Fischland-Verschwörung - Corinna Kastner - E-Book

Fischland-Verschwörung E-Book

Corinna Kastner

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Beschreibung

Ein Cosy-Krimi voller Spannung an der malerischen Ostseeküste Die beliebte Künstlerin Soraya erfreut sich in Wustrow größter Beliebtheit. Doch nicht jeder lässt sich von dem Hype um ihre Keramiken beeindrucken. Kassandra und Paul vermuten hinter ihrer Kunst etwas ganz anderes: Tarnung für einen groß angelegten Diamantenschmuggel. Bevor ihr die beiden jedoch diskret auf den Zahn fühlen können, sind Soraya und sämtliche Beweise für die Diamanten-Theorie plötzlich verschwunden ... "Fischland-Verschwörung" ist ein spannender Cosy-Krimi von Corinna Kastner, der die malerische Kulisse des Fischlands mit einer packenden Geschichte voller dunkler Geheimnisse verbindet. Begleiten Sie die Amateurdetektive Kassandra und Paul bei ihrem Jubiläumsfall. Ideale Urlaubslektüre für alle Fans der Reihe und die, die es noch werden wollen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 541

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Corinna Kastner wurde 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich an der Ostsee am wohlsten. Besonders das Fischland inspiriert sie sowohl schriftstellerisch als auch fotografisch. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane und seit 2012 ihre Küsten Krimis, die auf dem Fischland spielen, außerdem seit 2020 die (Schauplatz-)Kalender »Fischland«.

www.corinna-kastner.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. In diesem Roman tauchen viele Namen auf, die so oder ähnlich auf dem Fischland gebräuchlich sind. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

www.emons-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Corinna Kastner

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-246-8

Küsten Krimi

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH, Autoren- und Verlagsagentur. www.ava-international.de

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für Jörg

Prolog

Sein Blick glitt über die Leute, die mit ihm zusammen der Hölle entkommen waren. Sie alle hatten gedacht, die Stinne sei nichts weiter als eine gelungene Kulisse für ein spannendes und unterhaltsames Krimi-Dinner. Spannend war es in der Tat geworden, wenn man es denn so ausdrücken wollte. Es hatte zwei Tote gegeben, und Kassandra Voß wurde soeben mit einer lebensgefährlichen Vergiftung ins Krankenhaus gebracht.

Die anderen standen in Grüppchen um das Schiff herum, trotz Dunkelheit und Kälte, trotz Schock und Schrecken. Oder vielleicht gerade deshalb. Es fiel schwer, sich zu lösen nach dem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten.

Erstaunlicherweise ging es auch ihm so. Die Ereignisse hatten ihn nicht so kaltgelassen, wie er den Anschein erwecken wollte. Sie hatten ihn auf gewisse Weise mitgenommen. Und sie hatten ihn wütend gemacht, wobei sich seine Wut hauptsächlich gegen ihn selbst richtete. Wieso hatte er überhaupt an diesem dämlichen Spiel teilgenommen? Er war kein normaler Urlauber und nicht zum Vergnügen auf dem Fischland. Genau da allerdings hatte das Problem gelegen. Um das nicht preisgeben zu müssen und unauffällig zu bleiben, hatte er den Gewinn bei der Verlosung im Moby Dick mit einem Lächeln entgegengenommen. Natürlich hätte er das Ticket zu diesem »einmaligen Erlebnis« später einfach ignorieren können. Tatsächlich war aber gestern Abend mal wieder Flaute in seinem eigentlichen Geschäft gewesen. Er hatte nichts tun können und keine Lust auf weitere öde Stunden in seinem Apartment gehabt, also war er hingegangen. Diese Entscheidung hatte er bereits bedauert, kaum dass er angekommen war. Es versprach noch langweiliger zu werden als ein Abend vor dem Fernseher. Erst als der letzte Gast an seinem Tisch platziert wurde, änderte sich das. Interessanter Mensch – und kurz darauf das erste und sehr echte Mordopfer dieses etwas anderen Krimi-Events.

Nun, viel zu viele Stunden später, war er zwar froh, dem Chaos lebend entkommen zu sein, doch er fürchtete das polizeiliche Nachspiel, inklusive akribischem Aufnehmen von Personalien, ellenlangen Befragungen in dieser Nacht sowie an den folgenden Tagen und wusste der Himmel, was noch. Das konnte er sich nicht leisten. Er musste verschwinden, möglichst sofort.

Unauffällig zog er sich einige Schritte zurück, weg insbesondere von Jonas Zepplin. Der hatte ihn ständig im Auge, als verdächtige er ihn, an dem, was auf der Stinne geschehen war, beteiligt zu sein. Was für ein Quatsch. Und was für ein gefährlicher Irrtum. Immerhin richtete sich in diesem Moment Zepplins Aufmerksamkeit ausnahmsweise auf diese hysterische Kellnerin, also war jetzt der richtige Zeitpunkt.

Er verschmolz mit der Dunkelheit des schmalen Weges zur Hauptstraße und sah sich nach seinem Auto um, bis ihm wieder bewusst wurde, dass damit Paul Freese zum Krankenhaus unterwegs war. Freese hätte sich nicht so leicht ablenken lassen wie sein Freund. Glück im Unglück.

Er überquerte die menschenleere Straße und lief weiter in den Ort hinein. Anders wäre es schneller gegangen, aber falls Zepplin auffiel, dass er abgetaucht war, und ihm folgte, nahm er bestimmt den direkten Weg zur alten Seefahrtschule. Nach einigen Hakenschlägen erreichte er die Ferienanlage und sah sich vorsichtig um. Niemand da, alles ruhig und dunkel. In seinem Apartment würde er seine Sachen packen und verschwinden und dann schnell einen neuen, sicheren Standort suchen – in der Nähe und doch im Verborgenen. Bestimmt machbar. Leider bedeutete das aber auch eine Einschränkung seiner Aktivitäten auf einem anderen Gebiet.

Verdammtes Krimi-Dinner!

Er lehnte sich an die Hauswand des Gemäuers, dem man sein Alter nicht mehr ansah, und atmete tief ein und aus. Es brachte nichts, über verschüttete Milch zu fluchen. Runterkommen, Junge, sonst versaust du alles, sagte er sich.

»So spät noch unterwegs?«, hörte er dicht neben sich plötzlich eine Stimme.

Wie hatte sich jemand völlig unbemerkt an ihn heranschleichen können? Er konnte das nur den Nachwirkungen der letzten Stunden zuschreiben. Trotz des Schreckens blieb er äußerlich ruhig, wandte den Kopf nach rechts und blinzelte überrascht.

»Sie sehen nicht gut aus, wenn ich das so sagen darf«, stellte der Mann fest. »Kann ich behilflich sein?«

»Ich …« Er schluckte, räusperte sich. Jetzt kam es drauf an. Den richtigen Ton, die richtigen Worte treffen. Die Alternative blendete er aus. »Vielleicht. Ich bin in … einer Zwangslage. Ich bräuchte einen Ort, an dem ich für eine Weile unterkommen könnte.«

Der Blick seines Gegenübers durchbohrte ihn. Das Weiß der Augen stach in der Dunkelheit hervor, die Iris wirkte schwarz dagegen. Schließlich fuhr seine Rechte in einer geschmeidigen Bewegung unter die Jacke, genau auf Höhe eines Schulterholsters.

Das war’s, dachte er, als er sich fallen ließ, obwohl er ahnte, dass er keine Chance hatte. Gepokert und verloren.

1

»Dauert nicht mehr lange.« Paul blinzelte gegen die Sonne an, die auf die ruhige blaue See und das Hohe Ufer hinunterschien. »Ein Dreivierteljahr vielleicht, dann ist das Ding endgültig unten.«

Kassandra folgte seinem Blick zu der alten Bunkeranlage in Richtung Ahrenshoop. Über Jahrzehnte hinweg war das Hohe Ufer mehr und mehr von Wind und Wellen ausgehöhlt, waren immer größere Teile des Bunkers freigelegt worden. Sie konnte unmöglich abschätzen, wann das alles in der See landen würde wie die anderen Bunkerteile, die dort bereits aus dem Wasser ragten und die Urlauber anlockten, obwohl es gefährlich und eigentlich untersagt war, dort entlangzuwandern. Sie zweifelte nicht an Pauls Vorhersage.

Trotz des warmen Sommertages lief eine Gänsehaut über Kassandras Rücken. Dabei war sie nicht mal sicher, wodurch die hervorgerufen wurde. Von dem Bild, das vor ihrem geistigen Auge auftauchte – Betonmassen in der See, schwere Kabelage, Metallrohre, Erdabbrüche ohne Ende. Oder von der Erinnerung an ihren eigenen gruseligen Aufenthalt in jenem größten Bunkerteil einige Jahre zuvor. Eingesperrt, allein, im Dunkeln. Sie würde das nie vergessen. Immerhin aufs Eingesperrtsein hatte sie kein Monopol. Erst vor zwei Wochen waren sie und Paul mitsamt den meisten anderen Gästen dem Gefängnis entkommen, zu dem das Eventschiff Stinne bei dem so schrecklich aus dem Ruder gelaufenen Krimi-Dinner geworden war. Sie selbst war knapp dem Tod von der Schippe gesprungen, weil Paul sie nach ihrer Vergiftung gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht hatte. Ausgerechnet im Auto von …

»Liebes?« Paul stupste sie an. »Du bist gerade sonst wo, nur nicht hier. Woran denkst du?«

»Gunnar Pechstein«, sagte sie und seufzte. »Entschuldige. Das war nicht geplant, aber eine logische Gedankenabfolge.«

»Ich verstehe, was du meinst. Mir geht’s ähnlich. Wir können nicht damit abschließen, solange es noch so viele ungeklärte Punkte gibt, auch wenn die nur am Rande eine Rolle spielten. Der verschwundene Pechstein dürfte der rätselhafteste Aspekt dabei sein – so dankbar ich ihm bin, dass er mir seinen Wagen geliehen hat.«

»Hm«, machte Kassandra. »Was ist eigentlich mit dem SUV? Ob der mittlerweile kriminaltechnisch untersucht werden konnte oder ob der verehrte Herr Scheller weiter seine Hand draufhält?«

»Schätze schon, solange die verdeckte Ermittlung in Sachen Diamantenschmuggel noch läuft.«

Kassandra schüttelte den Kopf. »Diamantenschmuggel in Wustrow. Ausgerechnet. Als wären wir hier ein Piratennest.« Die Vorstellung entlockte ihr ein kleines Lachen, gleichzeitig schloss sich mit ihrer Bemerkung wieder der Kreis. Der unbekannte, verschollene, scheinbar nicht mal existierende Gunnar Pechstein hatte in der Ferienanlage der alten Seefahrtschule das Apartment namens Piratennest bewohnt. Das laut Kay ebenfalls kriminaltechnisch tabu gewesen war.

Kriminalhauptkommissar Kay Dietrich hatte alles getan, um Paul, Kassandra und die anderen von der Stinne zu befreien, und war dabei unbeabsichtigt über einen Diamantenschmugglerring gestolpert. Immerhin hatte er von Frank Scheller, dem Leiter des LKA in Schwerin, in Erfahrung bringen können, dass auf dem Jordan-Hof eine verdeckte Ermittlung lief. Die dort ansässige Yogalehrerin und Keramikkünstlerin Soraya Schmidt musste seitdem mit anderen Augen betrachtet werden. Bei ihr handelte es sich um eine verdeckt arbeitende Kollegin, der Kay vor Jahren schon mal flüchtig begegnet war. Mit mehr Informationen war Scheller jedoch nicht herausgerückt.

Wegen der besonderen Situation auf dem Hof wurden einige Zusammenhänge im Stinne-Fall nicht publik gemacht. Andernfalls wäre Unruhe in den Diamantenschmugglerring gekommen und Soraya Schmidts Aufgabe, vielleicht sogar ihr Leben, wäre gefährdet worden. Deshalb galt das Verbrechen auf der Stinne zwar offiziell als aufgeklärt, tatsächlich aber gab es noch offene Enden sowie Personen, die bisher nicht belangt worden waren: Da war einmal Soraya Schmidts Gehilfe Gus Bauer, der Kay zusammengeschlagen hatte. Auf den ersten Blick schien seine Rolle klar: ein brutaler, nicht sonderlich intelligenter Krimineller. Aber traf das zu? Klar war nicht mal sein Name. Kay hatte den Mann überprüft, aber keine passende Person gefunden, die so hieß.

Dann Gunnar Pechstein, der sich in Luft aufgelöst hatte und über den Scheller keine Silbe verlor. Vor allem aber der am anderen Ende Wustrows lebende Andreas Körber, bei dem Paul ebenfalls einen kleinen Diamanten gefunden hatte, durfte nicht belästigt werden, obwohl er ohne Zweifel auch im Stinne-Fall mitgemischt hatte.

»Wer weiß, was wir hier wirklich sind«, nahm Paul Kassandras Faden wieder auf. »Vielleicht wäre Piratennest noch das Harmloseste.« Er wandte sich von der Bunkeranlage ab und begann den Rückweg.

»Eine Menge Tabus für einen einfachen Fall von Diamantenschmuggel, meinst du? Möglicherweise ist das ja eine internationale Angelegenheit«, schlug Kassandra vor, »in die nicht nur das LKA, sondern auch Interpol oder wer weiß wer involviert ist. Vielleicht hat deshalb nicht mal Scheller eine Wahl.«

»Mag sein. Trotzdem weiß er bestimmt, wer wer oder was ist in diesem Spiel. Zumindest Kay gegenüber könnte er mit offenen Karten spielen, statt die Hälfte für sich zu behalten.«

Mittlerweile hatten sie Strandübergang eins erreicht. Ein steiler Weg führte vom Hohen Ufer hinunter an die See, zu jener Stelle, von der an man gefahrlos über weichen, weißen Sand bis zur Seebrücke laufen konnte.

»Du glaubst also, es steckt mehr dahinter«, stellte Kassandra fest, als sie unten angekommen waren. Sie lehnte sich an den großen Stein, zog ihre Schuhe aus, krempelte die Jeans hoch und lief zum herrlich kühlen Wasser. Eine Welle rollte heran und schwappte beinah bis zu ihren Knien hoch.

»Das frage ich mich eben«, sagte Paul. Wie sie trug er nun seine Schuhe in der Hand und lief neben ihr im feuchten Sand.

Prüfend musterte Kassandra ihn von der Seite. Sie kannte Paul gut genug, um die Zwischentöne zu hören. »Wie sehr fragst du dich das?«

»Zu sehr, fürchte ich.« Paul lachte leise. »Dabei ist mir schon klar, dass Kay ausdrücklich gesagt hat, wir sollen die Füße stillhalten.«

»Na ja. Er hat gesagt, erst mal stillhalten«, korrigierte ihn Kassandra vielsagend. »Ich wette, er wüsste selbst gern mehr über die Hintergründe.«

»Sicher. Aber wir können ja leider nicht einfach auf den Jordan-Hof spazieren und Soraya fragen, ob sie uns eine ihrer famosen Keramikfiguren mit Diamanten im Sockel verkauft.«

Eine Weile gingen sie schweigend weiter, bis sie auf Höhe des nächsten Strandübergangs angelangt waren. Zwei kleine Fischerbötchen lagen unterhalb der Düne. Früher waren es viel mehr gewesen, bunte Punkte im hellen Sand, oft umlagert von Urlaubern. Pauls Lieblingsplatz. Aber das Fischen in der See lohnte kaum noch, manche Fischarten waren so selten geworden, dass sie gar nicht mehr gefangen werden durften.

Paul steuerte auf das silberne Boot zu und setzte sich. »Schade eigentlich«, führte er den Gedanken fort. »Es juckt mich heftig in den Fingern, den Jordan-Hof genauer zu erkunden. Diskret, versteht sich.«

Kassandra grub ihre Zehen in den Sand. »Niemand hindert uns, hinzugehen, um Sorayas Keramik zu bewundern. Du kannst doch gut mit ihr, lass deinen Charme spielen, verwickele sie in ein Gespräch, und ich schau mich derweil ein bisschen um.« Sie sah Paul an, dass er versucht war, auf ihren Vorschlag einzugehen, doch dann zog ein Schatten über sein Gesicht, und sie ahnte bereits seinen Einwand, bevor er ihn aussprach.

»Wenn du diesem Gus Bauer in die Arme läufst, wird der sofort misstrauisch. Denk dran, was er mit Kay veranstaltet hat. Dich zerquetscht er zwischen Daumen und Zeigefinger, und anders als Kay wirst du dem Mann kaum als Revanche die Nase brechen können.«

Kassandra betrachtete ihre rechte Hand und zog ihre Körpergröße in Betracht – nach Kays Schilderung ungefähr zwei Köpfe kleiner als Bauer. »Ich darf mich eben nicht erwischen lassen.«

»Wirst du auch nicht, weil du schön da wegbleibst. Ich bin froh, dass ich dich gesund und munter wiederhabe, da schick ich dich nicht gleich wieder in die Höhle des Löwen.«

Kassandra wollte etwas erwidern, doch Paul schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab.

»Keine Diskussion.«

Sie verstand, was in ihm vorging, und seine Sorge um sie rührte sie. Einerseits. Andererseits mochte sie es nicht, wenn jemand anders bestimmte, was sie tat oder ließ. Nicht mal Paul. Aber sie wusste auch, dass es wenig Sinn hatte, deswegen einen Streit vom Zaun zu brechen. Schließlich konnte man das Pferd auch von einer anderen Seite aufzäumen.

»Gut«, lenkte sie also ein. »Dann lassen wir den Jordan-Hof außen vor.«

»Du. Ich könnte trotzdem meinen Charme spielen lassen, falls das denn überhaupt was brächte. Oder ich sage ganz einfach, dass ich eine Schale in Meergrünblautürkis haben möchte. Für meine Braut zur Hochzeit.« Er schaute ihr tief in die Augen, und Kassandra wurde mit einem Mal schwummerig. Der Gedanke an den überraschenden Heiratsantrag, den Paul ihr vor Kurzem gemacht hatte, rief unweigerlich dieses Gefühl in ihr hervor.

Sie zwang sich zur Konzentration auf den Fall. »Du kannst aber nicht gleichzeitig mit ihr über Keramikschalen reden und auf dem Hof herumschnüffeln.«

»Ich könnte Heinz mitnehmen.«

»Nein«, sagte Kassandra ebenso laut wie spontan. Zwar zweifelte sie keineswegs daran, dass Heinz sofort einverstanden wäre. Dennoch kam das nicht in Frage. »Ich bin nämlich froh, dass ich meinen Onkel einigermaßen gesund und munter wiederhabe! Lass ihm ein bisschen Zeit, sich zu regenerieren, nachdem ihm so übel mitgespielt wurde.«

Paul nickte. »Was schlägst du stattdessen vor? Ich seh’s dir an der Nasenspitze an: Du hast doch eine Idee, richtig?«

»Wenn sie etwas weniger unausgegoren ist, sag ich Bescheid.« Eigentlich stand Kassandra der Plan recht deutlich vor Augen. Allerdings fürchtete sie, dass der bei Paul nicht wesentlich besser ankäme als ihr Vorschlag mit dem Jordan-Hof. Sie musste überlegen, wie sie die Angelegenheit ohne drohende Alarmglocken verpackte.

»Da bin ich gespannt«, sagte Paul. »Derweil ruft mein Manuskript. Mir kam vorhin beim Anblick des Bunkers eine Idee, wie ich diese Szene auf dem Dachboden des verlassenen Hauses in den Griff kriege. Jetzt muss ich nur sehen, wie ich das umsetze.«

Sie zogen ihre Schuhe wieder an, liefen über den Strandübergang zurück hinter die Düne, und Paul schritt bald so weit aus, dass Kassandra Mühe hatte, zu folgen. Als er es bemerkte, blieb er stehen.

»Lass dich nicht aufhalten«, sagte Kassandra lachend. »Sehen wir uns heute Abend bei mir, oder willst du durcharbeiten?«

»Brunos Schollen liegen im Kühlschrank, die sollte ich bald in die Pfanne hauen. Also komm lieber rüber und bring Heinz mit, es reicht mindestens für drei.« Er küsste sie flüchtig auf die Wange, mit den Gedanken sicher bereits beim Manuskript, und winkte ihr noch einmal zu, dann war er um die nächste Ecke verschwunden.

Kassandra ging langsam weiter Richtung Seebrücke. Schon jetzt lief ihr das Wasser im Mund zusammen, wenn sie an Pauls Kunstfertigkeit bei allen Fischgerichten dachte. Was er auch zubereitete, es war köstlich, und sie fand es manchmal schade, dass seine Fischbude am Hafen längst nicht mehr existierte. Andererseits wäre die Menschheit sonst nie in den Genuss seiner wunderbar poetischen Romane und spannenden Thriller gekommen. Sie freute sich jetzt schon darauf, später mal diese Dachboden-Szene zu lesen.

Abrupt blieb sie stehen. Dachboden. Das war’s! Wieso hatte sie vorher nicht daran gedacht? Sie setzte sich wieder in Bewegung und war fünf Minuten später bei ihrem Kapitänshaus in der Lindenstraße angelangt. Die grünweißen Fensterläden hoben sich wunderschön vom warmen, in der Sonne leuchtenden Rot der Backsteine ab, doch dafür hatte sie gerade gar keinen Sinn. Sie stieß die Haustür auf und erklomm die Treppe ins Obergeschoss, wo sich zwei große Pensionszimmer und ihre Abstellkammer befanden. Sie konnte sich kaum erinnern, wann sie die das letzte Mal betreten hatte. Musste lange her sein, sie hatte Mühe, den richtigen Schlüssel am Bund zu finden.

Die Tür öffnete sich mit einem Knarzen, das fast ein bisschen unheimlich klang und eher in Pauls Thriller gepasst hätte. Die winzige Dachluke spendete trotz des Sonnenscheins draußen nicht genug Helligkeit, sodass Kassandra nach dem Lichtschalter tastete. Eine an der Decke hängende nackte Glühbirne blendete sie, dann gewöhnten sich ihre Augen daran. Sie bemerkte die aufgewirbelten, im Licht tanzenden Staubkörnchen und musste direkt niesen. Dann sah sie sich genauer um. Da stand der alte Schaukelstuhl, den sie ursprünglich wieder hatte in Gebrauch nehmen wollen, der sich dann aber doch nirgends mehr so recht einfügen mochte. Das Gleiche galt für die Stehlampe und die alte Gründerzeitkommode, die einer Aufarbeitung bedurft hätte. Trotzdem hatte sie es nicht übers Herz gebracht, die Stücke in den Sperrmüll zu geben. Dahinter musste sich die Kiste verbergen, die sie suchte. Die sie wie alles andere hier heraufgebracht hatte, als sie eingezogen war, die sie aber seitdem nie wieder angerührt hatte. Mit reichlich Anstrengung schob sie die Kommode beiseite und nieste erneut, als sich der Staub in ihre Nase verirrte. Und da war sie, zusammen mit zwei weiteren aufgereiht unter der Schräge, beschriftet mit einem einzigen Wort: »Stralsund«. Darin lag ihre Vergangenheit. Das Wenige, was von ihrem Leben in der Hansestadt übrig geblieben war. Sie trauerte dem gewiss nicht hinterher, erst recht nicht ihrer Ehe mit Sven, auch wenn sein tragischer Tod ihr sehr nahegegangen war und ihr immer noch leidtat.

Als sie die Kiste in die Abstellkammer verbannt hatte, war Sven noch am Leben und sie versucht gewesen, alles zu vernichten, was sie an die Zeit mit ihm erinnerte. Aber etwas in ihr hatte sich gesträubt, den ganzen Kram einfach wegzuwerfen, vor allem die Fotoalben. Das war, als würfe man auch die Menschen weg, die darauf abgebildet waren und von denen ihr einige doch immerhin mal was bedeutet hatten. Selbst Sven. Sven Larsen, der charmante Windhund, ihr krimineller Ex-Mann, der nicht davor haltgemacht hatte, andere in den Ruin zu treiben, solange es ihm selbst Vorteile brachte.

Sie zog die Kiste hervor und fragte sich, ob es eine Art Vorsehung gewesen war, sich nicht komplett von ihrer Vergangenheit zu trennen. Als hätte sie gewusst, dass sie ihr viele Jahre später noch mal nützlich sein konnte. Blödsinn, so was gab es nicht. Unter Mühen schob sie den Karton auf den kleinen Flur. Wie hatte sie es damals geschafft, ihn heraufzubugsieren? Dann erinnerte sie sich, dass der neue Nachbar ihr geholfen hatte. Jonas. Nicht Heinz Jung, der hätte nichts, was mit ihr zu tun hatte, auch nur mit der Kneifzange angefasst. Kassandra schmunzelte. Wenn ihnen damals jemand gesagt hätte, dass sie Onkel und Nichte waren, wären beide entsetzt zurückgewichen.

»Kann ich behilflich sein?«

Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch und sah sich Herrn Berger gegenüber, der mit seiner Frau offenbar gerade von einem Ausflug zurückgekommen war. Die Bergers aus Dresden gehörten zu den Gästen der ersten Stunde in Kassandras Pension, sie kannten sich viele Jahre, weshalb sie sein Angebot gern annahm. Er wuchtete die Kiste hoch und trug sie leicht wankend die Treppe hinunter.

»Was haben Sie da drin? Störtebekers verschwundenen Goldschatz?«, erkundigte er sich und wischte sich imaginären Schweiß von der Stirn.

»Das wäre schön, aber nein, das sind nur alte Unterlagen und Fotos.«

»Tja, Papier ist geduldig und schwer«, sagte Herr Berger. »Viel Vergnügen beim Sichten.«

Kassandra bezweifelte, dass es ein Vergnügen werden würde. »Werde ich haben«, sagte sie trotzdem. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Das macht er gern«, rief Frau Berger. »Ersatz für sein Krafttraining zu Hause.«

»Haha«, machte Herr Berger, winkte Kassandra noch mal zu und verschwand nach oben.

Kassandra staubte die Kiste notdürftig ab, bevor sie sie ins Wohnzimmer schob und aufklappte. Zwei Aktenordner mit Papieren. Sie blätterte sie durch, die meisten davon betrafen ihre Scheidung. Auch wenn sie auf jeglichen Unterhalt und überhaupt alles von Sven verzichtet hatte, war doch einiges zusammengekommen. Das ganze Zeug konnte nun wirklich mal weg. Bis auf die Scheidungsurkunde. Vielleicht brauchte sie die, wenn Paul und sie das Aufgebot bestellten? Svens Sterbeurkunde hatte sie ja nicht, wie auch sonst nichts von seinem Vermächtnis.

Er war eitel gewesen und hatte alles gesammelt, was je über ihn geschrieben worden war, gerade zu den Zeiten, als noch niemand wusste, was er unter dem Deckmantel des erfolgreichen Geschäftsmanns trieb. Diese Unterlagen, falls die denn überhaupt seinen Gefängnisaufenthalt überstanden hatten, wären Kassandra jetzt möglicherweise von Nutzen gewesen.

Sie legte die Ordner beiseite und holte drei Fotoalben aus der Kiste. Eines beinhaltete ausschließlich Bilder von ihrer Hochzeit, das legte sie spontan zu den Ordnern zum Vernichten und griff nach dem nächsten. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Auf ihrer Hochzeitsfeier waren zweihundert Leute gewesen, von denen sie kaum ein Viertel persönlich gekannt hatte. Vielleicht lohnte es sich also doch.

Bevor sie das Album aufschlug, schloss sie kurz die Augen und rief sich Gunnar Pechstein in Erinnerung. Pechstein, der behauptet hatte, Sven gekannt zu haben. Oder nein, genau genommen hatte er jemanden mit Namen Sven Larsen gekannt. So selten war der Name sicher nicht. Allerdings hatte er hinzugefügt, dieser Larsen sei ein windiger Typ gewesen, und das traf nun mal hundertfünfzigprozentig auf ihren Sven zu. Und auf Pechstein selbst, jedenfalls soweit Kassandra es beurteilen konnte. Hinzu kam, dass Pechstein sich anscheinend mit Gefängnissen auskannte, und alles zusammen waren einfach zu viele Anzeichen dafür, dass es einmal eine Verbindung zwischen den beiden Männern gegeben hatte.

Die erste Seite des Albums überblätterte sie absichtlich, auf der prangte ihrer Erinnerung nach ein großes Bild von Sven und ihr. Es folgten Fotos vom Standesamt und schließlich, vier Seiten später, von der Feier. Bevor sie sich jedoch darin vertiefen konnte, klingelte es.

Sie hätte das gern ignoriert, doch sie erwartete einen Gast, der ihr Einzelzimmer gebucht und sein Kommen für den Nachmittag oder Abend angekündigt hatte.

Als sie öffnete, stand allerdings Heinz vor der Tür. Von seinen Blessuren war kaum noch was zu sehen, aber Kassandra wusste, dass die nicht sichtbaren Rippenbrüche ihm noch zu schaffen machten.

»Ist Paul da? Könnte er mir mit den Wasserkisten helfen?«, fragte er gleich nach der Begrüßung.

»Paul ist auf dem Dachboden. Sinnbildlich gesprochen«, sagte Kassandra und erklärte, was sie damit meinte. »Das Wasser kann ich dir auch in die Küche tragen.«

Die Kisten waren kaum leichter als der Karton mit den Ordnern und Alben, aber wesentlich handlicher, sodass die Arbeit bald erledigt war.

»Wie wär’s mit Tee plus Keksen als Belohnung?«, fragte Heinz.

»Sonst sofort, aber ich bin gerade Gunnar Pechstein auf den Fersen. Ebenfalls sinnbildlich gesprochen.«

»Pechstein? Sag bloß, du hast rausgefunden, wer und was der Typ ist. Wie das denn?«

»Noch gibt’s keinen Grund zum Jubeln, ich verfolge nur eine mögliche Spur über alte Fotos. Komm doch mit rüber, Tee können wir auch bei mir trinken.«

»Ich kann nichts zu deiner Recherche beitragen, bin dem Mann ja nie begegnet, aber wenn meine Gesellschaft inspirierend sein sollte – gern.«

Kassandra lachte. »Das ist sie immer.«

In der Küche bereitete sie Tee zu und trug die Becher ins Wohnzimmer, wo Heinz bereits auf dem Sofa saß und sich ein Album geschnappt hatte.

»Deine Hochzeit mit Larsen?«, fragte er perplex. »Das gehört doch wohl noch nicht zu deiner Suche?«

»Doch. Zugegeben, die Chance ist gering, aber besser als nichts. Wenn Pechstein Sven kannte, ist es möglich, dass er damals unter den zig Gästen war, die ich nie zuvor gesehen hatte.«

»Er hätte sich dann doch wohl an dich erinnert«, wandte Heinz ein. »Hattest du den Eindruck, dass er dich besonders gründlich gemustert hat, nachdem der Name Sven Larsen fiel?«

»Nein. Aber ich sah damals völlig anders aus.« Sie deutete auf ein Foto, auf dem sie im Vordergrund stand. Rot gefärbte Haare, perfekt geschminkt und gestylt, ein Kleid von Dior und High Heels, mit denen sie fünfzehn Zentimeter größer war. »Außerdem nannte Sven mich dauernd Kassy, nie Kassandra.« Sie verzog das Gesicht. »Das Hochzeitsalbum ist das erste, das ich durchsehe. Da sind noch die zwei anderen, und wenn Pechstein und Sven miteinander zu tun hatten, gibt es ja vielleicht weitere gemeinsame Bekannte, Geschäftsleute oder Freunde, die wissen könnten, um wen es sich bei dem Typ handelt. Ich bin also nicht nur auf der Suche nach ihm selbst, sondern genauso nach möglichen Kontakten. Insbesondere, weil Pechstein Sven natürlich auch vor oder nach meiner Zeit mit ihm gekannt haben könnte.«

Heinz nickte nachdenklich. »Ich verstehe ja, dass es dich reizt, rauszufinden, wer der Mann ist. Aber wohin soll dich das letztlich führen?«

»Wenn wir Glück haben, zum Diamantenschmuggel-Fall. Immerhin hat Kay gesagt, dass sich Pechstein unmittelbar nach unserer Befreiung von der Stinne mit Soraya Schmidt in Verbindung gesetzt hat. Also hängt er auf die eine oder andere Weise mit drin.«

»Er könnte auch einfach nur mit Frau Schmidt befreundet sein«, wandte Heinz ein, klang aber selbst nicht sonderlich überzeugt und seufzte, als Kassandra ihn vielsagend ansah. »Ja, ja, schon gut, du hast ja recht. Allerdings besinne ich mich deutlich, dass Herr Dietrich vorerst, wenn auch erzwungenermaßen, keine weitere Einmischung wünscht.«

»Jaaa«, machte Kassandra gedehnt. »Kann trotzdem nicht schaden, gewappnet zu sein. Mein sechster Sinn sagt mir, dass da noch was auf uns zukommt.«

Heinz wandte sich wieder dem Album zu. »Weiß Paul, was du hier treibst?«, fragte er wie nebenbei.

»Nein. Mir ist das eben erst eingefallen, als er von seiner Dachboden-Szene sprach. Mag sein, dass er die Idee blödsinnig findet, aber der Diamantenschmuggel an sich lässt ihn auch nicht zur Ruhe kommen.« Sie berichtete von ihrer Unterhaltung am Strand. »Übrigens können vier Augen bei den Fotos nicht schaden. Dir sind im Laufe deiner Polizeikarriere ja auch viele Kriminelle untergekommen, vielleicht erkennst du den einen oder anderen.«

»Was sollte das nützen?«

Kassandra zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich weiß, das ist alles etwas planlos, aber mit irgendwas müssen wir anfangen.«

Eine Weile blätterten sie konzentriert durch die Bilder, bis Kassandra mit dem Hochzeitsalbum fertig war. Pechstein hatte sie nicht entdeckt, dafür aber den Namen einer Person notiert, die sie damals nicht hätte zuordnen können, von der sie heute aber wusste, dass sie ähnlich tief wie Sven im kriminellen Sumpf steckte. Oder zu der Zeit gesteckt hatte.

Sie beobachtete Heinz, der ein Foto besonders akribisch betrachtete, zurückblätterte, ein weiteres unter die Lupe nahm, wieder vorblätterte. Anscheinend verglich er die Bilder oder die Personen darauf miteinander.

»Hast du was gefunden?«, wollte Kassandra wissen.

»Schwer zu sagen. Die Frau hier taucht in diesem Album sehr häufig auf. Mal in einer Gruppe, mal direkt neben Sven. So, wie sie ihn ansieht, ist er mehr als ein flüchtiger Bekannter für sie.« Heinz reichte ihr das Album und zeigte auf das Bild in der Mitte, auf dem Sven besitzergreifend den Arm um eine attraktive Frau in einem gewagt geschnittenen Abendkleid gelegt hatte. Brünette Locken fielen weich auf ihre nackten Schultern, große Augen über hohen Wangenknochen blickten Sven bewundernd an, ihre vollen Lippen tiefrot und halb geöffnet. Ihre Aufmachung hätte bei anderen Frauen gewöhnlich wirken können, sie jedoch strahlte so viel Selbstbewusstsein und Klasse aus, dass sich jeder Gedanke an eine von Svens billigen kleinen Affären verbot.

Das Gesicht erinnerte sie an jemanden, aber selbst nach intensivem Grübeln und diversen anderen Fotos, auf denen die Frau zu sehen war, kam sie nicht darauf, an wen. Selbst wenn, sie war überzeugt, dass es nicht die Person selbst war, an die sie sich entsann, sondern eine Frau, die ihr ähnelte.

»Was ist das eigentlich für ein Album?«, fragte sie dann mehr sich selbst als Heinz, nachdem sie auch die restlichen Seiten durchgegangen war. Zwar hatte sie auf den Fotos die eine oder andere Person entdeckt, die sie gekannt und deren Namen sie ebenfalls auf ihrer Liste notiert hatte. Aber die Ereignisse, zu denen die Bilder aufgenommen worden waren, sagten ihr nichts. »Die spärliche Beschriftung ist nicht von mir«, stellte sie fest, »und ich bin auf keinem der Fotos.«

»Das ist mir auch aufgefallen. Ist das Svens Schrift?«

Kassandra schüttelte den Kopf. »Die war unleserlich. Außerdem sieht das mehr nach einer weiblichen Handschrift aus.«

»Vielleicht die der hübschen Lockigen? Allerdings frag ich mich, wie du zu deren Album kommst.«

Kassandra versetzte sich zurück in das Stralsunder Loft, in dem sie mit Sven gelebt hatte. Für sich selbst hatte sie, als es schon nicht mehr so gut zwischen ihnen lief, eine kleine Ecke unter einer Gaube eingerichtet – ein gemütlicher Sessel, eine heimelige Lampe, Regale mit Büchern und Dingen, an denen sie hing, auch die Fotoalben. Beim Auszug war sie nicht in bester Verfassung gewesen, ihre Gefühle wechselten zwischen Wut – meistenteils auf sich selbst, weil sie Jahre zuvor auf Sven reingefallen war –, Befreiung, Hoffnung auf den Neuanfang. Ohne noch mal zu kontrollieren, hatte sie alles aus den Regalen in die Kartons gepackt.

Kassandra legte das ihr fremde Album zur Seite und schlug das dritte auf, dessen Fotos sie sofort wiedererkannte. Dann begriff sie.

»Das Urlaubsalbum fehlt.«

»Dann hast du das mit den Partyfotos versehentlich gegriffen und eingepackt?«, fragte Heinz.

»Kann nicht sein. Es hätte in dem Regal überhaupt nichts zu suchen gehabt.«

»Das heißt, dass Sven es hineingestellt hat.«

Kassandra runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich. Allerdings nicht nur einfach hineingestellt. Er muss es ausgetauscht haben.«

»Vielleicht aus Versehen vertauscht?«

Entschieden verneinte Kassandra. »Sven war zwar ein Selbstdarsteller und liebte es, zu posieren, sich bewundern und fotografieren zu lassen. Die Bilder selbst haben ihn aber nicht mehr interessiert, abgesehen von denen, die in der Presse erschienen. Er hatte diverse Ordner mit Artikeln über sich, aber nie eigene Fotoalben.« Sie überlegte laut. »Auf die Urlaubsbilder hat er garantiert keinen Wert gelegt, also kam es ihm darauf an, genau dieses«, sie deutete auf das Album, das jetzt auf dem Tisch lag, »unterzubringen, wo es nicht auffiel. Es wäre mir aber aufgefallen, wenn da plötzlich vier statt drei gestanden hätten, entsprechend musste er ein anderes wegnehmen und entweder verstecken oder vernichten. Egal, was er damit getan hat, es dürfte seit Langem nicht mehr existieren.«

»Stattdessen hast du dieses, das vermutlich der Brünetten gehört und mit dem es zweifellos etwas Wichtiges auf sich hat, sonst hätte Sven sich nicht so viel Mühe gegeben. Schade, dass wir nicht wissen, wer die Frau ist.«

Der Gedanke, dass sie sie an jemanden erinnerte, nagte nach wie vor an Kassandra, doch sie wusste, dass es nichts brachte, sich daran festzubeißen. Wahrscheinlich würde es ihr einfallen, wenn sie am wenigsten daran dachte.

»Hast du eine Vorstellung, wann die Fotos aufgenommen wurden?«, fragte Heinz.

»Nicht auf den ersten Blick.« Erneut blätterte sie durch die Seiten und suchte nach etwas, das ihr einen Hinweis geben könnte. Dabei ging ihr durch den Kopf, dass sie mittlerweile von ihrer ursprünglichen Suche durch dieses neue Rätsel ganz abgekommen war. Ein Rätsel, das angesichts von Svens Tod gar keine Rolle mehr spielte und das sie dennoch nicht beiseitewischen konnte.

»Wer ist S.M., sagt dir das was?«, fragte Heinz und zeigte auf eine der Überschriften auf einer Seite: »S.M.: Geburtstagsfeier ohne Geburtstagskind«.

»Keine Ahnung. Auf jeden Fall scheint es eine feuchtfröhliche Party gewesen zu sein, auch ohne S.M.s Anwesenheit.«

Alle übrigen Beschriftungen führten ebenso ins Leere.

»Wir kommen nicht weiter«, sagte Kassandra schließlich. »Weder mit diesem Album noch mit Pechstein, und dem sollte sowieso mein Hauptaugenmerk gelten. Nehmen wir uns das dritte Album vor.«

Darin befanden sich Fotos von der Einweihungsfeier ihres Lofts, auf der auch ihre Mutter Ulla gewesen war, obwohl sie Sven nicht sonderlich gemocht hatte. Außerdem jede Menge Bilder von Aufenthalten bei ihr in Wismar, vor denen sich Sven immer gedrückt hatte – was letztlich allen am liebsten gewesen war. Bevor sich Kassandra zu sehr in sentimentalen Erinnerungen an ihre Mutter verlor, notierte sie schnell zwei weitere Namen von Personen, die sie nach Svens Kontakten fragen konnte. Dann legte sie das Album auf die Anrichte, um es später ihrem Vater zu zeigen. Er würde sich freuen, diese unbekannten Bilder von Ulla zu sehen.

»Gut«, sagte sie und tippte auf das Blatt Papier. »Das ist also die Liste von Leuten, die ich fragen könnte, ob sie Pechstein kannten.«

»Das wird schwer«, wandte Heinz ein, »nur nach deiner Beschreibung von dem Mann. Außerdem wär’s möglich, dass sie ihm das letzte Mal vor zig Jahren begegnet sind, und wir haben nicht mal eine annähernde Vorstellung davon, wie er damals aussah. Frisur, Bart, Klamotten – es gibt Menschen, die verändern sich enorm in so einem langen Zeitraum.«

Das war Kassandra durchaus bewusst. Sie nickte frustriert. »Es wäre einfacher, wenn er selbst auf einem der Fotos wäre. Aber dann muss es eben mit einem aktuellen Bild gehen.«

Heinz’ linke Braue rutschte hoch. »Du hast ein Bild von Pechstein?«

»Nein. Noch nicht jedenfalls.«

»Aha. Und wo willst du eins herzaubern?«

Damit legte Heinz den Finger in die Wunde. Sie musste zurück zu Plan A, der Paul einbezog, und Paul würde …

»Hallo, ihr zwei!«

Pauls große Gestalt erschien in der Tür zum Wohnzimmer. Kassandra hatte den Schlüssel im Schloss gar nicht gehört. Jetzt deutete er auf die Fotoalben. »Schwelgt ihr in alten Zeiten?«

»Was machst du denn schon hier?«, antwortete Kassandra mit einer Gegenfrage. »Waren wir nicht bei dir zum Fischessen verabredet?« Oder hatte sie die Zeit verpasst? Erschrocken warf sie einen Blick auf die Uhr.

Paul lachte. »Richtig. Aber die Dachboden-Szene ist im Kasten, ich bin gut vorangekommen, also dachte ich, ich bereite die Scholle hier zu und wir machen es uns auf deiner Terrasse gemütlich.« Er hielt die Tüte hoch. »Muss nur schnell in den Kühlschrank.«

Kaum war Paul im Flur verschwunden, warf Heinz Kassandra einen Blick zu. »Warum siehst du aus, als hättest du was Schlechtes zum Mittag gehabt?«, fragte er leise.

»Weil ich jetzt vermutlich mit meinem Plan rausrücken muss und mir noch keine vernünftige Strategie eingefallen ist.«

Amüsiert nickte Heinz. »Na, dann viel Glück.«

»Wozu?«, erkundigte sich Paul, der eben wieder hereingekommen war und sich neben Kassandra aufs Sofa fallen ließ. Ohne eine Antwort abzuwarten, griff er nach einem Album und schaute nach der ersten Seite verblüfft auf. »Deine Hochzeit mit Sven? Du willst jetzt aber nicht die Gäste zählen, damit unsere genauso groß wird?«

Paul hatte zwar ein Lächeln im Gesicht, dennoch war sich Kassandra nicht hundertprozentig sicher, ob das ausschließlich als Witz gemeint war. »Natürlich nicht.«

Sein Lächeln wurde breiter. »Weiß ich doch. Du hast das hoffentlich nicht ernst genommen.« Er strich über ihre Wange. »Lass mich raten: Du suchst nach Gunnar Pechstein. Warst du erfolgreich?«

»Leider nicht.«

»Also nichts mit Pechstein.« Paul klang beinah erleichtert. »Du wirst mir widersprechen, aber ich halte es für gefährlicher, dem hinterherzuschnüffeln, als den Jordan-Hof unter die Lupe zu nehmen.«

»Weil er so unberechenbar erscheint?«, fragte Kassandra.

»Unberechenbar und undurchschaubar.«

»Die Lage auf dem Hof ist das nicht weniger«, mischte Heinz sich ein. Ein ernster Tonfall hatte sich in seine Stimme geschlichen. »Wozu soll es überhaupt gut sein, da jetzt eure Nase reinzustecken? Nur weil Scheller ein paar Dinge zurückhält – und das höchstwahrscheinlich aus wichtigen ermittlungstechnischen Gründen? Wir waren uns doch einig, erst dann einzugreifen, wenn wir das Gefühl haben, dass was vertuscht werden soll.«

Unwirsch verzog Paul das Gesicht. »Ich kann mir nicht helfen, ich habe dieses Gefühl bereits.« Er hielt inne. »Vielleicht ist Vertuschung falsch ausgedrückt. Sagen wir: Es kommt mir vor, als wären es nicht nur ermittlungstechnische Gründe, aus denen Scheller sich ausschweigt. Aus dem Bauch heraus. Ein Gefühl eben.«

Heinz wandte sich an Kassandra. »Geht dir das genauso?«

»Weniger deutlich«, gab sie zu. »Aber ja, etwas scheint da im Busch zu sein. Die Geheimniskrämerei gegenüber Kay ist schon merkwürdig.«

»Nein«, widersprach Heinz. »Herr Dietrich ist in die Ermittlungen nicht involviert.«

»Aber in die, die den Diamantenschmugglerring zumindest tangieren. Scheller hat ohne Rücksicht auf wichtige Indizien extrem effizient dafür gesorgt, dass der Stinne-Fall geschlossen wurde. Vielleicht ist Vertuschung gar nicht mal so falsch ausgedrückt – nur wissen wir nicht, was vertuscht werden sollte.«

»Das mag sein«, grummelte Heinz.

»Trotzdem empfiehlst du, dass wir uns raushalten?«, interpretierte Paul.

Heinz schüttelte sachte den Kopf, dann lachte er eine leise Version seines meckerndes Lachens. »Da ich ohnehin tauben Ohren predigen würde, spar ich mir den Atem.«

»Wir können ja eine kleine Pause einlegen, wenigstens heute Abend«, sagte Paul belustigt.

»Und uns stattdessen einem anderen Rätsel zuwenden«, ergänzte Kassandra und erzählte von dem vertauschten Album und der fremden Frau an Svens Seite.

»Das ist ja interessant«, meinte Paul. »Zeigt ihr mir die attraktive Unbekannte?«

Kassandra löste das Foto aus dem Album und reichte es Paul. Der betrachtete die Brünette im Abendkleid eine ganze Weile wortlos, und Kassandra wäre jede Wette eingegangen, dass sich allerhand hinter seiner Stirn abspielte.

»Kennst du sie?«, fragte sie schließlich, als sie ihre Neugier nicht mehr im Zaum halten konnte.

»Ich weiß, an wen sie dich erinnert, und von da ist es nur ein kleiner Schritt, zu erraten, wer sie ist. Oder zumindest sein könnte.«

Kassandra nahm Paul das Foto ab und kroch fast hinein. Es war wie verhext, sie kam nicht drauf. Ratlos hob sie die Schultern. »Nun spann uns nicht auf die Folter. Raus mit der Sprache!«

»Sonia Arndt.«

»Sonia?«, echote Kassandra perplex.

»Die Arndt?«, sagte Heinz gleichzeitig. »Das ist nie im Leben Sonia Arndt.«

»Das hab ich auch nicht behauptet. Sie sieht ihr allerdings ziemlich ähnlich.«

Das stimmte. Die Frau ähnelte Sonia Arndt – und ihrer Schwester Elena, deren Leiche vor einigen Jahren auf Jonas’ Zeesboot Tante Mine gelegen hatte.

Kassandra runzelte die Stirn. Es war lange her, aber weil es gerade in diesem Fall hauptsächlich um Sven gegangen und er am Ende ums Leben gekommen war, erinnerte sie sich an die Einzelheiten besonders gut. Die anfangs noch unbekannte Leiche auf der Tante Mine hatte gleich mit mehreren in den Fall verwickelten Frauen Ähnlichkeit gehabt. Kurz nachdem sie das festgestellt hatten, war Sven mit Kay aneinandergeraten und hatte eine Bemerkung gemacht, die eingeschlagen war wie eine Bombe. Kassandra hörte noch seine exakten an Kay gerichteten Worte: Mir fiele da ganz spontan doch glatt noch jemand ein. Ihre Frau sieht der Arndt auch auffallend ähnlich, finden Sie nicht? Und Sven hatte genau gewusst, wovon er sprach. Anthrin Dietrich war eine Zeit lang seine Geliebte gewesen – als Sven noch mit Kassandra und Anthrin noch mit Kay verheiratet gewesen war.

»Ach du liebes bisschen.« Heinz hatte offenbar die gleiche Schlussfolgerung gezogen.

»Kann man wohl sagen«, stimmte Kassandra zu. »Sicher können wir natürlich nicht sein. Wir haben nie ein Foto von ihr gesehen. Kay hat seit damals auch kaum mehr von ihr gesprochen. Aber es wäre schon ein sehr großer Zufall, wenn Sven sich zwei Frauen in demselben Zeitraum angelacht hätte, die aussahen wie Sonia Arndt.«

»Tja, Kassandra«, sagte Heinz. »Dann hast du ja noch eine Kandidatin, die du im Zweifelsfall fragen kannst, ob sie Gunnar Pechstein begegnet ist.«

»Klar! Kay wäre begeistert. Bevor ich das mache, spring ich von der Seebrücke.«

»Moment mal«, sagte Paul. »Hab ich was verpasst? Ich dachte, du hast auf den alten Bildern nach Pechstein gesucht. Hattest du noch was anderes im Sinn?«

Kassandra warf Heinz einen Seitenblick zu. Sie hatte schon gehofft, an diesem Abend um die Diskussion herumzukommen. Nun war es zu spät, sie musste Farbe bekennen. Dabei sah sie den wachsenden Widerstand auf Pauls Gesicht, doch schließlich sagte er nur: »Ohne ein Bild von Pechstein verlangst du reichlich viel von den Leuten.«

Was sie zusätzlich hörte, auch wenn er es nicht aussprach, war: Vergiss den Plan, ist sowieso besser, alles andere wäre zu gefährlich. Aber nun hatte sie einmal begonnen, sie würde nicht kneifen. »Du könntest eins zeichnen.«

Heinz gab ein Geräusch von sich, offensichtlich verstand er nun, was sie vorhin gemeint hatte. Paul dagegen blieb stumm. Er starrte sie eine kleine Weile an, und diesmal konnte sie nicht abschätzen, was er dachte.

»Nein«, sagte er dann.

»Weshalb nicht? Mit deinem Talent wäre das Bild genauso hilfreich wie ein Foto! Ich könnte diese Leute hier fragen, ob ihnen das Gesicht was sagt.« Sie tippte auf die Liste, auf der bisher, ohne Anthrin Dietrich, sechs Namen standen.

»Nein«, wiederholte Paul ruhig.

»Ich versteh nicht …«

»Kassandra!«, donnerte Paul. »Diese Leute, wie du sie nennst, hatten damals vermutlich ebenso viel Dreck am Stecken wie Sven. Wer weiß, was die heutzutage treiben. Mag sein, dass sie mittlerweile ihre kriminelle Laufbahn aufgegeben haben. Dann werden sie bestimmt nicht gern an ihre Vergangenheit erinnert. Die Alternative ist, dass sie aufgestiegen und damit noch viel gefährlicher geworden sind.«

Natürlich war Kassandra das Risiko bewusst. Vielleicht hatte Paul auch recht, vielleicht war es voreilig, sich einzumischen, wenn keine Notwendigkeit bestand. Das Dumme war, dass es nicht nur um den Diamantenschmuggel und die Verwicklung von Pechstein darin ging. Diffus wurde ihr bewusst, dass sehr viel persönlichere Gründe ebenso eine Rolle spielten. Es ging auch um Sven. Nach dem Desaster mit ihm hatte sie geschworen, nie wieder zu heiraten. Nun stand sie davor, es doch zu tun. Glücklicherweise gab es kaum zwei unterschiedlichere Männer als Sven und Paul, wo also lag das Problem? Es war doch unmöglich, dass sie mit ihrer ersten Ehe noch endgültig abschließen musste, bevor sie die zweite einging. Das hatte sie schon vor ewigen Zeiten getan.

»Da du nicht antwortest«, sagte Paul, »gehe ich davon aus, dass du weißt, worauf du dich einlassen willst. Ich bin nicht bereit, das zu unterstützen. Meine Gründe dafür kennst du. Mir liegt zu viel an dir, als dass ich dich sehenden Auges dieser Gefahr aussetze.« Sein Ton wurde sanfter. »Wir haben noch einen Termin dieses Jahr, zu dem hätt ich dich gern an einem Stück, sonst kann ich dich schlecht über die Schwelle tragen.« Er lächelte schief und streckte die Hand aus.

Kassandra begriff selbst kaum, was seine Worte in ihr auslösten: Unverständnis und Wut. Sie wich zurück und sah das Erstaunen auf seinem Gesicht. Das änderte nichts an ihren Gefühlen.

»Willst du mich plötzlich in Watte packen?«, brach es aus ihr heraus. »Soll so unsere Zukunft aussehen, wenn wir verheiratet sind? Du sagst mir, was ich zu tun und zu lassen habe? Entschuldige, so habe ich mir unsere Ehe nicht vorgestellt!«

Pauls Ausdruck veränderte sich. Sie hatte ihn verletzt. Das war nicht ihre Absicht gewesen, es tat ihr leid, dass ihr das so grob herausgerutscht war, vor allem, weil sie im Nachhinein wusste, dass Paul das so nicht gemeint hatte.

»Ich …«, begann sie zerknirscht.

»Nein, lass nur«, unterbrach er sie und stand abrupt auf. »Es ist besser, wenn ich jetzt gehe und wir uns nicht sehen, bis du aufhörst, mich mit Sven zu verwechseln.«

Betroffen sah sie ihm nach. Er hatte es auf den Punkt gebracht. Genauso war es gewesen. Mit Sven hatte sie kein eigenes Leben gehabt, weil er ihres bestimmte. Paul würde das niemals tun.

Sie sprang hoch. »Paul!«

Doch da hörte sie schon die Haustür zufallen. Kassandra ließ sich aufs Sofa zurückplumpsen.

»Bravo, das war ja ein Meisterwerk an Streitkultur«, sagte Heinz leise. »Vor zwei Wochen warst du halb tot, kannst du es Paul verdenken, dass er sich Sorgen macht?«

»Nein«, murmelte sie. »Ich war ein Idiot.«

»Selbsterkenntnis und so.«

»Haha.« Kassandra seufzte. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

»Nein? Ich schon: die Stinne, der nicht abgeschlossene Fall, die Konfrontation mit deiner Vergangenheit, durch Pechstein, durch die Fotos. Und …« Heinz zögerte.

»Was denn noch?«

»Kann es sein, dass du angesichts der Hochzeit plötzlich Panik kriegst? Angst vor der eigenen Courage?« Er schaute ihr in die Augen. »Es gibt keinen Besseren als Paul. Aber bist du wirklich sicher, dass du heiraten willst?«

2

Auf der Lindenstraße blieb Paul stehen. Mit beiden Händen fuhr er sich übers Gesicht, dann wandte er sich nach links und schritt kräftig aus, um möglichst schnell möglichst großen Abstand zwischen sich und Kassandra zu bringen. Natürlich hatten sie in all den Jahren häufiger gestritten, auch was die Herangehensweise bei ihren Fällen betraf. Neu war, dass Kassandra jetzt gleichzeitig ihre zukünftige Beziehung in Frage stellte. Da sie nicht ernsthaft glauben konnte, dass die sich wegen einer Unterschrift auf einem Papier grundlegend ändern würde, blieb nur eine Erklärung für ihre überzogene Reaktion: Sie bekam kalte Füße wegen der Heirat.

Warum? Tatsächlich wegen Sven, weil sie gerade Schwierigkeiten hatte, die Vergangenheit von der Gegenwart zu trennen? Oder war es ein grundsätzliches Problem? Wollte sie gar keine zweite Ehe, obwohl sie im ersten Überschwang seinen Antrag angenommen hatte?

Vorn an der Strandstraße blieb Paul erneut stehen und schaute zurück. Erstaunt bemerkte er, wie sich in seinem Inneren ein Knoten löste und er Wut verspürte, wo gerade noch ein gewisses Maß an Verständnis für Kassandra vorgeherrscht hatte. Sven konnte nicht für alles als Entschuldigung herhalten. Wenn Kassandra nicht heiraten wollte, sollte sie es, verdammt noch mal, einfach sagen. Und wenn sie unbedingt Pechstein zu finden gedachte, musste sie das eben tun. Es stimmte: Sie brauchte seine Erlaubnis nicht. Und er nicht ihre, um seinen eigenen Weg zu gehen.

Entschlossen setzte Paul sich wieder in Bewegung. Er hielt sich rechts, überquerte die Strandstraße und bog in die Norderstraße ein, die geradewegs zum Norderfeld führte. Es war mittlerweile Abend geworden, aber er wusste, dass Soraya ihren Verkaufsstand in der großen Diele des Hauptgebäudes lange geöffnet hatte, wenn sie gerade keine Yogakurse gab. Auf jeden Fall würde er sein Glück versuchen, auch wenn er, wie Kassandra richtig bemerkt hatte, nicht gleichzeitig mit Soraya plaudern und sich auf dem Jordan-Hof umsehen konnte. Irgendwie würde es ihm gelingen, einen harmlosen, aber gründlichen Blick in die Runde zu werfen.

Als er am Rand des Norderfelds ankam und zu dem großen Gebäudekomplex hinübersah, fiel ihm eine passende Ausrede für sein Interesse am Hof ein. Er würde sagen, er habe mit dem Eigentümer Heiko Jordan telefoniert, der sich zurzeit auf Weltreise befand, und der hätte ihn gebeten, mal nach dem Rechten zu sehen. Fehlte noch eine Erklärung dafür, weshalb Heiko Soraya nicht selbst anrief. Paul zuckte mit den Schultern. Die würde er schon finden, bis er dort war.

»Tag, Paul, was gibt’s denn da drüben so Aufregendes? Überlegst du, mit Yoga anzufangen?«, fragte plötzlich jemand neben ihm.

Paul war so in sich gekehrt gewesen, dass er gar keine Schritte gehört hatte. Jetzt erkannte er Jan Möller, der eine Straße weiter seine Tischlerei betrieb und ihn gerade erheitert musterte.

»Das ist definitiv nichts für mich«, antwortete Paul. »Umso mehr Sorayas Keramik. Meine Mutter hat bald Geburtstag.«

»Da findest du bestimmt was. Ich habe letztens eine Schale für Steffi gekauft. Sie war begeistert und wollte sich noch was Passendes dazu holen. Zurück kam sie mit einem Yoga-Anmeldezettel.« Jan verdrehte die Augen. »Frauen.«

Bevor er es verhindern konnte, zog Paul eine Grimasse. »Tja.«

»Sag bloß, du hast Ärger mit Kassandra?«, interpretierte Jan die gedehnte Silbe.

Paul sprach für gewöhnlich nicht mit Leuten, die er eher flüchtig kannte, über persönliche Probleme, und ärgerte sich, dass er sich etwas hatte anmerken lassen. »Nichts, was sich nicht wieder einrenken lässt«, sagte er. Um das Gespräch zu beenden, wandte er sich demonstrativ wieder dem Norderfeld zu. »Ich werd dann mal, bevor Soraya ihren Stand schließt. Schöne Grüße an Steffi.«

»Ebenso an Kassandra.« Jan zwinkerte ihm zu, hob die Hand zum Gruß und ging schließlich in die Richtung davon, aus der Paul gekommen war.

Paul verbannte Jan aus seinen Gedanken und schritt auf den Jordan-Hof zu, der von Weitem verlassen wirkte. Das änderte sich auch beim Näherkommen nicht, bei dem imposanten zweiflügeligen Bauernhaus meldete sich niemand auf sein lautes Klopfen. Mit gespitzten Ohren horchte er, aber da war nur Vogelgezwitscher und ganz weit entfernt ein Möwenschrei. Er klopfte ein zweites Mal, wieder ohne Ergebnis. Möglicherweise war das die Gelegenheit, sich umzugucken. Aber bloß weil im Haupthaus niemand die Tür öffnete, hieß das nicht, dass der gesamte Hof verlassen war. Eine der beiden Scheunen diente schließlich als Umschlagplatz für den Diamantenschmuggel. Möglicherweise waren Soraya und Gus Bauer dort mit ihrer Arbeit zugange, und er konnte sie unbemerkt belauschen.

Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, bis ihm klar wurde, dass er dadurch umso verdächtiger wirkte, falls ihn jemand sah. Er bewegte sich weniger zögernd, zuerst ums Haus herum, damit sein Ziel nicht gleich offensichtlich wurde. Dabei schoss ihm plötzlich durch den Kopf, dass jegliche Schnüffelei auf dem Hof auf einem Denkfehler beruhte. Sie wussten ja bereits, was lief, sie stellten nur die Hintergründe in Frage. Um etwas über die zu erfahren, bedurfte es mehr als Lauschen und Beobachten. Sie müssten jemanden hier platzieren. Eine verdeckte Ermittlung in einer verdeckten Ermittlung sozusagen.

Unwillig schob Paul diesen verzwickten Gedanken von sich, doch er ließ sich nicht ignorieren und kam ungefragt zurück – gleichzeitig mit dem Eingeständnis, dass Kassandras Idee, der Angelegenheit über Pechstein auf den Grund zu gehen, womöglich wirklich effektiver war. Was nicht bedeutete, dass er ihre Methode guthieß.

Mittlerweile stand er wieder am Ausgangspunkt vorm Hauptgebäude, ohne dass ihm jemand begegnet wäre. Als Nächstes waren die Scheunen dran. Gerade hatte er einen Schritt auf die vordere zugemacht, als er ein Geräusch hörte. Weder konnte er sagen, was es gewesen war, noch es genau verorten. Da hörte er es wieder. Stimmen, die etwas lauter geworden waren, und sie drangen aus der Scheune. Ein Mann und eine Frau stritten, auch wenn Paul nicht verstand, was gesagt wurde.

Er näherte sich dem Scheunentor und glaubte schließlich, Sorayas Stimme zu erkennen, auch wenn es ihm nach wie vor nicht gelang, Worte auseinanderzuhalten. Ein Mann antwortete ihr, wütend, sich überschlagend.

»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«

Die leisere Antwort verstand er nicht, danach herrschte Schweigen.

Paul war sich bewusst, dass jede Bewegung, die er hier draußen machte, drinnen gehört werden könnte, hoffte aber gleichzeitig, dass die beiden Personen – Soraya und Bauer? – wegen ihrer Meinungsverschiedenheit abgelenkt waren. Er trat ans Scheunentor, das einen Spalt offen stand, und schickte sich an, hindurchzulinsen, als er ein weiteres Geräusch vernahm, zu leise, um es eindeutig identifizieren zu können, dann war es weg.

Durch den Spalt sah Paul im diffusen Licht eine Gestalt am Boden liegen und eine andere daneben stehen. Es kostete ihn einen Moment, um zu erkennen, dass Soraya sich nicht rührte und Gus Bauer fast ebenso reglos auf sie hinunterstarrte – eine von Sorayas Figuren in der Rechten.

Prinzipiell hatte Paul nichts dagegen, wenn sich Kriminelle gegenseitig ans Leder gingen, aber Soraya gehörte zu den Guten, sie spielte als verdeckte Ermittlerin nur ihre Rolle. Als Gus Bauer in die Hocke ging, die Keramikfigur noch immer in der Hand, und sich über Soraya beugte, schob Paul entschlossen das Scheunentor auf.

»Hey!«, rief er.

Bauer fuhr herum, sein Blick undefinierbar. Er schien erschrocken und wütend, aber seltsamerweise auch ratlos, und Paul änderte spontan seine Taktik.

»Was ist passiert?«, fragte er besorgt im Näherkommen. »Brauchen Sie Hilfe? Soll ich einen Arzt rufen?«

Bauer stand auf. Er stellte sich Paul weder in den Weg, noch hinderte er ihn daran, an Sorayas Seite niederzuknien. Paul streckte die Hand aus, um nach ihrem Puls zu suchen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Bauer zurücktrat, hinter ihn, und sein Instinkt warnte ihn eine kostbare Sekunde zu spät.

Er hörte Schritte, ein Schaben auf dem Boden, ein Zischen, spürte einen heftigen Schmerz am Hinterkopf, bohrend, stechend, einer Explosion gleich. Er nahm noch wahr, wie sein Körper neben Sorayas fiel, dann umfing ihn gnädiges Nichts.

3

Kassandra wanderte von einem Zimmer ins nächste. Ziellos, ruhelos. Mittlerweile hatte sie – erneut mit der Hilfe von Herrn Berger – den Karton zurück an seinen Platz in der Abstellkammer gebracht, allerdings ohne die Fotoalben. Zwei lagen nun ganz hinten in der untersten Schublade ihres Wohnzimmerschranks. Ganz abgesehen davon, dass sie es grundsätzlich nicht fertigbrachte, Fotos zu vernichten, konnte man nie wissen. Sie war noch nicht bereit, ihre Idee aufzugeben, dass die Alben nützlich sein konnten.

Das mit den Bildern ihrer Mutter hatte sie nach der Aufräumaktion ihrem Vater gebracht und es gemeinsam mit ihm angesehen. Harald hatte bemerkt, dass sie nicht ganz bei der Sache war, und nachgehakt. Auf ihre Erklärung hin hatte er Heinz’ Frage wiederholt: »Und? Willst du heiraten?«

»Natürlich will ich das! Ich war doch nur wütend und hab ein paar unüberlegte Sachen rausgehauen, die ich gerne sofort wieder zurückgenommen hätte. Paul hat mich nicht zu Wort kommen lassen.«

»Verständlicherweise. Ich schätze aber, dass er sich längst wieder abgeregt hat. Also, worauf wartest du? Geh zu ihm!«, riet Harald.

Das hatte sie getan. Aber Paul war nicht zu Hause gewesen. Auf dem Weg zurück zu ihrer Pension hatte sie versucht, ihn anzurufen, jedoch bloß die Mailbox erreicht. Sie hatte ihm keine Nachricht hinterlassen. Als sie es nach einer halben Stunde erneut probierte, war sie vor Schreck fast vom Sofa gesprungen. Pauls Telefon klingelte dicht neben ihr. Es musste ihm aus der Hosentasche und in die Sofaecke gerutscht sein.

Etwas beruhigt war sie in den Garten gegangen, um sich um ihre Pflanzen zu kümmern. Mit Sicherheit würde Paul vorbeikommen, zumindest um sein Telefon zu holen. Dann würde sie um Entschuldigung bitten. Aber Paul kam nicht. Auch nicht, nachdem sie sämtliche Blumen und Sträucher x-mal gegossen und Erdbeeren abgeerntet hatte, die höchstens zur Hälfte rot waren. Vermutlich würde sie auch noch die letzten gänzlich unreifen Beeren pflücken, wenn sie sich nicht am Riemen riss.

Na schön, dachte sie schließlich, dann eben doch andersrum. Sie nahm das Telefon und machte sich erneut auf den Weg zu Paul.

Als sie aufschloss, fand sie das Haus verlassen vor. Vielleicht hatte er keine Lust gehabt, weiter über Kassandras dumme Bemerkung nachzugrübeln, und war bei seinem alten Freund Bruno, um den Abend in netter Gesellschaft zu verbringen.

Sie legte Pauls Telefon auf seinen Schreibtisch und verließ das Haus. Auf dem kleinen Vorplatz zückte sie ihr Handy, um Brunos Nummer zu suchen. Dann hielt sie inne. Es kam bestimmt nicht gut, wenn Paul seine Ruhe wollte und sie ihm hinterhertelefonierte. Sie steckte das Handy weg und ging langsam zurück zur Strandstraße. Je weiter sie kam, desto mehr machte sich Unruhe in ihr breit. Ohne triftigen Grund hatte sie plötzlich Angst, dass es für Pauls Verschwinden eine andere, weniger harmlose Erklärung gab.

Am Seebrückenaufgang stieg sie die Treppe hinauf und lief bis zum Brückenkopf, wo Bruno in aller Seelenruhe angelte. Der Anblick des alten Mannes mit dem wettergegerbten Gesicht und der Mütze versetzte sie sonst stets in eine entspannte Stimmung. Heute jedoch verstärkte er ihre Sorge.

Bruno spürte offenbar, dass er beobachtet wurde, und drehte sich um.

»Kassandra!«, sagte er erfreut. »Abendspaziergang ohne den Bräutigam?«

Anscheinend stand ihr ins Gesicht geschrieben, dass das die falsche Bemerkung war. Brunos Lächeln erstarb.

»Was ist los, Lütting?«

Kassandra hob die Hände in einer kapitulierenden Geste. »Ein blöder Streit, an dem ich Schuld habe, und nun ist Paul ausgeflogen.«

»Ach, der kriegt sich wieder ein«, meinte Bruno und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.

»Ja. Hoffentlich.«

»Du wirkst nicht überzeugt. So schlimm?«

»Ziemlich.«

Eine Weile schwiegen sie in stiller Übereinkunft, dann wurde sie erneut von einer Unruhewelle erfasst. Sie schob sie zur Seite.

»Du hast recht. Paul braucht ein bisschen Abstand, und ich muss mich gedulden, bis ich mich morgen entschuldigen kann.«

»Das wird schon«, sagte Bruno zuversichtlich.

Kassandra nickte, verabschiedete sich und redete sich ein, dass Bruno recht hatte. Und dass außerdem gar kein Grund bestand, sich zu sorgen.

Das schaffte sie, bis sie fast am Abzweig zur Lindenstraße angekommen war. Das Grummeln meldete sich wieder. Fast gleichzeitig sah sie eine Gestalt auf sich zukommen, und ganz kurz durchflutete sie Erleichterung. Bis sie erkannte, dass es gar nicht Paul war, sondern Jan. Sie sagte »Hallo« und erwartete, dass Jan seinen Weg fortsetzte, doch zu ihrer Überraschung blieb er stehen.

»Suchst du Paul?«, erkundigte er sich.

»Ja«, sagte sie und gab sich Mühe, ihr Lächeln nicht allzu gekünstelt aussehen zu lassen. »Er ist mir abhandengekommen.« Ohne große Hoffnung fuhr sie fort: »Du hast ihn nicht zufällig gesehen?«

»Doch. Ist allerdings schon eine ganze Weile her.«

Kassandras Herz machte einen Satz. »Wie lange? Wo?«

»Etwa vier Stunden. Beim Norderfeld.«

»Beim Norderfeld?«, wiederholte Kassandra unsinnigerweise und viel zu laut.

»Ja, er wollte zu der Schmidt, was für den Geburtstag seiner Mutter kaufen. Schätze nicht, dass er immer noch damit beschäftigt ist, was Hübsches auszusuchen. Aber vielleicht hat er sich ja zum Yoga überreden lassen.« Jan lachte.

Es gelang Kassandra nur halb, in das Lachen einzufallen. Vielmehr ahnte sie, dass ihre innere Unruhe doch berechtigt war. Dieser Sturkopf hatte kurzerhand allein die Initiative ergriffen. Gefahr zu vermeiden, diese Devise galt offenbar ausschließlich für sie.

Jans Ausdruck wurde ernster, als er Kassandras leicht gequälten Ausdruck sah. »Ist alles kein Drama, so geht es uns doch allen mal, und anschließend lacht man drüber.«

Kassandra hatte weder Zeit noch Lust, Jan zu fragen, was er damit meinte. Also nickte sie bloß, verabschiedete sich beinah unhöflich knapp und lief eilig Richtung Norderfeld. Dann verlangsamte sie ihren Schritt. Konnte sie allein auf dem Jordan-Hof überhaupt etwas ausrichten? Sie brauchte Hilfe. Bis Kay aus Stralsund hier war, konnte es zu spät sein. Wenn – ein Schauer lief über ihren Rücken – es nicht sowieso schon zu spät war. Wen könnte sie sonst bitten? Jonas. Nein, Marlene würde sie killen, wenn Jonas es so bald nach der Stinne schon wieder mit Kriminellen zu tun bekam. Harald. Ihr Vater würde zweifellos mitkommen und sein Bestes geben, aber solche Situationen waren für ihn nicht gerade Routine. Heinz. Es gefiel ihr nicht, dennoch war er als ehemaliger Polizist trotz seiner noch nicht ausgeheilten Verletzungen die logische Wahl. Außerdem besaß er eine Pistole, ein nicht zu unterschätzender Vorteil.

Kassandra blieb stehen, das Norderfeld schon im Blick. Sie blinzelte. Soweit sie von hier erkennen konnte, lag der Hof dunkel da. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Mit zitternden Fingern fischte sie ihr Handy wieder hervor und rief Heinz an.

»Du bleibst, wo du bist, keine übereilte Aktion, klar?«, sagte er. »Ich bin gleich da.«

Er brauchte weniger als fünf Minuten, dann stand er mit einem Beutel in der Hand vor ihr.

»Hast du deine Pistole dabei?«, fragte sie.

Heinz nickte und klopfte auf seine Jackentasche. »Ich hoffe, wir brauchen sie nicht, aber unbewaffnet ist mir zu gewagt.«

Gemeinsam liefen sie auf den Gebäudekomplex zu, der auch von Nahem betrachtet wie ausgestorben wirkte, obwohl es noch nicht allzu spät war und Soraya und Gus Bauer sicher noch nicht im Bett lagen.

»Vielleicht machen wir uns ganz umsonst Gedanken«, sagte Heinz leise. »Kann doch sein, dass Paul schon vor ein paar Stunden niemanden angetroffen hat.«

Kassandra hätte das gern geglaubt. Dagegen sprach das ungute Gefühl in ihr, das sich verstärkte, als sie probehalber gegen die Eingangstür des Wohnhauses drückte und feststellte, dass sie nur angelehnt gewesen war.

Ohne ein Wort tauschte sie einen Blick mit Heinz. Er nickte, zog seine Waffe, stieß die Tür weiter auf und betrat das Haus als Erster.

In der großen Diele blieben beide stehen und lauschten erneut. Es knackte im Gebälk, ansonsten blieb alles still.

Sorayas Verkaufstresen und die breiten Drehregale, auf denen sie ihre Keramik ausstellte, lagen im Schatten. Kassandra hätte schwören können, dass niemand hier war. Auch Heinz schien sich etwas zu entspannen. Dennoch gingen sie von Raum zu Raum und leuchteten vorsichtig mit den Taschenlampen hinein, die Heinz in seinem Beutel mitgebracht hatte. Dabei fanden sie nichts Ungewöhnliches oder gar Alarmierendes.

Hatte Heinz recht? Gab es überhaupt keinen Grund, hier auf der Suche nach Paul herumzuschnüffeln? Andererseits war die offen stehende Haustür schon seltsam gewesen. Um sicherzugehen, dass sie nichts übersehen hatte, ließ Kassandra den Lampenstrahl noch einmal auf dem Boden kreisen. Sie hatte den Finger schon am Aus-Schalter, als etwas ganz kurz das Licht reflektierte. Kassandra lenkte den Strahl zurück auf den Gegenstand.

»Was gefunden?«, fragte Heinz.

Sie machte drei Schritte, bückte sich und klaubte Pauls Schlüsselanhänger vom Boden auf – einen USB-Stick in Form eines silbernen Fisches.