Bodden-Nebel - Corinna Kastner - E-Book

Bodden-Nebel E-Book

Corinna Kastner

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Beschreibung

Die dunkle Seite des Fischlands Im nebelverhüllten Barnstorf erfährt Greta Röwer vom unerwarteten Tod einer liebenswerten alten Dame. In deren Nachlass befinden sich eine geheimnisvolle Goldkette und ein Brief von Gretas Schwiegervater aus dem Jahr 1943, in dem vier über dem Fischland abgestürzte Royal-Air-Force-Soldaten erwähnt werden. Ein Rätsel, denn eigentlich heißt es in Wustrow, dass es damals nur drei Männer waren. Greta und ihr Mann Matthias forschen nach, bis längst vergessen geglaubte Erinnerungen die beiden zu einem verborgenen Keller führen. Was sie dort entdecken, lässt alles in einem anderen Licht erscheinen ...…

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Corinna Kastner wurde 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich an der Ostsee am wohlsten. Besonders das Fischland inspiriert sie sowohl schriftstellerisch als auch fotografisch. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane und seit sieben Jahren ihre Küsten Krimis »Fischland-Mord« (2012), »Fischland-Rache« (2013), »Fischland-Feuer« (2015), »Fischland-Verrat« (2016), »Bodden-Tod« (2017) und »Fischland-Angst« (2018).www.corinna-kastner.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. In diesem Roman tauchen viele Namen auf, die so oder ähnlich auf dem Fischland gebräuchlich sind. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

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©2019 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Corinna Kastner Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-534-3 Küsten Krimi Originalausgabe

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Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH, Autoren- und Verlagsagentur. www.ava-international.de

Für meinen Vater,

Die Nacht vom 17. auf den 18.August 1943

»Die haben uns erwischt! Verdammte Scheiße, die haben uns erwischt! Wir müssen raus hier!« Die panikerfüllten Worte des Flugingenieurs kreischten durch die Kopfhörer in seinen Ohren. Sie übertönten die Motorengeräusche der Maschinen um sie herum und sogar das Röhren ihrer eigenen Lancaster, an deren Heck er hockte, um angreifende deutsche Jagdflieger abzuschießen.

Nicht gut genug, dachte er, ich war nicht gut genug! Er spürte, wie die Lancaster ihren unfreiwilligen Sinkflug begann, spürte, wie sie ins Trudeln geriet. Raus!, dachte er, plötzlich genauso panisch wie Sergeant George Bishop, der Kanadier, der ihnen allen bisher ein bisschen zu draufgängerisch vorgekommen war. So hatte er eben nicht mehr geklungen, aber verflucht noch mal, der Mann hatte recht. Sie mussten raus!

Vor ihnen lag die Ostseeküste, sie würden trotz des Sinkflugs schneller über dem Wasser sein, als für einen Absprung gut war. Sie sollten sich beeilen. Oder besser doch nicht? Er hatte keine Ahnung, was die Deutschen mit ihnen anstellen würden. Hielten die Krauts sich an die Genfer Konventionen? Man hörte ja so einiges. Vielleicht lieber in der See ertrinken?

»Raus!«, brüllte nun auch ihr Funker, Sergeant Archibald Leach.

Er drehte den Kopf zu Archie, der mit dem Fallschirmrucksack kämpfte, hörte das Stottern des Motorengeräusches und schließlich, wie es ganz aussetzte. Die Nase der Lancaster neigte sich immer schneller immer tiefer. Wieder schaute er aus dem Heck, nach unten, wo die See bedrohlich näher kam, so nah, dass er im Licht des Vollmonds schon die Schaumkronen auf den Wellen erkennen konnte. Wieso stellte er sich überflüssige Fragen über die Deutschen? Wenn sie auch nur eine winzige Chance haben wollten zu überleben, mussten sie

EINS

Müde rieb ich mir die Augen. Sie brannten, als hätte das Sandmännchen gerade über dem Fischland, womöglich direkt über Barnstorf, seinen Sand verstreut. Es musste zwischen drei und vier Uhr morgens sein, ich hatte länger nicht mehr auf die Uhr gesehen. Genau genommen hatte ich viel zu lange nur noch auf das Laptopdisplay vor mir gestarrt, ohne etwas von dem wahrzunehmen, was da stand.

Zuvor hatte ich wach im Bett gelegen, bemüht darum, Matthias nicht zu stören. Ich war ganz gut eingeschlafen, aber wie so oft in den letzten Wochen nach zwei Stunden aufgewacht. Nicht von Alpträumen, obwohl das nach dem, was hinter mir lag, normal gewesen wäre. Aber ich träumte nie. Oder zumindest erinnerte ich mich nicht daran. Stattdessen lag ich in der Dunkelheit und dachte nach. Horchte in mich hinein. Legte die Hand auf meinen Bauch und wartete darauf, etwas zu spüren, auch wenn das im dritten Monat unmöglich war. Es beruhigte mich.

Matthias und ich hatten gelegentlich über Familienplanung gesprochen, wie man das eben tut, wenn man frisch verheiratet ist und erst mal die Zeit zu zweit genießen will. Ich hatte gespürt, dass Matthias’ Gefühle zwiegespalten waren. Zweifellos dachte er daran, dass seine kaum vorhandene Sehkraft das, was er als Vater tun konnte, beeinflussen würde. Zugleich war da ein Sehnen in seiner Stimme gewesen, das ihm möglicherweise nicht einmal selbst bewusst war. Ein Sehnen nach einer Familie, wie er sie nie gekannt hatte. Dann war es passiert, bei dem einen Mal, bei dem wir vor lauter Begehren alles andere vergessen hatten.

An jenem Tag vor gut einem Monat, an dem ich Matthias voller Glück erzählen wollte, dass ich ein Kind erwartete, klingelte es an der Tür. Ich öffnete, sah einen Mann mit einer Maske über dem Gesicht vor mir stehen, spürte einen Stich in meinem Arm– und dann nichts mehr. Als ich wieder zu mir kam, saß ich in einem schalldichten Raum und wusste noch nicht, dass der eine Woche lang meine ganz persönliche Hölle sein würde. Dass sich mit jedem Tag meine Furcht bis ins Unermessliche steigern und ich mich immer angsterfüllter fragen würde, ob wir das überleben würden. Unser Kind und ich.

Nachdem ich wieder zu Hause war, hatte ich Alpträume erwartet, doch sie blieben aus. Stattdessen wachte ich regelmäßig zwischen Mitternacht und ein Uhr auf. In den ersten Wochen hatte ich Matthias geweckt, wir hatten geredet, geschwiegen, er hatte mich festgehalten. Seit einiger Zeit verzichtete ich darauf, ihn zu stören. Wenn er mich am Morgen fragte, sagte ich, ich hätte einigermaßen durchgeschlafen. Ich war sicher, dass er mir nicht glaubte, doch er drängte mich nicht zum Reden. Noch nicht. Seine Sorge um mich war spürbar. Falls ich so weitermachte, würde er bald sein Schweigen brechen.

Vor drei Nächten war ich das erste Mal ganz leise aufgestanden und hatte mich an mein Laptop gesetzt. Wenn ich schon nicht schlafen konnte, wollte ich die Zeit wenigstens sinnvoll verbringen und an meinem Projekt arbeiten, der Biografie über die Stralsunder Dichterin Elisabeth Martens. Das hatte in der ersten und zweiten Nacht geklappt. Diese Nacht nicht. Ich konnte mich nicht konzentrieren, meine Gedanken schweiften ständig ab.

Schließlich gab ich auf und trat an das geschwungene Gaubenfenster, aus dem ich tagsüber einen wunderbaren Blick in den Garten und auf den Bodden hatte, bis hinüber zum anderen Ufer. Bei besonders klarer Sicht konnte ich sogar die Kirchturmspitze von Ribnitz erkennen, in den letzten Tagen allerdings nicht. Nebelschwaden hüllten das Fischland ein, mal mehr, mal weniger. Sogar jetzt im Dunkeln konnte ich sie ausmachen, es war, als ob sich die Nacht bewegte, schön und etwas unheimlich gleichermaßen. Bei Tag dämpfte der Nebel die Geräusche, verschluckte die Umrisse von Menschen, Häusern und Bäumen. Die Steilküste drüben an der Ostsee war kaum mehr zu sehen, und das Ende der Seebrücke ebenso wenig. Das hatte sich auch auf das Gemüt der Fischländer niedergeschlagen. Schon unter normalen Umständen keine Schwätzer, waren sie noch stiller als sonst, schienen in eine seltsame Stimmung zu verfallen. Als hielten sie sich vorsichtig bedeckt, als würden sie auf etwas Unausweichliches warten.

Unwillkürlich schauderte ich, dann riss ich mich am Riemen. Was für ein Blödsinn! Ich war entschlossen, an mein Laptop zurückzukehren, als ich hinter mir etwas hörte. Es klang fast wie ein Klagen, ein herzerweichendes Seufzen, das anschwoll. Ganz langsam drehte ich mich um, sah, dass die Tür sich geöffnet hatte, sah einen übergroßen schwarzen Schatten, der den Rahmen ausfüllte und…

»Greta?«

Ich sackte halb in mich zusammen vor Erleichterung.

»Greta, bist du hier?« In Matthias’ Stimme lag nur eine winzige Spur Panik, die jemand, der ihn weniger gut kannte, niemals gehört hätte.

»Ja«, wisperte ich. »Ja, bin ich.«

Wir trafen in der Mitte des Raumes aufeinander, seine Arme umfingen mich. Obwohl mir klar war, dass mir nur mal wieder meine wilde Schriftstellerphantasie einen Streich gespielt hatte, brauchte mein Herz eine kleine Weile, um sich zu beruhigen. Matthias zu spüren, den warmen Holzduft wahrzunehmen, der ihm meistens anhaftete, selbst wenn er nach der Arbeit an seinen Möbeln geduscht hatte, half mehr als alles andere.

»Weck mich, wenn du nicht schlafen kannst«, sagte Matthias in meine Haare hinein.

Ich löste mich ein kleines Stück von ihm. »Was bringt es, wenn wir beide wach liegen?« Bevor er protestieren konnte, fuhr ich fort: »In den letzten beiden Nächten bin ich richtig weit gekommen, so weit sogar, dass ich Daniel die nächsten Kapitel schicken kann.«

»Klingt gut. Obwohl ich immer noch etwas irritiert bin, wenn du von Daniel redest und den Herrn Oberstaatsanwalt Neumann meinst«, stellte Mathias fest.

Ich musste lächeln, als ich an das letzte Zusammentreffen mit Daniel dachte, bei dem er mir das Du angeboten hatte. Er war mein Auftraggeber, der Enkel von Elisabeth Martens und ein sehr belesener Mensch, der ebenso gut Literaturkritiker statt Pressesprecher der Stralsunder Staatsanwaltschaft hätte werden können. »Ihr solltet euch kennenlernen, ihr werdet euch mögen.«

»Jederzeit, aber nicht mehr heute Nacht, ja?« Matthias zog mich wieder in seine Arme. »Da reicht es mir völlig, dich zu mögen. Und falls du nicht zu müde bist, könnten wir uns ein bisschen mehr als mögen.«

Ich spürte seinen Körper, seine Hände auf meinem Rücken, die langsam tiefer glitten, seine Bartstoppeln an meinem Gesicht. All das gab mir innere Ruhe und entfachte gleichzeitig ein Feuer in mir.

»Jederzeit«, murmelte ich, dann fanden sich unsere Lippen. Ich vergaß die Nebelschwaden und die seltsame Atmosphäre, die über dem Fischland lag. Ich vergaß sogar, was mir geschehen war, und ließ mich einfach fallen.

Als ich am Morgen aufwachte, lag ich allein im Bett. Es war schon halb neun, doch es kam mir vor, als wäre es noch halbe Nacht. Manchmal raubten mir die Sonnenaufgänge über dem weiten Feld vor unserem Fenster vor Schönheit den Atem, doch heute hatte ich sicher nichts verpasst. Zwar gab es Lücken im Nebel, aber man konnte schon sehen, dass der Tag genauso grau werden würde wie die vorigen.

Von unten kündigten mir erfreuliche Geräusche an, dass Matthias Frühstück zubereitete. Früher hatten mir ein Kaffee und ein Schokokeks gereicht. Seit ich auf dem Fischland lebte, hatte mein Appetit zugenommen und noch mal mehr, seit ich schwanger war. Von der Gier nach seltsamen Kombinationen wie Matjes mit Vanilleeis oder von morgendlicher Übelkeit war ich dagegen vorerst verschont geblieben.

Zwanzig Minuten später wurde ich in der Küche von verführerischem Kaffeeduft und frischem Toast begrüßt. Nebenan aus Matthias’ Arbeitszimmer drang seine Stimme. Er telefonierte, beendete aber kurz darauf das Gespräch und kam herüber.

»Guten Morgen.« Die Lampe über dem Tisch verbreitete ein sanftes Licht, das dennoch hell genug für ihn war, um meine Umrisse zu erkennen. »Ausgeschlafen? Ich wollte dich vorhin nicht stören.« Er strich leicht über meinen Arm.

»Wer hat noch was von Wecken gesagt, selbst mitten in der Nacht?«

Matthias lachte. »Ein Punkt für dich.« Während er einen vollen Kaffeebecher von der Maschine nahm und vor mich hinstellte, wechselte er das Thema: »Schöne Grüße von Arvid. Er bittet darum, dass wir uns für heute Abend nichts vornehmen.«

»Seit wann meldet er sich denn an, wenn er kommen will?«, fragte ich belustigt. Ich mochte Matthias’ sehr viel älteren Halbbruder überaus gern und freute mich darauf, ihn zu sehen.

Jahrzehntelang hatte Matthias geglaubt, sein Bruder hätte sich Anfang der siebziger Jahre das Leben genommen. Erst vor ein paar Wochen hatte sich herausgestellt, dass das Schicksal es anders gewollt, dass er seinen Selbstmordversuch überlebt und unter neuem Namen in Schweden ein neues Leben begonnen hatte. Dass Arvid einmal Christian Röwer gewesen war, wussten in Wustrow nur sehr wenige Menschen– und dass Christian Röwer nicht Matthias’ Vater, sondern sein Bruder war, noch weniger. Für den Rest der Welt besuchte Arvid Sundberg nur das Fischland, weil sein Sohn Erik gerade in Rostock eine Gastprofessur innehatte, und es gab viele Gründe, warum wir gemeinsam entschieden hatten, dass das so bleiben sollte.

»Kommen will er schon heute Nachmittag«, sagte Matthias. »Frag mich nicht, was das bedeutet. Er hat was von Überraschung gemurmelt und tat geheimnisvoll.«

»Vielleicht hat er eine Spur zu ›Seashore Lights‹ gefunden. Seitdem du ihm von dem verschollenen Gemälde eures Vaters erzählt hast, habe ich das Gefühl, er versucht, etwas darüber herauszufinden. Immerhin war er ein ausgezeichneter Journalist, er dürfte seine eigenen Recherchequellen haben, die er anzapfen kann.«

Matthias’ Augen blitzten auf. Obwohl er kaum etwas sehen konnte, waren seine braunen Augen ausdrucksstark– wenn er zuließ, dass andere darin lesen konnten, und wenn sie nicht von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt wurden, die er bei zu hellem Licht tragen musste. Das düstere Novemberwetter hatte den Vorteil, dass er sie schon länger nicht mehr gebraucht hatte. »Durchaus möglich. Ich gäbe wirklich was drum zu wissen, wie Carl das Bild aus der DDR in den Westen geschafft hat und wo es jetzt ist. Falls es tatsächlich von ihm stammt.«

Das Gemälde, das 1961 bei einer Hamburger Kunstauktion versteigert worden war, trug die Signatur eines unbekannten englischen Malers namens Charles Rover. Es gab in Carls Unterlagen einen Zeitungsartikel über diese Versteigerung, weshalb Matthias davon ausging, dass sein Vater, der ganz und gar nicht unbekannte Carl Röwer, es gemalt hatte. Da Matthias nicht einmal wusste, was das Bild zeigte und in welchem Stil es gemalt war, konnte er allerdings nicht sicher sein. Natürlich hatte er Arvid gefragt, doch der war nie so recht auf dem Laufenden mit Carls Bildern gewesen und hatte sich noch dazu in den Jahren unmittelbar vor 1961, wo »Seashore Lights« am wahrscheinlichsten entstanden war, nur selten auf dem Fischland aufgehalten. Matthias streckte bereits seit einiger Zeit seine Fühler danach aus, bislang ohne Erfolg.

Wir waren beide neugierig auf Arvids Überraschung, mussten uns aber wohl oder übel bis zum Nachmittag gedulden. Matthias wollte Vorbereitungsgespräche für die übernächste Ausstellung in seiner »Mühlen-Galerie« führen und sich danach in seine Werkstatt zurückziehen, wo eine aufwendige Anrichte auf ihn wartete. Matthias’ Möbel waren nicht zum alltäglichen Gebrauch bestimmt, er schreinerte faszinierend asymmetrische Kunstgegenstände. An einer Anrichte mit vielen Schubladen hatte er sich bisher noch nicht versucht. Die Herausforderung reizte ihn besonders.

Ich las und überarbeitete noch einmal die beiden neuen Kapitel der Martens-Biografie und schickte sie zufrieden an Daniel. Anschließend widmete ich mich einem der Tagebücher der Dichterin, die einen eigenwilligen Stil pflegte und einen noch eigenwilligeren Humor gehabt hatte. Elisabeth Martens, deren Freunde sie Lissie nannten, schrieb manchmal sehr detailreich über ihr alltägliches Leben und ihre Gedanken, manchmal notierte sie auch nur Stichworte, oft gerade dann, wenn sich etwas wirklich Interessantes ereignete, als hätte sie nicht genug Zeit, sich mit der Niederschrift zu befassen. Was wiederum für mich arbeitsintensive Recherchen nach sich zog. Genau so etwas liebte ich– mich in Dinge zu versenken und zu graben, bis ich gefunden hatte, wonach ich suchte. Deshalb hatte ich gar nicht gemerkt, wie viel Zeit vergangen war, als ich Matthias’ und Arvids Stimmen hörte. Ein Papierschnipsel diente mir als Lesezeichen, ich klappte das Tagebuch zu.

Als ich die Wendeltreppe hinunterstieg, sah Arvid mir entgegen, einen besorgten Ausdruck in seinen selbst im Alter noch tiefblauen Augen. Ich ließ ihm keine Zeit zu fragen, wie es mir ging, sondern umarmte ihn kurzerhand. »Du hast uns ganz schön auf die Folter gespannt. Warum sollten wir uns für heute Abend nichts vornehmen?«

Arvid lachte und hielt mir einen Umschlag hin. »Deshalb. Mach auf.«

»Was ist das?«, fragte Matthias.

»Wird dir Greta schon gleich erzählen«, hörte ich Arvid sagen, während ich den länglichen Umschlag aufriss und zwei Tickets hervorzog.

»Theaterkarten?« Damit war ich weit von meiner Vermutung über das verschollene Gemälde entfernt, und Arvid bemerkte meine Verblüffung.

»Nicht direkt. Lies, was draufsteht.«

»Swing is King– Mike Darrell’s International Swing Orchestra im Großen Haus in Rostock.« Ich schaute auf. »Arvid! Was für eine wunderbare Idee!«

Er griente. »Ich dachte mir, das würde euch gefallen.«

»Das tut es«, bestätigte Matthias, »und die Überraschung ist dir gelungen. Du kommst doch hoffentlich mit?«

Arvid verzog leicht das Gesicht. »Ach, ich hab nicht mal ansatzweise so wie du Carls Leidenschaft für diese Musik geteilt. Geht ihr da mal schön allein hin.«

Ich wusste, dass Arvid wie Matthias Jazz mochte, und da Swing nicht so weit davon entfernt war, dachte er sicher, es würde uns guttun, mal zu zweit rauszukommen.

»Du bist leicht zu durchschauen«, sagte Matthias schmunzelnd.

»Ich hab nicht die leiseste Ahnung, was du meinst«, gab Arvid zurück. »Aber vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass ich heute Abend anderweitig beschäftigt bin. Ich treffe mich mit Magda.«

Hätte Matthias seinen Bruder prüfend ansehen können, hätte er es getan. Ich tat es für ihn. Arvid bemühte sich um eine undurchdringliche Miene, doch ein verlegenes und zugleich ironisches Lächeln konnte er nicht verbergen.

»Das hat sich so ergeben«, sagte er.

Jetzt lachte Matthias. »Du musst nichts erklären, du bist alt genug, um zu wissen, worauf du dich einlässt.«

»Moment mal, kleiner Bruder, was soll das denn heißen? Wir treffen uns zum Abendessen, mehr nicht, ich habe nicht vor, mich auf irgendwas einzulassen.« Er klang empört, aber das Geplänkel machte ihm unübersehbar Spaß.

»Bei ihr?«, fragte Matthias.

»Natürlich bei ihr. Sie kocht immer noch phantastisch.«

»Ja. Ich weiß. Sie hat mich nicht nur mit großgezogen, sie war auch mal meine Haushälterin.« Matthias biss sich auf die Lippen. »Da du so gut über ihre aktuellen Kochkünste informiert bist, nehme ich an, es ist nicht das erste Mal, dass ihr euch trefft, weil es sich so ergeben hat?«

Arvid brummte etwas vor sich hin.

»Wie bitte?«, hakte Matthias nach.

»Ich dachte, deine Ohren wären noch in Ordnung«, schoss Arvid zurück.

»Sie sind ausgezeichnet und haben mir gerade signalisiert, du hättest ›zum dritten Mal‹ gesagt.«

Das hatte ich nicht verstanden. Matthias konnte eine Ameise übers Parkett laufen hören.

»Warum fragst du dann?«, erkundigte sich Arvid.

»Weil ich Nuscheln nicht ausstehen kann.« Matthias machte einen Schritt auf Arvid zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Würdest du sie von uns grüßen?« Sein Tonfall war unvermittelt ernst geworden. »Ich hatte wirklich gehofft, dass wir wieder zueinanderfinden nach allem, was war, und nicht damit gerechnet, dass sie sich ein zweites Mal zurückzieht.«

Auch aus Arvids Gesicht war der vergnügte Ausdruck verschwunden. »Sie will sich nicht aufdrängen.«

»Ich… wir haben ihr gesagt, dass sie jederzeit willkommen ist. Und das hat nichts mit ihren Kochkünsten zu tun.« Matthias wandte sich mir zu und grinste ein bisschen boshaft. »Obwohl es nicht schaden könnte, mal wieder davon zu profitieren.«

Ich knuffte ihn in die Seite. Meine Kochkünste konnten mit Fug und Recht bescheiden genannt werden, aber verhungert waren wir seit dem Zerwürfnis mit Magda vor gut einem Jahr keineswegs. Sie war damals nicht damit einverstanden gewesen, dass Matthias eine Biografie über Carl schreiben lassen wollte, und mit mir als Matthias’ Frau auch nicht, unter anderem deshalb, weil ich diese Biografie verfassen sollte. Da Matthias sich während der Zeit, in der ich mich in den Händen der Entführer befand, Hinweise von ihr erhofft hatte, war er trotz ihrer Sturheit zu ihr gegangen. Sie hatten einen Waffenstillstand geschlossen, aber noch keinen Frieden. Zu dem war es offenbar zwischen ihr und Arvid gekommen– die beiden kannten einander von früher.

»Sie bräuchte einen triftigen Grund, der über eure Einladung hinausgeht.« Arvid seufzte. »Magda ist eine stolze Frau. War sie immer.«

Matthias nickte. »Ich lass mir was einfallen. Einstweilen wünsch ich euch beiden einen schönen Abend. Greta und ich werden bestimmt einen haben.«

Gegen sechs wartete ich vor der riesigen Fensterfront im Wohnbereich auf Matthias, der ein letztes unaufschiebbares Gespräch mit einem Grafiker wegen der Ausstellung in der Mühle führte. Während ich ins Dunkel starrte und mein Blick den Nebelschwaden folgte, die im Laufe des Tages wieder zugenommen hatten, dachte ich an Magda und Arvid. Sicher genossen sie ihre gegenseitige Gesellschaft und garantiert auch ein hervorragendes Abendessen. Magda kochte wirklich brillant. Arvid konnte das besonders gut beurteilen, er hatte vor seiner Laufbahn als Journalist in angesehenen Hotels in Deutschland und Schweden für das leibliche Wohl der Gäste gesorgt– und in den letzten Wochen das eine oder andere Mal für unseres. Immer in unserer Küche. Er wohnte hier in Wustrow bei seinem Sohn, und zu Erik und seiner Familie hatten wir ein schwieriges Verhältnis.

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.« Matthias war neben mir aufgetaucht.

»Kein Problem«, sagte ich zu seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe. Ich drehte mich um und stellte zum x-ten Mal fest, wie attraktiv Matthias war. Heute Abend würden sich eine Menge Frauen nach dem dunkelhaarigen Mann mit den Silbersträhnen umdrehen, nur im ersten Moment irritiert von der Narbe auf der Stirn, die sich vom Haaransatz zur Nasenwurzel zog, aber auf den zweiten Blick kaum noch auffiel bei seiner Gesamterscheinung im nachtblauen Anzug, weißen Hemd und nachtblauer Krawatte. Sollten sie sich ruhig nach ihm umdrehen. Ich würde die Einzige sein, die ihn ein paar Stunden später ganz ohne diesen Anzug sah.

»Greta?«

Ich musste was verpasst haben, während ich meinen lüsternen Phantasien nachgehangen hatte. »Entschuldige«, murmelte ich, »was hast du gesagt?«

Matthias legte den Kopf schief. »Nichts Weltbewegendes. Wo warst du mit deinen Gedanken?«

»Wenn ich dir das erzähle, wird das heute nichts mehr mit dem Konzert«, sagte ich anzüglich und strich mit meinem Zeigefinger über seine Lippen.

»Verstehe.« Matthias küsste die Innenfläche meiner Hand. »Dann erzähl es mir unbedingt hinterher.«

Die Fahrt dauerte wegen des Nebels länger, trotzdem blieb genug Zeit, vor dem Konzert noch eine Kleinigkeit zu essen. Dabei schweiften meine Gedanken zurück zu Magda und Arvid, und ich fragte Matthias, was er davon hielt.

»Wir dichten uns vorschnell was zusammen«, sagte er. »Nur weil sie sich sehen und Erinnerungen austauschen, muss das nichts weiter heißen.«

»Wenn Magda damals in Arvid verliebt gewesen ist, kann es von ihrer Seite schon etwas heißen. Und wenn ich Arvids Reaktion, so humorvoll sie gewesen sein mag, richtig interpretiere, scheint er der Idee nicht völlig abgeneigt. Immerhin ist er seit zwei Jahren Witwer, und er ist…« Ich zupfte an meiner Serviette.

»Er ist jenseits der achtzig und hat nicht mehr überwältigend viel Zeit, wenn er noch mal die Liebe erleben möchte, meinst du.«

Ich nickte. »Ich würde es ihm wünschen. Und Magda auch. Aber du hast recht. Ich bin zu vorschnell.«

»Warten wir es ab.«

Durch den Restaurantbesuch waren wir nun doch spät dran, der Einlass in den Saal des Großen Hauses, das zur Volksbühne Rostock gehörte, hatte längst begonnen. Arvid hatte Karten in der zweiten Reihe Mitte besorgt, sodass wir die Besucher, die schon saßen, bitten mussten aufzustehen. Das Licht im Zuschauerraum erlosch bereits, als wir in den weichen roten Sesseln Platz nahmen. An der hinteren Bühnenwand war in weißen Lettern auf blauem Grund der geschwungene Schriftzug »Mike Darrell’s International Swing Orchestra proudly presents the Swing is King Tour« projiziert. Das Publikum begann zu applaudieren, als die Musiker in ihren schwarzen Tuxedos die Bühne betraten und ihre Plätze einnahmen: links der Schlagzeuger und der Bassist, rechts vorn ein Klarinettist, vier Saxophonisten, dahinter vier Posaunisten und wieder dahinter vier Trompeter. Zum Schluss setzte sich der grauhaarige Bandleader Mike Darrell an den Flügel, warf seinen Musikern einen kurzen Blick zu, und das Orchester eröffnete mit »String of Pearls«.

Schon die ersten Takte brachten meine Füße zum Wippen. Ich liebte Swingmusik, seit ich einen Roman geschrieben hatte, der in den 1940er Jahren spielte. »String of Pearls« begann mit einem Saxophon-Solo, bei dem der Saxophonist sich erhob, ein noch sehr junger Mann, der mit einem Zwischenapplaus bedacht wurde, als er sich wieder setzte. Danach folgte ein Trompeten-Solo. Auch dieser Musiker, zwanzig Jahre älter, erhob sich und wurde anschließend mit Applaus bedacht, der den Anfang des Klavier-Solos übertönte, dem des Bandleaders. Er begrüßte das Publikum mit einem charmanten englischen Akzent, danach ging es Schlag auf Schlag: »Perfidia«, »Chattanooga Choo«, »Stardust«, »Moonlight Serenade«, ein großartiges »Trumpet Blues« des Solo-Trompeters, »Sing, Sing, Sing«, wo sich der Schlagzeuger ein Duell mit den Bläsern lieferte, und eine Menge weiterer Titel.

Ab und an sah ich zu Matthias. Er war verhältnismäßig selten absolut entspannt, und in den letzten Wochen erst recht nicht, doch diese Musik bewirkte genau das bei ihm. Manchmal fragte ich mich, ob Musik ihm noch mehr bedeutete, seit das mit seinen Augen passiert war, weil er sie genießen konnte, ohne etwas sehen zu müssen.

Als nach der Pause das zweite Stück begann, griff Matthias nach meiner Hand. »The Creep« war unser Lied. Matthias und ich hatten dazu getanzt, als wir noch nicht zusammen gewesen waren, und mir war in diesem Moment klar geworden, dass ich ihn liebte. Die nächsten beiden Stücke rauschten an mir vorbei, weil ich in der Erinnerung versank– bis der Solo-Trompeter wieder nach vorn an den Bühnenrand trat. Er spielte die ersten Takte von »Memories of You« ohne jede Begleitung, aber selbst als das Orchester einsetzte, nahm ich es kaum wahr. Die Trompete machte etwas mit mir, ich hörte nur sie, hörte zuerst ihre leise Trauer, dann ihre Verzweiflung, dann die ganzen Qualen dieser Welt. Ich konnte kaum die Augen von dem silberglänzenden Instrument lassen und hielt so lange unbewusst den Atem an, dass ich schließlich nach Luft ringen musste.

Nur diffus registrierte ich, wie Matthias meine Hand drückte, als merke er, dass etwas sich verändert hatte. Ich konnte nicht mal reagieren, ich konnte nur weiter auf die Bühne sehen, auf den Trompeter und sein Instrument, die miteinander verschmolzen schienen, und wünschen, dass »Memories of You« niemals aufhörte. Oder sofort aufhören sollte, damit diese schreckliche Verzweiflung nicht länger von mir Besitz ergriff.

Nachdem das Stück tatsächlich zu Ende war, herrschte absolute Stille im Saal, bis ein frenetischer Applaus losbrach, der die bisherige Begeisterung des Publikums in den Schatten stellte. Plötzlich spürte ich, dass meine Wangen nass waren, und wischte mir die Tränen fort.

Matthias beugte sich zu mir herüber. »Ziemlich beeindruckend, was?«

»Untertreibung des Jahrhunderts«, gab ich heiser zurück. Ich musste meine Stimme heben, damit sie den erst langsam abebbenden Beifall übertönte. »So hab ich das noch nie gehört.«

Matthias nickte nur, und ich glaubte in seinem Gesichtsausdruck zu lesen, dass er das so lieber auch nicht noch einmal hören wollte. Vielleicht lag die Verzweiflung in dem Stück ein bisschen zu nah an dem, was er während meiner Entführung verspürt hatte.

Als das Orchester eine halbe Stunde später als Zugabe »In the Mood« spielte, brodelte es wieder im Saal, aber sogar der berühmteste und beliebteste Titel aus der Swing-Ära konnte nicht hervorrufen, was bei »Memories of You« geschehen war.

»Möchtest du gleich nach Hause, oder gehen wir noch was trinken?«, fragte Matthias draußen auf der Straße.

Wir hatten bisher kaum ein Wort gewechselt, zu sehr fühlten wir uns noch gefangen in der Musik. Es war eine gute Idee, den Abend nicht zu abrupt enden, sondern langsam ausklingen zu lassen. Praktischerweise fanden wir eine Bar gleich um die Ecke, in der uns hohe verspiegelte Wände mit ebenso hohen Regalen voller Flaschen empfingen. Aus den Lautsprechern drangen Töne, die denen, die wir gerade gehört hatten, kaum weniger ähneln konnten. Immerhin waren sie leise genug für eine Unterhaltung, und man konnte nicht erwarten, dass in Bars, in denen wir den Altersdurchschnitt um mindestens fünfzehn Jahre hoben, Swing gespielt wurde.

Matthias bestellte einen Weinbrand und ich einen »Passionata«, was er mit einem Lächeln quittierte. Er hatte meine Bemerkung von vorhin nicht vergessen. »Was ist da drin?«

»Limettensaft, Passionsfruchtsirup, Orangensaft und…« Ich stockte, weil ich einen Mann die Bar betreten sah.

»Und was?«

»Tonic Water«, sagte ich abwesend. »Wie’s aussieht, hat der Trompeter keine Lust aufs Hotelzimmer, dabei muss so eine Tournee doch anstrengend sein. Da sollte er sich lieber nicht an die Bar stellen.«

»Vielleicht pausieren sie ja einen Tag. Und wer will schon jeden Abend im Hotel hocken?«

»Niemand. Aber auf dem Zettel im Programmheft steht, glaube ich, dass sie morgen in Schwerin spielen.« Ich kramte in meiner Handtasche, um mich zu vergewissern. Wo ich schon mal dabei war, schaute ich neugierig nach den Namen der Orchestermitglieder, die alle mit Foto abgebildet waren.

»Oh«, machte ich unwillkürlich und verglich den Mann, dem der Barkeeper inzwischen ein Glas mit etwas Hochprozentigem hingestellt hatte, sicherheitshalber noch einmal mit dem auf dem Schwarz-Weiß-Foto. In der Realität in Jeans und Sakko wirkte er jünger als im Tux. Seine aschblonden Haare waren in Unordnung geraten, als hätte er sie sich ein paarmal gerauft. »Auch wenn das ein internationales Orchester ist, habe ich nicht mit einem deutschen Namen gerechnet.«

Die Kellnerin kam mit unseren Getränken, Matthias nahm einen Schluck von seinem Rémy Martin. »Wie heißt er denn?« Dabei wandte er den Kopf in die Richtung der Bar, wo der Trompeter gerade einen zweiten Drink bestellte, nachdem er den ersten auf ex hinuntergestürzt hatte.

»Lennart Braun.«

Ruckartig setzte Matthias sein Glas ab. »Lennart Braun? Sicher?«

»Steht hier. Kennst du ihn?«

»Wie alt ist der Mann?«

»Mitte, Ende dreißig.«

Matthias nickte. »Das dürfte der Lennart Braun sein, den ich meine. Kennen ist allerdings zu viel gesagt. Er ist in der Sackgasse bei Onkel und Tante aufgewachsen, und der Straßenname ist durchaus doppeldeutig zu verstehen. Sein Vater hat sich aus dem Staub gemacht, als Lennart noch nicht mal in der Schule war, seine Mutter… na ja, sie war nicht sonderlich geeignet, ein Kind großzuziehen. Hoffnungslos überfordert, was sie mit Alkohol zu kompensieren versuchte. Ich weiß nicht, woher ihre Probleme rührten, jedenfalls hat sie ihren Jungen eines Tages bei ihrem Bruder zurückgelassen und ist weg.«

»Woher weißt du das alles?«

Ironisch hob Matthias die Brauen. »Die Welt ist klein auf dem Fischland. Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, dass Lennart es mal so weit bringt, geschweige denn, dass solche musikalische Genialität in ihm steckt, obwohl er schon als Kind in einem Jugendorchester gespielt hat. Klarinette, glaube ich. Leider wurde er als Fünfzehnjähriger das, was man damals schwer erziehbar nannte. Nichts Kriminelles, soweit ich weiß, aber seine Tante und sein Onkel kamen nicht mehr mit ihm klar. Irgendwann ist er wie seine Mutter abgehauen, hat ein paar Jahre sonst wo auf der Straße gelebt.«

»Hm«, machte ich und beobachtete Lennart Braun, der sein zweites Glas auf ex trank und dem Barkeeper ein Zeichen machte, es nachzufüllen. »Sein Schicksal könnte einiges erklären.«

Matthias guckte fragend. »Du meinst, er musste bei ›Memories of You‹ an seine Mutter oder seinen Vater denken und hat es deshalb so gefühlvoll gespielt?«

»Eher dass er zu viel trinkt. Er bekommt gerade den dritten Drink. Wenn seine Eltern ihn dermaßen im Stich gelassen haben, wird er ihnen doch nicht sein Solo widmen. Das passt besser zu einer verlorenen Liebe.«

»Sagte die Liebesroman-Autorin«, spöttelte Matthias und spielte damit auf die Heftromane an, die mein Lebensunterhalt gewesen waren, bevor ich seinen Auftrag, Carls Biografie zu schreiben, angenommen hatte. »Du bist und bleibst eine Romantikerin.«

»Ist das schlecht?«

»Gar nicht«, sagte Matthias lächelnd. »Was seine Eltern betrifft, wäre ich mir im Übrigen nicht so sicher. Immerhin kennen wir die Gründe nicht, warum es in der Familie schiefgelaufen ist.«

»Stimmt auch wieder.« Wenn jemand eine Vorstellung davon hatte, was in einer Familie schieflaufen konnte, dann Matthias. »Auf jeden Fall scheint in seinem Leben auch gerade was danebenzugehen. Er kippt die Drinks so schnell, dass der Barkeeper kaum Zeit findet, sich um die anderen Gäste zu kümmern.«

Ein ganzer Pulk von Leuten verstellte mir den Blick auf Lennart Braun. Ich lehnte mich zurück und versuchte, an etwas anderes als an die Probleme fremder Leute zu denken, die mich nichts angingen und die ich erst recht nicht lösen konnte. Eine Weile unterhielten wir uns über das Konzert und das Paar in der Reihe vor uns, das mit seinen zwei Kindern gekommen war. Das Mädchen war in der zweiten Hälfte an den Arm ihres Vaters gelehnt eingeschlafen, weshalb ich einen freien Blick auf die Bühne gehabt hatte. Schließlich aber wurde unsere Aufmerksamkeit doch wieder auf die Bar gelenkt.

»Was soll das heißen, genug?«, schimpfte Lennart Braun mit erhobener, schon reichlich unsicherer Stimme. »Es geht Sie einen Dreck an, wie viel ich trinke.«

Der Barkeeper blieb gelassen. Was er antwortete, konnten wir nicht verstehen. Leider war seine Gelassenheit nicht ansteckend.

»Ich kann zählen, besten Dank. Also, was ist nun?« Lennart Braun knallte sein Glas auf den Tresen, um seine Forderung zu bekräftigen.

Der Barkeeper blieb weiterhin ruhig, schüttelte den Kopf und sagte nur ein, zwei Worte.

Lennart Braun stand vom Barhocker auf und ließ ihn zu Boden poltern, was ihm völlig egal war. Oder er hatte es absichtlich getan. »Scheiße, solange ich zahle, hab ich hier zu bestimmen.« Er fegte das Glas zu Boden, dessen Scherben sich klirrend auf dem Terrazzo verteilten.

Der Barkeeper griff unter den Tresen. Gab es so was wie einen Notknopf, wie man das aus Filmen kannte? Jedenfalls fixierte der Mann Lennart Braun nun sehr genau und sah nicht länger freundlich aus.

»Das gibt Ärger«, sagte ich.

Matthias erhob sich. »Irgendwelche Hindernisse auf dem Weg zur Bar?«

»Im Moment nicht. Was hast du vor?«

»Weiß ich, wenn ich da bin.«

Ich stand ebenfalls auf und ging neben ihm her, damit er sich besser orientieren konnte. Aus den Augenwinkeln sah ich einen muskelbepackten Typen auf die Bar zusteuern.

»Sind Sie taub? Was ist jetzt mit meinem Drink?« Lennart Brauns Stimme war noch aggressiver geworden.

Matthias trat dicht neben ihn. »Großartiges Konzert vorhin, Herr Braun. Besonders meine Frau war begeistert von Ihrem zweiten Solo.«

Irritiert wandte Lennart Braun sich um, sein Blick huschte von Matthias zu mir und zurück. »Kennen wir uns?« Er sprach weniger aggressiv, aber zugleich auch schleppender als eben.

»Sie werden sich bestimmt nicht erinnern, ist lange her– Matthias Röwer.«

»Röwer?«, wiederholte Lennart Braun und machte zwischen den beiden Silben eine so lange Pause, dass es wie ein Bindestrichname klang. Er starrte Matthias an, als müsse er tief in der Vergangenheit graben. »Warum sind Sie hier?«, brachte er heraus.

Das Muskelpaket war inzwischen ganz herangekommen, hielt sich allerdings zurück, weil der Randalierer sich beruhigt hatte.

»Wir waren vorhin im Großen Haus«, erklärte Matthias zum zweiten Mal.

Lennart Braun kniff seine Augen zusammen. Er schwankte, musste sich am Tresen festhalten und versuchte, seinen unsteten Blick auf die linke Hand zu konzentrieren. »Ich hab zu viel getrunken«, murmelte er.

»Zweifellos. Was halten Sie davon, wenn wir Ihnen ein Taxi rufen, das Sie in Ihr Hotel bringt? Oder übernachten Sie in Wustrow, wo Sie schon mal hier sind?«

Lennart Braun schüttelte den Kopf, was ihm nicht bekam. Er schloss die Augen. »Im Hotel. War ewig nicht auf dem Fischland.«

»Dann kommen Sie«, richtete ich zum ersten Mal das Wort an ihn und bot ihm meinen Arm.

Er schnaubte. »Ich kann allein gehen.«

Langsam ließ er den Tresen los und stand einen Moment still, bevor er sich einigermaßen sicher in Bewegung setzte. Er kam nur ein paar Schritte weit, geriet aus dem Gleichgewicht und wäre fast gegen eine Frau gestolpert.

Ich holte ihn ein. »Warten Sie. Wir begleiten Sie gleich.« Damit zog ich ihn zurück zur Bar, wo Matthias sowohl unsere als auch Lennart Brauns Rechnung beglich. Braun blieb ohne weiteren Protest neben uns stehen.

»Es hat Ihnen wirklich gefallen?«, fragte er beinah verwundert, als hätte er vergessen, dass er mich gerade einfach stehen gelassen hatte.

Ich nickte. »Sie waren grandios. ›Memories of You‹ hat mich ungeheuer berührt.«

Lennart Braun richtete seinen Blick auf einen Punkt hinter meiner Schulter. Weil ich dachte, es wäre ihm dort etwas aufgefallen, drehte ich mich um, aber da war nichts weiter. Als ich ihn wieder ansah, nahm ich ein Glitzern in seinen Wimpern wahr.

»Wenn ich das spiele, denke ich an… einen Freund. Ich hab geglaubt, er würde immer da sein. Wie dumm von mir, dass ich der Wahrheit nie in die Augen sehen wollte«, sagte er so leise, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen, aber seltsamerweise mit vollkommen klarer Stimme. »Haben Sie schon mal jemanden verloren und das Gefühl gehabt, es risse Ihnen das Herz raus? Wie kann man mit herausgerissenem Herzen weiterleben? Hm? Wie kann man das?« Seine Stimme wurde mit jedem Wort wieder lauter. Ich war mir des Muskeltypen bewusst, der noch in der Nähe stand und uns beobachtete. »Wie kann man das?«, wiederholte Lennart Braun.

»Darüber sollten wir draußen reden, Herr Braun«, schaltete sich Matthias ein, der alles erledigt hatte. »Greta?«

Ich schob mich zwischen ihn und Lennart Braun, um Letzteren zu stützen und Matthias zu führen, und so verließen wir als Trio die Bar.

Draußen hatte es zu regnen begonnen, ein Taxi war weit und breit nirgends in Sicht, und da ich bis eben mit Lennart Braun beschäftigt gewesen war, hatte ich noch keines rufen können. Unser Wagen stand nicht weit entfernt, das war die unkomplizierteste Lösung. Auf dem Weg dahin fing Braun nicht wieder von seinem Freund an, er sagte überhaupt nichts, sondern schien weit weg zu sein. Schließlich verfrachteten wir ihn auf den Beifahrersitz, Matthias stieg hinten ein.

»In welchem Hotel wohnen Sie?«, fragte er.

Lennart Braun erwachte aus seiner Trance. »Steigenberger. Aber Sie müssen nicht…«, fiel ihm etwas spät ein.

»Wo ist das?«, unterbrach ich ihn.

Reglos schaute er durch die Windschutzscheibe und gab keine Antwort.

»Neuer Markt«, sagte stattdessen Matthias.

Als wir ankamen, war Lennart Braun eingeschlafen. Er sah noch jünger, sogar verletzlich aus und hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit dem pöbelnden Betrunkenen von vorhin.

»Herr Braun?« Ich stupste ihn an. »Wir sind da.«

Er schreckte hoch. »Mags? What the hell…«, fing er an, registrierte, wo er war, und rieb sich die Augen. »Verzeihung, ich muss… Sie haben…« Er massierte seine Schläfen, um die Benommenheit loszuwerden. »Danke, dass Sie mich gefahren haben.« Halb drehte er sich zu Matthias um. »Herr Röwer, Sie müssen mir noch sagen, was ich Ihnen schulde.«

»Vergessen Sie’s. Ihre Musik ist Bezahlung genug.«

Lennart Braun erstarrte kurz, dann verzog er die Mundwinkel und murmelte etwas Undeutliches vor sich hin. Schließlich öffnete er die Tür. Im zweiten Anlauf schaffte er es, auszusteigen, beugte sich noch einmal hinunter, wünschte uns eine gute Nacht und ging mit unsicheren Schritten auf den Hoteleingang zu, wobei die Beine ein-, zweimal fast unter ihm wegsackten.

»Das packt er nicht allein«, stellte ich fest. »Wartest du hier, Matthias?«

»Keine Sorge, ich fahr nirgends hin.«

Ich musste lächeln, dann folgte ich Lennart Braun. Als ich ihn zum zweiten Mal an diesem Abend eingeholt hatte, war ihm anzusehen, dass er nicht wusste, ob er schon wieder dankbar sein oder sich schämen sollte. Ohne weitere Zwischenfälle brachte ich ihn bis vor sein Zimmer, wo er sich in der offenen Tür zu mir umdrehte.

ZWEI

»Wenn ich geahnt hätte, wie spannend das bei euch wird, wäre ich doch mitgekommen«, sagte Arvid.

Er war auf einen Spätvormittagskaffee hereingeschneit, um zu hören, wie uns das Konzert gefallen hatte, und wir hatten kein Detail ausgelassen. Dabei schien die Begegnung mit Lennart Braun in der mondänen Bar jetzt in unserem Wohnzimmer fast unwirklich.

Matthias lachte. »Dann hättest du den Abend mit Magda verpasst. Was hat sie gekocht?«

»Fischsoljanka. Und ja, du hast recht, das hätte ich um nichts in der Welt verpassen mögen. Dass sie sich daran erinnert hat…«

»Das ist Magdas Elefantengedächtnis«, stellte Matthias fest. »Falls du weitere Lieblingsgerichte hattest, wird sie noch wissen, welche. Du kannst dich schon auf euer nächstes gemeinsames Essen freuen.«

Arvids Gesicht verdunkelte sich, was Matthias nicht sehen konnte. Bestimmt wollte er auch nicht, dass ich es mitbekam, aber dafür war es zu spät.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Dir bleibt nichts verborgen, was? Beobachten alle Schriftsteller so gut, damit sie jede nur mögliche menschliche Regung später zu Papier bringen können?« Das klang etwas resigniert, außerdem schwang noch ein schwer definierbarer Unterton mit.

»Gelingt mir nicht immer. Lenkst du jetzt bloß ab?«

Arvid seufzte und ließ dann die Bombe platzen. »Ich muss nach Göteborg zurück.«

Matthias, der gerade einen Schluck Kaffee nehmen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. Obwohl wir befürchtet hatten, dass dieser Tag kommen würde, hätten wir uns gewünscht, Arvid würde länger bleiben. Seine Treffen mit Magda hatten diese Hoffnung noch genährt, aber da waren wir anscheinend wirklich zu vorschnell gewesen. Ich sah Matthias an, dass er am liebsten gefragt hätte: Was willst du da? Aber natürlich hatte Arvid ein Haus dort, Freunde, die ihm etwas bedeuteten, die er jahrzehntelang kannte, so viel länger als uns– ein ganzes Leben, über das wir viel zu wenig wussten. Hinzu kam, dass es sich vermutlich zurzeit mit Erik unter einem Dach schwierig gestaltete und er ständig zwischen seinen beiden Familien hin- und hergerissen war.

Also nickte Matthias nur. »Wann?«

»Mein Flieger geht heute Abend. Von Magda habe ich mich gestern schon verabschiedet. Ich weiß, wie kurzfristig das ist, ich hätte es euch eher sagen sollen.« Wieder seufzte er.

»Schon in Ordnung, das erspart uns allen längeren Abschiedsschmerz«, sagte Matthias leichthin.

Der lockere Ton kostete ihn viel. Ich hätte gern gewusst, ob Arvid das ebenso merkte wie ich, aber als ich ihn ansah, wurde mir klar, dass er verständlicherweise gerade genug mit sich selbst zu tun hatte. Als er sich eine Stunde später erhob, standen die beiden Männer sich schweigend gegenüber. Keiner von ihnen wusste, was er sagen sollte, sodass ich die Frage stellte, die Matthias nicht stellen würde.

»Wirst du wiederkommen?«

Arvid antwortete nicht sofort, was mir Herzklopfen verursachte. Bitte sag nicht Nein, flehte ich innerlich und dachte an Lennart Braun und fragte mich, ob wir von jetzt an bei »Memories of You« an Arvid denken würden. Ich rief mich zur Räson. Arvid flog nur nach Hause, nach Göteborg, das war nicht aus der Welt, und wir würden noch viele Gelegenheiten haben, einander zu sehen. Aber er ist alt, schoss es mir ungewollt durch den Kopf. Hör auf damit!, befahl ich mir gleich anschließend.

»Na sicher«, sagte Arvid endlich, und ich atmete auf. Gleichzeitig mit Matthias, und diesmal war das– völlig untypisch für ihn– so offensichtlich, dass auch Arvid es merkte. Er legte die Hand auf seine Schulter. »Was ich hier gefunden habe, ist viel zu kostbar, als dass ich bereit wäre, es aufzugeben, Matthias.«

Wir begleiteten ihn nach draußen, wo er den Barnstorfer Weg in Richtung Wustrow davonging und der Nebel seine Gestalt mit jedem Schritt weiter verschluckte, bis er nicht mehr zu sehen war.

Kurz darauf warf Matthias die Tür laut ins Schloss. »Wenn das auf Eriks Konto geht, bringe ich ihn eines Tages doch noch um.«

»Bevor du das tust, denk dran, dass Arvid ohne Erik niemals nach Wustrow zurückgekommen wäre«, erinnerte ich ihn.

Langsam drehte Matthias sich zu mir um und nahm mein Gesicht in seine Hände. »Was hab ich bloß früher gemacht, wo mir nie jemand gesagt hat, was ich denken und tun soll?«

Dass ich das gelegentlich tat, brachte ihn ebenso gelegentlich auf die Palme, aber meistens erinnerte er sich dann daran, was zwischen uns beiden passiert war, als wir uns zum ersten Mal deswegen gestritten hatten: Wir waren im Bett gelandet.

»Soll ich dir das nicht mehr sagen?«

Matthias’ Lippen näherten sich meinen. »Doch.« Das nächste Wort spürte ich bereits mehr, als dass ich es hörte. »Bitte.«

Den restlichen wie auch den nächsten Tag arbeitete ich an der Elisabeth-Martens-Biografie. Ihre ersten Jahrzehnte hatte die Martens in Rostock verbracht, bevor sie in der Nachkriegszeit nach Stralsund zog, wo ihre Nachkommen heute noch lebten. Als ich mich vor einigen Monaten mit dem Projektvorschlag an Daniel gewandt hatte, hatte ich die Mail versehentlich mit Greta Röwer unterschrieben, obwohl ich meine Bücher weiterhin unter dem Namen Sievers veröffentlichte– immerhin gab es schon einige historische Romane von mir. Wie sich herausstellte, war dieser Fehler mein Glück, denn Daniel beantwortete mein Anliegen ursprünglich bloß wegen des Namens Röwer und erzählte mir bei unserem ersten Treffen, dass seine Großmutter über mehrere Jahrzehnte mit Carl Röwer befreundet gewesen war. Ich hatte mich schon gefragt, ob die beiden einander je begegnet waren, schließlich war ich durch eines von Carls Gemälden, das sie besessen hatte, erst auf sie aufmerksam geworden. Von einer echten Freundschaft hatten weder Matthias noch ich etwas geahnt, was sich dadurch erklärte, dass die meisten alten Familiendokumente der Röwers, darunter Briefe und Fotos, einem Brand zum Opfer gefallen waren. Von daher versprachen die Recherchen über die Martens auch für uns spannend zu werden.

Aber noch war ich mit meiner Arbeit im Jahr 1935. Da hatte sie zwar Carls Gemälde gekauft, ihn aber noch nicht persönlich gekannt. Gerade las ich einen längeren Briefwechsel zwischen ihr und ihrem Verlag, in dem darüber diskutiert wurde, weshalb eines ihrer Gedichte sich angeblich nicht zur Veröffentlichung eignete. Darüber wollte ich mir gern selbst ein Urteil bilden und suchte erfolglos nach dem entsprechenden Text. Das konnte heißen, dass er tatsächlich unveröffentlicht geblieben war, oder sie hatte ihn unter einem anderen Titel anderswo drucken lassen. Ewig lange ging ich in Frage kommende Unterlagen durch, ohne fündig zu werden, bis Matthias hereinkam.

»Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich habe den ganzen Tag nichts Vernünftiges gegessen und bekomme allmählich Appetit. Schieben wir uns schnell was in den Ofen?«

Jetzt, wo er es erwähnte, merkte ich ebenfalls meinen leeren Magen. »Ja, gleich, ich will nur noch kurz diesen Ordner durchgehen.«

Matthias nickte verständnisvoll, seine Worte trieften allerdings vor– berechtigtem– Spott. »Alles klar, ich frag Weihnachten noch mal nach.« Er schloss die Tür.

»Zehn Minuten!«, rief ich ihm hinterher. »Höchstens eine Viertelstunde!«

»Pizza?«, rief er zurück.

»Unbedingt!« Ich sah wieder auf den Schreibtisch. Das würde ich weder in zehn noch in fünfzehn Minuten schaffen, und es war ohnehin unwahrscheinlich, dass ich in diesem mit »Familientreffen« beschrifteten letzten Ordner aus den Dreißigern etwas fand. Weil ich aber wusste, dass mich die Frage nicht ruhen lassen würde, griff ich kurzerhand zum Telefon. Vielleicht wusste Daniel ja spontan etwas zum Thema.

Seine Stimme klang angespannt, als er sich meldete. Er hörte sich meine Frage nicht mal zu Ende an, sondern unterbrach mich mittendrin. »Können wir das ein anderes Mal besprechen, Greta? Meine Tante ist gestorben, ich hab einiges zu regeln.«

Ich schluckte. »Das tut mir leid. Natürlich, kein Problem, es ist nicht so wichtig. Melde dich, wenn du Zeit hast. Und wenn ich was tun kann…«

»Danke, auch für dein Angebot, aber ich komm schon klar. Immerhin hast du noch mit ihr reden können.«

Mit ihr reden? Da erst ging mir auf, von wem er sprach. »Oh. Oh, nein, du meinst deine Tante Gertrud. Entschuldige, dass ich nicht sofort…« Gertrud Minde war genau genommen seine Großtante, Elisabeth Martens’ jüngere Halbschwester, die in einem Seniorenheim in Ribnitz gelebt hatte. »Was ist passiert? Sie war doch noch so gut beisammen, als wir uns getroffen haben.«

»Richtig. Und ich sage dir, da ging was nicht mit rechten Dingen zu.« Jetzt lag Härte in seiner Stimme, und ich konnte ihn mir besser denn je als Staatsanwalt vorstellen.

Ich verstand seine Trauer, fragte mich allerdings, ob seine Reaktion nicht übertrieben war. Gertrud Minde war immerhin fünfundneunzig gewesen. Andererseits neigte Daniel, soweit ich ihn kannte, nicht zu überspannten Wahrnehmungen. »Wie meinst du das?«

»Ich meine, dass ich eine Obduktion will. Insbesondere aufgrund der Tatsache, dass Gertrud am Tag ihres Todes Besuch bekommen hat. Ich muss nicht betonen, dass normalerweise nur Jana und ich sie besuchten.«

»Wer war denn bei ihr?«

»Das weiß ich nicht. Angeblich hat niemand jemanden gesehen.«

Es lag mir schon auf der Zunge zu fragen, woher er dann von diesem ominösen Besuch wusste, aber er kam mir zuvor.

»Gertrud wurde in ihrem Sessel gefunden. Daneben lag auf dem Teppich eine Kette mit einem goldenen Anhänger. Er hat die Form eines abgerundeten Rechtecks, an den Rändern sind feine punktierte Linien zu erkennen, und in der Mitte ist einT eingraviert. Ich kenne dieses Schmuckstück nicht, und ich war es, der ihre Sachen zusammengepackt hat, als sie ins Heim ging. Jemand Fremdes muss es mitgebracht haben.«

»Womöglich gehört die Kette einer anderen Bewohnerin, die sie deiner Tante gezeigt hat«, schlug ich vor.

»Das wurde von der Heimleitung überprüft. Niemand vermisst etwas, und gesehen wurde sie auch noch nie an einer der alten Damen.«

Im Stillen bezweifelte ich, dass die Pflegekräfte Zeit fanden, sich ausführlich dem Schmuck der Bewohnerinnen zu widmen, aber seltsam war das schon. Wenn die Kette Gertrud gehört hätte, wäre außerdem einG im Anhänger eingraviert gewesen, keinT. Es gab auch kein Familienmitglied, zu dem das gepasst hätte, Gertruds Ehemann hatte Hans geheißen, sie waren kinderlos geblieben. Außer vielleicht… »Wurde deine Tante manchmal Trude genannt?«

Daniel lachte trocken auf. »Das hätte niemand gewagt. Sie war ja sonst nicht sehr resolut, aber diese Abkürzung konnte sie nicht ausstehen und machte daraus keinen Hehl.«

Ich zog eine Grimasse. Konnte man es ihr verdenken? »Gibt es denn offiziell Zweifel an ihren Todesumständen?«

»Nein, der Arzt hat auf dem Totenschein ›natürlicher Tod‹ angekreuzt. Herzversagen, sagt er und will nicht weiter tätig werden. Aber das interessiert mich nicht. Ich habe die Obduktion privat veranlasst.«

Mir war bis dahin nicht bewusst gewesen, dass so etwas möglich war. Ich hatte angenommen, das müsse von einem Arzt oder der Staatsanwaltschaft beantragt werden. Dass Daniel selbst die Staatsanwaltschaft vertrat, machte die Sache ein bisschen kurios.

»Du hast es schon veranlasst? Wann ist sie denn gestorben?«

»Gestern.« Seine Stimme war wieder leiser geworden. »Ich war heute ein paar Stunden im Heim, um ihre Habseligkeiten zusammenzuräumen. Die brauchen das Zimmer. Ihre paar Möbel kann ich dalassen, der Rest liegt hier in drei Kisten, die ich durchsehen und dann entscheiden muss, was… weg soll.«

Ich mochte mir nicht vorstellen, was das für ein Gefühl war, quasi den Rest des Lebens eines Menschen zu entsorgen, der einem etwas bedeutet hatte. »Das ist bestimmt schwer.«

»Jana wird mir helfen, wir kriegen das schon hin. Ich bin zum ersten Mal froh, mit einer Psychologin liiert zu sein.« Ein Schmunzeln schwang in seinen Worten mit. »Ich melde mich bei dir, sobald ich für die Biografie wieder den Kopf frei habe, versprochen.«

»Lass dir Zeit– und…« Mir fehlten die Worte, aber er verstand mich schon.

»Danke. Bis dann.«

Immer noch etwas benommen legte ich das Telefon auf den Tisch. Ich sah Gertrud Minde vor mir, wie sie bei unserem Gespräch in einem gemütlichen Sessel gesessen hatte: klein, schmächtig, aber nicht so sehr, dass sie zerbrechlich gewirkt hätte. Weiße Haare, wache Augen, Lippen, die, wie ich von einem alten Foto wusste, einmal voll gewesen, im Alter jedoch schmal geworden waren, geistig noch vollkommen auf der Höhe. Sie hatte mich sogar scharf gemustert, als Daniel uns vorstellte, und gefragt, ob ich mit dem bekannten Maler Carl Röwer verwandt sei. Ich erklärte ihr die Zusammenhänge und reichte ihr eine Ausgabe seiner Biografie, damit sie sehen konnte, was ich machte. Sie holte ihre Brille hervor und blätterte aufmerksam durch das Buch, ehe sie sich meinen Fragen stellte. Beim Abschied bat sie darum, die Biografie behalten zu dürfen, weil sie Carls Gemälde sehr gemocht habe. Auf mein »Selbstverständlich« hin hatte sie sich bedankt und entschuldigt, dass sie mich nicht zur Tür begleitete, das Laufen fiele ihr schwer und ihr Rücken mache nicht mehr so mit. Herzprobleme hatte sie nicht erwähnt, und Daniel hätte sicher gewusst, wenn sie welche gehabt hätte.

Jetzt kam mir mein eigener Körper schwerfällig vor. Dennoch erhob ich mich und ging hinunter in die Küche, in der es verheißungsvoll nach frischer Pizza duftete. Na ja, eher Tiefkühlpizza. Ich dachte an Magda und nahm mir zum wiederholten Mal vor, öfter zu kochen. Manchmal taten Matthias und ich das gemeinsam, es klappte trotz seiner Sehbehinderung gut, nur fehlte uns beiden häufig die Zeit dazu.

»Gratuliere«, begrüßte er mich. »Du hast es in zwanzig Minuten geschafft, das liegt unter deiner bisherigen Bestzeit. Deine Hälfte ist noch im Ofen.«

Auf seinem Teller lagen schon eine Menge Krümel, aber auch noch ein Viertelstück Salamipizza. Obwohl sie gut aussah und trotz des Duftes hatte ich den Appetit verloren. Ich ließ mich auf einen Küchenstuhl fallen.

»Steckst du fest beim Schreiben?«, fragte Matthias.

Nachdem ich von dem Telefonat mit Daniel erzählt hatte, war der Rest von Matthias’ Pizza kalt geworden. Er stand wortlos auf, holte meine Hälfte aus dem noch lauwarmen Ofen, teilte sie in drei Stücke und stellte den Teller vor mich hin. »Es hilft weder Gertrud Minde noch Daniel, wenn du nichts isst.«

Ich griff nach einem Stück und knabberte daran herum. »Ob an seinen Vermutungen was dran ist?«

»Das wird die Obduktion zeigen. Ich kenne Daniel ja nicht und kann nicht einschätzen, inwieweit er sich womöglich in etwas verrennt. Sollte man von einem Oberstaatsanwalt nicht annehmen, aber wenn man persönlich involviert ist, ist man nie so neutral wie bei einem Fall, den man vorwiegend aus Akten kennt.«

Da konnte ich nur zustimmen. »Er ist schon ein Gefühlsmensch, jedenfalls privat. Zumindest hat er sich sehr liebevoll um seine Tante gekümmert.«

»Dann hoffe ich, dass er sich irrt. Es wird nicht leichter für ihn, wenn er erfahren muss, dass sie ermordet wurde.«

Automatisch biss ich ein weiteres Stück Pizza ab und kaute, ohne dass ich den Geschmack wahrnahm. »Du hast recht. Aber gesetzt den Fall, er irrt sich nicht: Welches Motiv könnte jemand haben, eine fünfundneunzigjährige Frau in einem Seniorenheim umzubringen?«

Matthias legte die Stirn in Falten, was seine Narbe deutlicher hervortreten ließ. »Dazu hat Daniel nichts gesagt?«

»Nein, und ich habe in der Situation gar nicht daran gedacht zu fragen. Paul und Kassandra wäre das sicher nicht passiert.« Paul Freese und Kassandra Voß hatten maßgeblich zu meiner Befreiung beigetragen und waren geübter darin, Verbrechen aufzuklären, als die meisten Fischländer ahnten. Geübter jedenfalls als ich, die ich mich bisher nur vor über einem Jahr darin versucht hatte, auszuschließen, dass Matthias einen Mord begangen hatte. »Vielleicht hat Gertrud etwas gesehen, was sie nicht sehen sollte. Wie jemand Medikamente stiehlt. Da muss doch haufenweise so was liegen, bis hin zu Morphium oder was weiß ich.«

»Wie passt das zu dem geheimnisvollen Besucher und dem Goldkettchen?«, wandte Matthias ein.

Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Eben. Ich will dir nicht reinreden, schließlich bin ich nicht derjenige, der anderen sagt, was sie tun sollen, aber…« Er ignorierte mein unüberhörbares Schnauben, das ich von mir gab, weil er das sehr wohl auch sehr gut konnte. »Aber ich finde, du hattest in letzter Zeit genug Aufregung. Ganz davon abgesehen, dass erst mal bewiesen werden muss, dass Gertrud Mindes Herz nicht einfach stehen geblieben ist.« Matthias erhob sich und räumte die Teller in den Geschirrspüler, bevor er sich mir wieder zuwandte. »Kommst du mit rüber in die Werkstatt? Meine Anrichte ist fertig, ich möchte wissen, was du davon hältst.« Er streckte mir die Hand entgegen, ich ließ mich von ihm hochziehen.

DREI

Am liebsten arbeitete ich chronologisch, weil ich das am spannendsten fand, und so hatte ich es mir versagt, schon vorher nachzuforschen, wie es zu der Freundschaft zwischen Carl und Elisabeth Martens gekommen war. Nun, drei Tage nach dem Gespräch mit Daniel, wusste ich es endlich: Die Martens hatte Carls Gemälde »Familie unter dem Birnbaum« gekauft, weil sie von der Darstellung der jungen Frau im Hintergrund so berührt gewesen war. So sehr, dass sie Kontakt zu dem Maler aufnahm, der es fertiggebracht hatte, sie durch die Faszination, die das Bild auf sie ausübte, von ihrem Schreiben abzuhalten. Es hatte sich zunächst eine Korrespondenz entwickelt, die mich so gefangen nahm, dass ich von meiner Gewohnheit abwich und einige von Carls Briefen las, obwohl sie noch lange nicht an der Reihe gewesen wären. Insgesamt lagen mir sechzehn Briefe vor, der älteste stammte von 1936, der jüngste von 1965. Aus den jeweiligen Inhalten konnte ich schließen, dass es mehr gegeben haben musste, doch wo die anderen abgeblieben waren, ließ sich nicht rekonstruieren. Vielleicht hatte Elisabeth Martens– Lissie, wie auch Carl sie nannte– nur die aufgehoben, die ihr besonders wichtig gewesen waren. Gerade lag einer aus dem Jahr 1942 vor mir, aus dem hervorging, wie viel Carl ihr anvertraut hatte:

»Heute ist wieder so ein Tag, meine liebe Lissie. Charlotte ist eine wunderbare Frau, und doch denke ich an Elsa. Einzig Christian hat mich aus meinem tiefen Tal geholt. Ich sehe ihn an und begreife, dass ich mich glücklich schätzen kann. Ich weiß, dass es ihn nie gegeben hätte, wenn damals alles anders gekommen wäre. Manchmal kann auch das Unglück Glück bergen.«

Ich musste schlucken und nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit Arvid diesen Brief zu zeigen. Er sollte wissen, wie viel er seinem Vater bedeutet hatte.

Die Türklingel riss mich aus meinen wehmütigen Gedanken. Matthias war mit dem Grafiker, mit dem er neulich telefoniert hatte, in der Mühle, also strich ich noch einmal über den Brief und ging nach unten.

Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, und die Lampe, die durch den Bewegungsmelder eingeschaltet worden war, blendete mich ein wenig. Ich blinzelte und brauchte zwei Wimpernschläge, bis ich den Mann unter dem dunklen Regenschirm erkannte.

»Daniel? Du triefst ja förmlich, komm schnell rein!« Tatsächlich war der Nebel dem Regen gewichen, der seit einiger Zeit gegen die Fenster trommelte.

Daniel schüttelte den Schirm aus und trat in die Wärme und Helligkeit des Hauses. »Tut mir leid, wenn ich unangemeldet reinplatze, aber ich bin auf etwas gestoßen, das dich interessieren dürfte.«

Neugierig nahm ich ihm seinen Mantel ab, aus dessen Innentasche er zuvor noch ein kleines Päckchen holte, und bedeutete ihm, weiter in den Wohnbereich zu gehen. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und sah sich bewundernd um. »Du hast mir erzählt, wie beeindruckt du warst, als du das hier zum ersten Mal gesehen hast, jetzt versteh ich dich. Tolle Kombination aus alt und neu. Der Bauernschrank muss mindestens hundertfünfzig Jahre auf dem Buckel haben.«

Ich lachte. »Dahinter versteckt sich eine Eins-a-Hi-Fi-Anlage. So viel zum Thema alt und neu.«

Daniel nickte und trat näher an das große Gemälde vom Bodden, das an der Wand vor Matthias’ Arbeitszimmer hing. »Von Carl Röwer? Brillant.«

»Absolut. Es heißt ›Boddenwolken‹. Möchtest du einen Tee? Tut bestimmt gut bei dem Wetter.« Dabei ging mir durch den Kopf, dass ich, statt Small Talk übers Wetter zu betreiben, lieber nach Gertrud fragen sollte. Andererseits wollte ich ungern mit der Tür ins Haus fallen und wusste außerdem, wie sehr er einen kräftigen Assam schätzte.

»Gern.« Daniel folgte mir in die Küche, wo ich ihn bat, Platz zu nehmen– und immer noch nicht nach Gertrud fragte. Stattdessen brühte ich den Tee auf und betrachtete Daniel möglichst unauffällig. Er hatte das Päckchen auf den Tisch gelegt und war sich flüchtig durch die Haare gefahren, die schon mehr grau als hellbraun waren, was zusammen mit seiner Brille dazu beitrug, dass er älter als zweiundvierzig wirkte. Seine bernsteinfarbenen Augen hinter den eckigen Gläsern waren wie immer äußerst wach, nur seine Körperhaltung signalisierte, dass anstrengende Tage hinter ihm lagen. Er hielt sich weniger gerade als sonst.

Ich stellte die Teetasse und ein Milchkännchen vor ihn hin und setzte mich zu ihm. »Wie geht es dir?«

»Danke.« Er gab ein bisschen Milch in den Tee, rührte aber nicht sofort um, sondern verfolgte, wie sich das Wölkchen in der tiefgoldenen Flüssigkeit ausbreitete. »Ich weiß nicht so recht, wie es mir geht. Ich sollte erleichtert sein, dass bei der Obduktion nichts anderes als Herzversagen herausgekommen ist.« Er griff nach dem Löffel und rührte nun doch um. »Trotzdem bleibt ein ungutes Gefühl, nicht zuletzt wegen dieser Kette.«

»Hätte denn jemand ein Motiv gehabt, deiner Tante etwas anzutun?«

Daniel schürzte die Lippen. »Nicht, dass ich wüsste. Und mir ist klar, dass das meine Zweifel noch unverständlicher macht. Keinen rationalen Grund für etwas zu haben, sondern vorwiegend auf mein Gefühl zu hören, ist, zumindest, was solche Dinge angeht, untypisch für mich. Ich sollte mich damit abfinden, dass ich in diesem Fall an zu viel Einbildungskraft leide. Hinzu kommt…« Er seufzte und setzte erneut an. »Hinzu kommt, dass ich inzwischen noch etwas bei Gertruds Sachen gefunden habe, von dessen Existenz ich nichts ahnte.«

Er schob mir das Päckchen zu, das ich vorsichtig öffnete.

»Briefe von Carl? An deine Tante?«, fragte ich verblüfft, als ich seine Handschrift auf den Umschlägen erkannte. Dann sah ich genauer hin. »Nein, die sind an Lissie. Entschuldige, Elisabeth. Deine Großmutter, meine ich.«

Daniels Fältchen um die Augenwinkel herum vertieften sich, als er lächelte. »Nenn sie ruhig Lissie. Ich denke mir, wenn man das Leben eines Menschen in allen Einzelheiten vor sich aufblättert, entwickelt man eine besondere Art von Vertrautheit, auch wenn man ihn gar nicht kannte.«

Erleichtert, dass er mich verstand, nickte ich. »Stimmt. Hat es einen besonderen Grund, warum deine Tante diese Briefe hatte? Geht es darin um sie?«