Fischland-Feuer - Corinna Kastner - E-Book

Fischland-Feuer E-Book

Corinna Kastner

4,3

Beschreibung

Auf dem Fischland steht ein Haus in Flammen, der Bewohner wird schwerverletzt und ohne Erinnerung gerettet. Amateurdetektivin Kassandra Voß glaubt nicht an einen Unfall. Steckt ein privates Drama dahinter oder das Bauprojekt, das die Fischland-Gemeinde derzeit in Atem hält? Da brennt es im entfernten Stralsund, und die Fäden verknüpfen sich unerbittlich …

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Corinna Kastner wurde 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich an der Ostsee am wohlsten. Besonders das Fischland inspiriert sie sowohl schriftstellerisch als auch fotografisch. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane– u.a. den Fischland-Roman »Die verborgene Kammer«(2009) sowie die beiden Küsten Krimis »Fischland-Mord«(2012) und »Fischland-Rache«

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. In diesem Roman tauchen viele Namen auf, die so oder ähnlich auf dem Fischland gebräuchlich sind. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig. Dieser Roman wurde vermittelt durch die AVA

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Corinna Kastner Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-782-6 Küsten Krimi Originalausgabe

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Für Günther– danke für deine Freundschaft

1

Kassandra saß am Kopfende der festlich gedeckten Tafel und bewunderte das blütenreine Weiß der Damasttischdecke und das edel geschwungene Porzellan mit dem meerestürkisfarbenen Muschelrand. Eine leichte Brise spielte mit ihren Haaren, die Sonne wärmte ihr Gesicht, unter ihren nackten Füßen kitzelte das weiche Gras ihre Sohlen. Ihr Blick glitt über die Klippe des Hohen Ufers, auf dem die Tafel aufgebaut war, hinüber zur See, die tiefblau und ruhig unter einem strahlenden Fischländer Himmel lag. Nur ab und zu wippten auf den kleinen Wellen Schaumkrönchen, weiß wie die Tischdecke. Von Glück und Wärme durchflutet schaute sie zurück zu ihrer Familie, die um den Tisch herumsaß und diesen perfekten Tag mit ihr teilte. Ihre Lippen formten schon ein Lächeln, da runzelte Kassandra irritiert die Stirn.

Etwas stimmte nicht. Plötzlich kreischte eine Möwe so laut, als flöge der Vogel nicht hoch über ihr, sondern ganz nah an ihr vorbei. Erschrocken fuhr sie zusammen und erfasste mit einem Mal, dass niemand hier lächelte– weil niemand einen Mund hatte. Auch keine Nase und keine Augen. Über sämtliche Gesichter hatte sich ein Schatten gelegt, wie sich Nebel, einem Schleier gleich, manchmal über See, Strand und Dünen legt. Sie drehte sich zur Seite, doch auch der Mann, der neben ihr saß, war gesichtslos. Panik ergriff sie, als sie erkannte, dass mit seinem Gesicht auch sein Name aus ihrem Gedächtnis getilgt worden war– ebenso wie all die anderen Namen all der anderen Menschen. Da war nur Leere. Die gleiche Leere wie in den formlosen Gesichtern.

Erneut hörte Kassandra die Möwe kreischen, noch lauter als eben. Am anderen Ende der Tafel stand ein Mann auf. Er hob abwehrend die Hände vors Gesicht, doch die Möwe, nein, ein ganzer Möwenschwarm, stürzte sich auf ihn. Noch immer die Hände vorm Gesicht, versuchte er, sich vor den Vögeln zu schützen, stolperte rückwärts unter dem Angriff der Möwen, deren Gekreisch Kassandra bis ins Mark drang. Der Mann tat einen letzten Schritt, sein Fuß traf auf die Abbruchkante, er riss die Arme in die Luft, die Möwen ließen von ihm ab– und in jenem Sekundenbruchteil, bevor er in die Tiefe stürzte, erkannte Kassandra sein Gesicht. Obwohl es ganz unmöglich war, spürte sie seine Berührung an der Schulter, so als wollte er sie mit sich hinunterziehen. Sie schrie, schlug um sich, doch sein Griff wurde stärker, sie kam nicht dagegen an.

»Kassandra«, rief eine Stimme. »Liebes, wach auf.«

Schweißnass und zitternd fand sich Kassandra aufrecht im Bett sitzend wieder. Sie brauchte eine Weile, bis sie begriff, wo sie war, und dass Paul sie mit besorgtem Blick musterte.

»Alles in Ordnung?« Nur zögernd ließ er sie los.

Kassandra sah sich blinzelnd in ihrem Schlafzimmer um. Paul hatte die Nachttischlampe angeknipst, die sanftes Licht verströmte. Der Raum wirkte ruhig, gemütlich und vor allem vollkommen ungefährlich. Sie holte tief Luft und fand langsam ihre Stimme wieder. »Ja. War nur ein Traum.«

»Hm«, machte Paul wenig überzeugt. »Seit du dich mit diesem Ahnenforschungszeug beschäftigst, hast du mir ein bisschen zu oft schlechte Träume. Als wir uns gerade kennengelernt hatten, hast du gesagt, du würdest nichts vermissen, weil du nichts über deine Familie weißt. Inzwischen frage ich mich, ob du es nicht dabei hättest belassen sollen.«

Bevor sie etwas erwidern konnte, drang von draußen ein unangenehmes Geräusch zu ihnen herein, das Kassandra entfernt an das Möwenkreischen aus ihrem Traum erinnerte. Tatsächlich war es ein Martinshorn, etwas, das man auf dem Fischland nicht gerade jeden Tag hörte. »Was ist da los? Wie spät ist es eigentlich?«

»Gleich Mitternacht. Klingt, als würde ein Einsatzfahrzeug die Thälmann-Straße runterfahren.«

Kassandra schlug die Bettdecke zurück und wollte aufstehen.

»Was hast du vor?«, fragte Paul.

»Nachsehen gehen.«

Paul berührte ihren Arm. »Was willst du nachsehen? Der Wagen könnte sonst wohin gefahren sein.«

»Aber wenn…«

Paul schüttelte halb amüsiert den Kopf und unterbrach sie. »Hier ist glücklicherweise seit Längerem kein Mord mehr passiert, den wir unbedingt hätten aufklären müssen. Ich gehe davon aus, dass sich daran auch heute Nacht nichts geändert hat, das war sicher nur ein Kranken-, kein Polizeiwagen. Leg dich wieder hin und versuch zu schlafen. Du musst morgen früh raus.«

Paul hatte recht. Kassandras Pension »Woll tau seihn« war voll belegt, die Gäste aus Zimmer drei hatten außerdem um ein sehr frühes Frühstück gebeten, weil sie einen Tagesausflug nach Hiddensee planten. Das Martinshorn war längst verklungen, sie hatte wohl nur wegen ihres Alptraums überhaupt an ein Verbrechen gedacht. Langsam sank sie ins Kissen zurück und kuschelte sich an Paul, nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte.

Obwohl der Traum mehr und mehr verblasste, konnte sie weder die Bilder von den gesichtslosen Menschen noch das Geräusch des Martinshorns ganz abschütteln. Es stimmte: Lange Zeit war alles ruhig gewesen, nachdem sie vor zwei Jahren kurz hintereinander gleich in zwei Mordfälle verwickelt worden waren. Durch den ersten hatten sie einander kennengelernt. Der zweite, wenige Monate später, hatte Paul persönlich betroffen: Sein Bruder Sascha war auf dem Hohen Ufer erschossen worden. Wahrscheinlich hatte sie schon länger unterschwellig an damals gedacht. Nur so konnte Kassandra sich erklären, warum es sich bei dem Mann, der in ihrem Traum die Abbruchkante hinuntergestürzt war, ausgerechnet um Sascha gehandelt hatte. Die Ursache lag also gar nicht bei ihrer Familie, sondern bei Pauls.

Sie drehte sich um, um ihn anzusehen. Es war dunkel, dennoch konnte sie seine Konturen erkennen, die lange Nase, sogar ganz schwach das Grübchen am Kinn. Hatte sie seit dem Beginn ihrer Ahnenforschung wirklich schon so oft schlecht geträumt? Sie erinnerte sich nicht, aber Paul mochte es das eine oder andere Mal mitbekommen haben, wenn sie unruhig schlief. Kassandra barg ihren Kopf in seiner Halsbeuge, schloss die Augen und spürte, wie Paul sie noch näher an sich heranzog. Da hörte sie es wieder– noch ein Martinshorn. Seit dem ersten waren kaum zwei Minuten vergangen.

Nun doch etwas beunruhigt, stand Paul auf, zog die Gardine vor dem Fenster zur Seite und öffnete es. »Es brennt!«

»Was? Bist du sicher? Die Sirene hat doch gar nicht angeschlagen«, sagte Kassandra entgeistert.

Die Sirene befand sich auf dem Dach des ehemaligen Kaiserlichen Postamtes, in dem heute das Haus des Gastes und die Kurverwaltung untergebracht waren. Wenn die losging, konnte man das nirgends in Wustrow überhören.

Während Paul sich hastig anzog, sagte er: »Keine Ahnung, woran das liegt. Dem Lichtschein nach zu urteilen, ist das Feuer drüben auf der Boddenseite ausgebrochen, vielleicht beim Hafen. Jonas’ Gartentor steht offen, er wird längst da sein. Wahrscheinlich kam das erste Martinshorn von unserer, das zweite von der Ahrenshooper Feuerwehr.«

Zwischen der Meldung eines Brandes und dem Ausrücken der Löschzüge lagen nur wenige Minuten. Wenn die Sirene auch nicht funktionierte, die Pieper, die alle Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr ständig bei sich trugen, taten es auf jeden Fall. Ihr Nachbar Jonas Zepplin war mit Sicherheit in Windeseile losgedüst. Kassandra hatte sich inzwischen ebenfalls angezogen, dabei immer wieder aus dem Fenster geschaut und in der Ferne den unnatürlich hell scheinenden Himmel gesehen.

Eilig verließen sie das Haus und nahmen den Brandgeruch wahr, der aus Richtung Südosten in die Lindenstraße herüberwehte. Ohne ein weiteres Wort liefen sie los. Sie wussten beide, was auf dem Spiel stand. Falls eines der Rohrdachhäuser in Brand geraten war und die Flammen auf weitere Gebäude übergriffen, käme das einer Katastrophe gleich, besonders da ausgerechnet diese Nacht etwas mehr als nur ein laues Lüftchen wehte und die Funken weit fliegen konnten. Jede Hilfe war willkommen. Das war sehr vielen Fischländern klar, denn außer ihnen waren noch mehr Menschen unterwegs.

»Hoffentlich ist mit Bruno alles in Ordnung«, murmelte Kassandra. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Paul die Lippen aufeinanderpresste.

Bruno Ewald lebte im Grünen Weg nahe dem Fischländer Hafen, genau in der Gegend also, wo sie das Feuer vermuteten. Er war ein sehr guter Freund– ursprünglich von Pauls verstorbenem Vater, aber ebenso auch von Paul und ihr selbst. Kassandra fischte ihr Smartphone aus der Jackentasche und tippte im Laufen seine Nummer an, doch niemand meldete sich. Bruno hatte kein Handy und sagte immer, er hätte siebenundsiebzig Jahre überlebt, ohne ständig erreichbar zu sein, das würde er die nächsten dreißig auch noch schaffen. Normalerweise schmunzelte Kassandra darüber, aber heute wünschte sie, er wäre gegenüber diesem »niemodschen Kram«, wie er es nannte, etwas aufgeschlossener. Sie schwor sich, ihm bei nächster Gelegenheit ein Handy zu schenken, ob er wollte oder nicht.

Mittlerweile hatten sie die Kirche erreicht, die auf dem Hügel am Ortseingang stand und, von allen Katastrophen unberührt, wie jede Nacht angestrahlt wurde. Nur dass das Licht Kassandra jetzt an das Feuer erinnerte. Von rechts erklang erneut eine Sirene, und Paul riss Kassandra zur Seite, als vom Kuhleger eine Polizeistreife heranbrauste und in die Hafenstraße fuhr. Sie folgten ihr und konnten den Feuerschein nun klarer sehen. Erleichtert registrierte Kassandra, dass der Brand zumindest nicht im Grünen Weg ausgebrochen war.

Sie kamen bis zum Abzweig zur Osterstraße. Ein paar Meter weiter, am Ende der Hafenstraße, wimmelte es von Fahrzeugen. Die Wustrower Feuerwehr hatte nicht nur Unterstützung aus Ahrenshoop, sondern auch aus Dierhagen bekommen. Kassandra zählte drei große Löschgruppenfahrzeuge, zwei Einsatzleitwagen und ein Tanklöschfahrzeug. Außerdem hatte sich der Streifenwagen dazugesellt, und ein Rettungswagen stand ebenfalls bereit.

»Es brennt bei Niklas«, sagte Kassandra erschrocken. Sie hatte Niklas Thiel vor einiger Zeit kennengelernt und verdankte ihm ihre Beschäftigung mit der Ahnenforschung. Ein einziges Mal nur war sie in seinem Haus gewesen, das er allein bewohnte. Viele Jahre lang hatte es heruntergekommen auf einem großen, wild wuchernden Grundstück gestanden und darauf gewartet, dass jemand wie Niklas kam und daraus ein Schmuckstück machte. Es war das letzte Haus der Hafenstraße, danach begann der Barnstorfer Weg, der in den Ortsteil Barnstorf mit seinen vier mittelalterlichen Gehöften führte, von denen eines die bekannte Wustrower Kunstscheune beherbergte.

Man musste es wohl Glück im Unglück nennen, dass Niklas’ rot verputztes Fachwerkhaus mit den einst hübschen hellblau bemalten Türen und Fensterläden weit von den Gehöften entfernt und relativ für sich stand. Es war tagelang trocken gewesen, kein Tropfen Regen war gefallen, was es dem Feuer, das lodernd den nachtschwarzen Himmel erhellte, noch leichter machte, sich durch alles hindurchzufressen. Es hatte bereits auf einen kleinen Schuppen, auf Bäume und Sträucher auf dem Vorplatz übergegriffen, und die Löschfahrzeuge verspritzen Tausende von Litern Wasser auf Haus und Grundstück, um der Flammen Herr zu werden und weiteres Unglück zu verhindern.

Zwischen all dem brennenden Chaos sah Kassandra, dass Feuerwehrmänner mit Atemschutzmasken einen Körper aus dem Haus trugen, um den sich die Rettungskräfte sofort kümmerten. War das Niklas? Von Jonas wusste Kassandra, wie schnell jemand bei einem Brand ums Leben kommen konnte– nicht notwendigerweise durch die Verbrennungen, sondern durch eine Rauchvergiftung. Es kam auf Minuten an. Sie konnte nur hoffen, dass Niklas nicht tot geborgen, sondern lebend gerettet worden war.

Einer der Männer, die gerade unter Einsatz ihres eigenen Lebens Niklas aus dem Haus geholt hatten, nahm seine Maske ab und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Kassandra erkannte Jonas, sein Gesicht wirkte unnatürlich hell in der Nacht, aber vielleicht kam ihr das auch nur so vor, weil sie Angst um den Freund verspürte. Schon hastete Jonas zurück zu seinen Kameraden. Kassandras Blick wanderte zu dem Rettungswagen, in dem Niklas jetzt lag. Die Türen schlossen sich hinter den Sanitätern, das Blaulicht warf gespenstische Schatten in die Umgebung. Die ersten Meter fuhr der Wagen langsam, dann heulte das Martinshorn auf, und auf der Hafenstraße nahm er schnell an Tempo zu. Immerhin hieß das wohl, dass Niklas noch lebte.

Kassandra merkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte. Als sie nach Atem rang, brannte es in ihren Lungen– heiß und stickig und knisternd wie das Feuer, wie scheinbar alles um sie herum. Die Flammen schossen nun von überall aus dem Haus– aus dem großen Loch, vor dem sich einmal eine schwere zweiflügelige Eingangstür befunden hatte, aus unzähligen Fenstern und dem Dach. In diesem Moment barst die Scheibe einer Balkontür – ein seltsam stilles Schauspiel, das Glas zersplitterte und fiel unter dem Zischen und Wummern des Feuers gänzlich lautlos zu Boden–, und die Flammen schossen nun auch aus dieser Wunde, die sie ins Haus gerissen hatten.

Noch nie war Kassandra Zeugin eines solchen Unglücks gewesen, niemals hatte sie meterhohe Flammen aus einem Gebäude schlagen sehen und flirrende Hitze auf ihrem Gesicht gespürt. Sie meinte sogar, ein winziges Brennen auf ihrer Wange wahrzunehmen, als hätte ein Funke sich bis hierher verirrt, obwohl der Wind in die entgegengesetzte Richtung wehte. Sie wischte den vermeintlichen Funken fort und registrierte zu ihrer Überraschung, dass ihre Wange feucht war. Sie weinte, ohne dass sie es bemerkt hatte, weinte vor Entsetzen ob dieser Sinfonie der Zerstörung.

Mit Kassandra und Paul standen noch weitere Menschen hier und betrachteten fassungslos das Schauspiel. Keiner ging nach Hause, jeder fühlte sich als Teil des Ganzen, bereit einzuspringen, falls irgendetwas getan werden konnte. Kassandra schob ihre Hand in Pauls und drückte sie. Wie schnell alles anders werden konnte, ein einziger Moment genügte, vielleicht ein Moment der Unachtsamkeit, vielleicht ein kleiner Funke, ausgelöst von einem Defekt in einer Leitung, oder vielleicht der kranke Gedanke eines Menschen, der gern zündelte. Sie wusste nicht, wie schwer Niklas’ Verletzungen waren, wie groß seine Chance zu überleben, aber diese Nacht würde auf jeden Fall sein Leben verändern.

Drüben beim Wustrower Einsatzleitwagen entdeckte sie jetzt den Wehrführer Matthias Wilke. Sie blinzelte, doch neben ihm stand tatsächlich Bruno. Wilke sagte etwas zu ihm, Bruno nickte und lief rüber zu einem der Männer aus Dierhagen. Kassandra stupste Paul an. »Deshalb konnten wir Bruno nicht erreichen. Was tut er da? Er bewegt sich zu dicht am Feuer!«

»Bruno weiß schon, was er macht«, beruhigte Paul sie. »Auch wenn er längst kein aktives Mitglied der Feuerwehr mehr ist, gehört er immer noch zur Ehrenabteilung. Niemand wird ihn davon abhalten zu helfen– und wenn er nur Kaffee und Brote an die Kameraden verteilt.«

»Trotzdem, er ist viel zu alt, um sich da rumzutreiben.«

Paul antwortete etwas, das Kassandra nicht verstand, weil gerade mit einem unglaublichen Getöse Teile des Dachstuhls in sich zusammenfielen. Die Menschen schrien auf, alles redete durcheinander. Waren noch Einsatzkräfte im Haus gewesen?

Es dauerte etwas, bis Entwarnung gegeben werden konnte. Ein Feuerwehrmann war durch einen herabstürzenden Balken leicht verletzt worden, er hatte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen können.

Die Männer gaben ihr Bestes, das Feuer unter Kontrolle zu bringen, und das durchaus erfolgreich. Inzwischen konnte man davon ausgehen, dass für Wustrow kein weiterer Schaden entstehen würde, sodass die meisten sich nun doch auf den Heimweg machten, aber Kassandra brachte das nicht fertig. Ihre besorgten Blicke huschten immer wieder von Bruno zu Jonas und blieben schließlich an den beiden Streifenpolizisten hängen, die aus ihrem Wagen gestiegen waren und das Geschehen genau wie sie und Paul verfolgten. Aus ihrer Unterhaltung hörte Kassandra heraus, dass die Beamten auf die Kollegen vom Kriminaldauerdienst Stralsund warteten, die den Brand zunächst untersuchen würden, sobald es möglich war, das Haus oder besser das, was davon noch übrig wäre, zu betreten.

Bevor Kassandra dem Gespräch weitere Informationen entnehmen konnte, kam Bruno heran. »Könnt ihr bei mir noch ein, zwei Kannen Kaffee kochen?« Damit drückte er Paul seinen Hausschlüssel in die Hand.

»Sicher«, sagte Kassandra. »Aber bevor wir gehen: Weißt du zufällig, wie es um Niklas Thiel steht?«

Bruno legte seine Stirn in Falten. »Keine Einzelheiten, aber er hat mit Sicherheit heftige Verbrennungen und eine schwere Rauchvergiftung. Er lag unter irgendetwas, und er sah nicht gut aus, als sie ihn abtransportierten– ich habe aber nicht mehr gehört, ob er ins Krankenhaus nach Ribnitz oder ins Universitätsklinikum Schleswig-Holstein nach Lübeck gebracht werden sollte. Vielleicht wird das auch in Ribnitz entschieden.«

»Lübeck?«, fragte Kassandra überrascht. »Das ist ziemlich weit, gibt’s denn in der Nähe keine Spezialklinik?«

»Es gibt in ganz Mecklenburg-Vorpommern kein Verbrennungszentrum.« Bruno schnaufte empört. »Und jetzt schmeißt meine Kaffeemaschine an, bitte.«

Eine Viertelstunde später kamen sie mit zwei Kannen und einigen Bechern zurück, schenkten ein und reichten zusammen mit Bruno den Kaffee herum. Noch zweimal wiederholten sie das, bis knapp drei Stunden nachdem sie das Haus verlassen hatten, das Feuer endgültig gelöscht war.

Als sie wieder in der Lindenstraße ankamen, schloss Kassandra im Vorbeigehen automatisch Jonas’ Gartenpforte. Er würde sicher auch bald nach Hause kommen. Dann warf sie einen Blick auf das andere Nachbarhaus, das ebenso dunkel dalag. Es gehörte ihrem Onkel Heinz Jung, der nicht zu Hause war. Durch ihn hatte sie Niklas kennengelernt. Sie würde ihm morgen früh – nein, verbesserte sie sich, heute früh– sagen müssen, was passiert war. Wäre Heinz zu Hause gewesen, hätte er sich ihnen angeschlossen, um nötigenfalls Hilfe zu leisten, doch er hatte am Abend in Rostock an einem Regionaltreffen mehrerer Sportschützenvereine teilgenommen und übernachtete dort. Da erst ging ihr auf, dass Niklas, der im selben Verein war wie Heinz, sich entschieden haben musste, das Treffen abzusagen.

»Wie gut kennen sich Heinz und Niklas eigentlich?«, wollte Paul wissen, der ihren Blick richtig interpretierte.

»Nicht übermäßig gut. Niklas ist erst seit ein paar Monaten im Verein. Heinz findet ihn ganz in Ordnung, aber mehr ist da nicht. Ich glaube, Niklas hat ziemlichen Respekt vor Heinz– was nicht nur daran liegt, dass Niklas rund zwanzig Jahre jünger ist.«

Paul grinste unwillkürlich. »Kann ich mir denken.«

Heinz gehörte eher nicht zu den zehn beliebtesten Bürgern Wustrows. Er konnte sehr schroff und kurz angebunden sein, war niemand, der mit jedem sofort Freundschaft schloss, und hatte in vielem eine sehr eigene Meinung, mit der er nicht hinterm Berg hielt. Als Kassandra nach Wustrow gezogen war, hatte sie keine Ahnung gehabt, dass sich ihr neuer Nachbar nicht nur als pensionierter Polizeihauptmeister, sondern auch als ihr Onkel entpuppen würde. Sie hatten vor allem wegen Heinz’ Granteligkeit einige ernsthafte Anlaufschwierigkeiten gehabt.

Auch Paul und Heinz waren sich viele Jahre lang geflissentlich aus dem Weg gegangen, aus privaten Gründen, aber auch aufgrund ihrer Differenzen in der Gemeindevertretung, der Heinz mittlerweile nicht mehr angehörte. Durch Kassandra waren die Männer schließlich Freunde geworden.

Im Hausflur ließ sie den Schlüssel in die kleine Muschelschale auf dem Schränkchen fallen. Irritiert schnupperte sie, dann ging ihr auf, dass sie und Paul nach Qualm und Rauch stanken. Der Geruch hatte sich in ihrer Kleidung und in den Haaren festgesetzt, und auf ihrer Haut lag ein grauer Film, sodass sie trotz der späten Stunde noch duschten. Als sie endlich im Bett lagen, war es beinah halb vier. Der Wecker würde um sechs klingeln, damit Kassandra für ihre Gäste pünktlich das Frühstück fertig hatte.

Zuerst dachte sie, sie könnte unmöglich einschlafen, so viel wirbelte in ihrem Kopf durcheinander, doch dann sackte sie dicht an Paul geschmiegt schnell weg.

2

Am nächsten Morgen öffnete Kassandra weit die Fenster des Schlafzimmers. Um sechs hatte sie den Wecker zwar gehört, ihn aber eine halbe Stunde später gestellt. Jetzt ging an einem schönen Septembertag gerade die Sonne auf, die Vögel in den Linden vor ihrem alten Kapitänshaus zwitscherten fröhlich vor sich hin. Kassandra gönnte sich einen längeren Blick in ihren Vorgarten auf die Stockrosen, deren grüne Stiele und weiße Blüten perfekt zu den grün-weißen Türen und Fensterläden passten. Später am Tag würden die Farben richtig strahlen und die Blicke der Spaziergänger auf sich ziehen. Nicht dass das hier in der Lindenstraße etwas Besonderes wäre. Ob die Türen nun blau, grün, braun oder gelb waren, eher schlicht mit Glaseinsätzen oder mit kunstvollen Ornamenten verziert, und die Kapitänshäuser aus rotem Backstein wie Kassandras oder weiß verputzt– jedes Haus weckte mit Recht die Bewunderung der Urlauber.

Alles sah friedlich aus, nichts erinnerte mehr an die Schrecken der letzten Nacht. Beinah nichts. Ein leichter Brandgeruch lag noch immer in der Luft, der Wind, wenn er auch schwächer geworden war, hatte nicht gedreht, sondern kam nach wie vor aus südöstlicher Richtung und trug so das Zeugnis des Feuers über das Fischland.

Kassandra schaute zu Jonas hinüber, wo in Haus und Garten noch alles ruhig war. Sie hatte nicht gehört, wann er nach Hause gekommen war, aber sie hoffte, dass er seinen Souvenirladen am Hafen heute einfach ein wenig später öffnen würde und für den Vormittag auch niemand eine Bootstour gebucht hatte. Jonas’ ganzer Stolz war sein Zeesboot, mit dem er für Urlauber Fahrten auf dem Saaler Bodden veranstaltete. Er liebte diese alten, traditionsreichen Fischerboote mit ihren rotbraunen Segeln und betrachtete es als großes Glück, eines davon zu besitzen.

Seufzend wandte Kassandra sich vom Fenster ab, um den Tag zu beginnen. Paul hatte das schon längst getan. Er war vor ihr aufgestanden, ohne sie zu wecken, lief wahrscheinlich gerade den Weg zum Hohen Ufer entlang und lenkte sich mit dem Ausblick auf die See, die Seebrücke und die Buhnen im sanften Morgenlicht ab.

Sie selbst ging bald darauf durch den Birkenweg und über den Platz mit der Alten Eiche zur Bäckerei Boldt, um Brötchen und Hörnchen für ihre Gäste zu besorgen. Dort war der Brand das vorherrschende Thema. Die Wustrower waren fassungslos, gleichzeitig spürte Kassandra aber auch eine allgegenwärtige Erleichterung darüber, dass die Flammen in Schach gehalten worden waren. Als sie zurückkam, bog gerade Heinz’ Wagen in die Lindenstraße ein und hielt vor dem Nachbarhaus. Sie wartete, bis ihr Onkel mit einer kleinen Reisetasche in der Hand ausstieg.

»Morgen, Kassandra. Ein Empfangskomitee wäre aber nicht nötig gewesen. Wie komme ich zu der Ehre?«

Heinz war ein guter Polizist gewesen, er konnte nach wie vor haarscharf beobachten und registrierte sofort, dass Kassandra ernst blieb. Außerdem stieg ihm zweifellos der Brandgeruch in die Nase. Seine linke Braue rutschte wie von selbst in die Höhe, eine Angewohnheit, die er nicht abschalten konnte. Diesmal wurde sein Gesicht unter dem weißen Igelhaarschnitt blass. »Wo?«, fragte er nur.

»Komm erst mal rein, ich mach dir einen Kaffee. Wie kommt’s, dass du schon so früh wieder hier bist?«

»Hör auf mit den Spielchen. Wo, hab ich gefragt«, gab Heinz unwillig zurück, folgte ihr jedoch ins Haus, wo sie auf dem Flur von den Bergers abgepasst wurden.

»Guten Morgen, Frau Voß. Können wir schon frühstücken?«

Das Ehepaar aus Dresden verbrachte bereits zum dritten Mal den Urlaub bei Kassandra, vor zwei Jahren hatten sie mit zu ihren ersten Gästen gehört, und nun musste sie sie enttäuschen. »Es tut mir leid, ich bin noch nicht ganz fertig, aber bitte setzen Sie sich doch schon mal ins Frühstückszimmer, der Kaffee kommt gleich.«

Während Kassandra in Windeseile Kaffee und Eier kochte und Aufschnitt, Käse, Marmelade und Brötchen auf ein Tablett stellte, berichtete sie Heinz, was passiert war. Er stand ohne ein Wort vom Küchenstuhl auf, nahm ihr das Tablett ab und brachte es hinüber zu den Bergers.

»Die sind versorgt«, stellte er bei seiner Rückkehr fest. »Wir haben uns gestern alle gefragt, wo Niklas Thiel bleibt.«

»Er hat also nicht abgesagt?«

Heinz schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe versucht, ihn zu erreichen, aber er ging nicht ans Telefon, und seine Handynummer hatte keiner.« Er starrte auf die einzelne weiße Rose, die in einer Glasvase auf dem Küchentisch stand. »Das war aber schon um acht. Wusste Bruno, wer die Feuerwehr alarmiert hat und wann?«

»Keine Ahnung, wir haben nicht darüber gesprochen, wer das war. Zum Wann kann ich was sagen: Wir haben etwa zehn Minuten vor Mitternacht ein Martinshorn gehört und kurz darauf ein zweites. Ich weiß nicht, wann der Brand ausgebrochen ist, aber da Niklas noch lebte, als sie ihn aus dem Haus holten, kann es nicht enorm viel früher gewesen sein.«

Heinz nickte abwesend und wühlte in seiner Reisetasche nach seinem Smartphone. Anders als Bruno hatte Heinz durchaus was übrig für technische Entwicklungen. »Möglich, dass Bruno die genauen Zeiten gar nicht kennt. Ich erkundige mich bei Jonas Zepplin, der weiß es ganz bestimmt.«

»Moment mal«, sagte Kassandra und legte ihre Hand auf Heinz’ Arm. »Du klingst schon so ermittelnd, Herr Polizeihauptmeistera.D.Glaubst du, da könnte was nicht stimmen?«

»Ich schlussfolgere nicht, ohne die Fakten zu kennen, aber ich finde es doch seltsam, dass Thiel gestern nicht aufgetaucht ist. Er hatte auf jeden Fall vorgehabt zu kommen.« Nachdenklich betrachtete Heinz sein Smartphone und steckte es wieder weg. »Ist zu früh, jemanden anzurufen, die waren alle die halbe Nacht auf den Beinen.«

»Niklas könnte es sich kurzfristig anders überlegt haben.« Kassandra warf eine Kapsel in die Kaffeemaschine und drückte auf den Knopf. »Vielleicht kam ihm was dazwischen, vielleicht hat er Besuch bekommen. Muss nichts mit dem Brand zu tun gehabt haben.«

»Muss nicht, könnte aber.« Dankbar nahm Heinz die Tasse entgegen und trank einen Schluck, nur um gleich darauf das Gesicht zu verziehen und sich reichlich an der Milch zu bedienen. »Von deinem Kaffee wachen Tote auf. Ich wünschte, du würdest diese Kapsel-Dinger entsorgen und für uns wie für deine Gäste althergebrachten Filterkaffee kochen.«

Alle Neuerungen waren dann doch nichts für Heinz. Kassandra lachte in sich hinein.

Laut sagte sie: »Hast du nicht gesagt, du schlussfolgerst nicht, ohne die Fakten zu kennen? Wieso bist du so misstrauisch?«

»Du meinst, das ist normalerweise dein Part?«, erwiderte Heinz. »Ich weiß es nicht. Nur so ein Gefühl. Niklas Thiel ist ein sehr gewissenhafter Mensch, das sieht man schon an der Art, wie er mit seiner Waffe umgeht. Der würde nicht einfach eine Kerze brennen lassen und dann rausgehen. Er raucht auch nicht, die Zigarette im Bett scheidet also ebenfalls aus.«

»Und wenn es ein Kurzschluss war oder sonst ein Defekt?« Kassandra hatte sich ebenfalls einen Kaffee gemacht und setzte sich zu Heinz, der trotz ihrer logischen Einwände skeptisch guckte.

»Möglich ist alles, aber wenn ich sage ›gewissenhaft‹, meine ich das in jeder Hinsicht. Ich möchte wetten, dass er sein Haus bestens in Schuss hält, obwohl ich nie da war. Das schließt einen Defekt natürlich nicht zwangsweise aus. Trotzdem… Habt ihr euch eigentlich oft getroffen wegen der Ahnenforschungssache?«

Kassandra musste bei seinen Worten unwillkürlich an den Tag denken, an dem ihr Niklas Thiel vor Heinz’ Tür das erste Mal begegnet war. Er hatte Heinz vom Schießen nach Hause gefahren, weil dessen Auto in der Werkstatt stand. Sie waren schnell ins Gespräch gekommen, und Niklas hatte so begeistert von seinem »Ahnen-Projekt« gesprochen, dass Kassandra sich zum ersten Mal ernsthaft überlegt hatte, in ihrer eigenen Familiengeschichte zu graben– zumindest auf der Seite ihrer Mutter. Von ihrem leiblichen Vater kannte sie nicht einmal den Namen, sie trug den ihres seit langer Zeit verstorbenen Adoptivvaters und wusste gar nichts über ihren Erzeuger.

Das hieß, fast nichts. Nachdem der Mord an Pauls Bruder Sascha aufgeklärt worden war, hatte Kriminaloberkommissar Kay Dietrich, den Kassandra bereits durch den ersten Mordfall in Wustrow kennengelernt hatte, in Saschas Hinterlassenschaft eine sehr kryptische Notiz gefunden, die ihren Vater betraf. Dietrich hatte Kassandra erst einige Zeit später und auch nur zögernd davon in Kenntnis gesetzt. Wahrscheinlich hatte er dasselbe befürchtet wie sie, nämlich dass ihr unbekannter Erzeuger in ähnlich dubiose Machenschaften verwickelt gewesen sein könnte wie Sascha. Und dann doch lieber gar keinen Vater. Jedenfalls verzichtete Kassandra auf alle diesbezüglichen Recherchen und beschränkte sich lieber strikt auf ihre Familie mütterlicherseits.

Heinz war mit der Schwester von Kassandras Mutter verheiratet gewesen – die beide nicht mehr am Leben waren– und konnte einige Dokumente beisteuern. Andere hatte sie von dem Teil ihrer Verwandtschaft bekommen, der nach Kanada ausgewandert war. Aber es lag immer noch viel im Verborgenen, daher war es kein Wunder, dass ihr die Gesichter ihrer Familie im Alptraum der vergangenen Nacht als formlose Schatten erschienen waren.

All das ging Kassandra im Kopf herum, während sie an ihrem Kaffee nippte, sodass Heinz seine Frage, ob sie Niklas häufig getroffen habe, wiederholen musste.

»Zwei Mal. Beim ersten Mal waren wir im ›Swantewit‹, da hat er mir die Geschichte seines Urgroßvaters erzählt, der aus Lettland stammte und Bernsteinkünstler gewesen ist. Niklas weiß eine Menge über Bernsteinschmuck, alte Uhren, Münzen und Medaillen. Diese Faszination muss sich wohl über die Generationen hinweg vererbt haben. Sein Vater hat in einem Museum gearbeitet, glaub ich.«

Heinz’ linke Braue rutschte augenblicklich nach oben. »Von diesem Interesse hatte ich keine Ahnung. Besitzt er was entsprechend Wertvolles?«

»Du glaubst, da könnte ein Motiv liegen? Er hat nichts dergleichen erwähnt. Als ich bei unserem zweiten Treffen in seinem Haus war, lag auch nichts offen herum, und ich habe eine Besichtigungstour vom Keller bis zum Dach bekommen. Du hast übrigens recht: Es sah alles nicht nur sehr schön, sondern auch tipptopp in Ordnung aus. Ähnlich wie in Pauls Haus gab es neben einem bis zum Dach hin offenen Wohn- und Essbereich nur noch eine Galerie mit einer kleinen Bibliothek und einem Schlafzimmer. Und überall Fachwerkgebälk, an einem der Balken habe ich mir eine Beule geholt. Bestimmt konnte sich das Feuer durch das Fachwerk besonders schnell ausbreiten.«

Heinz nickte. »Hat er dir noch mehr von seiner Familie erzählt, von anderen Verwandten?«

»Nein. Nachdem ich sein Haus bewundert hatte, haben wir vor seinem Laptop gesessen. Er hat mir erklärt, wie man im Internet Ahnenforschung betreibt, und mir gefühlte tausend Webseiten dazu gezeigt. Wieso fragst du?«

»Familie kann ein zweifelhaftes Vergnügen sein«, stellte Heinz vielsagend fest. »Vielleicht hat Thiel im Zuge seiner Recherchen was rausgefunden, von dem jemand nicht wollte, dass er es weiß?«

Kassandra ließ sich das durch den Kopf gehen. »Wär möglich.«

»Na, ihr seid ja schon wieder mittendrin«, erklang Pauls Stimme von der Tür. »Morgen, Heinz. Wer hat angefangen mit dem Spekulieren?« Eine graue Haarsträhne klebte an seiner Stirn, ansonsten sah man ihm nicht an, dass er gerade mehrere Kilometer gelaufen war. Er war nicht mal außer Atem, eine Tatsache, die Kassandra jedes Mal aufs Neue verblüffte. Wenn sie nur von hier bis zum »Swantewit« lief, dem Restaurant an der Seebrücke, in dem sie mit Niklas zu Abend gegessen hatte, musste sie sich fünf Minuten ausruhen.

»Ich«, gab Heinz zu.

»Dann freut es dich sicher, dass ich ein paar Informationen habe. Ich geh mich nur eben umziehen.«

Während sie warteten, kümmerte sich Kassandra um die Gedecke für ihre übrigen Gäste, sodass sie sich bei Pauls Rückkehr ungestört unterhalten konnten.

»Von wem hast du denn so früh schon was Neues erfahren?«, wollte Kassandra wissen.

»Violetta.« Paul griff in die Brötchentüte, die Kassandra für ihr eigenes Frühstück mitgebracht hatte, und langte nach einem Hörnchen.

»Hätte ich mir denken können.«

Kassandras Freundin war dafür berüchtigt, sehr oft über sehr viel sehr schnell informiert zu sein. Außerdem joggte Violetta ebenso frühmorgens wie Paul, sie begegneten einander häufiger auf dem Hohen Ufer.

»Sie kennt die Schwägerin von Matthias Wilke«, erklärte Paul, der zweifelnd das Hörnchen betrachtete. Er entschied, doch keinen Hunger zu haben, und legte es zurück. »Die Schwägerin wiederum hatte keine Skrupel, Matthias auszuquetschen, als er in der Frühe nach Hause kam.«

»Und Violetta Grabe hatte keine Skrupel, die Schwägerin auszuquetschen«, mischte sich Heinz ein. »Du weißt also, wann der Brand ausbrach und wer ihn gemeldet hat?«

»Wann er ausbrach, konnte Matthias nicht genau sagen. Gemeldet hat ihn Frau Herrmann. Sie war mit ihrem Hund draußen, hat die Flammen gesehen und um dreiundzwanzig Uhr sechsundvierzig die112 gewählt.«

»Hildegard Herrmann«, sagte Heinz nachdenklich. »Die ist pünktlich wie die Maurer und ändert anscheinend niemals ihre Gewohnheiten. Vor Jahren hab ich sie mal als Zeugin bei einem Einbruch befragt, da hat sie mir erzählt, dass sie jeden Abend um elf mit ihrem Hund das Haus verlässt, die Neue Straße entlanggeht, in die Hafenstraße einbiegt, den Barnstorfer Weg bis zum Feuerherd hochgeht und anschließend dieselbe Strecke wieder zurück. Wenn sie den Brand um Viertel vor zwölf gemeldet hat, war sie schon auf dem Rückweg. Auf dem Hinweg kann es demnach noch nicht gebrannt haben, selbst wenn sich der Brandherd an einer Stelle befand, die sie von der Straße aus nicht einsehen konnte. Bis zu ihrem Anruf wäre zu viel Zeit vergangen, und Niklas Thiel hätte nicht gerettet werden können.«

Während Heinz sprach, dachte Kassandra über das fast unheimliche Zusammentreffen zweier ähnlich klingender Worte nach: Brandherd und Feuerherd. Natürlich war es Zufall, dass Hildegard Herrmann jeden Abend ausgerechnet bis zu dem alten Birnbaum ging, der schon Mitte des 18.Jahrhunderts urkundlich erwähnt wurde. Warum man diese Stelle, an der früher auch der Ankerplatz der Zeesen gewesen war, Feuerherd nannte, wusste Kassandra nicht, aber es jagte ihr trotzdem einen Schauer den Rücken hinunter.

»Es wäre interessant zu erfahren, ob Frau Herrmann auf dem Hinweg etwas aufgefallen ist«, sagte sie. »Ein fremdes Auto oder andere späte Spaziergänger zum Beispiel.«

»Das wird die Polizei sie sicher fragen, falls sich herausstellt, dass es bei dem Brand nicht mit rechten Dingen zuging«, meinte Paul. »Falls.«

»Zweifellos.« Heinz holte tief Luft. »Ich weiß auch nicht, warum ich mir den Kopf über ungelegte Eier zerbreche.« Er stand auf. »Danke für den Kaffee, ich geh dann jetzt mal rüber.«

Kassandra erhob sich ebenfalls und begleitete ihn hinaus. Anfangs war sie genauso skeptisch gewesen wie Paul, ob sie es hier mit einem Verbrechen zu tun hatten. Aber für gewöhnlich hatte Heinz einen guten Riecher.

Wo immer Kassandra im Laufe dieses Tages hinkam– das Feuer blieb Thema Nummer eins, ob in der »Bücherstube«, beim »nah& frisch« oder bei »Haui’s Fisch& mehr«. Als sie dort gerade vor der Fischtheke stand, fing plötzlich gegenüber auf der anderen Straßenseite die Sirene, die in der Nacht nicht angeschlagen hatte, zu heulen an. Kassandra schrak zusammen, aber es war schnell klar, dass es sich nur um einen Probelauf nach der Reparatur handelte. Die Sirene funktionierte ganz offensichtlich wieder, und zumindest war so eines der Rätsel der letzten Nacht geklärt. Dagegen wurde weiterhin spekuliert, wie es zu dem Brand gekommen sein mochte– und jeder wollte wissen, wie es Niklas ging, selbst diejenigen, die ihn gar nicht kannten.

Niklas war kein Fischländer. Er kam ursprünglich aus Leipzig, lebte aber schon seit Ewigkeiten in Mecklenburg und war schlussendlich vor drei, vier Jahren von Ribnitz nach Wustrow gezogen. Obwohl Ribnitz nur zwanzig Kilometer entfernt in unmittelbarer Nähe lag, würde aus Niklas niemals ein Fischländer werden. Niemand wurde das, der nicht hier geboren war oder besser noch mindestens in der vierten Generation hier lebte. Den meisten »Neuzugängen« machte das nichts aus, weil sie dennoch herzlich aufgenommen wurden. Aber es gab auch welche, die das Fischland wieder verließen– wie zum Beispiel der Bankmanager, der sich die riesige Villa direkt hinterm Deich hatte bauen lassen. Über dreihundert Quadratmeter Wohnfläche, entworfen von einem Star-Innenarchitekten. Im Souterrain gab es Sauna und Pool und einen klimatisierten Weinkeller. Das Haus prunkte mit mehreren Terrassen, einem großartigen Rohrdach und darin eingelassenen Fenstern, aus denen man den freien Blick auf die See genießen konnte, und um diesen Traum herum lag ein herrliches Grundstück. Aber der Manager war hier nicht glücklich geworden, er hatte Wustrow wieder den Rücken gekehrt.

Kassandra ging mit ihren Einkaufstüten den Deich entlang und sah auf das Anwesen hinunter, das nun als mittlerweile drittem Besitzer dem Bauunternehmer Harald Barthel gehörte, Niklas’ Boss. Einen Augenblick lang blieb sie stehen und dachte darüber nach, dass Barthel mit Sicherheit schon erfahren hatte, was mit seinem Angestellten passiert war. Wusste er auch, wie es ihm inzwischen ging? Sie hatte nach dem Frühstück bei den Bodden-Kliniken in Ribnitz angerufen, wo es keinen Patienten namens Niklas Thiel gab. Danach hatte sie es in Lübeck bei der Intensiveinheit für Schwerbrandverletzte versucht, wo man ihr immerhin bestätigte, Niklas aufgenommen zu haben– mehr aber auch nicht. Sie waren ja nicht verwandt, nicht mal eng befreundet. Dabei fiel Kassandra ein, dass Niklas niemals wirklich enge Freunde erwähnt hatte, selbst dann nicht, als sie ihn gefragt hatte, was er abgesehen von der Ahnenforschung und dem Schießverein sonst noch so mache.

Er war anscheinend kein besonders umtriebiger Mensch, dafür hatte er erzählt, dass er stundenlang Jazzkonzerte hören konnte, ganz für sich allein. Kassandra wollte schon ihren Weg fortsetzen, da klingelte ihr Smartphone. Heinz’ Name leuchtete auf dem Display auf.

»Kannst du dich an die Namen der beiden Polizisten erinnern, die letzte Nacht vor Ort waren?«, fragte er. »Die müssten vom Revier in Ribnitz gewesen sein.«

Kassandra überlegte. »Ich glaube, einer hat den anderen mit Jens angeredet.«

»Spillerig, groß und blond?«

»Kommt hin. Willst du bei den Exkollegen nachhaken, ob sie schon was Genaueres wissen?«

»Wäre einen Versuch wert. Jens Deichmüller fing allerdings erst an, kurz bevor ich in Pension ging, der kennt mich nicht gut genug und wird mir wohl nichts sagen. Wie sah der andere aus?«

Kassandra beschrieb ihn aus der Erinnerung, sodass Heinz ihn am Ende als Polizeiobermeister Klemke identifizierte, was ihn aber auch nicht begeisterte. »Der kennt mich leider zu gut. Egal, ich beiß in den sauren Apfel und kann nur hoffen, dass er nicht nachtragend ist.«

»Nachtragend?«

»Vergiss es. Längere Geschichte.« Damit beendete Heinz das Gespräch.

Kassandra nahm die Tüten wieder auf und ging weiter zu Pauls Haus, das ebenfalls einen wundervollen Blick auf die See bot, allerdings ansonsten nicht mit Barthels Anwesen zu vergleichen war. Sie und Paul teilten sich das Wohnen auf, waren mal bei ihr und mal bei ihm. Heute Abend wollte Paul kochen, weswegen sie bei Haui Zander und im kleinen Lebensmittelmarkt schräg gegenüber Kräuter, Knoblauch und Zitrone gekauft hatte. Jonas, dessen Freundin Marlene, Bruno und Heinz kamen zum Essen– ein gemütliches Zusammensein nach der Schreckensnacht, obwohl sich Kassandra darüber im Klaren war, dass das Feuer diskutiert werden würde.

Paul speicherte gerade sein Manuskript ab, als Kassandra die Tür aufschloss. Als Schriftsteller feierte er mit seinen Romanen über die See und die Menschen, die an ihr und auf ihr lebten, große Erfolge. Diese Bücher, die er unter dem Pseudonym Alexander Hardenberg veröffentlichte, lagen ihm besonders am Herzen. Dennoch probierte er es diesmal mit einem anderen Genre und stand kurz vor dem Abgabetermin seines ersten Thrillers. Er war ein bisschen nervös– sowohl was die Reaktionen des Verlages als auch später die der Leser anging.

Er bemerkte, dass Kassandra etwas beschäftigte, während sie ihre Einkäufe auspackte, und interpretierte ihre Miene richtig. »Du teilst Heinz’ Meinung über den Brand«, stellte er fest.

»Er hatte ein paar stimmige Argumente, was Niklas’ Gewohnheiten angeht, und vielleicht kann er ja Näheres zur Brandursache erfahren.« Sie erzählte von Heinz’ Vorhaben und sah Paul dabei zu, wie er begann, die Zitronen auszupressen. »Weißt du, was ich mich gefragt habe, als ich das eine Mal bei Niklas zu Hause war?«, wollte sie wissen.

»Wie er sich die Sanierung leisten konnte? Ich nehme an, er verdient nicht schlecht bei der BOB«, meinte Paul und hackte die Kräuter und den Knoblauch. »Hast du nicht gesagt, Niklas sei da Leiter des Controllings? Wichtiger Job, Zusammenarbeit mit der obersten Führungsebene– sprich: mit Barthel persönlich. Der wird ihn anständig bezahlen.«

»Bestimmt tut er das.«

Die BOB, eigentlich »Barthel Ostsee-Bau«, war eins der größten Bauunternehmen in der weiteren Umgebung. Die Firma hatte ihren Sitz in Ribnitz, konnte aber problemlos Konkurrenten in Stralsund, Rostock, Schwerin und sogar Berlin ausstechen und hatte schon Aufträge aus dem ganzen Bundesgebiet und dem Ausland erhalten. Harald Barthel selbst lebte seit anderthalb Jahren zurückgezogen in der Villa hinterm Deich und nahm nicht am Dorfgeschehen teil, dennoch glaubte niemand, dass er so bald wieder wegziehen würde.

»Nur– Niklas ist rausgerutscht, was er für das Grundstück bezahlt hat. Ich weiß außerdem, wie viel Geld ich in mein Haus gesteckt habe, daher kann ich mir ungefähr ausrechnen, was eine Kernsanierung seiner Ruine gekostet hat. Mehr als eine Ruine war das ja damals nicht, nach allem, was ich so gehört habe.«

»Du glaubst, so viel kann er bei Barthel nicht verdienen?« Paul legte den Zander in die Marinade und stellte die Schüssel in den Kühlschrank. Der Fisch würde eine Weile ziehen müssen. »Der Mann muss sehr viel Geld haben. Immerhin finanziert er quasi nebenbei auch noch zum Teil die Sonnenseitee.V., und da kriegt er nichts raus. Wenn es mal nicht so gut läuft mit den Spenden, zahlt er sogar drauf. Barthel hat zweifellos eine soziale Ader, also bezahlt er seine Mitarbeiter vielleicht auch überdurchschnittlich gut.«

Kassandra verzog amüsiert das Gesicht. »Wusste gar nicht, dass du eine so hohe Meinung von ihm hast. Klingt ja fast, als würdest du ihn bewundern.«

»Für das, was er tut, ja, jedenfalls soweit ich es beurteilen kann. Persönlich weniger. Er war mir sogar ziemlich unsympathisch, als er zum ersten Termin mit den Gemeindevertretern kam.«

Harald Barthel bewarb sich um das Bauprojekt »Ehemalige Seefahrtschule«, das mal wieder aktuell war. Die Reste des Gebäudes– eine Ruine, wie es Niklas’ Haus gewesen war, nur ungleich größer– standen seit der Schließung des Fischländer Teils der Ingenieurhochschule für Seefahrt Warnemünde/Wustrow im Jahr 1992 leer, und es hatte im Laufe der Jahrzehnte viele Nachnutzungspläne gegeben, die allesamt schon im Vorfeld gescheitert waren. Zuletzt vor zwei Jahren, eine Planungsphase, an der auch Heinz beteiligt gewesen war. Mittlerweile hatte man den Denkmalschutz des Gebäudes teilweise wieder aufgehoben, sodass nur noch der Turm unverändert stehen bleiben musste. Barthel sah in seiner Bewerbung vor, den ganzen Rest abzureißen und auf dem Gelände ein modernes Erholungsheim für Kinder aus sozial schwachen Familien zu errichten, das dann von Sonnenseitee.V.unterhalten werden würde.

Der gemeinnützige Verein, dessen Vorsitzender Barthel war, finanzierte sich ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden und durfte keinen Gewinn erzielen. Deshalb gab es trotz dieser Vernetzung keinerlei Vorbehalte. Selbst die BOB würde keinen Gewinn machen. Das Konzept war so knapp kalkuliert, dass die Fördergelder, das Geld der Gemeinde sowie weitere Gelder der bereits von Barthel rekrutierten zwei Investoren die Unkosten der BOB gerade so eben abdeckten.

»Inwiefern denn unsympathisch?«, wollte Kassandra ob so viel Wohltätigkeit wissen.

Paul zuckte mit den Schultern. »Sehr geschäftsmäßig, kein einziges privates Wort, nicht mal übers Wetter. War natürlich sehr effizient, null Zeitverschwendung, aber der Mann kam mir kalt vor. Ich weiß nicht, ob ich mit so jemandem zusammenarbeiten könnte. Hat Niklas mal Näheres erzählt über Barthel und die Firma?«

»Nichts Besonderes. Ich schätze, dass Controlling weniger seine Berufung als sein Job ist.«

»Könnte ich nicht«, murmelte Paul und linste hinüber zu seinem Notebook, dessen Bildschirmschoner die Seebrücke in allen Variationen zeigte– sturmumtost, mit Eiszapfen behangen, von Gischt besprüht oder in sanftem Sonnenlicht. Zwischendrin hatte sich auch ein Foto hineingemogelt, auf dem Bruno mit seiner Angel am Brückenkopf stand. Es waren Kassandras Bilder, sie liebte das Fotografieren und hatte vor einigen Monaten eine erste Ausstellung in einer Ahrenshooper Galerie gehabt. Eine weitere war für das nächste Jahr geplant, in Zusammenarbeit mit Paul, der für ihre Bilder die Texte schreiben würde. Sein Blick zu seinem Laptop machte Kassandra deutlich, was er gemeint hatte: Schreiben war seine Leidenschaft. Er hatte das zwar erst spät für sich entdeckt, konnte sich aber nicht mehr vorstellen, seinen Lebensunterhalt mit etwas zu verdienen, das er nicht mit Leib und Seele tat.

»Geh ruhig noch an deinen Text«, meinte Kassandra, »sonst hast du doch keine Ruhe.«

Sie zog sich mit einem Buch in die Sofaecke zurück, bis es eine Stunde später dreimal kurz hintereinander an der Tür klingelte.

Während Paul den Fisch briet und Kassandra den schon vorbereiteten Salat auftischte, redeten alle, als hätten sie es verabredet, über vieles, nur nicht über das Feuer. Erst beim Essen fing Marlene, die heute von einer Konferenz zurückgekommen war und von der Aufregung daher genau wie Heinz nichts mitbekommen hatte, davon an.

»Ich weiß ja, dass die Freiwillige Feuerwehr wichtig ist und jemand das machen muss– und ich bin stolz auf dich. Aber ich wäre trotzdem gestorben vor Angst, wenn ich hier gewesen wäre«, sagte sie zu Jonas und schob sich ihre langen braunen Haare aus dem Gesicht. »Wie kannst du da reingehen und keine Angst haben?«

Jonas lächelte. »Wer sagt, dass ich die nicht habe? Nur denkst du in dem Moment, wo du tust, was zu tun ist, einfach nicht darüber nach. Oder was sagst du, Bruno?«

Bruno nickte. »Anders geht’s nicht. Ich hab früher auch den einen oder anderen aus den Flammen geholt, aber gestern war es wohl besonders heikel.«

»Ja. Niklas Thiels Beine lagen unter einem schweren brennenden Fachwerkbalken. Den zu löschen und wegzuzerren war nicht ganz leicht. Ein kleinerer Schrägbalken hatte ihn außerdem am Kopf getroffen. Ob er davon oder schon vorher von der Rauchvergiftung ohnmächtig wurde, kann ich nicht sagen. Ich bin kein Arzt, aber ich schätze, an den Beinen hat er Verbrennungen zweiten und dritten Grades. Hinzu kommen sicher diverse Knochenbrüche, nicht nur an den Beinen übrigens, was ich merkwürdig fand. Auch sein linker Arm ist mit ziemlicher Sicherheit gebrochen.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen angesichts dieser Schilderungen. Bis Heinz sich räusperte. »Ist Ihnen sonst noch was Merkwürdiges aufgefallen?«

Jonas’ Brauen rutschten fast so augenblicklich in die Höhe, wie das sonst bei Heinz der Fall war. »Gibt es einen besonderen Grund, das zu fragen? Vermuten Sie ein Verbrechen?«

»Ich habe keinerlei konkreten Hinweis auf etwas anderes als einen Unfall, aber ich kann mir nicht helfen. Nennen Sie es Bauchgefühl. Ist Ihnen also was aufgefallen?«

Jonas starrte einen Moment lang nachdenklich auf seinen Zander, vermutlich jedoch sah er wieder das brennende Haus, den Balken und Niklas darunter. »Nein. Außer… aber das ist Blödsinn, das kann sonst welche Ursachen haben.« Sein Blick verlor sich in unbestimmter Ferne hinter Heinz’ rechter Schulter.

»Was?«, hakte der nach.

»Als wir Niklas Thiel fanden, habe ich kurz nach oben gesehen, weil ich mich gefragt habe, wo der Balken herkam, unter dem er lag. Auf der Galerie stand ein sehr kleiner Teil der Bibliothek noch nicht in Flammen, und der sah unordentlich aus. Durchwühlt.«

»Vielleicht hat er dort vor dem Brand nach was gesucht?«, warf Bruno ein.

Jonas zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer. Genauso wenig, wie ich Arzt bin, bin ich Spurensicherer bei der Polizei. Wenn was merkwürdig an dem Brand war, werden die das inzwischen rausgefunden haben.«

»Du wolltest doch diesen Obermeister Klemke fragen«, wandte sich Kassandra an Heinz. »Kannte der schon die Ermittlungsergebnisse vom Kriminaldauerdienst in Stralsund?«

»Besonders mitteilungsfreudig war Kollege Klemke nicht«, erwiderte Heinz. »Jedenfalls war es kein technischer Defekt. Stattdessen deuten alle Spuren darauf hin, dass Niklas Thiel oben auf der Galerie vor den Bücherregalen auf einer Trittleiter eine Stufe übersah oder ohnmächtig wurde, über das Geländer fiel und beim Aufprall auf dem Boden brennende Kerzen umstieß. Und das war es dann.« Er sah zu Jonas. »Durch den Sturz hat er sich wahrscheinlich den Arm gebrochen, das zumindest ist also kein Rätsel. Alles in allem hatte Thiel verdammtes Glück, dass Frau Herrmann vorbeikam.«

Heinz richtete den Blick wieder auf Kassandra und Paul und ergänzte: »Mit der habe ich übrigens auch gesprochen, und wie es der Zufall so will, hat sie ausgerechnet gestern doch mit ihrer Gewohnheit gebrochen und zunächst einen anderen Weg genommen. Was bedeutet, dass sie nicht sehen konnte, was sich eine halbe Stunde früher vielleicht dort abgespielt hat. Behauptet sie jedenfalls.«

»Zweifelst du an ihren Worten?«, fragte Paul.

»Bin mir nicht ganz sicher«, sagte Heinz. »Ich wüsste zu gern, warum sie gerade gestern einen anderen Weg gegangen ist. Leider habe ich nicht mehr aus ihr rausgekriegt.«

»Die Polizei wird doch auf dem Grundstück und drum herum nach ungewöhnlichen Spuren gesucht haben«, meinte Paul.

Jonas schaute skeptisch. »Ich glaube nicht, dass da draußen nach unserer Löschaktion und den ganzen Reifenspuren unserer Fahrzeuge, ganz zu schweigen von den vielen Leuten, die da rumgetrampelt sind, noch viele verwertbare Spuren zu finden waren. Warum sollte die Polizei außerdem danach suchen, wenn sie von einem Unfall ausgeht, auf den es ja anscheinend genügend Hinweise gab?« Er sah Heinz an. »Wieso überzeugt Sie nicht, was die Kripo sagt? Wenn Thiel ohnmächtig wurde, kann das doch alles gut möglich sein.«

»Klemke sagte, im Krankenhaus hätte man so viel Alkohol in Thiels Blut gefunden, dass er vermutlich nicht mehr in der Lage war, gerade zu gehen. Und das«, er machte eine bedeutungsvolle Pause, »passt nun gar nicht zu dem Niklas Thiel, den ich kenne.«

Marlene, die generell ein ruhiger Mensch war, was im krassen Gegensatz zu dem schweren Motorrad zu stehen schien, das sie fuhr, schaltete sich erstmals wieder ins Gespräch ein. »Wie gut kennen Sie Niklas Thiel denn?«

»Gut genug, um zu wissen, dass er kein Trinker ist«, sagte Heinz scharf, woraufhin Marlene leicht zusammenzuckte. In gemäßigtem Ton erklärte er: »Niklas Thiel hat niemals auch nur einen Schluck Alkohol getrunken, nicht mal ein alkoholfreies Bier, wenn wir ein Vereinstreffen hatten. Kassandra? Wie hast du ihn erlebt?«

»Genauso«, stimmte sie zu. »Er hat im ›Swantewit‹ Wasser und zu Hause Vita-Cola getrunken. Ich habe sogar einen Blick in seinen Kühlschrank werfen können, weil er mich bat, mich selbst zu bedienen, es stand nichts Alkoholisches drin.«

»Heißt aber nicht, dass er wirklich nie was trank«, wandte Jonas ein. »Es soll ja Quartalssäufer geben, die sich lange Zeit im Griff haben und dann plötzlich kein Halten mehr kennen.«

»Nicht Niklas«, sagte Kassandra. »Er hat mir von seinem Vater erzählt– der ist trockener Alkoholiker. Vor Jahrzehnten muss das eine Zeit lang schlimm gewesen sein, ihr hättet Niklas’ Gesicht sehen sollen, als er davon geredet hat.«

»Das sollte die Polizei wissen«, meinte Paul. »Heinz?«

»Ich habe Klemke schon gesagt, für wie unwahrscheinlich ich das halte. Hat ihn wenig beeindruckt, aber Kassandras Informationen könnten ihn vielleicht dazu bewegen, das an die Stralsunder Kollegen weiterzugeben. Ich kümmer mich.«

Zwei Stunden später machten Kassandra und Paul klar Schiff in der Küche. Kassandra bedauerte, dass Pauls köstlicher Zander und die Rosmarinkartoffeln in der Diskussion über den Brand etwas untergegangen waren, aber immerhin war der Rest des Abends weitgehend anderen Themen gewidmet gewesen. Paul schmunzelte über ihre Bemerkung.

»Lass mal, meine Kochkünste sind genug gewürdigt worden. Außerdem ist mir was eingefallen, als Heinz Frau Herrmann erwähnte. Wir sollten sie mal besuchen– vielleicht ist sie mir gegenüber etwas aufgeschlossener.«

Kassandra, die gerade die gusseiserne Pfanne im Schrank verstauen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Müsste ich da was wissen?«, fragte sie grienend. Frau Herrmann war siebzig, hatte fünf Enkelkinder und den Garten voller Zwerge. Nicht unbedingt Pauls Typ, auch wenn die Zwerge immerhin Schiffermützen trugen.

»Nur dass ich ihr neulich die Hörbuchversion von ›Eismeer‹ versprochen habe. Sie kann nicht mehr so gut lesen.«

»Und das willst du ausnutzen? Du solltest dich schämen, Herr Hardenberg.«

3

»Wie bitte?« Über den blitzblank aufgeräumten Schreibtisch seines Vorgesetzten hinweg starrte Oberkommissar Kay Dietrich den Leiter der Kriminalpolizeiinspektion Anklam an. »Sie ziehen mich von dem Fall ab? Weshalb?«

Wolfgang Geldorf, frisch ernannter Polizeioberrat, schüttelte den Kopf und schob überflüssigerweise den Locher von rechts nach links. »Ich habe Ihnen nur sehr dringend geraten, Urlaub zu nehmen. Die Gründe muss ich Ihnen wohl nicht näher erläutern, Herr Dietrich.«

»Was soll die Haarspalterei? Das Ergebnis ist dasselbe: Ich bin raus.« Dietrich hörte selbst, wie verbittert seine Stimme klang, und ärgerte sich darüber. Er legte keinen Wert darauf, dass andere mitbekamen, wie es in ihm aussah.

Geldorf schürzte die Lippen. »Allerdings. Ich will Sie hier für mindestens zwei Wochen nicht sehen. Sie werden sich nicht– ich wiederhole: nicht, und um es noch mal sehr deutlich zu sagen: absolut nicht!– weiter in die Ermittlungen einmischen. Die Kollegen werden angehalten, Ihnen keine Auskunft zu geben, und wer Ihnen trotzdem Informationen zuspielt, geht ebenfalls in Urlaub.«

»Wie war das mit dem Personalmangel?«, murmelte Dietrich leise, aber unüberhörbar.

Geldorf tat, als hätte er ihn nicht verstanden. »Steigen Sie ins nächste Flugzeug und machen Sie sich unter südlicher Sonne eine schöne Zeit.«

Am Strand zu liegen war nicht Dietrichs Vorstellung von einer schönen Zeit. Er brauchte seine Arbeit, die darin bestand, selbst größten Widerständen zum Trotz am Ende die richtigen Leute dranzukriegen. Dafür hatte er schon manche Rüge riskiert und auch erhalten, und natürlich hatte er gewusst, dass es Ärger geben würde, wenn er Bauamtsleiter Hacke auf die Füße trat. Unwillkürlich grinste Dietrich bei seiner gedanklichen Wortwahl.

»Was finden Sie so komisch?«, fragte Geldorf irritiert.

Geldorf hatte recht, es gab nichts Witziges an der Angelegenheit. Nach Dietrichs Überzeugung war Hacke tief in den Mord an seiner Schwägerin verstrickt. Das sah dessen oberste Vorgesetzte und gute Freundin, die Oberbürgermeisterin von Stralsund, aber ganz anders und hielt ihre schützende und weitreichende Hand über Hacke. Tatsächlich fehlten Dietrich momentan noch eindeutige Beweise, aber er wusste schon so einiges über das Umfeld des Bauamtsleiters und würde sie früher oder später finden.

»Hören Sie, Herr Geldorf«, setzte er neu an, »es ist nur eine Frage der Zeit, bis…«

»Nein.« Geldorf schnitt ihm das Wort ab. »Sie beantragen Urlaub, oder Sie können sich mit dem Gedanken anfreunden, demnächst in ein Kaff am Rande von Nirgendwo versetzt zu werden. Es wird mir schon ein Grund einfallen, die Auswahl Ihrer Eigenmächtigkeiten ist schließlich groß genug.« Er griff hinter sich nach einer Akte, schlug sie auf und begann zu lesen, ohne Dietrich weiter zu beachten.

Der erhob sich so abrupt, dass beinah der Stuhl umgekippt wäre. Ein Schmerz durchzuckte sein linkes Bein, in dem sich seit einem schweren Autounfall vor über zwei Jahren jede Menge Schrauben tummelten. Die Beschwerden hatten im Laufe der letzten Monate glücklicherweise nachgelassen, sodass er nur noch hin und wieder Schmerzmittel benötigte, aber wenn sich das Bein bemerkbar machte, dann gleich richtig. Er biss die Zähne zusammen und humpelte wortlos aus Geldorfs Büro.

In seinem eigenen Büro, das er mit Tobias Harms und einem weiteren Kollegen teilte, suchte er im Intranet nach den Urlaubsantragsformularen. Als er sie endlich fand und gleichzeitig eine Aufstellung seines ihm noch zustehenden Urlaubs, wurde ihm bewusst, dass er vor Odems Zeiten das letzte Mal welchen genommen hatte. Seit seiner Scheidung, die so lange zurücklag, dass er sich kaum noch an das Gesicht seiner Exfrau erinnerte – jedenfalls, wenn er sich bemühte–, gab es niemanden, mit dem er einen Urlaub hätte verbringen wollen.

»Was machst du denn hier? Wolltest du nicht die Mitarbeiterin von diesem Hacke ausquetschen? Ich dachte, du wärst längst weg«, sagte Tobias, der eben mit einem Kaffeebecher in der Hand ins Zimmer kam.

»Das musst du wohl übernehmen. Ich geh in Urlaub.« Dietrich legte das ausgefüllte Formular in eine Umlaufmappe, schrieb »Personalabteilung« darauf und schob sie Tobias hin. »Leitest du das bitte für mich weiter?« Damit stand er auf, zog sein Jackett aus und nahm das Holster mit der Dienstwaffe ab, die er abgeben würde, bevor er das Gebäude verließ. Er wandte Tobias dabei den Rücken zu und wartete, dass sein Kollege etwas sagen würde, aber der schwieg. Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass Tobias in eine Mail vertieft gewesen war und erst jetzt wieder aufsah.

»Mann, Kay, diese Rundmail hier von Geldorf… Ehrlich, ich glaube nicht, dass ich Hackes Assistentin auf den Zahn fühlen werde. Ich häng an meinem Job.«

4

»Findest du nicht, dass der aussieht wie Bruno?«, fragte Kassandra und deutete auf den Gartenzwerg mit der Angel in Hildegard Herrmanns Vorgarten. Dahinter erhob sich ein weißes Haus mit weit überhängendem Rohrdach und grün-roten Fensterläden. Die Neue Straße stand voller solcher alter Kostbarkeiten. Da gab es weiter vorn ein Hochdielenhaus mit der ältesten, um das Jahr 1880 kunstvoll getischlerten Fischländer Haustür. Weiter hinten stand das Fischlandhaus aus Fachwerk, mit rot verputztem Gemäuer und blau gerahmten Fenstern. Es beherbergte die Bibliothek, außerdem fanden dort regelmäßig Kunstausstellungen statt. Die meisten Häuser waren mit Rohr gedeckt– hätte es in der Neuen Straße gebrannt statt bei Niklas Thiel in der Hafenstraße, wäre es vielleicht weniger glimpflich abgelaufen.

»Bruno würde dich für diese Bemerkung lynchen«, meinte Paul und schob das niedrige Tor auf. »Kannst du ihn dir mit Zwergen im Garten vorstellen?«

Kassandra lachte. »Nein, aber bei Angeln muss ich nun mal zuerst an ihn denken. Niemand steht so ausdauernd auf der Seebrücke wie er.«

Paul drückte auf die Klingel neben der dunkelbraunen Tür, in der Hand ein kleines Päckchen mit dem Hörbuch des dritten Teils seiner Eis-Trilogie und einer Tafel Nuss-Nougat-Schokolade. Von drinnen ließ sich ein kurzes, aber prägnantes Bellen vernehmen, bevor Hildegard Herrmanns Gesicht hinter dem rautenförmigen Fenster in der Tür erschien und sie gleich darauf öffnete.

»Herr Freese«, sagte sie etwas verwundert, während ein junger Cockerspaniel um ihre Beine herumwuselte und noch einmal bellte. »Ruhig, Moritz«, ermahnte sie ihn und fügte an Paul gerichtet ein klein wenig zögernd hinzu: »Das ist aber nett, dass Sie mich besuchen. Kommen Sie doch rein.«

Kassandra hatte einmal blinzeln müssen, um die ältere Dame zu erkennen. Auch wenn sie ihr bisher nicht allzu häufig begegnet war, hatte sie doch das Bild einer Frau vor sich gehabt, die praktische Kleidung und eine ebenso praktische Frisur trug. Heute Vormittag hatte Hildegard Herrmann ein hübsches Kostüm angezogen und war vor offensichtlich noch nicht allzu langer Zeit beim Friseur gewesen.

»Wir wollen Sie gar nicht lange aufhalten, aber ich hatte Ihnen doch das Hörbuch versprochen und schon ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht eher damit vorbeigekommen bin.« Paul hielt ihr das Päckchen hin.

»Wie aufmerksam von Ihnen.« Hildegard Herrmann bat sie ins Wohnzimmer, Kassandra hatte allerdings das Gefühl, dass ihr nicht ganz wohl dabei war. »Setzen Sie sich, ich habe gerade Kaffee aufgesetzt und bringe Ihnen gern eine Tasse.«

Als sie in dem niedrigen, gemütlich eingerichteten Zimmer mit Blick auf einen traumhaften Garten voller Sonnenblumen saßen und Moritz sich auf dem Sofa neben Frau Herrmann zusammengekringelt hatte, fing Paul ein Gespräch über das Wetter an, unterbrach sich aber mitten im zweiten Satz. »Das geht so nicht«, sagte er. »Wir sind nicht wegen des Wetters hier und auch nicht wegen des Hörbuchs, sondern wegen des Feuers. Tut mir leid, dass ich das nicht gleich gesagt habe. Obwohl ich wirklich vorhatte, Ihnen das Hörbuch zu bringen.«

Hildegard Herrmanns Gesichtsausdruck schwankte zwischen Ärger und Belustigung. Letzteres gewann die Oberhand. Paul war überaus beliebt auf dem Fischland, nicht nur wegen seiner Romane. Er hatte so was an sich, das die meisten Menschen für ihn einnahm, weil er auf sie zuging und sich ehrlich für sie interessierte.

»Nur nicht ausgerechnet heute, meinen Sie«, sagte sie lächelnd. Sie wandte sich an Kassandra. »Hat Heinz Jung Sie geschickt? Er hat gestern mit mir gesprochen, und ich hatte den Eindruck, er glaubt mir nicht, was ich sage.« Das klang wieder etwas verärgert.

»Niemand hat uns geschickt«, sagte Kassandra. »Wir hatten allerdings gehofft, Ihnen würde doch noch etwas einfallen, was Sie gesehen haben. Eine Kleinigkeit nur, ein winziges Detail.«

Ein, zwei Sekunden lang blieb es still, bis Hildegard Herrmann sich rührte. Ihr Kostüm raschelte, als sie nach einem Keks griff und ihn in den Kaffee tunkte. »Heißt das, Sie denken, da ging etwas nicht mit rechten Dingen zu?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Kassandra aufrichtig. »Aber es beschäftigt mich, weil ich Niklas kenne. Und das, was die Polizei sagt – dass es passiert ist, weil er betrunken war–, passt nicht zu ihm.«

Hildegard Herrmann schwieg, also sagte Paul: »Wir würden gern versuchen, Niklas’ Abend zu rekonstruieren. Ob er Besuch hatte oder was er sonst gemacht hat.«

Endlich schaute Hildegard Herrmann auf. Die untere Hälfte des Kekses war aufgeweicht, ein Stückchen fiel herunter, als sie den Keks aus der Tasse hob, doch sie achtete nicht darauf. »Ich habe leider wirklich nichts weiter gesehen als die Flammen, als Moritz und ich auf unserem Heimweg dort vorbeikamen.«

»Aber vielleicht vorher?«, fragte Paul.