle er schnurstracks in sein Zimmer verschwinden. Doch als er im Wohnzimmer ankommt, scheint sich sein Plan geändert zu haben und er bleibt stehen. Kai wirft mir einen scharfen Blick zu und hält in seiner Bewegung inne. Dann geht er langsam weiter. Mike folgt ihm und bleibt genau in meinem Blickfeld stehen.
»Wer ist das? «, zischt Kai Mike leise, aber doch hörbar zu. Mike versucht sich zaghaft eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen und muss sich kurz sammeln. Kai hat Bombenlaune und ist bereit, sie zu zünden. Das spüre ich schon von weitem.
»Also das. Ähm, das ist Anastasia«, tastet er sich vorsichtig an seine Geduld heran.
»Woher kennst du das Weib? « Weib boa, das ist gemein, denke ich und traue mich nicht, es auszusprechen. Für Nettigkeiten scheint der junge Mann nicht bekannt zu sein und will es wohl auch nie werden. Mike hat mich zwar vor seiner ruppigen Art gewarnt, aber trotzdem versetzt er mir einen kurzen Stich ins Herz. Seine Stimme ist sehr leise und ruhig, aber dieser Mann gibt mir das Gefühl, keine falsche Bewegung zu machen. Wie angewurzelt verharre ich auf der Couch und versuche, so leise wie möglich ein- und auszuatmen. Ich habe noch nichts getan, aber ich fühle mich so. Langsam verschwindet auch Mike aus meinem Blickfeld und nur noch ihre Stimmen sind zu hören. Trotz meiner Angst vor ihm will ich ihn irgendwie sehen. Warum nur? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es diese starke Präsenz, die in diesem Moment in der Wohnung ist. Oder vielleicht ist es eher meine Todessehnsucht. Bevor mich der Mut verlässt, hebe ich vorsichtig den Kopf und schaue zu den Männern hinüber. Sofort stockt mir der Atem und mein Herz bleibt stehen. Für einen Augenblick steht meine Welt still. Aus einem kurzen Blick wurde ein langes, unkontrolliertes Starren. So einen von Göttern gemalten Mann habe ich noch nie gesehen. Muskeln bedecken seinen ganzen Körper. Die schwarze Jeans sitzt wie aufgenäht und das rote Hemd wirkt ordentlich, aber dennoch verdreckt. Sabber läuft mir aus den Mundwinkeln. Als er seinen Kopf dreht und ich ihn direkt fixieren kann, ist es passiert. Eine höhere Macht greift nach meinem Herzen und gibt es diesem Mann, ohne mich um Erlaubnis zu fragen. Rote, tote Augen bohren sich in meine Seele und zerstören alles Menschliche in mir.
»Wir gehen zusammen zur Uni. « Erstaunt zieht Kai die Augenbrauen hoch und sieht Mike verwundert an.
»Auf die Uni?« Empört bläst Mike die Backen auf. Anscheinend hatte Kai Mike gar nicht zugehört. Schmerzhaft reibt sich Kai den Hals, auf dem ein Phönix tätowiert ist und der wie von Geisterhand kurz rot aufleuchtet. Wie gebannt betrachte ich noch länger sein Bild auf der Haut. Ich kenne zwar Tattoos, die im Dunkeln leuchten, aber dass sie auf dem Träger die Farbe wechseln können, ist mir neu.
»Egal«, beendet Kai das Gespräch und entfernt sich mit Katzenschritten aus meinem Blickfeld. Unbeeindruckt hüpft Mike zurück zum Sofa und lässt sich erleichtert neben mich auf die Couch fallen.
»Und was machen wir Hübschen jetzt? « Das ist eine gute Frage von Mike und da meine Worte noch nicht zurückkommen, ziehe ich nur die Schultern hoch.
Ich versuche nur Zeit zu schinden, um meinem Vermieter nicht über den Weg zu laufen. Aber was wir jetzt mit der Zeit anfangen sollen, die uns noch bleibt, weiß ich nicht. Seufzend senke ich den Kopf auf meine Brust. Eigentlich müsste ich ihm sagen, warum ich hier sitze. Aber ich traue mich nicht. Zu groß ist die Scham in mir, zuzugeben, dass ich ihn nur ausnutze.
»Sag mal, was ist denn mit dir los? « Erschrocken hebe ich den Kopf. Bin ich wirklich so leicht zu durchschauen? Oder kann man Mike einfach nichts vormachen? Ich muss ihm alles erzählen, bis ins kleinste Detail. Vielleicht versteht er ja, warum ich mich nicht nach Hause traue. Ich schütte ihm mein Herz aus und er hört mir einfach zu. Mike unterbricht mich nicht, er lässt mich einfach reden. Dicke Tränen kullern bei jedem neuen Satz über meine hohen Wangenknochen. Wie ein tropfender Wasserhahn tropft die salzige Substanz auf meinen schwarzen Faltenrock.
»Wenn du so weiter heulst, muss ich noch einen Eimer unter dich stellen«, versucht Mike, mir ein Lächeln zu entlocken, doch es gelingt ihm nicht. Mit meinen Handgelenken wische ich mir die Tränen weg, die meine Wimperntusche auf meinen Wangen verteilt hat.
»Wenn du willst, kannst du hier übernachten. «
»Macht es euch nichts aus?« Die Frage war berechtigt. Denn Kai, sein Mitbewohner, scheint nicht sehr erfreut über meine Anwesenheit zu sein. Mit einem lauten Kichern lässt sich Mike nach hinten fallen. Fassungslos schaue ich ihn an.
»Wenn du wüsstest, wie viele Frauen hier ein und ausgehen. Luca bringt immer welche mit, um sich zu amüsieren. Keiner wird meckern, weil du wegen mir hier bist«, kicherte Mike laut und wischte sich ein paar Wassertropfen unter seinem Auge weg.
»Glaub mir und wegen Kai brauchst du dir überhaupt keine Sorgen zu machen. Der ist immer so und für seine Verhältnisse war das sogar nett. « Das meint er nicht ernst. Das soll nett gewesen sein? Dann will ich auf keinen Fall erleben, was an ihm schlecht ist. Ungläubig schaue ich Mike in meinen Gedanken an. Morgen früh muss ich auf jeden Fall weg sein. Das ist mein Plan. Auf keinen Fall will ich Kai morgens über den Weg laufen, wenn er noch ein Morgenmuffel ist. Da stelle ich mich lieber meinem Vermieter.
Nach einigem Hin und Her lasse ich mich doch überreden bei ihnen zu bleiben. Mike hat etwas an sich, dem ich einfach nicht widerstehen kann. Vielleicht ist es sein friedvolles Lächeln, mit dem er mich immer wieder verzaubert, vielleicht auch sein freundliches Wesen. Ich habe unbewusst Angst, ihn zum Weinen zu bringen. Was es genau ist, kann ich gerade nicht sagen. Diese Entscheidung geschah so gestürzt, dass ich nicht einmal Kleidung zum Wechseln dabeihabe. Tja, meine abendliche Dusche zum Abschalten muss heute wohl ausfallen, denke ich mir und ziehe eine geliehene schwarze Sporthose an, die mir bis zu den Knien reicht. Obwohl Mike eine kleinere Statur hat, ist die Hose für meinen zierlichen Körper viel zu groß, und meine Oberschenkel wirken noch dünner als sonst. Das weiße T-Shirt mit Hulk-Aufdruck passt mir dagegen perfekt.
Die Sonne versinkt draußen in einem rötlichen Schimmer und bohrt sich langsam in die Erde. Mit ihr verstummen die Vögel, und die Grillen bereiten sich auf ihr nächtliches Konzert vor. Mike ist vor fünf Minuten aus dem Zimmer geschlichen, um sich im Bad bettfertig zu machen. Bei gedämpftem Licht schaue ich mich ein wenig in Mikes Zimmer um. Es ist groß, hat einen Schreibtisch, ein Bücherregal, in dem nur Comics und Superheldenfiguren stehen, einen dreitürigen Kleiderschrank mit einem großen Spiegel in der Mitte und eine Schlafcouch in einem blauen Stoffton. Ein blaugrüner Teppich in der Mitte des Zimmers ziert den Boden. Mehr Dekoration gibt es allerdings nicht. Weder Vorhänge, noch Pflanzen schmücken das Zimmer und es fehlt der wohnliche Charme. Typisch Mann, denke ich, während meine eisblauen Augen durch den Raum schweifen. Ein lautes Türknallen reißt mich aus meinen Gedanken. Ich blicke vorsichtig durch den Türspalt in den Flur. Eine große, dekorative Gestalt betritt den Flur und eilt mit schweren Schritten in die Küche
»Kaaaiiii, du Stinkmorchel, wo bist du? « Sein Geschrei lädt nicht gerade zu einer Begrüßungsrunde ein und so verstecke ich mich lieber weiter hinter der Tür und beobachte das Geschehen aus sicherer Entfernung. Ohne anzuklopfen, stößt der Neuankömmling die Tür auf.
»Du kleines Arschloch! Hast du dein verdammtes Handy nicht gehört, oder warum hast du mich da drin schmoren lassen? «, feixt der Neuankömmling mit den Schultern, zu einem Pferdeschwanz gebundenen schwarzen Haaren den halb verschlafenen Kai an und droht ihm allein mit seiner Stimme, an die Gurgel zu springen. Die Empörung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Ich versuche, den aufsteigenden Speichel so leise wie möglich hinunterzuschlucken und meine Atmung so flach wie möglich zu halten. Ich bin so leise, dass selbst mein Herz, das in meiner Brust schlägt, in meinem Kopf zu hören ist.