Flapperblut - Tanja Karmann - E-Book

Flapperblut E-Book

Tanja Karmann

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Beschreibung

Berlin 1924: Die Succuba sorgen mit ihrer Musengabe für den kulturellen Glanz der Epoche. Als Isme Maximilian trifft, der einer uralten Vampirfamilie entstammt, ist nicht klar, wer wessen Zauber erliegt. Doch Maximilians Loyalität gehört der Oberin seines Clans, die geheime Pläne zur Machtergreifung schmiedet – und um sich dafür zu stärken, braucht sie Blut. Viel Blut. Flapperblut.

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Seitenzahl: 480

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Tanja Karmann

Flapper-blut

Urban Fantasy

Karmann, Tanja: Flapperblut. Urban Fantasy. Hamburg, ­Lindwurm ­Verlag 2022

Originalausgabe

EPUB-ISBN: 978-3-948695-94-1

PDF-ISBN: 978-3-948695-93-4

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print-ISBN: 978-3-948695-92-7

Lektorat: Oliver Hoffmann, Lindwurm Verlag

Korrektorat: Sabrina Emrich, Frankfurt am Main

Satz: Katharina Breu, Lindwurm Verlag

Umschlaggestaltung: © Mi Ha | Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von iStock/Getty Images Plus

Umschlagmotive und Schmuckelement: © Oliver Kufner/iStock/Getty Images Plus, © Tetiana Lazunova/iStock/Getty Images Plus, © incomible/iStock/Getty Images Plus, © venimo/iStock/Getty Images Plus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.

Der Lindwurm Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg

_______________________________

© Lindwurm Verlag, Hamburg 2022

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.lindwurm-verlag.de

Inhalt

„Kapitel 1“

„Kapitel 2“

„Kapitel 3“

„Kapitel 4“

„Kapitel 5“

„Kapitel 6“

„Kapitel 7“

„Kapitel 8“

„Kapitel 9“

„Kapitel 10“

„Kapitel 11“

„Kapitel 12“

„Kapitel 13“

„Kapitel 14“

„Kapitel 15“

„Kapitel 16“

„Kapitel 17“

„Epilog“

„Die Autorin“

Kapitel 1

Der Kellner bemühte sich, nicht in ihren Ausschnitt zu ­starren, als er die beiden Cocktailgläser auf dem niedrigen Glastisch abstellte. Langsam beugte Isme sich vor und griff nach dem Glas, in dem der Alkohol in sattem Orange schimmerte. Wie zufällig streifte sie dabei die Hand des jungen Mannes. Scheinbar erschrocken hielt sie den Atem an, zog die Finger jedoch nicht weg, sondern ließ den Blick langsam nach oben gleiten, bis sie ihm ins Gesicht sah. Er starrte immer noch krampfhaft auf das Glas. Isme lächelte, als sie sah, wie seine Finger zitterten. Hätte sie das Glas nicht festgehalten, wäre es vermutlich umgefallen.

»Danke«, hauchte sie.

Der junge Mann sah sie kurz an, wich ihrem Blick jedoch direkt wieder aus. Er trug eine braune Hose und Hosenträger in der gleichen Farbe über einem weißen Hemd.

»Gern«, murmelte er und drehte sich um. Beinahe hätte er das Tablett fallen lassen, mit dem er die Getränke zu ihrem Tisch transportiert hatte. Isme unterdrückte ein Kichern.

»Du bist gemein.« Cassie griff ebenfalls nach ihrem Glas. Ihr in Wasserwellen gelegtes blondes Haar saß perfekt bis in die Spitzen, die sich in Spiralen auf ihre ebenmäßigen Wangen legten. Das schelmische Lächeln, mit dem sie ihrer Freundin zuprostete, zeigte, dass sie ihren Tadel nicht ganz ernst meinte. Mit einer Hand spielte sie an ihrer Kette. Ein Bergkristall saß in der Mitte des Anhängers, das goldene Metall war mit einem spiralförmigen Muster überzogen.

»Was wird Henry wohl dazu sagen, wenn er bemerkt, wie du seine armen Bediensteten in Verlegenheit bringst?«

Henry Rowland war an diesem Abend ihr Gastgeber. Er stammte ursprünglich aus einer englischen Adelsfamilie, war in Übersee mit dem Bau von Automobilen zu Geld gekommen und weilte derzeit geschäftlich in Berlin. Sie hatten sich schon mehrfach bei gesellschaftlichen Anlässen getroffen, weshalb es ein Leichtes für die beiden Frauen gewesen war, eine persönliche Einladung zu seiner Party zu erhalten.

Isme zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck von ihrem Monkey Gland. Das Glas war außen beschlagen, kleine Tropfen perlten herab.

»Er würde sich freuen, dass ich meinen Spaß habe«, erwiderte sie gelassen und schaute sich im Raum um. »Außerdem gibt es hier einen eklatanten Mangel an gebildeten Frauen.«

Henry hatte eine der Suiten des Esplanade angemietet. In den beiden Wohnräumen tummelten sich unzählige Gäste, die meisten in feinster Abendgarderobe. Zwei Kellner versorgten die Anwesenden mit Cocktails, die ein Bartender mit einem Kinnbart an einer eigens aufgebauten Theke mixte. Aktuelle Schlager drangen aus dem Trichter eines Grammophons. Aus dem hinteren Raum war das Kreischen einer jungen Frau zu hören, dicht gefolgt von dem dunklen Lachen einiger Männer. Isme verdrehte die Augen. Sie verabscheute die jungen Mädchen, die sich nicht zu benehmen wussten. Man musste immer Stil bewahren.

In diesem Moment verstummte die Musik. Henry trat in die Mitte des Raumes und klopfte an sein Glas. Obwohl er schon Mitte fünfzig war, musste Isme zugeben, dass er in seinem Smoking ausgesprochen attraktiv aussah.

»Ladies and Gentlemen, liebe Freunde«, begann er, »ich freue mich, dass ihr so zahlreich zu meiner kleinen Feier erschienen seid. Falls es an irgendetwas mangelt, scheut euch nicht, mich oder das Personal anzusprechen. Dies alles hier ist zu eurem Vergnügen.« Er deutete schwungvoll auf den Raum. »Darf ich euch nun ein Highlight des heutigen Abends präsentieren. Es ist mir gelungen, einen jungen Künstler zu verpflichten, der uns an diesem Abend mit seiner Musik unterhalten wird. Begrüßt mit mir Maximilian Stein.«

Die Gäste applaudierten verhalten. Isme hob eine Augenbraue. Musiker waren auf solchen Festivitäten nicht ungewöhnlich, doch sie hatte den Eindruck, dass die Anwesenden lieber weiter das Grammophon hätten spielen lassen. Tanzen würde so sicher niemand. Sie seufzte. Der Abend schien langweiliger zu werden als erhofft.

Ein junger Mann trat neben Henry, schüttelte ihm kurz die Hand und nahm dann an dem kleinen Flügel Platz. Er verharrte einen Augenblick, dann klappte er langsam den Deckel auf und strich fast zärtlich über die Tasten. Ein sanfter Klang drang durch den Raum, als er sich über die Tasten beugte. Das gewählte Stück wollte nicht recht zu der ausgelassenen Stimmung der Gäste passen und es dauerte nicht lange, bis sich die Anwesenden wieder ihren Gesprächen zuwandten. Stimmengewirr und lautes Lachen übertönten die zarten Klänge. Dennoch konnte Isme nicht den Blick von dem Klavierspieler abwenden, der ihr, ganz in sein Spiel versunken, den Rücken zuwandte.

»Na, Ladies, wie gefällt euch meine kleine Party?« Henry warf sich schwungvoll zwischen die beiden Frauen auf das Sofa. Mit der gleichen Bewegung legte er den Arm um Cassie.

»Wundervoll, Henry, wie nicht anders zu erwarten«, zwitscherte diese und schmiegte sich in den Arm des Unternehmers. Isme hob eine Augenbraue. Sie erkannte, wenn ihre Freundin auf Beutezug war. Und warum auch nicht? Henry war attraktiv und reich. Sie gönnte Cassie den Fang und Henry sah aus, als würde er sich liebend gern fangen lassen. Gerade flüsterte er Cassie etwas ins Ohr und zog ein kleines Päckchen aus hellgrünem Papier aus der Innenseite seiner Smoking-Jacke. Cassie nickte. Sie öffnete ihre perlenbestickte Dorothy Bag, entnahm einen Taschenspiegel und legte ihn vor sich auf den Tisch. Isme sah zu, wie Henry das weiße Pulver darauf verteilte und zu zwei feinen Linien arrangierte. Ganz Gentleman ließ er Cassie den Vortritt, ehe er sich das Kokain selbst in die Nase zog. Dann sah er fragend zu Isme. Sie lehnte ab. Sie wollte einen kühlen Kopf behalten für den Fall, dass sich an dem Abend doch noch interessantere Möglichkeiten eröffneten. Henry zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder Cassie zu.

Isme griff wieder nach ihrem Glas und schaute sich im Raum um, um zu sehen, ob sie sich in ein Gespräch einklinken konnte. Überall standen kleinere Grüppchen von Menschen zusammen, die Stimmung war ausgelassener als zuvor. Lachen ertönte, Gläser klirrten und die Luft wurde zunehmend dichter. Ein junger Mann, Isme schätzte ihn auf kaum volljährig, stand auf einem der Tische und trank unter lauten Anfeuerungsrufen der Umstehenden eine Flasche harten Alkohols aus. Am Fenster stand eine Frau und zog an ihrer Zigarette. Sie war nicht sonderlich attraktiv, doch sie war allein und starrte gedanken­verloren in die Nacht hinaus. Isme wollte sich gerade erheben, als eine zweite Frau ans Fenster trat. Vertraulich legte sie den Arm um die Hüfte der anderen. Isme sank zurück in das Polster.

Die Party war langweilig.

Sie warf einen Seitenblick auf Cassie, doch ihre Freundin knutschte gerade hemmungslos mit ihrem Gastgeber. Henry hatte eine Hand an den tiefen Rückenausschnitt ihres Kleides gelegt und knabberte gerade an ihrem Ohrläppchen. Seine zweite Hand fingerte am Saum der Strümpfe, die Cassie der neuesten Mode gemäß nach unten gerollt hatte.

Wenigstens eine von ihnen hatte Spaß.

Wieder sah sie sich im Raum um. Ihr Blick blieb an dem Pianisten hängen. Er war immer noch ganz in sein Spiel versunken, es schien ihn nicht zu kümmern, dass niemand zuhörte. Oder spielte er nur stur das Programm herunter, für das er bezahlt wurde? Mit einem Mal wollte sie in sein Gesicht sehen, wollte sehen, welche Regungen sich in seiner Miene spiegelten. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, dass Cassie sie nicht vermissen würde, dann erhob sie sich und strich die Fransen ihres hellgrünen Kleides zurecht. Wie selbstverständlich machten die Anwesenden ihr Platz, als sie den Raum durchschritt. Die Absätze ihrer ebenfalls grünen Spangenschuhe wurden durch die dicken Teppiche gedämpft. Sie kam an dem jungen Mann vorbei, der zuvor auf dem Tisch getrunken hatte und nun sichtliche Spuren seines Konsums zeigte. Wie zufällig streifte sie ihn beim Vorübergehen mit ihrer Hüfte. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie hörte, wie der Bursche hinter ihr umfiel und von seinen Freunden unter lautem Gejohle aufgefangen wurde.

Der Mann am Flügel sah nicht auf, als sie sich neben das Instrument stellte, auch nicht, als sie ihr Glas neben dem Notenständer abstellte. Das gab ihr Zeit, ihn genauer zu betrachten. Sein Gesicht mit den großen Augen war rundlich, fast noch weich, wenn nicht die markanten, schön geschwungenen Brauen gewesen wären, die ihm einen interessanten Zug verliehen. Im Gegensatz zur üblichen Mode war er nicht glattrasiert, leichte Stoppeln bedeckten Wangen und Kinn. Seine Lippen waren voll und leicht geöffnet. Das Haar fiel ihm in dunkelbraunen Locken in die Stirn. Isme widerstand dem Zwang, sie zurückzustreichen.

Sie intensivierte ihren Blick, aber er reagierte immer noch nicht. Erstaunt, fast amüsiert zog sie eine Augenbraue hoch.

Ihr Ehrgeiz war geweckt.

Ihr Blick wanderte weiter nach unten. Die Hosenträger, die der Klavierspieler über dem dezent gestreiften Hemd trug, waren etwas verrutscht. Die braun gemusterte, enge Anzugshose war an den Knöcheln umgeschlagen und hatte eindeutig schon bessere Tage gesehen. Seine Schuhe hingegen waren tadellos. Echte Oxford aus braun-weißem Leder. Kurz fragte sie sich, wie ein junger aufstrebender Künstler sich solche Schuhe leisten konnte, doch in diesem Moment stoppte die Musik. Der Pianist verharrte noch einen Augenblick, seine Finger schwebten über dem Instrument, dann streckte er kurz seinen Rücken durch. Isme glaubte schon, er würde sie weiterhin ignorieren, als er den Kopf hob und ihr direkt in die Augen sah. Es war nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er seine Finger wieder auf die Tasten legte und ein neues Stück begann, doch in diesem kurzen Augenblick gelang es ihr, eine Verbindung zu ihm aufzubauen. Ihre Pupillen weiteten sich, als sie merkte, wie der Sog zwischen ihnen auch an ihr zerrte.

Die Töne, die er dem Instrument nun entlockte, waren dunkel, samtig und auf seltsame Weise fordernd. Sie sah, wie seine kräftigen Finger über die schwarzen und weißen Tasten glitten. Fast konnte sie spüren, wie sie über ihren Körper strichen, sanft ihren Rücken entlangstreiften bis zum Saum ihres tief ausgeschnittenen Kleides. Bei dem Gedanken breitete sich Gänsehaut auf ihren nackten Armen aus. Das Verlangen, das sie spürte, war ungewohnt, machte sie aber auch neugierig. Lange hatte sie nichts derartiges mehr gefühlt und sie war bereit, ihrer Empfindung auf die Spur zu gehen. Sie trat auf die andere Seite, strich leicht mit der Hand über seinen Nacken. Er spielte unbeirrt weiter, doch vermeinte sie, einen kurzen Aussetzer zu hören. Das Stück wurde schneller und endete mit einem lauten Dreiklang. Er sah sie nicht an.

Sie applaudierte leise.

»Wundervoll. Eine wahre Verschwendung in dieser Gesellschaft.«

Wenn sie geglaubt hatte, ihn mit diesem Kompliment einfangen zu können, hatte sie sich getäuscht. Der Blick, mit dem er sie ansah, war scheu. Er glaubte ihr nicht. Sie schmunzelte. Es würde ihr ein besonderes Fest sein, den jungen Mann aus der Reserve zu locken.

Sie winkte dem Kellner und flüsterte ihm etwas ins Ohr, als er zu ihr kam. Kurz darauf brachte er ein Tablett, auf dem zwei Gläser mit einer hellgrün schimmernden Flüssigkeit sowie eine gläserne Fontäne standen. Geschickt legte Isme je ein Stück Zucker auf einen Löffel und ließ einige Tropfen Wasser darauf fallen. Dann tauchte sie den Zucker in die Gläser und reichte eines davon dem Klavierspieler. Er hob die Augenbrauen.

»Ich dachte, die grüne Fee wäre verboten?« Seine Stimme war dunkel und warm und klang so, als würde er sie nicht oft benutzen.

Sie sah ihm in die Augen und prostete ihm zu.

»Heute Nacht ist nichts verboten«, antwortete sie.

Er spielte noch eine ganze Weile. Nur selten schenkte er ihr einen Blick, aber sie wusste, er hatte angebissen. Sie gab sich geduldig, stand neben dem Flügel, nur selten berührte sie ihn wie zufällig. Seine Musik wurde flotter, einige der Anwesenden begannen sogar zu tanzen, als er Sweet Georgia Brown anschlug. Das Absinthglas stand unberührt auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Flügel. Erst tief in der Nacht, es musste weit nach Mitternacht sein, leerte sich die Suite. Die meisten Partygäste waren gegangen, die einen nach Hause, die anderen in einen der angesagten Nacht-Clubs, wo sie sich beim Anblick halbnackter Tänzerinnen gutes Geld für schlechten Schaumwein aus den Taschen würden ziehen lassen. Gerade trugen zwei seiner Kompagnons den betrunkenen jungen Mann zur Tür hinaus. Isme kam nicht umhin, sein Durchhaltevermögen zu bewundern. Cassie und Henry waren nirgends zu entdecken.

Ein Triller aus hellen Tönen zog ihre Aufmerksamkeit zurück zum Flügel. Der Musiker hatte erneut ein klassisches Stück ausgewählt. Sie zuckte kurz zurück, als sie bemerkte, dass er seinen Blick nicht wie den ganzen Abend zuvor auf seine Hände gerichtet hatte, sondern unverwandt in ihr Gesicht schaute. Hitze stieg ihr in die Wangen. Errötete sie etwa gerade? Sie lachte amüsiert auf. Sie war doch kein Schulmädchen! Sie zwang sich, dem Blick standzuhalten, legte etwas Herausforderndes hinein – und gewann. Der Musiker senkte den Blick wieder über die Tasten seines Instrumentes. Isme lächelte triumphierend, doch kurz stieg Sorge in ihr auf. War sie zu forsch gewesen?

Als der letzte Ton verklungen war, ging sie hinüber zur Bar, wo der Kellner die letzten Gläser polierte. Sie winkte ab, als er sie fragend ansah, und griff sich eine angebrochene Flasche Champagner und zwei Gläser. Der Pianist hatte sich in der Zwischenzeit erhoben, er streckte den Rücken durch und ließ die Arme kreisen. Als sie zurückkam, griff sie wie selbstverständlich nach seiner Hand und zog ihn nach draußen auf den Balkon.

Kühle Abendluft empfing sie. Sie ließ seine Hand los und trat zur Brüstung. Die beiden Gläser klirrten und wären um ein Haar in die Tiefe gestürzt, als sie sie auf dem Sims abstellte. Der Champagner perlte und sprudelte beim Einschenken. Sie stellte die leere Flasche ab und sah hinaus in die Nacht. Selbst zu dieser Zeit schlief die Stadt nie. Die größeren Straßenzüge waren im Licht der Aufsatzleuchten deutlich erkennbar und hinter nicht wenigen Fenstern brannte noch Licht. Der Wind trug leise Fetzen von Musik und Stimmen zu ihnen hinauf. Welche Szenen mochten sich dort unten wohl abspielen? Liebe, Hass, Gleichgültigkeit – die ganze Palette des menschlichen Daseins.

Als er hinter sie trat, lächelte sie. Sie nahm die beiden Gläser und drehte sich zu ihm um, wobei sie seinen Körper streifte. Ein Knistern lief ihre Wirbelsäule herunter. Ohne ein Wort nahm er ihr eines der langstieligen Gläser aus der Hand und prostete ihr zu, stellte es dann aber ab.

»Ich trinke selten«, erklärte er schlicht. »Dennoch eine schöne Geste und ein guter Abschluss für einen guten Abend.« Er zog das Ende des Satzes in die Höhe, etwas Fragendes lag darin. Sie legte ihr schönstes Lächeln für ihn auf, strahlte ihn an und legte die Hand auf seine Brust. Er reagierte nicht.

»Die Nacht ist noch jung, oder? Du willst doch nicht schon nach Hause gehen?«

»Was schlägst du vor?«

»Sag du es mir«, antwortete sie ausweichend, um ihm – zumindest scheinbar – die Führung zu überlassen. Sie legte die Hände auf den Sims und zog sich auf die Brüstung hinauf. Hinter ihr lag am Abgrund das nächtliche Berlin. Er hob eine Braue. »Ich heiße Isme«, fügte sie hinzu.

»Maximilian«, antwortete er schlicht und schwang sich geschmeidig neben sie auf den Sims. Er war furchtlos, das gefiel ihr. Wieder schwiegen sie. Während Isme an ihrem Glas nippte, überlegte sie fieberhaft, was sie als nächstes tun sollte. Schon lange war niemand mehr so zögerlich auf ihr Werben eingegangen. Das gefiel ihr. Sie wollte ihn haben. Diese Nacht noch.

Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihre Frisur mit dem paillettenbesetzten Stirnband saß perfekt, doch sie erreichte, was sie wollte: Maximilian drehte den Kopf und sah sie an. Er blickte ihrer Hand nach, als sie mit ihr an ihrem Körper entlangstrich und sie zwischen ihnen auf dem groben Stein ablegte.

Hinter den Fenstern sah Isme die Bediensteten die Suite aufräumen. Schon in wenigen Stunden würde keine Spur der nächtlichen Exzesse mehr zu sehen sein und spätestens am nächsten Morgen würde auch ein Großteil der Erinnerungen aus dem Gedächtnis der Feiernden entweder verschwunden oder verdrängt sein. So liebte sie es. Sie jedoch vergaß nie. Zumindest nicht in dieser Existenz.

Sie wandte ihren Blick wieder auf den Sims neben ihr. Maximilians Hand lag neben ihrer auf dem Stein, so dicht, dass sie sich fast berührten. Isme spürte ein Kribbeln in ihren Fingern. Die Energie zwischen ihren Händen war nahezu greifbar, sie hätte sich nicht gewundert, sie auch sehen zu können.

Von ihm musste die Initiative ausgehen, von ihm! Sie atmete bewusst tief ein, ihr Dekolleté hob sich. Gleichzeitig spielte sie mit der rechten Hand mit ihrer Kette, an der ein ähnlicher Anhänger funkelte wie bei ihrer Freundin. Endlich konnte sie seinen Blick lenken. Isme fühlte, wie auch er einatmete. Sie hob den Kopf und sah ihn an, dann wieder auf ihre beiden Hände. Er folgte ihrem Blick. Langsam, unendlich langsam hob er den kleinen Finger und streichelte ihre Hand.

Ein elektrischer Strom pulsierte ihren Arm hinauf und fuhr direkt in ihren Unterleib. Sie wagte nicht, den Blick zu heben, aus Angst, den Moment zu zerstören. Also blickte sie weiter auf seine Hand, die sich quälend langsam auf ihre schob. Für einen kurzen Moment musste sie die Augen schließen, um nicht von den Strömen der Energie weggerissen zu werden.

Von irgendwo erklang Musik. Leise, kaum wahrnehmbar. Sie hob ihren Daumen und streichelte die Außenseite seiner Hand, drehte ihre Hand mit der Innenfläche nach oben. Seine Finger glitten zärtlich, staunend, suchend über ihre Handfläche. Ihre Finger verschränkten sich ineinander, lösten sich wieder im Muster eines Spiels, das nur sie kannten. Ihre Fingerspitzen glühten förmlich und in ihrer Brust breitete sich ein Triumphgefühl aus. Bald. Bald!

Die Härchen auf ihrem Unterarm richteten sich auf, als Maximilian seine Finger langsam ihren Arm entlang bis zur Schulter führte und dann sanft ihren Nacken massierte. Er griff von unten in ihr Haar, zog leicht daran. Erst jetzt traute sie sich, wieder seinen Blick zu suchen. Er beobachtete sie aufmerksam. Im schwachen Licht, das von innen auf den Balkon fiel, wirkten seine Augen dunkler als zuvor. Das Verlangen darin war deutlich sichtbar.

Er beugte sich zu ihr, vergrub die Nase an ihrem Hals, roch an ihr. Sie zitterte nun und als er ihr einen Kuss auf die Haut hauchte, hätte sie um ein Haar aufgestöhnt. Sie musste aufpassen, sich nicht zu verlieren, musste die Kontrolle behalten, nur ein wenig noch. Mit einer unbedachten Bewegung stieß sie gegen ihr Glas, das sie neben sich abgestellt hatte, es fiel auf den Boden und zersprang unter lautem Klirren.

Wohin sollten sie gehen? Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Bediensteten auf den Balkon treten und sie bitten würden, zu gehen. Sie schalt sich eine Närrin, dass sie diesen Teil des Plans nicht durchdacht hatte.

Wieder beugte er sich zu ihr.

»Ich habe ein Zimmer hier«, raunte er. Gleichzeitig zog er wieder an ihrem Haar, fester diesmal, fordernd. Diesmal konnte sie ein Stöhnen nicht unterdrücken, trotz oder gerade wegen des Abgrundes, der hinter ihr lag und dem sie sich unter seiner Hand entgegenbog. Sie zog die Luft ein, sein Geruch stieg in ihre Nase, herb und holzig. Er lockerte seinen Griff, rutschte von der Brüstung und stellte sich vor sie. Sein Gesicht war so nah, dass sie glaubte, er würde sie küssen, doch er verharrte eine Ewigkeit still vor ihr. Sie fühlte seinen Atem auf ihren Lippen. Seine Hände lagen auf ihren Schultern und glitten langsam an ihren Armen hinunter. Fast ohne ihr Zutun legte sie die Hände an seine Hüften, konnte sich gerade noch beherrschen, sich nicht an ihn zu drücken. Auch er rang sichtlich um Selbstbeherrschung. In seinem Blick lag etwas Erwartungsvolles. Sie hatte noch nicht auf seine Offerte geantwortet!

»Ich hoffe, es gibt dort etwas Gutes zu trinken«, sagte sie und versuchte, keck und unbekümmert zu klingen. Er ließ ein kehliges Lachen erklingen, legte seine Hände um ihre Taille und hob sie mühelos von der Brüstung.

Diesmal nahm er sie bei der Hand und zog sie hinter sich her. Das Zimmermädchen sah erschrocken auf, als sie durch die Balkontür traten, schwieg aber. Diskretion war eine Säule des Esplanade. Sie traten hinaus in den Flur, der sich um diese Zeit menschenleer vor ihnen erstreckte. Der dicke grüne Teppich schluckte ihre Schritte, als sie Richtung Treppe gingen. Ohne ihre Hand loszulassen, führte Maximilian Isme nach unten. Als sie den ersten Stock erreichten, wollte sie auf den Flur zu den Zimmern abbiegen, doch Maximilian zog sie unbeirrt weiter. Sie entwand ihm ihre Hand und blieb stehen. Direkt war er bei ihr. Seine Miene drückte Enttäuschung aus, eine Locke fiel ihm in die Stirn.

»Ich dachte, du wolltest mit mir kommen?«

»Aber weiter unten sind keine Zimmer mehr!«

Er zog einen Mundwinkel nach oben.

»Das Hotel verbirgt einige Geheimnisse«, entgegnete er mit einem Grinsen und streckte ihr die Hand hin, doch Isme zögerte. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, Männern nicht an abgelegene Orte zu folgen.

Er trat einen Schritt auf sie zu. Sanft legte er ihr seine Hände auf die Schultern und sah ihr in die Augen.

»Ich verspreche, nicht von deiner Seite zu weichen.«

Sie hörte die Worte kaum, so sehr zogen seine Augen sie in ihren Bann. Immer noch las sie Verlangen darin. Im Schein der elektrischen Beleuchtung sah sie grüne Stellen in der dunklen Iris aufblitzen. Sie atmete tief ein und spürte, wie sein Atem sich mit ihrem Rhythmus verband. Die Energie zwischen ihnen war wieder deutlich zu spüren. Sie biss sich auf die Unterlippe. Was sollte schon geschehen? Sie waren immer noch im Esplanade!

»Dann zeig mir deine Geheimnisse«, flüsterte sie.

Sie stiegen tiefer hinab, gelangten in die große Eingangshalle mit der Rezeption. Der Marmorboden war frisch gewischt und glänzte, doch es war niemand zu sehen. Isme sah Maximilian fragend an, doch er legte einen Finger auf die Lippen und zog sie zu einer kleinen unscheinbaren Tür, hinter der sich eine weitere Treppe verbarg.

Wollte er in den Keller?

Er schloss die Tür hinter ihnen. Mit der gleichen Bewegung drückte er sie an das dunkle Holz und presste sich an sie. Wieder vergrub er sein Gesicht an ihrem Hals, atmete ihren Duft ein. Sie schauderte, als sie spürte, wie seine Zunge leicht über ihre Haut glitt. Seine Nase strich über ihre Wange, als sein Mund den ihren suchte. Einen Moment lang verharrten seine Lippen dicht über ihren, dann küsste er sie sanft. Um ein Haar hätten ihre Knie nachgegeben, doch Maximilian hielt sie fest. Wieder küsste er sie, dann noch einmal. Beim letzten Mal ließ er seine Lippen auf ihren, öffnete den Mund leicht, doch ging nicht weiter. Alles in Isme schrie danach, ihn zu besitzen.

»Bald«, raunte er.

Sie gingen die Treppe hinunter und kamen in einen kahlen, nur spärlich beleuchteten Flur. Hier war nichts mehr von dem Luxus und der Eleganz zu sehen, die das Esplanade auszeichneten. An den Seiten des schmalen Ganges standen mehrere Körbe mit Wäsche. Die Luft war warm und feucht und erschwerte ihr das Atmen. Mehrere Türen gingen zu beiden Seiten ab. Vor einer blieb Maximilian stehen. Er hob die Hand und klopfte mit dem Fingerknöchel in einer besonderen Abfolge dagegen. Ehe Isme etwas fragen konnte, riss er sie an sich. Diesmal war sein Kuss leidenschaftlicher. Seine Zunge glitt über ihre Lippen, dann in ihren Mund, umspielte ihre. Gleichzeitig fuhr er mit seiner Hand ihren nackten Rücken entlang. Die andere Hand fasste den Saum ihres kurzen Kleides, schob es nach oben. Sein Atem ging schwer. Sie hatte ihn. Endlich.

»Ich will dich«, murmelte er. In diesem Moment öffnete sich die Tür und da stand ein junger Mann. Er mochte etwa Mitte zwanzig sein und sein Gesicht war hübsch, doch bleich und ausgemergelt. Er trug ähnliche Kleider wie Maximilian, doch sie waren alt und abgewetzt. Als er Isme sah, blitzte etwas in seinen Augen auf. Er öffnete die Tür weit.

»Das wurde aber auch Zeit. Mach schnell«, drängte er. Bevor Isme protestieren konnte, hob Maximilian sie in seinen Arm und trat mit ihr über die Türschwelle. Sie wollte sich wehren, ihm sagen, dass er sie herunterlassen sollte, doch seine Nähe und der Geruch, der von ihm ausging, machten jeden klaren Gedanken unmöglich. Der fremde Mann warf einen Blick auf sie, dann atmete er tief durch die Nase ein. Seine Nasenflügel bebten. Kurz schloss er die Augen, dann hatte er sich wieder im Griff.

»Sie ist bereit«, nickte er anerkennend.

Bereit?, dachte Isme. Was war hier los? Sie wollte sich losreißen, doch Maximilian setzte sie sanft auf einem Sessel ab, der in der Mitte des Raumes stand. Die Polster unter ihr gaben nach und sie sank tief nach unten. Maximilian stellte sich vor sie und legte seine Hände auf die abgewetzten grünen Armlehnen. Sie suchte seinen Blick. Einen Moment lang versanken sie wieder im Anblick des anderen, dann wandte Maximilian den Kopf und starrte in das Dunkel, in dem der hintere Teil des Raumes lag.

Isme richtete sich ein wenig auf. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel ihrer Umgebung. Sie erkannte mehrere Möbelstücke, teilweise mit weißen Tüchern bedeckt. Überall waren Kerzen verteilt, deren Wachs achtlos heruntertropfte. Der junge Mann, der ihnen die Tür geöffnet hatte, warf sich auf eine abgenutzte Chaiselongue, die daraufhin bedenklich wackelte. Er sah noch einmal zu ihr hinüber, seufzte und schloss die Augen, die Hände über dem Bauch gefaltet. Neben der Chaiselongue stand ein schmales Klavier. Der eingerissene Deckel war hochgeklappt, im Halbdunkeln glommen die Tasten wie das Gebiss eines zahnkranken Monsters.

Im hinteren Teil des Raumes bewegte sich etwas. Isme kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Im flackernden Schein der Kerzen erkannte sie einen alten Sessel ähnlich dem ihren. Eine Gestalt saß darauf, so zusammengesunken und regungslos, dass sie im ersten Moment glaubte, jemand hätte einen Stapel alter, zerschlissener Gardinen darauf abgelegt. Dann jedoch hob die Gestalt ihren Kopf. Es war eine Frau. Das lange schwarze Haar hing ihr strähnig ins Gesicht, die Kopfhaut schimmerte bleich, wo ganze Büschel ausgefallen waren. Das Gesicht war eingefallen, schwarze Ringe hatten sich unter den Augen eingegraben, die tief in den Höhlen saßen. Die bleiche Haut spannte sich wächsern über die hohen Wangenknochen, die dem Wesen einst eine fast übernatürliche Schönheit verliehen haben mussten. Die Lippen waren rissig, in den Mundwinkeln hingen Reste tiefroten Lippenstifts. Die Frau trug ein vormals cremefarbenes Kleid, das zerschlissen an ihrem ausgemergelten Körper herunterhing. Unterhalb der Brust war das Kleidungsstück aufgerissen und enthüllte einen aufgedunsenen Bauch, der sich so prall hervorwölbte, als würde er gar nicht zu dem ausgezehrten Körper gehören, wenn die Frau nicht beschützend ihre linke Hand darauf abgelegt hätte.

Grauen ergriff Isme, doch sie konnte ihren Blick nicht von der abgehärmten Gestalt lösen.

Neben dem Sessel bewegte sich etwas. Isme starrte in die Dunkelheit, jemand lag auf dem Boden. Es war eine junge Frau, ihrer Kleidung – oder dem, was von ihr übrig war – nach zu schließen, war sie als Telefonistin oder auch als Schreibkraft tätig gewesen. Das ehemals sicher liebreizende Gesicht war bleich, die Augen glänzten fiebrig und schienen die Umgebung kaum noch wahrzunehmen. Sie hatte die Hände um ihren Leib geschlungen und wimmerte leise. Als sie den Kopf drehte, erkannte Isme zwei klaffende Wundmale an ihrem Hals.

Isme wollte auffahren, doch Maximilian legte ihr die Hand auf die Brust. Wieder beugte er sich über sie und wieder wurde ihr schwindlig von seinem Geruch. Er drückte sich an sie und sie spürte sein Verlangen. Selbst in dieser Situation wollte sie nichts anderes, als seine nackte Haut auf ihrer zu spüren. Sie öffnete leicht ihre Schenkel. Seine Lippen berührten ihr Ohrläppchen, als er ihr ins Ohr flüsterte.

»Ich will dich so sehr.«

Er küsste ihren Hals, dann ihr Dekolleté, glitt tiefer, bis er zwischen ihren Beinen kniete. Seine Hände strichen ihre Unterschenkel entlang und zogen ihr die Schuhe aus. Sein Blick suchte ihren, Begehren lag darin.

»Aber du bist nicht für mich bestimmt.« Bedauern schwärzte seine Stimme, als er seine Hände um ihre Füße legte und ihr mit einer schnellen Bewegung beide Knöchel brach. Sie schrie. Der Schmerz war überall, löschte alles aus, nicht jedoch das Verlangen, das immer noch in ihrem Unterleib glühte.

Maximilian warf ihr noch einen letzten Blick zu, dann stand er seufzend auf und setzte sich an das Klavier.

Mozart?, dachte Isme verwundert im letzten Winkel ihres Geistes, der noch klar denken konnte. Die Klänge des Klaviers hüllten sie ein wie eine Decke, nur zu bereitwillig ließ sie sich einlullen. Der Schmerz in ihren Knöcheln trat in den Hintergrund und ihre Lider senkten sich. Nur noch verschwommen erkannte sie, wie das aufgedunsene Wesen sich schwerfällig aus seinem Sessel hochstemmte und zu ihr hinüber schlurfte.

Kapitel 2

Die junge Frau hob den Kopf und tippte sich mit dem Ende des Bleistifts gegen die Unterlippe. Sie saß auf dem Fensterbrett, ein Notizbuch in ihrem Schoß, und blickte in das Stück blauen Himmels hinaus.

»Ausgesetzt in einer Barke von Nacht, wie klingt das?«, wandte sie sich um. In ihren großen Augen lag ein leicht fiebriger Glanz, gepaart mit einer fast kindlichen Sorge um Anerkennung.

»Ganz wunderbar, Liebes, ganz wunderbar.« Cassie erhob sich aus dem Bett und trat ans Fenster. Dabei glitt das Laken von ihrem nackten Körper. Sie schlang die Arme von hinten um die junge Frau.

»Schreib, Mascha, schreib«, flüsterte sie ihr ins Ohr. Mit den Worten strömte ihr Atem über ihre Lippen und legte sich goldschimmernd über die zarte Haut der jungen Frau. Cassie beugte sich näher und hauchte ihr einen Kuss auf die nackte Schulter. Das Gold funkelte auf und ein Zittern lief über den Hals der jungen Frau bis hinunter zum Ansatz der Brüste, die von einem modischen Büstenhalter flach gedrückt wurden. Cassie konnte spüren, wie der Atem ihres Schützlings schneller ging, doch Mascha wandte sich nicht zu ihr um. Wie in Trance warf sie hastig Worte auf das Papier vor ihr. Cassie lächelte und griff nach einem halbvollen Glas Wein, das noch auf dem Nachtschränkchen stand. Der Riesling perlte über ihre Zunge. Sie warf einen Blick auf Mascha, doch die junge Frau war völlig in ihr Schreiben versunken. Cassie ließ sich gerade mit einem Stapel Modezeitschriften zurück aufs Bett sinken, als die Kirchturmglocken zu läuten begannen. Hastig sprang Mascha von der Fensterbank, ihre Notizen rutschten auf den Boden.

»Himmel, schon so spät!« Hastig bückte sie sich, um ihre Blätter einzusammeln, dann schaute sie sich suchend im Raum um. »Wo ist mein Kleid?«

Cassie schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Mascha, Herz, lass dich nicht so schnell vom Schreiben abbringen.« Mit einer fließenden Bewegung erhob sie sich und nahm Mascha sanft eines der Blätter aus der Hand. »Ich aß die grünenden Früchte der Sehnsucht …« las sie leise vor und sah Mascha in die Augen. »Das ist wundervoll, Liebes. Bleib noch ein wenig, wir ziehen uns noch ein wenig zurück und danach kannst du dein Gedicht vollenden.« Sie legte der jungen Frau eine Hand an die Wange. Mascha schloss die Augen und atmete tief ein, doch dann riss sie sich los. Der Schimmer auf ihrer Haut verblasste. »Wenn ich schon wieder zu spät aus der Mittagspause zurückkehre, verliere ich meine Stellung. Aber ich brauche diese Arbeit. Ich musste meinen Vater mit Engelszungen überreden, dass er mich die Lehre antreten ließ.«

Cassie hob eine Braue. »Deine Engelszunge könntest du auch bei mir zum Einsatz bringen.«

»Cassie!« Der Ausdruck auf Maschas Gesicht war so schockiert, dass Cassie auflachen musste. So jung, dachte sie. Sie liebte es, diesen Ausdruck auf das Gesicht eines neuen Schützlings zu zaubern. Mascha war noch so naiv, so unverdorben … zum Glück nicht zwischen den Laken. Mittlerweile hatte die junge Frau ihre Dienstkleidung gefunden und übergezogen. Sie hüpfte auf und ab, damit das hellblaue, knielange Kleid schneller über ihren Körper rutschte. Es verdeckte ihre wenigen Rundungen vollkommen. Schnell trat Mascha vor den Spiegel und richtete mit eiligen Strichen ihr kinnlanges Haar.

»Wo sind …«, fing sie an, doch Cassie hielt ihr bereits ihre Schuhe entgegen. »Danke«, seufzte Mascha und schlüpfte in die Riemchenpumps. Schon wandte sie sich zum Gehen, doch Cassie hielt sie zurück. Maschas Augen weiteten sich, als die andere Frau sie sanft, aber bestimmt in ihre Arme zog.

»So einfach kommst du mir nicht davon«, raunte sie und küsste sie. Als sie sich voneinander lösten, waren Maschas Wangen gerötet. Goldener Nebel waberte durch ihre Augen.

»Jetzt kannst du gehen«, flüsterte Cassie. »Wir sehen uns morgen.«

Mascha nickte nur stumm, dann eilte sie aus dem Zimmer. Cassie hörte, wie sie durch den Flur tippelte und die Wohnungstür hinter sich zuschlug. Sie warf einen unschlüssigen Blick auf das Bett, beschloss dann jedoch, den angebrochenen Nachmittag sinnvoller zu nutzen, setzte sich an ihren Frisiertisch und griff nach einem Cremetiegel. Unter ihrem Seidenrock, den sie am Morgen achtlos auf den Tisch geworfen hatte, schimmerte etwas. Sie zog den dünnen Stoff beiseite und erstarrte. Es war ihre Kette! Ein Leuchten zog sich die Windungen der Spiralen entlang, bis es den Bergkristall erreichte. Der Stein begann zu pulsieren.

»Isme!«

»Was soll das heißen, sie ist nicht hier?«

Ergeben gab Henry der Tür einen Stoß. Sie schwang weit auf und gab den Blick auf das Innere der Suite frei.

»Du kannst gern selbst nachsehen, wenn du mir nicht glaubst. Auch wenn ich keine Ahnung habe, warum ich dich anlügen sollte.« Tiefe Ringe unter seinen Augen zeigten, dass er die Party in der vergangenen Nacht nicht so gut weggesteckt hatte wie seine Freundin. Cassie war kurz versucht, ihn beiseitezuschieben und in die Suite zu stürmen, doch dann hielt sie inne.

»Nein, ich … es tut mir …«, stammelte sie und brach ab. Verzweifelt starrte sie auf ihre Faust, in der sie etwas zu verbergen schien.

Henry hob stirnrunzelnd die Arme. »Komm erst mal rein und beruhige dich«, sagte er. »Ich verstehe überhaupt nicht, um was es gerade geht.« Er trat beiseite, um Cassie einzulassen, und schloss die Tür hinter ihr.

»Du bist also auf der Suche nach Isme«, sagte er ruhig. »Wie kommst du darauf, dass sie hier ist?«

Cassie stand noch in der Mitte des Raumes und blickte sich suchend um. Als Henry sie ansprach, drehte sie sich zu ihm, die Augen geweitet.

»Ich …« Sie holte tief Luft und zwang sich sichtlich zur Ruhe. »Wir waren verabredet, aber sie ist nicht gekommen. Hier habe ich sie das letzte Mal gesehen. Also lag der Schluss nahe, dass sie hier mit einem deiner Gäste versackt ist.«

Henry runzelte die Stirn.

»Ich habe Isme zum letzten Mal gesehen, als wir beide uns nach nebenan zurückgezogen haben«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf die Flügeltür, die ins angrenzende Schlafzimmer führte. »Wo du mich übrigens einfach schlafend zurückgelassen hast, wie ich anmerken darf«, fügte er hinzu, fuhr aber direkt fort: »Um Isme würde ich mir keine Sorgen machen. Du weißt doch, wie sie ist. Nicht viel anders als du, wie ich meine. Sicher ist sie noch mit jemandem weitergezogen und trinkt gerade irgendwo ein Glas Champagner zum späten Frühstück.«

»Nein«, brach es aus Cassie heraus. »Sie ist in Gefahr.« Sie biss sich auf die Lippen. Henry sah sie einen Moment abschätzend an, dann nahm er sie an der Hand und zog sie zum Sofa.

»Was verschweigst du mir?«, fragte er sanft. »Du kannst mir vertrauen, auch wenn wir bislang nur miteinander gefeiert haben. Ismes Wohl liegt auch mir am Herzen.«

Cassie betrachtete die Kette in ihrer Hand. Wie viel konnte sie Henry anvertrauen? Sicher, er hatte sich ihr gegenüber immer korrekt verhalten, doch sie teilten ihr Geheimnis sonst mit niemandem. Aber jetzt war ihre Freundin in Gefahr, das spürte sie deutlich.

Henry nahm ihr die Entscheidung ab. Sanft löste er die Finger ihrer Hand. Er pfiff, als er den Anhänger entdeckte, der mittlerweile hell leuchtete.

»Was ist das?«, raunte er und strich behutsam mit der Fingerkuppe über das Schmuckstück. Cassie atmete tief ein.

»Ein uraltes Amulett«, sagte sie. »Isme besitzt dasselbe. Wenn es leuchtet, bedeutet es, dass sie in Gefahr ist. Ich kann dir das alles jetzt nicht genau erklären, aber es ist so. Du musst mir glauben. Seit ich im Esplanade bin, hat sich das Leuchten verstärkt. Sie muss irgendwo in der Nähe sein.«

Henry sah sie einen Moment prüfend an. Dann erhob er sich und trat auf den Flur hinaus.

»Ich will sofort das Dienstmädchen sehen, das heute Nacht hier aufgeräumt hat«, wies er jemanden an, den Cassie nicht sehen konnte. Dann wandte er sich zu ihr um.

»Wir finden sie. Versprochen.«

»Wie sah der Mann aus?«

Das Mädchen sah Henry mit großen Augen an, ihre Finger spielten mit dem Saum ihrer Schürze. »Nicht außergewöhnlich. Ich meine, er war schon schneidig und seine Haare haben sich so schön gelockt, aber sonst war nichts an ihm bemerkenswert. Er hat auch nur zu der Frau gesehen, deswegen konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Eine braune Hose hatte er an, meine ich, und ein Hemd.«

Cassie knurrte unwillig. Diese Beschreibung traf auf die Hälfte der Männer zu, die auf der Party gewesen waren.

»Kannst du dich vielleicht trotzdem an noch etwas erinnern? Es ist wirklich wichtig.« Henrys Stimme blieb ruhig, fast sanft.

Das Mädchen zog die Stirn kraus.

»Seine Kleidung war ein wenig … nun ja. Abgewetzt. Alt. Nicht so wie die der üblichen Gäste.« Ihre Augen weiteten sich. »Aber seine Schuhe! Die waren tadellos. Das ist mir direkt aufgefallen. Meine Mama hat immer gesagt: Kind, schau dir die Schuhe eines Mannes an, die zeugen von seinem Charakter. Das waren echte Oxforder, darauf würde ich wetten. Braunes und weißes Leder.«

»Maximilian Stein«, murmelte Henry. Cassie sah zu ihm hinüber.

»Der Klavierspieler?«

Henry nickte. Er steckte dem Dienstmädchen einen Schein zu, das daraufhin aufsprang und sich mehrfach bedankte. Eine halbe Minute später waren er und Cassie wieder allein in der Suite.

»Sieht aus, als hätten wir eine Spur«, stellte Henry fest. »Wenn das Dienstmädchen sich nicht täuscht, hat Isme sich den Pianisten geangelt. Das würde doch zu ihr passen, oder? Ihr habt doch beide eine Schwäche für Künstler.«

Cassie verzog bei dieser Bemerkung das Gesicht, ging aber nicht weiter darauf ein. Sie hatte sich vom Sofa erhoben und lief aufgeregt im Raum hin und her.

»Was weißt du über diesen Stein?«, fragte sie. Henry hob die Schultern.

»Nicht viel. Er ist vor einigen Tagen hier aufgetaucht und hat sich als mittelloser Musiker vorgestellt, meinte, er hätte von einem der Dienstmädchen erfahren, dass ich eine Party plane.«

»Meinst du, er hat ein Zimmer hier?«

»Im Esplanade?« Henry zog die Mundwinkel nach unten. »Ein mittelloser Klavierspieler? Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Irgendwohin müssen sie aber gegangen sein. Lass uns an der Rezeption nachfragen.« Ohne seine Antwort abzuwarten, stürmte Cassie aus der Suite. Henry folgte ihr.

»Wohin geht es hier?« Cassie deutete auf die schmale Tür im hinteren Bereich des Foyers. Der Page schaute sie überrascht an.

Man hatte dem Portier seine Zerrissenheit deutlich angesehen. Wie alle Angestellten des Hotels war auch er bemüht, den Gästen jeglichen Wunsch zu erfüllen. Andererseits war Diskretion eine Selbstverständlichkeit im Esplanade – und nicht zuletzt hatte er schon genügend nächtliche Ausschweifungen miterlebt, um sich keine Sorgen um ein angeblich verschwundenes Partygirl zu machen. Nachdem Henry ein paar ausdrückliche Worte über die Höhe der Beträge, die er wöchentlich an das Esplanade entrichtete, hatte fallen lassen, hatte der Angestellte schließlich in einem dicken Buch geblättert und dann den Kopf geschüttelt. Wie Henry bereits vermutet hatte, war kein Gast mit diesem Namen eingetragen, auch nicht als Besucher.

Henry hatte Cassie zur Seite gezogen.

»Wenn Maximilian Stein kein Zimmer hier hat, können sie nicht dorthin gegangen sein. Bist du sicher, dass Isme noch im Hotel ist?«

Wortlos hatte Cassie den Anhänger hervorgeholt, der immer noch leuchtete. Henry hatte einmal tief geseufzt, dann war er zurück zum Empfangstresen gegangen.

Der Portier hatte mehrmals bedauernd die Hände gehoben, doch schließlich hatte er einen Pagen abgestellt, um nach Isme zu suchen. Cassie und Henry hatten sich nicht davon abbringen lassen, ihn zu begleiten. Nachdem sie alle öffentlichen Räume des Hotels durchkämmt hatten, standen sie nun im rückwärtigen Bereich der Eingangshalle, wo sich eine unscheinbare Tür verbarg.

»Nur zur Wäscherei. In einigen der Räume lagern wir auch alte Möbel und andere Sachen wie die Weihnachtsdekoration. Da geht eigentlich nie jemand hinunter.«

»Außer uns.« Cassie wollte sich an dem Pagen vorbei drängen, doch dieser blockierte ihr den Weg.

»Dieser Bereich ist für Gäste nicht zugänglich«, sagte er bestimmt. Henry wollte etwas sagen, doch Cassie bedeutete ihm, zu schweigen. Mit einer geschmeidigen Bewegung trat sie an den Pagen heran und legte gleichzeitig eine Hand auf seine Brust. Unwillkürlich musste Henry an eine Katze denken. Eine Raubkatze. Irritiert starrte der Page Cassie an. Er war noch jung, keine zwanzig, und fast ein bisschen kleiner als sie.

»Verzeihen Sie, meine Dame, aber was …«, stammelte er, doch Cassie hob einen Finger an ihre Lippen. Dann fuhr sie damit die Kinnlinie ihres Gegenübers entlang. Henry beobachtete amüsiert, wie der Page unter der Bewegung zusammenzuckte. Cassie beugte sich etwas nach vorne und brachte ihre schön geschwungenen Lippen so nah an den jungen Mann heran, dass sie seine Ohrläppchen berührten, und flüsterte: »Ich wünsche mir, dass du mich in diesen Keller hinabführst.« Der junge Mann starrte sie an, als sie sich wieder von ihm löste und sehr langsam die Hand von seinem Körper nahm.

Der junge Mann räusperte sich.

»Ich muss erst den Schlüssel holen.« Er drehte sich um und eilte mit sichtlich weichen Knien davon.

»Was war das denn?«, fragte Henry Cassie mit hochgezogenen Brauen.

»Was denn?«, antwortete sie schnell. Normal versuchte sie zu vermeiden, dass noch eine dritte Person anwesend war, wenn sie ihre Magie einsetzte. Zum Glück kam in diesem Moment bereits der Page zurück. In der erhobenen Hand schwenkte er einen Schlüsselbund.

»Marie ist mir gerade über den Weg gelaufen«, keuchte er etwas außer Atem. »Eines der Zimmermädchen.«

Er ging zu der Tür und wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als er stutzte.

»Hier ist ja gar nicht abgesperrt«, sagte er verdutzt, legte die Hand auf die Klinke und zog die Tür auf. Cassie sah Henry an. Sie hatten eine Spur!

»Lasst uns keine Zeit verlieren!«, rief sie, stürmte an den beiden Männern vorbei durch die Tür und hastete die schmale Treppe hinunter. Den Anhänger wie einen Kompass vor sich ausgestreckt, lief sie den schmalen Gang entlang. Die Linien auf dem Schmuckstück strahlten inzwischen so hell, dass die umstehenden Wäschekörbe seltsam verzerrte Schatten an die Wand warfen. Cassie würdigte die Türen, die links und rechts abgingen, keines Blickes, sondern lief zielstrebig bis ganz nach hinten.

»Hier muss sie sein!«, stieß sie atemlos hervor und hatte bereits die Klinke in der Hand, als Henry sie zurückriss.

»Vorsichtig!«, warnte er. »Wer weiß, was uns darin erwartet.« Er neigte den Kopf Richtung Tür und lauschte, dann schüttelte er den Kopf. »Alles ruhig.«

Langsam drückte er die Klinke nach unten, doch die Tür war verschlossen. Er winkte den Pagen heran und deutete auf den Schlüsselbund, den dieser noch immer in der Hand hielt. Zögernd kam der junge Mann näher, seine Hände zitterten, als er nach dem passenden Schlüssel schaute. Der Bund entglitt ihm und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden. Cassie hielt den Atem an, doch nichts regte sich. Mit einem leichten Kopfschütteln ging Henry in die Hocke, hob die Schlüssel auf, ohne dabei ein Geräusch zu machen, und steckte nach kurzem Betrachten einen davon ins Schloss. Er schaute kurz zu Cassie, die ihm zunickte. Leise drehte Henry den Schlüssel. Die Tür sprang einen Spalt auf. Cassie hielt den Atem an. Nichts rührte sich. Langsam schob Henry sich in den Türrahmen und gab der Tür einen leichten Stoß. Sie schwang auf und gab den Blick auf das Innere des Raumes frei. Langsam trat Cassie näher und spähte über Henrys Schulter. Im Halbdunkel konnte man die Umrisse mehrerer Möbelstücke erkennen.

»Das ist nur eine Abstell …«, begann der Page, brach jedoch ab, als Cassie sich umdrehte und ihn wütend anfunkelte. Dann zwängte sie sich an Henry vorbei und trat vorsichtig in den Raum.

»Isme?« Ihr Flüstern hing wie eine Geistererscheinung im Raum. Henry folgte ihr so dicht, dass er ihr Haar roch. Der Anhänger baumelte an der Kette von ihrer ausgestreckten Hand herab. In seinem Schein traten sie Schritt für Schritt tiefer in den Raum hinein. Plötzlich blieb Cassie so abrupt stehen, dass Henry gegen sie prallte.

»Was beim Olymp ist das?« Schaudern lag in ihrer Stimme. Entsetzen. Henry lugte über ihre Schulter. Im grünen Schein des Amuletts erkannte er einen alten, abgewetzten Sessel. Er sog scharf die Luft ein, als er die Frau sah. Sie hatte sich auf dem Möbelstück so weit zusammengerollt, wie ihr hochschwangerer Leib es zuließ. Das zerrissene Etwas, das einmal ein hübsches Abendkleid gewesen sein musste, war verrutscht und entblößte eine ihrer schweren Brüste. Der Mund der Frau war rot verschmiert. Ein zufriedener Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.

»Großer Gott«, entfuhr es ihm. Cassie schwenkte den Arm zur Seite. Auf dem Boden neben dem Sessel lag eine weitere Frau, doch sie schlief nicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Die vormals helle Bluse war aufgerissen und mit Blut getränkt, das von einer riesigen Wunde an ihrer Brust stammte. Der Brustkorb hob und senkte sich nicht.

Sie war tot.

Cassie unterdrückte ein Würgen.

»Was geht hier vor sich?«, keuchte Henry.

»Cassie?« Die Stimme war brüchig, nicht mehr als ein Flüstern. Cassie fuhr herum. Am Rand des Raumes nahm sie ein zartes Schimmern wahr.

»Isme?« Sie stürzte zu der Stelle und schluchzte auf, als sie ihre Freundin erkannte. Isme lag auf einer alten Chaiselongue. Ihr Haar war zerzaust, einer der Träger ihres Kleides gerissen. Die Wimperntusche, mit der sie ihre Augen betont hatte, war zerlaufen und klebte wie schwarze Tränenreste auf ihren Wangen. An ihrer rechten Schläfe klaffte eine Platzwunde. Ihr linker Arm hing kraftlos über den Rand des Polsters herab. In der Hand hielt sie einen goldenen Anhänger, der Cassies zum Verwechseln ähnlich war. Eine dicke Spur getrockneten Blutes zog sich von einer Wunde am Handgelenk über ihre Finger.

»Isme, was ist mit dir geschehen?«

Die Angesprochene schloss kurz die Augen, es bereitete ihr sichtlich Mühe, wach zu bleiben.

»Später«, flüsterte sie matt. »Wir müssen weg, ehe sie wieder aufwachen.«

»Sie?«

Schwach deutete Isme mit dem Arm in den hinteren Bereich. »Die anderen. Es sind mindestens sieben. Als der Morgen anbrach, haben sie von mir abgelassen. Sie …«

»Das können wir später klären«, unterbrach Henry sie. »Jetzt müssen wir hier erst mal raus.«

Cassie nickte. »Kannst du aufstehen?«

Isme schüttelte kraftlos den Kopf. Cassie schaute an ihr herunter. Die Knöchel ihrer Freundin waren dick geschwollen und blau. Cassie unterdrückte einen weiteren Aufschrei, doch bevor sie etwas sagen konnte, fühlte sie Henrys Hand auf ihrer Schulter. Er zog sie von der Chaiselongue weg und hob Isme hoch, als wäre sie leicht wie eine Feder. Sie versuchte, ihre Arme um den Hals des Mannes zu legen, sank jedoch kraftlos zurück.

»Raus hier«, raunte Henry. So schnell wie möglich verließen sie den Raum, ohne ein Geräusch zu verursachen. Cassie zog die Tür hinter sich ins Schloss und wies den Pagen an, sie wieder zuzuschließen. Vermutlich hatten die seltsamen Bewohner des Kellerraums ebenfalls einen Schlüssel, doch vielleicht würde ihnen dies dennoch ein wenig Zeit verschaffen. Gemeinsam eilten sie den Gang entlang und die Treppe hinauf. Cassie übernahm die Führung. Oben angekommen schaute sie gehetzt in der Eingangshalle umher. Es war niemand zu sehen.

»Wo ist der Eingang für die Angestellten?« Der Page führte sie an der Hotelküche vorbei zum Hintereingang. Isme hatte mittlerweile das Bewusstsein verloren und lag schlaff in seinen Armen.

»Wir müssen sie ins Hospital bringen«, sagte Henry, doch Cassie schüttelte den Kopf.

»Wir fahren zu meiner Wohnung. Dort wird sie sich erholen. Vertrau mir«, erstickte sie Henrys Einwand und wandte sich zum Pagen um.

»Ruf uns einen Wagen«, herrschte sie ihn an, doch er blickte sie nur völlig verstört an, ohne sich zu rühren. Sie musste ihn an beiden Schultern packen und rütteln, bevor er reagierte.

»Ein Taxi!«, wiederholte sie eindringlich, »und danach …« Ihr Tonfall veränderte sich, wurde rauchiger. Sinnlich. »Danach gehst du zurück an deine Arbeit. Ich wünsche mir, dass du all dies vergisst.« Wie gebannt hing der junge Mann an ihren Lippen, dann drehte er sich um und eilte so schnell los, dass er um ein Haar über seine eigenen Füße gefallen wäre. Cassie drehte sich zu Henry um und strich ihrer Freundin über das schweißverklebte Haar.

»Du bist gleich in Sicherheit.«

»Wir sollen wirklich keinen Arzt rufen?« Henry schaute über den Rand seines Bourbonglases hinweg zu Isme, die auf Cassies Bett lag. Ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig und es war wieder etwas Farbe in ihr Gesicht zurückgekehrt, auch wenn sie das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt hatte. Sie waren mit einem Taxi zu dem Haus gefahren, in dem Cassie eine Stadtwohnung angemietet hatte. Dem Fahrer hatten sie weisgemacht, ihre Freundin hätte zu viel getrunken, was dieser nur mit einem Schulterzucken kommentiert hatte. Henry hatte Cassie geholfen, Isme in den ersten Stock zu tragen. Sie hatten sie aufs Bett gelegt, dessen zerwühlte Laken Cassie an ihr Treffen mit Mascha erinnert hatten. Dann hatte Cassie ihre Freundin entkleidet und behutsam ihre Wunden versorgt. Nun schlief sie unter einem frischen Laken.

»Das wird nicht nötig sein. Unsere Wunden heilen schnell.« Cassie biss sich auf die Lippen, als Henry sie fragend ansah. Um ihn abzulenken, nahm sie ihm das Glas aus der Hand und trank ebenfalls einen großen Schluck.

»Danke für deine Hilfe.« Sie gab ihm das Glas zurück und bedeutete ihm, ihr durch die Flügeltür hinüber ins Wohnzimmer zu folgen. Dort ließ sie sich müde auf das Sofa sinken. Henry folgte ihr und setzte sich neben sie.

»Was ist da eben passiert?«

»Was soll schon passiert sein? Was jedem Mädchen früher oder später widerfährt. Schlimm, aber keine große Sache, Isme wird …«

»Cassie …« Henrys Stimme hatte einen warnenden Unterton. Sie verstummte. »Ich stehe dir und Isme zur Seite. Was auch immer hier los ist. Ich verlange nicht, dass du mir alles erzählst. Aber verkauf mich nicht für dumm. Ich habe alles mit eigenen Augen gesehen und du wirst mir jetzt nicht erzählen, dass hier nichts Ungewöhnliches vor sich geht!«

Cassie schwieg einen Moment.

»Tut mir leid«, flüsterte sie. »Was du für Isme getan hast, rechne ich dir hoch an. Ich kann dir nicht versprechen, dir alle Fragen zu beantworten, doch ich will auch nicht alles vor dir verbergen. Das wäre nicht fair.« Sie sah ihn an, etwas Zerbrechliches lag in ihrem Blick. »Also, was möchtest du wissen?«

Henry lachte auf.

»Für den Anfang würde es genügen, zu wissen, was es mit diesem seltsamen Anhänger auf sich hat. Und was du um Himmels willen mit dem armen Pagen gemacht hast. Danach kannst du mir noch verraten, wie du es schaffst, nach diesem Nachmittag immer noch so verdammt gut auszusehen.« Er zwinkerte ihr zu.

Sie schaute an sich herab. Der Hosenanzug, in den sie zuvor eilig geschlüpft war, saß immer noch tadellos.

»Wer kann, der kann«, antwortete sie charmant, doch dann seufzte sie. »Isme und ich kennen uns schon seit langer Zeit. Länger, als du dir vorstellen magst. Die beiden Anhänger wurden uns geschenkt, als wir noch junge Mädchen waren. Sie sind magisch. Ich weiß, das klingt seltsam, aber es ist so. Wenn wir die Hilfe der anderen wirklich dringend benötigen, können wir das Amulett aktivieren. Es hilft uns, einander zu finden, sollte eine von uns … sollten wir uns aus den Augen verlieren.«

Henry wirkte skeptisch, doch er schwieg.

»Was den Pagen angeht … nun, du weißt doch selbst um meine Verführungskünste.« Sie lächelte ihn an, doch Henry erwiderte es nicht. Cassie räusperte sich. »Nenn es eine spezielle Gabe. Wenn ich mich konzentriere und mich völlig auf mein Gegenüber einlasse, kann ich ihn dazu bringen, mir meine Wünsche zu erfüllen.«

»Ihn?«

»Ja, es funktioniert nur bei Männern.«

»Hast du diese Gabe«, er betonte das Wort verächtlich, »auch schon bei mir eingesetzt? Um etwas zu bekommen, was du haben wolltest? Vielleicht sogar gestern Nacht?«

Cassie schüttelte vehement den Kopf.

»Nein. Das habe ich nicht getan. Ich hätte auch nicht gedacht, dass das nötig sei. Du hattest doch Spaß daran, gestern mit mir zu feiern.«

»Das ist wahr.«

Sie schwiegen beide eine Weile. Das Unbehagen stand zwischen ihnen wie eine Wand.

»Sonst noch etwas?«

»Nun, da wäre noch die winzige Kleinigkeit, dass irgendwelche Leute im Keller des Esplanade hausen und junge Frauen dorthin verschleppen.«

»Ich habe absolut keine Ahnung, wer das war.« Echte Ahnungslosigkeit lag in ihrem Gesicht. »Ich habe von so etwas noch nie gehört. Es müssen irgendwelche kranken Sadisten sein. Vielleicht kann Isme uns mehr erzählen, wenn sie erwacht.«

»Außerdem will ich wissen, wie dieser Stein da mit drinhängt«, knurrte Henry. »Wenn ich daran denke, dass ich es war, der ihn engagiert hat und damit das Ganze ins Rollen gebracht hat, könnte ich mich ohrfeigen.«

Cassie legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.

»Das war doch nicht deine Schuld. Wie hättest du das ahnen können? Wer weiß – am Ende war das alles geplant von diesen … Kreaturen.«

»Warum haben wir nicht gleich die Polizei gerufen? Immerhin liegt dort unten eine Leiche!« Henry wurde bleich bei der Erinnerung und nahm einen tiefen Schluck. »Großer Gott! Eine Leiche! Eine tote Frau!« Auch Cassie schluckte schwer. Er hielt ihr das Glas hin und sie trank den letzten Rest Bourbon.

»Mir war es wichtiger, Isme in Sicherheit zu bringen. Ich will sie aus der Sache möglichst raushalten. Die Polizei stellt immer viele Fragen und am Ende wird es doch heißen, sie sei selbst schuld. Immerhin ist sie freiwillig mit Stein mit­gegangen.«

»Soweit wir wissen.«

»Soweit wir wissen«, bestätigte Cassie nachdenklich.

»Wir können aber nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen«, beharrte Henry. »Wenn dort unten eine Bande von … was auch immer lebt, werden sie vielleicht bereits diese Nacht ein neues Opfer suchen.« Er erschauderte. »Der Portier wird vermutlich auch fragen, ob wir unsere Freundin gefunden haben.«

Cassie drehte das Glas unschlüssig in den Händen.

»Ich brauche Zeit, um nachzudenken. Lass uns abwarten, bis Isme wach ist. Ich möchte wissen, was sie zu erzählen hat. Danach entscheiden wir zusammen. In Ordnung?« Sie sah Henry bittend an. Er seufzte.

»Nun gut. Dem armen Mädchen ist sowieso nicht mehr zu helfen.« Er stand auf. »Ich gehe jetzt erst mal zurück ins Hotel. Vielleicht kann ich dort wenigstens ein Auge auf das Geschehen haben.«

Nachdem Henry gegangen war, kehrte Cassie zurück ins Schlafzimmer. Behutsam setzte sie sich auf die Kante des Bettes und betrachtete das Gesicht ihrer schlafenden Freundin. Von der Platzwunde an der Schläfe war kaum noch etwas zu sehen. Sie hatte nicht gelogen: Ihre Art heilte schnell. Dennoch seufzte sie. Es waren nicht die körperlichen Schäden, die ihr Sorgen machten.

»Was ist nur mit dir geschehen?«, murmelte sie. Ismes Lider flackerten.

»Cassie?«, murmelte sie mit rauer Stimme.

»Ich bin hier«, antwortete sie und legte die Hand auf ihre. »Wir haben dich in meine Wohnung gebracht. Du bist in Sicherheit.«

Unvermittelt riss Isme die Augen auf. Ihre Finger krallten sich in das cremefarbene Laken.

»Sie hat mein Blut getrunken«, keuchte sie. In Cassies Gedanken blitzten Erinnerungsfetzen auf. Das getrocknete Blut an Ismes Handgelenk. Die klaffende Wunde in der Brust des toten Mädchens. Die roten Spuren an den Lippen der schwangeren Kreatur. Sie würgte. Um sich abzulenken, stand sie auf und schenkte sich ein weiteres Glas Bourbon ein. Ihrer Freundin brachte sie ein Glas Wasser. Sie half Isme, sich aufzurichten. Dankbar nippte sie an dem Getränk und ließ sich wieder erschöpft in die Kissen zurücksinken.

»Kannst du mir erzählen, was passiert ist? Das Dienstmädchen sagte, du hättest die Suite mit diesem Klavierspieler verlassen.«

Maximilian … beim Gedanken an ihn wurde Isme heiß und ihr Herz raste. Die Bilder in ihrem Kopf überschlugen sich und bildeten einen undurchdringlichen Strudel. Maximilians Finger auf ihrer Haut. Sein Atem an ihrem Hals. Sein Blick, bevor er ihr die Knöchel brach. Wieder glaubte sie, den stechenden Schmerz zu spüren, und musste tief durchatmen, um nicht ohnmächtig zu werden. Sie schlug die Bettdecke zurück und betrachtete ihre Füße, die immer noch angeschwollen und blau waren. Vorsichtig wackelte sie mit den Zehen. Der Schmerz war auszuhalten. Die Wut, die in ihrem Inneren aufloderte, weniger.

»Ja, das stimmt. Wir haben auf dem Balkon noch etwas getrunken und er meinte, er hätte ein Zimmer hier. Dann hat er mich in diesen …«, sie brach ab und schluckte, »… in diesen Kellerraum gebracht.«

»Isme! Wie konntest du! Du kennst doch unsere Gesetze! Niemals folgen wir einem Mann auf unbekanntes Terrain, das weißt du doch! Du selbst hast mir diese Regeln beigebracht.«

Isme biss sich auf die Unterlippe. Sie hätte Cassies Vorwürfe nicht gebraucht, die machte sie sich schon selbst zur Genüge.

»Ich glaube«, begann sie langsam, »er hat Magie angewendet.«

»Magie? Du meinst wie wir? Verführungszauber?«

Hilflos hob Isme die Hände.

»Ich kann es mir nicht anders erklären.«

Cassie hob eine Braue.

»Was ist dann passiert?«

Stockend berichtete Isme, wie der zweite Mann ihnen die Tür geöffnet und Maximilian sie über die Schwelle getragen hatte.

»Als er mir die Knöchel gebrochen hat, bin ich ohnmächtig geworden.«

»Elender Lump«, zischte Cassie.

»Ich glaube, er wollte das gar nicht …« Isme dachte daran, wie er sie angesehen hatte. Du bist nicht für mich bestimmt. Was bedeutete das?

»Isme!« Cassies Stimme klang entsetzt. »Du fühlst dich doch nicht etwa zu diesem Monster hingezogen?«

Isme schüttelte vehement den Kopf, doch ihr verwirrter Gesichtsausdruck sprach Bände.