Flegeltage - Kai Steiner - E-Book

Flegeltage E-Book

Kai Steiner

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Beschreibung

Wer an der Nordsee Urlaub machen möchte, muss sich frühzeitig um eine Unterkunft kümmern. Der unausstehliche sechzehnjährige Schüler Raphael aus Wasserburg/Bayern, der besessene zwanzigjährige Student Ivo aus Hamburg und die etwas unbedarfte Myriam (27) aus Wismar hatten Glück, jeder hatte noch ein Zimmer bei der schlitzohrigen fünfundsiebzigjährigen Selma Kayer auf Amrum erwischt. Die Räume liegen nebeneinander, wovon sich Selma einiges versprach. Seit Jahren passierte in ihrer Pension zu wenig, wie sie meinte. Ihre Gäste waren in der Regel im Rentenalter. Getrieben von der Erinnerung an Sexspiele mit Willi, ihrem Mann, geisterte sie in den letzten Jahren immer nachts durch die Flure und blinzelte durch die Schlüssellöcher. Manchmal wurde sie fündig. Werden die jungen Leute ihre Sehnsucht nach Teilnahme am Liebesleben endlich stillen? Und tatsächlich, ihre Wünsche erfüllen sich. Einer anfänglichen Zurückhaltung der zwei jungen Männer weichen zaghafte, dann leidenschaftliche Kontakte. Sie münden in packenden Aktivitäten. Selma ist verwundert und begeistert. Wann wird Myriam einbezogen? Was sie schließlich alles hört und sieht, erinnert sie an Willis Sexvariationen. Die Raffiniertheit von Ivo, Raphaels Neugierde und Maßlosigkeit und Selmas Begierde geben nun einem echten Dreierpack große Chancen. Bald aber kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen, zu Tränen, Vorwürfen, Verleumdungen und Beleidigungen. Fast scheint es, dass atemberaubende Ereignisse die anfängliche Idylle zerstören. Eine Orkannacht endet in einer Katastrophe.

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Kai Steiner

Flegeltage

Roman

Der Autor

 

Kai Steiner ist seit vielen Jahren Autor im Himmelstürmer Verlag. Er studierte Wirtschaftswissenschaften, Pädagogik und Geografie. Während seiner beruflichen Tätigkeit als Lehrer und als Leiter des staatlichen Studienseminars für das Lehramt an beruflichen Schulen und als geschäftsführender Direktor des staatlichen Studienseminars für alle Lehrämter Hamburgs, veröffentlichte er wissenschaftliche Beiträge und zahlreiche Schulbücher in verschiedenen Verlagen. Er war Dozent an der Wirtschaftsakademie Hamburg (WAH), an der werbefachlichen Akademie Hamburg und an der Akademie des Handwerks Hamburg und leitete Fortbildungsseminare in den Firmen Hamburger Gaswerke, Hans Schwarzkopf GmbH sowie in der Volkshochschule. Im Himmelstürmer Verlag erschienen bisher folgende Romane

Schmetterlinge im Bauch, 2006 – ISBN: 978-3-934825-52-9

Eingelocht, 2006 – ISBN: 978-3-934825-61-1

Surfer Dreams, 2007 – ISBN: 978-3-934825 – 83-3

Sommerlust am Mittelmeer, 2009 – ISBN: 978-3-940818-11-9

Capri, Amore mio, 2009 – ISBN: 978-3-940818-31-7

Paris, mon amour, 2010 – ISBN: 978-3-940818-49-2

Mein Blut in seinen Adern, 2012 – ISBN: 978-3-863611-00-2

Fin im Glück?, 2014 – ISBN: 978-3-86361-376-1

Liebe braucht Zeit, Nuri, 2015 – ISBN: 978-3-86361-452-2

Alle Bücher auch als E-book

 

Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg.

www.himmelstuermer.de

E-Mail: [email protected]

Originalausgabe, September 2016

© Production House GmbH

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.

Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt. Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Coverfoto: dreamstime.com

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN print 978-3-86361-582-6

ISBN e-pub 978-3-86361-583-3

ISBN pdf 978-3-86361-584-0

 

Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.

 

Für Wolf

 

Von mir aus ist jedem erlaubt, das Seine zu gebrauchen oder zu genießen (Cato, 234-149 v.Chr.)

Erlaubt ist, was gefällt (Goethe – aus Torquato Tasso; Tassos Lobrede für Eleonore)

 

Prolog

März 2015

Einen Freund verloren

Der Bulldozer tuckerte über den Strand. Seine mächtigen Gummireifen walzten nieder, was unter seine Räder kam. Für Knut Boyens spielte es keine Rolle, dass die Profile abgefahren waren. Zum Herbst wird er sie erneuern lassen. Wenn er auf ihr Erscheinungsbild angesprochen wurde, winkte er schmierig grinsend ab. Im Sand brauche man keine Struktur, rief er neugierigen Beobachtern zu, obwohl er es besser wusste.

Knut Boyens lächelte aus dem Fahrerhaus, als er wieder ein paar Vögel in die Flucht geschlagen hatte. Meistens waren es Möwen, die in den Dünen nisten, manchmal Eiderenten, seltener Kulps.

War’s der Lärm?

Vielleicht der Dieselgestank, der sie vertrieb? Könnte es die Größe seines Traktors gewesen sein oder sein wettergegerbtes Gesicht?

Knut Boyens brauchte sich hierüber keine weiteren Gedanken zu machen, denn er war keinem Menschen Rechenschaft schuldig, schon gar nicht irgendeinem Gast. Er arbeitete selbständig und unabhängig, hatte nur guten Draht zu den Behörden, die ihn seit Jahren um Hilfe baten.

Er hielt strikt die Spur ein. Es war der Fußgängerpfad, dem er folgte. Gäste wandern oft genug von Süden nach Norden, also von Nebel nach Norddorf oder in umgekehrte Richtung. Zu dieser Jahreszeit allerdings gab es noch keine Wanderer hier. Auch Knut Boyens hatte die Richtung zur Nordspitze eingeschlagen. Zehn Meter nach rechts begannen die mit Strandhafer bewachsenen Dünen, unterschiedlich in der Höhe, oft vom Wind zerklüftet mit leuchtenden Sandkörnern ohne Bewuchs. Nach links ein schmaler Moos- und Grasstreifen, dahinter wuchsen ungleichmäßig flache Erhebungen aus dem Boden, manchmal zierte ihre kleine Kuppe ein Büschel von grünen Stängeln. Weiter zum Meer hin türmte sich eine junge Dünenkette bis zu einer Höhe von sechs Metern auf. In ihnen sah man manchmal Brettergestelle, Reste der Behausungen, die während des vergangenen Sommers Urlaubsgäste zusammengezimmert hatten. Sie dienten Pärchen meistens als Sexgrotte.

Manchmal, wenn Knut Boyens im Sommer durch die Dünen streifte, beobachtete er Pärchen, die Sex trieben, so dass die Sandkörner durch die Luft wirbelten. Dann robbte sich der Voyeur ganz nahe heran, um das Geschrei und Gestöhne zu hören; im Alter lauschte er nämlich nur, sexaktiv war der alte Arbeiter nicht mehr. Aber Gefallen an Lustschreien hatte Knut wie eh und je ...

Ein besonderes Erlebnis machte ihn im letzten Jahr zuerst stutzig, wenig später richtig munter. Für Frauen hatte Knut nie viel übrig, er war daher auch nicht verheiratet oder befreundet. Junge Männer waren eher sein Fall, wie sein Freund, mit dem er den Strand säubert. Aber getrieben hat er es mit ihnen nie, zu groß waren seine Hemmungen. Dann schafft man es auch allein, seine Devise. Damit lag er nicht falsch, denn in keinem Fall gab es je Eifersuchtsszenen oder kleine Meutereien. Er konnte und durfte seinen Schwanz anfassen, wann und wie er wollte. Als er zwei Männern beim Sex zusah, war er erschrocken und fasziniert zugleich. Sie waren noch jung, um die zwanzig, sie fickten im Stehen, was Knut nur in Pornos gesehen hatte. Der eine hatte sich gebückt, seine Hände reichten bis auf die Erde. Der andere zog den Freundeskörper an sich und hielt ihn ab. Knut fand das ziemlich brutal. Aber ihm gefiel’s. Dazwischen die Schreie der Möwen, als ob sie das mitbekamen, was unter ihren Flügeln passierte. Dann wurden sie schneller, plötzlich zog der Aktive seinen Schwanz aus dem Hintern – Donnerwetter, der ist viel länger als sein eigener – und spritzte in die Gegend. Unglücklicherweise genau in die Richtung, in der sich Knut Boyens in einer Mulde hinter dem nächsten Sandhügel schnell duckte. Eine Windböe schleuderte ihm einen Teil des Spermas ins Gesicht. Während Knut das Zeug von seiner Stirn wischte, spürte er, wie sich sein Pimmel zur Hälfte erigiert hatte. Das war seit Jahren nicht mehr vorgekommen. Liebevoll fasste er ihn an, und tatsächlich, er wuchs und wuchs, bis er steif war. Dann wechselten sie ihre Position, er musste sich zurückziehen, um nicht entdeckt zu werden und ein ziemlich glücklicher alter Mann machte sich auf den Rückweg. Er wollte es noch einmal zu Hause versuchen …

 

In Höhe des Quermatenfeuers befand sich ein riesiger See, zwanzig Zentimeter tief, eher einer Lache gleichend. Er bildet sich meist im Februar, wenn noch einmal die Winterstürme über die Insel fegen. Ein Eldorado für Wildgänse, die hier – wie überall – Station auf ihrem Weg nach Norwegen machen.

Knut Boyens ärgerte sich über den Unrat, der angeschwemmt wird, wenn das Meer den Kniepsand überflutet und sich an den Dünen ablagert. Er wusste natürlich, dass man gegen diese Art der Verschmutzung ohnmächtig ist. Meist sind Besatzung und Gäste von Fährschiffen, Ausflugsbooten und Vergnügungsdampfer dafür verantwortlich. Wenn man aber auf Plastikbecher stößt, auf Mülltüten, auf Pappschachteln, Papiertaschentücher und Stofftaschen, dann lässt sich mit Gewissheit sagen, dass es die Menschen waren, die hier längst pilgerten. Und das wurmte den alten Mann noch mehr. Für ihn ein unbegreifliches Verhalten. Er schob es den Touristen aus Großstädten in die Schuhe, die seiner Meinung nach kaum mit der Umwelt umzugehen wissen. Asylanten konnten es jedenfalls nicht gewesen sein. Es gibt auf Amrum nämlich noch keine, weil es selbst für Einheimische nicht genügend Wohnraum gibt.

Leider haben sich überall Glasscherben eingegraben, Reste von Gläsern, Flaschen und Kanülen, und die gefährden Mensch und Tier. Sollte ihn jemand danach fragen, rät er ihnen, wenn sie an den Strand gehen, Schuhwerk zu tragen, in jedem Fall Sandalen mit dickerer Sohle. Wer will sich schon Scherben eintreten?

Wenn man Glück hat, sieht man rechtzeitig winzige Glasteile aus dem moosbedeckten Boden lugen, bei Sonnenstrahlen verschiedenfarbig, meist aber in grün, rot, blau und glitzernd. Dann kann man ihnen ausweichen.

Fest steht: Ein gefährlicher Weg für unbedarfte Strandläufer, schnelle Spaziergänger und für herumstreunende Kinder ohne Schuhe.

 

Knut Boyens war das aber eigentlich schnuppe. Er ist nämlich kein Kindermädchen für Jungen und Mädchen leichtsinniger Eltern. Er war nur für sein Gefährt verantwortlich.

Und das steuerte er jedes Frühjahr und jeden Herbst über den Kniepsand.

Seine Blicke richtete er oft zum Meer hin, und dann versuchte er sich zu erinnern, wie das Gelände im letzten Jahr ausgesehen hatte. Und tatsächlich, seine Liebe zur Insel, zur Nordsee, zu den Vogelbrutstätten, zum Watt brannte diese Eindrücke in sein Gedächtnis ein. Er war stolz, wenn er feststellen konnte, dass Meer und Wind immer Spuren hinterließen und neue Formen hervorbrachten. So erlebte er auch mit, wie sich der zu seiner Jugendzeit breite Strand allmählich veränderte und Sandberge schuf, die bald ein ganzes Gebiet unter seine Fittiche nahmen. Wurde er hierauf angesprochen, sagte er immer, nicht nur die Wüste lebe, sondern auch das hiesige Vorland.

Dazwischen die Vogelwelt.

Wenn man nämlich seine Blicke länger auf einen fernen Punkt richtet, nimmt man sie wahr: junge Möwen, Enten- oder Gänse-Gössel, manchmal hoppelnde Kaninchenbabys oder grau-braune Fasanenweibchen, die gierig Ausschau nach Liebhabern halten. Dazwischen die weit sichtbaren Krähen, deren Geschrei in den Ohren schmerzt.

Knut Boysens war wirklich ein komischer Kauz. Die meisten Amrumer kennen ihn gut und finden ihn liebenswert. Er gehört zur Insel wie das Quermatenfeuer in Höhe von Westerheide auf einem Sandhügel am Dünenhang zum Meer.

 

Der zwanzigjährige Arne Martinen winkte seinem alten Freund zu, was bedeutete, dass dieser einen Augenblick anhalten sollte.

Arne stocherte noch mit einem Spießer in der Erde herum, nahm Unrat auf den Piker – Büchsen, Schachteln, Bänder, Seile, Papier und Plastik – und ließ den Abfall im Anhänger des Treckers verschwinden. Herumliegende Flaschen, manchmal mit Sand gefüllt, manchmal sogar noch verschlossen, warf er von weitem auf den Beiwagen. Immer lachte er lauthals, wenn er beim ersten Wurf erfolgreich war.

Manchmal musste er den Krempel vom Stecher schlagen, so viel Sperriges hatte er auf einmal aufgegabelt. Unglaublich, was und wie viel Spaziergänger wegwerfen oder was vom Meer angespült wird. Er erinnerte sich plötzlich, dass er sich in der Norddorfer Bücherhalle Fotografien von „Meeresfrüchten“angesehen hatte. Es waren keine Fische, Seevögel und Algen, es handelte sich um Wergwerf- und Abfallprodukte der Zivilisation, angeschwemmt an die schönsten Strände der Erde. Ihnen gegenüber sollte man uralte Olivenbäume betrachten, Götterbäume genannt. Wenn Arne auch nicht den Ansichten der Autoren Christian und Helga von Alvensleben folgen konnte, die den entsorgten Konsumerzeugnissen einiges an Formen und Farben abgewinnen konnten, so war für ihn das Buch so faszinierend, dass er es sichkaufte. Von wegen Schönheit, meuterte er, als er das Bild einer Kunststofftüte aufblätterte und betrachtete. Nichts als Mist, sagte er jetzt zu sich, auch wenn Künstler für ihn das Recht haben, eigenständige und unübliche Gedanken zu äußern, zu fotografieren oder zu malen. Schließlich hatte Arne ebenso eine künstlerische Ader. Er malte Aquarelle über Dünenlandschaften und Küstenstreifen. Kritiker fanden sie etwas unbeholfen und eckig, so drückten sie sich aus. Dennoch verkaufte Arne in Wittdün jedes Jahr einige von ihnen.

Wütend wuchtete er eine Plastiktonne auf den Anhänger. Unzerstörbar, biologisch nicht abbaubar. Sie tänzelte über den Müllberg und rollte mit Getöse an die Seite der Verschalung.

Knut Boyens reagierte sofort.

Er manövrierte seinen Trecker dichter an die Dünen heran und brachte ihn nahe am Fuße der Sandkette zum Stehen.

Die beiden verstanden sich ausgezeichnet. Knut Boyens war glücklich, dass er einen so jungen Burschen an seiner Seite hatte, von dem er wusste, dass er fleißig war, Witze erzählte, über die er lachen konnte. Außerdem half der Junge ihm beim Anschieben, wenn das Fahrzeug stecken blieb, was des Öfteren passierte. Sie beide waren ein eingespieltes Team.

Die Gemeindeverwaltung hatte mit diesem jungen Kerl den richtigen Riecher!

Arne Martinen war ein echter Insulaner.

Man munkelt, dass seine Mutter ihn im Galopp verloren hätte. Er war nämlich immer in Bewegung, vor allen Dingen aber schnell. Not brauchte er nie zu leiden. Die Strandkorbvermietung seiner Eltern brachte genügend ein. Aber schließlich mussten die Gebühren auch für den Winter reichen, wenn die Strandkörbe in einer großen Halle eingemottet schlummerten. Seine Eltern drangen darauf, dass er auf Föhr die höhere Schule besuchte und unterstützen seine künstlerischen Fähigkeiten, in dem sie ihm eine extra Ausbildung bei Quedens Sohn – bekannter und begnadeter Inselkünstler – bezahlten.

Arne sah neben sich am abgerutschten Abhang fünf Zacken aus einem Sandhaufen blitzen, zehn Zentimeter pures Eisen. Seine heftigen Versuche, sie aus dem Untergrund herauszuziehen, waren umsonst. Fehlanzeige auch für seine Hände, die den Gegenstand ausbuddeln wollten. Der Boden war noch fest. Schließlich herrschten bis vor kurzem noch Wintertemperaturen.

Eins hatte er mit Sicherheit feststellen können: Es handelte sich um eine Forke. Der Stiel hatte sich offensichtlich tief in den Boden gedreht. Selbst ein Rütteln war aussichtslos, was Arne mehr als ärgerte.

Er blickte um sich. Er suchte zwei Stöcke. Mit ihnen wollte er die Stelle markieren. Aber nicht am Strand. Oben auf den Dünen. Denn nur so waren sie bei Sturmflut sicher. Außerdem wollte er irgendwann in der nächsten Woche, mit einem Spaten bewaffnet, zurückkommen. So einen gefährlichen Gegenstand muss man entsorgen. Er dachte sofort an die Besucher, die hier lang laufen werden und an die Kinder, die oft genug mit einem Ball den Strand beleben und möglicherweise durch Ungeschick oder Gleichgültigkeit stürzen. Was wäre, würde ein Junge genau auf den rostigen Zacken des Gartengeräts landen? Nicht auszudenken.

Als er gefunden hatte, was er suchte – eine zwei Meter lange, blau getünchte Leiste und einen längeren, dickeren Ast – stürmte er die Dünen unmittelbar neben dem Traktor nach oben. Er stand plötzlich vor einer flach abfallenden Mulde, die am Rand zum Meer hin so breit war, dass zwei Personen gut darin nebeneinander liegen konnten. Genau hier steckte er die Holzlatte in den Sand. Er war sicher, dass er sie von unten wieder finden wird. Blau kann man schon von weitem erkennen!

Mit seiner ganzen Kraft bohrte er sie in die Tiefe. Da unter seinen Füßen nur Sand war, wenn auch mit Strandhafer bewachsen, konnte er mit ihr in den Untergrund eindringen.

Nach jedem Schlag, den er mit einem Stein ausführte, rüttelte er an der Stange. Endlich stand sie fest wie eine Betonsäule. Er hatte wohl eine Tiefe von einem Meter erreicht. Das war auch wichtig, damit sie beim nächsten Sturm nicht auf und davon fliegen konnte. Auf der gegenüberliegenden Seite – zehn Meter entfernt – drückte er den Ast in die Erde, nachdem er mit der Hand ein tiefes Loch gegraben hatte. Mit den Füßen trat er den Boden fest.

Doppelt hält besser! Noch einen Blick! Arne prägte sich das Umfeld ein, denn er wusste zu gut, wie sich Hügel, Abhänge und Kuhlen gleichen. Gleichzeitig lenkte er seine Augen zum Quermatenfeuer, um später den Standort seiner Arbeit besser bestimmen zu können.

Nun zurück zu Knut.

Schon war er wieder unten, zwanzig Meter vom Fahrzeug entfernt.

Merkwürdig!

Der Motor lief immer noch im Leerlauf. Arne war es gewohnt, dass sein Freund den Zündschlüssel abzog, wenn er für längere Zeit halten sollte. Von wegen der Umwelt, sagte er. Außerdem qualmte er meist eine Zigarette.

„Auf geht’s!“, rief Arne von weitem und hoffte, dass sein Zuruf durch das geöffnete Fenster beim Fahrer anlangte.

„Mann, du kannst weiterfahren!“

Nichts rührte sich. Na warte … in den Augen von Arne war der Alte ein friesischer Dickschädel. Und scherzen mochte er auch gern.

Der junge Mann riss die Fahrertür auf, sein Freund musste eingeschlafen sein, er lag mit seinem Oberkörper schräg über dem Lenkrad.

Arne lächelte. Knut Boyens ist eben nicht mehr der Jüngste. Wahrscheinlich hatte er gestern Abend über den Durst getrunken. Wenn man allein lebt, passiert so etwas schon mal. Außerdem darf man sich mit fünfundsiebzig Jahren gern mal eine kleine Ruhepause gönnen, dachte er, oder?

Der alte Mann fiel aus dem Führerhaus nach links zur Seite auf den Strand.

Der erste Schreck des Jungen dauerte nur Sekunden. Dann bückte er sich und rückte den schweren Körper zurecht. Die warme Haut beruhigte ihn.

Nichts deutete auf ein schreckliches Ereignis hin.

Nur bewusstlos …

Hinknien, Arne! Wange abklopfen, gab er sich den Befehl. Er starrte auf das Gesicht. Es müsste sich doch bewegen oder wenigstens zucken …

Nichts!

Grauenhafte Angst überfiel ihn.

Unwillkürlich hörte er sich laut schreien:

„Nein, nein, nein!“

Was sollte er tun? Was musste er tun?

Noch nie hatte er eine solche Situation erlebt.

Dr. Hummer anrufen.

Internist in Norddorf, Hausarzt von Knut Boyens. Das wusste Arne, hatte er seinen alten Freund doch schon mehrere Male in die Praxis gefahren.

Wenig später bog der rote Jeep des Arztes am Norddorfer Übergang mit Bravour auf den Strand nach links ein. Immer noch offenbarte der Doktor eine jugendliche Lebendigkeit, was sein forsches Fahren bewies.

Gott sei Dank, gleich war er vor Ort.

Eine Injektion, und dann wird alles gut sein.

Dr. Hummer war ein Mittdreißiger. Flexibel, sympathisch und sportlich. Er hielt direkt vor Knut an, sprang aus seinem Wagen, fackelte nicht lange und beugte sich geschmeidig über den Körper seines Patienten. Er kannte ihn gut.

Ein kurzer Griff an die Augen, ein Hochklappen der Lider … Dann begann er mit der Wiederbelebung.

Was sollte das denn?

Arne schwante Schlimmes.

Nach einigen Minuten und außer Puste sagte der Doktor dann resignierend:

„Dein Freund ist tot!“

Arnes Schrei flog ein zweites Mal über den Strand.

Erschreckt flatterten hinter dem Traktor ein paar Möwen hoch.

Der junge Mann konnte sich nicht beruhigen.

Wäre er unten gewesen, oder wäre er in Höhe des Treckers nebenher gelaufen, dann …

„Nein!“, sagte der Arzt, „niemand kann in solchen Fällen helfen. Die Uhr war abgelaufen. Bei seinem letzten Besuch bei mir hatte ich ihm gesagt, dass das Herz ziemlich schwach schlage, daher müsse er kürzer treten! Knut Boyens hat gelacht und abgewinkt, so war er.“

 

Arne lief wie besessen ins Dorf.

Einige Leute drehten sich empört nach ihm um. Dummer Junge, dachte man wohl, denn sie mussten ihm manchmal ausweichen.

Er landete schwer atmend bei seiner Tante Selma Kayer. Für einen Außenstehenden wäre die Adresse sehr ungewöhnlich, wohnte sie doch am Ende des Dorfes fast am Deich, der das Wattenmeer begrenzte. Und wer suchte hier schon Quartier? Selma Kayer hatte den Jungen bis zum zwölften Lebensjahr großgezogen, als seine Eltern mehrere Jahre in Amerika weilten, und sie liebte ihn wie ihren eigenen Sohn.

Sie nahm Arne in den Arm, als sie sah, dass er heulte. Es musste etwas Ungewöhnliches passiert sein, ging es ihr durch den Kopf. Wann habe ich Arne schon mal flennen sehen?

Das stimmte.

Arne war kein Weichei. Von Zuhause aus war er an harte Arbeit gewöhnt.

Wenn Vater und Sohn zusammen die Strandkörbe aus ihrer Verbannung holen, mit Händen auf den Anhänger des Traktors hieven und an den Strand fahren – und das bei Wind und Wetter im April – dann ist das Schwerstarbeit. Abends wussten sie, was sie getan hatten.

Auch das Abräumen im Oktober waren keine Peanuts. Im Dezember begannen die beiden mit der Reparatur in der ausgekühlten Halle. Jeder einzelne Strandkorb wird untersucht, zerbrochenes oder angeknackstes Rohr bzw. Plastikband wird herausgeschnitten und durch neues ersetzt. Da sie aber immer zu zweit arbeiteten, sich gegenseitig halfen, ging ihnen die Maloche von der Hand.

Der Junge begann endlich zu erzählen.

Ja, ja, der alte Knut Boyens …

„Traurig sein“, sagte sie, „das geht in Ordnung. Er war dein Freund! Aber bedenke, wie lange du schon mit ihm befreundet bist. Ein Geschenk, und das zwischen einem alten Mann und einem Jugendlichen. Er wird nichts gemerkt haben. Es war wohl ein Herzinfarkt. Glücklicher Tod!“

„Meinst du wirklich?“

„Ja, tue ich!“, antwortete Selma Kayer selbstbewusst.

Tatsächlich kam Arne Martinen langsam zur Ruhe.

 

Drei Tage später verließ er die Insel. Er war sich sicher, dass er über den Tod seines Freundes nur über einen Ortswechsel hinwegkommen würde. So heuerte er bei einer Hamburger Reederei als Matrose an.

2. Juli

Eine vorweggenommene Nachbetrachtung

Ivo hatte bestimmt nichts dafür gekonnt.

Raphael und er haben gerangelt.

Und dann war’s passiert …

Der Sturm hatte sich gelegt. Eine halbe Nacht fegte er mit Gewalt über die Nordsee und löste sich langsam über der Ostsee auf. Die Temperaturen waren sommerlich. Der Regen hatte um Mitternacht nachgelassen. Auch er war angenehm warm. Noch immer zogen ein paar dunkle Wolken über die Insel hinweg. Am Horizont zuckten überdies vereinzelt Blitze. Das Meer hatte sich gegen Morgen bei eintretender Ebbe langsam vom Kniepsandzurückgezogen.

Während der Flut und des Unwetters am Vorabend hatte das Meer den Strand von Amrum überschwemmt. Es handelte sich nicht nur um eine Breite von zehn bis zwanzig Metern, es waren circa 800 Meter an der breitesten Stelle – fast einen Kilometer zart gelber feinster Sand, durch flache Dünen und Furte unterschiedlicher Breiten unterbrochen – in etwa am Quermatenfeuer. Keine Meeresküste der Welt kann sich solcher Breite rühmen.

Schon mittags kochte die Nordsee am Ereignistag im wahrsten Sinne des Wortes. Der heulende Sturm hatte alle sonstigen Geräusche vertilgt. Spät nachmittags hatte das Meer die Reisig-Palisaden vor den Dünen gelockert, war gegen die Sandhügel geschwappt, diese an ihrem Saum unterspült. Hatte die Wucht des Wassers tiefe Löcher in den Hügelschutz zum Hinterland gerissen, brach der Sand mit seinem Strandhafer und meterlangem Wurzelgeflecht an den Dünenrändern weg und rutschte in Scheiben in die Tiefe.

Unten vermischten sich Sand, Pflanzen, Wurzeln, Zweige, Geäst, Buhnen und angeschwemmter Unrat zu einem schmutzigen Brei, der zurück ins offene Meer gezogen wurde, durch neue Wellenberge irgendwo aufgehalten, zurückbefördert und mit der nächsten Welle wieder ins Meer getrieben.

Ein Wahnsinnsschauspiel! Den Möwen machte das nur wenig aus. Sie schossen wie ein Pfeil ins Wasser in der Annahme, dass ein treibendes Seil oder ein Plastikbehältnis ein fetter Happen wäre. Pech gehabt! Schon flatterten sie wieder in die Höhe, oft gegen die Gewalt der Böen an, um es ein nächstes Mal zu versuchen.

Eine Katastrophe.

So etwas hatte Ivo noch nie erlebt, und er ist meererprobt, wenn auch nicht hier. Seine Eltern hatten ihn seit seiner frühen Kindheit ans Wasser gewöhnt: Jedes Jahr waren sie auf Norderney. Damals, als Kind, fand Ivo die Insel fantastisch, heute ist ihm dort viel zu viel Betrieb. Amrum ist einsamer.

Ivo war inzwischen bedingungsloser Wasserfan. Er liebte das Meer in allen Zuständen und bei jedem Wetter. Ohne Vorbehalte, ohne Einschränkungen. Die Nordsee mochte er am liebsten, immer Wind, immer Ebbe und Flut – manchmal mit sagenhaften Höhenunterschieden – und mit einer herben, nach Meer und Tang riechenden Atmosphäre. Wenn er in Wittdün den Anleger betrat, blieb er meist einen Augenblick stehen und schnupperte die Luft bewusst tief ein.

 

Die Injektion von Dr. Hummer hatte nur drei Stunden gewirkt. Der junge Mann blickte früh morgens aus einem Fenster der Pension Agatheüber das Watt. Auch hier war Ruhe eingekehrt. Einige Vögel flatterten nach Nahrung umher, Gänse wahrscheinlich, Austernfischer und Eiderenten, unterscheiden kann man sie in der Dämmerung noch nicht.

Um sieben Uhr morgens knirschte der Kies draußen auf dem Hof verdächtig.

Ahnungen überfluteten ihn.

Er hörte mindestens zwei Autos auf den Hof vorfahren.

Wer kam zu dieser Zeit auf fremde Grundstücke? Gerichtsvollzieher? Polizei? Freunde?

Polizei.

Ivo war sich sicher: sie wollten zu ihm.

Wird ein Verhör folgen?

Ivo hatte plötzlich Angst. Er zitterte unkontrolliert, obwohl er sich keiner Schuld bewusst war. Was hätte er auch in diesen schrecklichen Augenblicken tun können? Manchmal lässt die Natur keine Chancen zu, so wie es in dieser Sturm-Nacht war.

Schon klopfte es an seiner Zimmertür.

„Ivo“, hörte er Selma Kayers verschlafene Stimme. Verdammt, die Hexe hört wohl das Gras wachsen, ging’s ihm durch den Kopf.

„Polizei für Sie. Sie sollen mit zur Wache!“

„Wie? Danke!“

Idiot. Dank, wofür? Wie kommen Bullen auf seinen Namen? Nur Selma und Myriam waren dabei. Falsche Zicke. Sie hätte ihm doch vorher Bescheid sagen können, dann wäre er einfach abgereist oder vorbereitet gewesen. Was konnte er dafür? Sollen die doch Myriam befragen!

Als er nach wenigen Minuten am Fahrzeug der Polizei stand, glotzten ihn zwei Augenpaare an, als wäre er ein Verbrecher. War er aber nicht.

„Und?“, fragte Ivo unhöflich.

„Herr Ivo Heinhold?“

„Ja, der bin ich.“

„Gut, steigen Sie bitte ein. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen, allerdings nicht hier. Wir bringen Sie nach Wittdün.“

„Antworten kann ich auch hier geben, wenn es mich betrifft, oder?“, ließ er die beiden Uniformierten forsch wissen.

„Nicht so …, junger Mann. Wir führen nur einen Auftrag aus. Wir sind hierfür nicht verantwortlich.“

„Entschuldigung!“

„Schon besser!“

„Einen Augenblick, ich komme gleich zurück!“

Wieder im Haus, stolperte Ivo beinahe über Selma Kayer. Hatte sie wieder gehorcht?

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte er sie verblüfft, „nach Wittdün?“

„Vorläufig. Die hiesige Polizei hat hier nur eine Nebenstelle. Die Zentrale ist in Husum in der Poggenstraße. Die haben da auch direkte Netzverbindungen nach Kiel! Ich war auch schon mal da wegen eines Verkehrsunfalls. Man hatte alles per Internet in die Landeshauptstadt geschickt. Vielleicht werden Sie nach Husum geflogen. Per Hubschrauber, super Aussicht!“

„Was soll das heißen?“

„Na ja, Leute, die nach Husum gebracht werden … das ist immer was Größeres.“

„Verstehe ich nicht!“, sagte Ivo, und schüttelte mit dem Kopf. Er spürte, dass er rot anlief. Ein Blick in den Spiegel ließ ihn zurückprallen. Mein Gott, wie sah er denn aus? Tiefe Augenränder, als hätte er die ganze Nacht gevögelt. Wehmut überkam ihn, denn diese Zeit war ein für alle Male vorbei. Hier jedenfalls.

Ivo eilte noch einmal in sein Zimmer, nahm seine Umhängetasche vom Wandhaken, blickte sich erneut um, ob die Schubladen der zwei Kommoden verschlossen und die Schlüssel abgezogen waren – er traute der Wirtin nun überhaupt nicht mehr über den Weg – und eilte nach draußen.

Was da wohl anlag? Mal sehen.

1. KapitelErste Kontakte …

19. Juni

Ivo ist sauer über aufmüpfige Gäste

Bei Ivo war die Hölle los. Unangemeldet standen Mitbewohner im Studentenwohnheim vor seiner Wohnungstür. Sie grienten ihn hämisch an, als er die Tür öffnete und überrascht aus der Wäsche glotzte, im wahrsten Sinne dieses Wortes. Er hatte völlig verdrängt, dass man es unter Studenten so handhabte, auf die Pauke zu hauen, wenn einer für ein paar Wochen Urlaub machte.

Sie sagten ihm allerdings, sie hätten sich zufällig getroffen.

Zehn Personen im Zufall? Wer das glaubt, wird selig.

Abschied heißt Party, genau dann, wenn man letzte Reisevorbereitungen trifft. Ivo war sauer. Damit hatte man wohl gerechnet, sich daran aber nicht gestört.

Er wollte morgen früh nämlich nach Amrum. Nichts Großes. Aber er wird vier Wochen von Zuhause weg sein, die Dauer war wohl der Grund, ihn aufzusuchen. Ivo war nämlich Surfer, angemeldet zu den Nordsee-Meisterschaften auf Sylt. Zur Vorbereitung auf den Wettbewerb sollten einundzwanzig Tage auf Amrum dienen. Die Surfschule am Norddorfer Strand war ihm seit letztem Sommer bekannt. Umfeld und Trainer gefielen ihm. Und surfen lässt sich dort bestens. Wind gibt’s fast täglich. Also beschloss er, im kommenden Jahr wieder dahin zu fahren. Das sollte jetzt sein.

Eine Bleibe hatte er schon. Bei Selma Kayer, eine der wenigen Pensionen, in denen es noch Frühstück gibt.

Seine Eltern hatten der Vermieterin den Sohn letztes Jahr vorgestellt. Und komischerweise fühlte er sich sofort von ihr angezogen. Sie schien ihm eine ausgemergelte Frau zu sein, unförmig, wohl an die fünfundsiebzig Jahre, skurril anzusehen, schlagfertig und direkt. Ivo hatte auch das Gefühl, dass sie Teenager älteren Gästen vorzog. Warum allerdings, das konnte er nicht sagen.

Sie bot ihm an, sich die Zimmer anzusehen.

Er zottelte ihr hinterher, hielt seinen Mund. Nicht aus Anstand, nicht aus Höflichkeit, eher aus Verlegenheit. Der alten Dame gefiel seine Zurückhaltung. Sie spürte, dass dieser junge Mann irgendetwas Geheimnisvolles ausstrahlte, was auch die übrigen Urlauber empfinden könnten und anregend finden würden. Verborgenes reizt immer zu Fragen, möglicherweise zu Nachforschungen, und die würden der Pension gut tun.

Nachdem sie ihm mehrere Räume gezeigt hatte, äußerte er den Wunsch, im nächsten Jahr im Parterre wohnen zu wollen – mit Blick aufs Watt. Man könnte die Vogelwelt von hier aus besonders gut beobachten. Selma Kayer lächelte den gutaussehenden Jungen bei dieser Aussage süffisant an. Ihre Augen glitten sanft seinen Körper vom Kopf bis zu den Füßen entlang, blieben sekundenlang an seinem von knielangen Hosen bedeckten Unterleib kleben und wanderten weiter.

Dann nickte sie ihm zu.

Ivo nahm ihr Mienenspiel wahr. Sie konnte nicht wissen, dass er ein fabelhafter Beobachter war. Er zeichnete mit den Pupillen ihre Figur nach und stutzte beim kurzen Hals, der beinahe das Kinn verschluckte.

Er nahm an, dass sie vielleicht daran gedacht hatte, dass er unbemerkt und jederzeit durch die Fenster nach außen oder innen steigen könnte, vielleicht sogar mit einem Mädchen. Natürlich konnte sie nicht wissen, dass er mit dem weiblichen Geschlecht noch nicht allzu viel anzufangen wusste, sein Interesse galt dem Surfen. Schließlich wollte er auf Sylt einen hervorragenden Platz belegen und daher hieß es, sich für den Wettbewerb fitmachen. Wo kann man es besser als auf Amrum?

Später stellte sich heraus, dass Selma Kayer an ein Mädchen gedacht hatte, das ihren Urlaub seit Jahren bei ihr verbrachte, und genau zu der gewünschten Zeit. Auch sie bevorzugte ein Zimmer zum Norden hin mit Blick auf die Vogelkoje. Vielleicht konnte man beide zusammenbringen … Schon stellte sie sich vor, wie die beiden ihr Haus beleben würden.

Sie dachte an ihren Willi, der vor sieben Jahren verstorben war, ein richtiger Kerl, und … olala, konkurrenzlos.

Sie hatte für die junge Frau und Ivo zwei nebeneinander liegende Zimmer gewählt. Ein drittes war rechts von Ivos Räumlichkeit, verbunden durch eine Zwischentür, die von beiden Seiten allerdings mit einem Kleiderschrank zugestellt war. Selma Kayer hätte der jungen Frau auch dieses geben können, wollte aber nicht schnellen Bettgeschichten Vorschub leisten. Man brauchte nämlich nur die Möbelstücke zur Seite zu schieben, um an das Schloss heranzukommen und die Tür zu öffnen.

Räume und Mobiliar waren in Ordnung, das Bad war modern. Mehr braucht man nicht.

Sie vereinbarten eine Urlaubszeit, was für Ivo leicht war, denn seine Universitätsferien veränderten sich nicht, und noch konnte er ein Examen nicht ins Auge fassen. Schließlich begann im Herbst erst sein sechstes Semester. Fürs Lehramt braucht man mindestens vier Jahre, acht Semester.

 

„Mann, haut ab, ich kann euch nicht gebrauchen“, brüllte Ivo seine Kommilitonen an. Diese ließen sich nicht beirren. Im Übrigen hatten sie alle etwas mitgebracht, Bier, Wein, Knabberzeug, Salzgebäck.

Also doch abgesprochen, ging es Ivo durch den Kopf.

Schon standen sie alle in seinem sechzehn Quadratmeter großen Zimmer, schmissen ihre Sachen in die Ecke und fläzten sich aufs Bett oder auf die Erde.

In diesem Alter ist man absoluter Lebenskünstler. Es hätten noch zehn Leute Platz gefunden. Und wenn nicht nebeneinander, dann übereinander.

Bier floss in Strömen. Die Mädchen erhielten vom Gastgeber Gläser. Schließlich war er ein Gentleman.

„Du mit deiner Scheißnordsee und der gottverlassenen Insel. Wenn überhaupt ans kalte Meer, dann nur nach Sylt.“

„He, sei nicht so kleinkariert!“, murrte Ivo verärgert.

Mit dieser Aussage und dem Tonfall heizte er eine Diskussion über die drei nordfriesischen Inseln – Sylt, Amrum und Föhr – an, und das war ihm plötzlich recht. Sein Ärger verflog im Nu, weil ihn alle reden ließen und sich um Getränke kümmerten. Ivo merkte nicht, dass fast niemand zuhörte, und so redete er über seine Sehnsucht, offenbarte seinen Charakter ein bisschen, hoffend, dass man ihn besser verstand. Er hatte über sich munkeln gehört, er wäre so etwas wie ein Asket, der in die Einsamkeit flieht, um sich selbst zu quälen.

„Lies du erstmal die Beichten von geilen Weibern, die über Sylt schreiben. Man kann die Insel nur so zu Papier bringen, wenn man dort seine Beine breit gemacht hat. Was die alles sehen, erleben und genießen … fabelhaft, wie sie die Bars, Kneipen, das Strandleben und Action in den Dünen beschreiben, Mann oh Mann! Power total, keine Vorurteile, alles ist erlaubt. Man merkt förmlich, wie sie die Paare in den Dünen und am Tresen beobachtet haben!“, blökte Heino in die Gegend, ein smarter, eigenwillig aussehender BWL-Student mit wulstigen Lippen. Sein überlegenes Lachen reichte meist vom Kinn bis zu den Schenkeln, was Ivo ekelte. Seine schwarzen über die Ohren fallenden Haare und der Mittelscheitel gaben ihm das Aussehen von, mein Gott, wer sah wie Heino aus? Ach ja, Edgar Allen Poe. Ivo lehnte diesen Typ vom Scheitel bis zur Sohle ab, er schien ihm zu aufgesetzt und von sich überzogen. Vielleicht aber war er nur neidisch, weil Heino es dicke hinter den Ohren hatte, und jedes Mal so tat, als ob er jeden Abend ein Fötzchen – wie Goethe es schon formuliert hatte – vernaschte.

Er antwortete etwas linkisch:

„Meer ist Meer!“

„So eine Kacke erzähl deiner Mutter. Schließlich muss man baden können, und vor Sylt gibt es wenigstens Wellen. Und wenn das nicht geht, bumsen in der Düne hat noch keinem geschadet. Generell ziehe ich die Malediven vor!“

„Angeber! Auf den Malediven ist gar nichts, Muslime treiben es nicht in der frischen Luft. Dann schon nach Phuket. “

„Auch hier in Deutschland ist das Meer ohne Grenzen, fantastisch, jeden Tag verändert es sich“, entgegnete Ivo – vollkommen daneben und wirr, wie Max empfand. Der Streber spinnt ja!

„Mal zaubert die Sonne klitzekleine Sterne auf die Oberfläche des Wassers, mal pustet der Wind kleine Wellen vor sich her, mal streicht Nebel von Nordwesten über den Meeresspiegel!“

„Mensch Ivo, ein Flop, was du da von dir gibst, oder seid ihr andrer Meinung?“, fragte Max in die Menge, ohne jemand anzusprechen.

Ivo ärgerte sich über sich selbst.

„Na und? Findet alles auch auf Sylt statt“, entgegnete Heino herablassend.

„Stimmt“, flötete Teresa ins gleiche Horn, und schob sich eine Handvoll Nüsse in den Mund. Sie hatte es seit langem auf den BWL-Kommilitonen abgesehen, zumal er aus einem reichen Elternhaus kommen sollte. Sie hoffte, mit ihrer Zustimmung ans Ziel zu kommen.

„Ich will was erleben, und das kann man nur auf dieser Insel. Die kleinen Kneipen, die Bars, die Leute, die Sandberge, wow! Und die vielen Titten am Strand von Kampen. Ich pfeife auf kleine Wellen! Nackte Brüste, Ivo! Solche wie die von Sophia Wollersheim aus dem Dschungelcamp. “

„Wer ist das denn?“, fragte Ivo die Stirn runzelnd. Das war noch nie seine Welt.

„Siehst du denn nicht in die Glotze?“

Ivo konterte nicht mehr. Vor so viel Ignoranz war es besser zu schweigen. Außerdem hatten fast alle einen im Tee.

Um drei Uhr verschwand die Bande. So konnte er sich doch noch aufs Ohr hauen, was er tat. Er stellte den Wecker auf 6 Uhr. Mit Katzenwäsche und einer Cola würde er vielleicht zwanzig Minuten brauchen, also spätestens um 6:30 abfahren. Das Auto stand vollgepackt in der Garage, gleich um die Ecke.

 

Sein grüner Rucksack lag im Flur. Irgendjemand musste ihn dahin bugsiert haben. Seiner Meinung nach hing er am Kleiderhaken, den er über den Türrahmen gehängt hatte. Darin waren immer seine Papiere – Ausweis, Kfz- und Führerschein, Versicherungskarte, Kreditkarten und Girokarte – verstaut. Außerdem hatte er schon eine Flasche Wasser und irgendwelche Nüsse eingesteckt. Der Rucksack war also ausgebeutelt. Und dieser? Verdammt, er war schlapp wie ein leerer Weinschlauch, sonst nichts. Wollte ihm jemand einen Streich spielen? Er riss den Rucksack an sich, zerrte den Reißverschluss auf: keine Flasche, keine Wegzehrung. Dafür ein kleines Namenskärtchen in der inneren Seitentasche. Was nun? Er drehte es um, deutlich war zu lesen: Moritz Haider.

Ausgerechnet, sein bester Freund.

Demnach musste es sich um ein Versehen handeln, denn solche Scherze gingen nie von ihm aus. Was nun? Verzweifelt starrte er auf die Uhr. Es war bereits halb sieben. Wahrscheinlich ist die 9 Uhr – Fähre nicht mehr zu schaffen.

Wie sollte er an seine Habseligkeiten herankommen? Die Handy-Nummer fand er nicht im Notizbuch, dafür aber die Festnetznummer seiner Familie. Wo war Moritz? Ivo rief daher dort im Festnetz an. Seine Mutter war am Apparat, mehr als verblüfft, wie man aus ihrem heftigen Atem heraushorchen konnte.

„Ich … ich … dachte“, stotterte sie, „er wäre bei dir … Wenn nicht, dann hat er sich bestimmt … bestimmt mit irgendjemand auf dem Kiez umgesehen, ruf ihn an“, sagte sie nun in einem normalen Ton und fließend, „ hier ist seine Handy-Nummer.“

Der junge Mann kritzelte sie auf eine alte Zeitung und drückte die Tasten seines Nokias. Tatsächlich, Moritz war direkt am Hörer. „Mensch, ich schaue sofort nach, mir ist nichts aufgefallen, aber ich hatte ja auch einen in der Krone!“ Ivo wartete nur einen Augenblick, dann bekam er Gewissheit.

„Wo bist du, Moritz?“

„Egal, wo ich bin. Wenn du mit deiner Karre vorbei kommst, stehe ich auf der Straße.“

„Wo?“

„Davidswache!“

„Wieso da?“

„Mann, frag nicht so dumm, man wird doch wohl noch Geheimnisse haben dürfen, oder sind wir miteinander verheiratet?“, flötete Moritz selbstsicher in den Hörer.

Aber das war er nicht, was Ivo empfand. Er hatte das Gefühl, dass sich seine Pupillen verengten, fast wurde ihm schwarz vor Augen.

Zeichen von Angst?

Aber wovor?

„He, schrei nicht so“, trompetete Ivo sauer zurück. „Unter Freunden? Ich erzähle dir auch immer alles.“

Moritz’ Überlegung gar nichts zu erklären, geriet ins Wanken, als er an die Freundschaft mit Ivo dachte. Und diese wollte er nicht verlieren, bloß nicht! Schließlich war Ivo wirklich sein bester Freund.

„Wenn ich dir das sage, wirst du mich sonst wo hin schießen!“, jammerte er leise.

Mein Gott, was hatte sein sonst so selbstbewusster Freund denn?, fragte sich der Surfer. Hatte er etwas ausgefressen? Wenn ja, dann wäre ein Gespräch unter Freunden doch genau das Richtige, man teilt dann nämlich sein Geheimnis mit jemand, dem man vertraut. Das erleichtert.

Aber wie kann er ihn zum Reden bringen?

Indem er laut wird? Nein! Schreien fordert zum Rückzug auf.

Indem er auf Enttäuschung macht? Zweifelhaft.

Oder ist es besser, seiner Stimme einen anklagenden Touch zu geben, leise und stockend zu sprechen?

„Quatsch! Wozu hat man denn einen besten Freund?“, säuselte Ivo ins Telefon. Und grinste trotz seiner Misere.

Plötzlich kam ihm eine Idee.

War’s eine gute?

Wird sich herausstellen, dachte er:

Wenn er stöhnen würde, dann könnte Moritz dies als Ärger auslegen. Vielleicht hilft das? Er durfte nur nicht merken, dass ihn sein Abenteuer mehr interessiert, nicht so sehr seine Gefühlslage. Schließlich ist man als Freund auch nicht nur der Ascheimer.

Ivo zuckte mit den Achseln. Dann atmete er schneller als ob er hechelte wie ein Hund nach einem Rennen und stöhnte danach mit einem tiefen langgezogenen Laut und sagte:

„Alter, halt mich nicht für blöd!“

Tatsächlich, das klang nach Ärger! Ob’s klappt?

Wahrscheinlich war Moritz mit einer Nutte zusammen … Na, wenn schon …

Moritz spannte Ivo einen Augenblick auf die Folter, ließ ihn zappeln und auf eine Antwort warten. Dann hörte Ivo seinen Freund hektisch und mit zitternder Stimme ausspucken:

„Ich habe mit einem Mann …“

Ihm war, als fiele ihm ein Stein vom Herzen. Ewig dieses Versteckspielen mit dem besten Freund. Das wird nun endgültig ein Ende haben, so oder so.

„Was?“

„Gevögelt!“, brüllte Moritz jetzt, womit sein Selbstbewusstsein zurückkehrte.

„Wie bitte?“

„Ja, du hast richtig gehört!“

„Mensch, Moritz, dass musst du mir genau erzählen. Alle Einzelheiten, wenn wir uns nächste Mal treffen, ja?“

„Nicht sauer, enttäuscht oder was?“

„Warum sollte ich? Bis gleich …“

Glück gehabt, dachte Ivo und machte sich auf den Weg.

20. Juni

Mit fünfundsiebzig Jahren krank vor Liebes-Sehnsucht

Selma Kayer war seit Jahren Alleininhaberin der Pension Haus Agathe. Sie hatte diese übernommen, als ihr Mann verstarb, ihr Willi! Sie liebte ihn seit ihrer Jugend.

Mit achtzehn Jahren hatte sie ihn geheiratet, den stattlichen, großen, drahtigen, jungen Amrumer, dessen Vater Bürgermeister von Norddorf war. Sein Sohn war beliebt, hilfsbereit und geschickt, wenn auch nicht der Redseligste. Willi schwieg nämlich lieber, als dass er sprach. Außerdem eilte ihm der Ruf voraus, ein richtiger Hecht zu sein. Was damit gemeint war, konnten nur Eingeweihte erklären, und das war die Fußballmannschaft, in der er spielte.

Selma war fünfzehn, als sie sich kennenlernten. In ihrer Jugend war sie schlank, keine Schönheit, aber auch nicht hässlich. Im Übrigen gab Willi sowieso nicht viel aufs Äußere von Menschen. Er fand, dass ihm Selma auf den Leib geschnitten war, außerdem war auch er kein Adonis. Da Selma mit dreizehn Jahren nachts vergewaltigt worden war, wusste sie zwar, wie Sex in etwa abläuft, aber damals fühlte sie sich erniedrigt und verletzt. Ein Psychotherapeut hatte sie wieder aufgerichtet, nachdem sie ihrer Mutter den Vorfall beichtete.

Willi war damals nicht wesentlich älter, neunzehn Jahre, schon mit allen Wassern gewaschen.

Das junge Mädchen war so in diesen Burschen verknallt, dass sie seine Nähe herbeisehnte, obwohl sie Angst vor seiner körperlichen Berührung hatte.

Sie wurde seine beste Schülerin. Sie war lernbegierig, Gott sei Dank auch lernfähig. Die damalige Vergewaltigung, die Brutalität des Mannes, der im Kittchen landete, ihren Schmerz hatte sie im Zusammensein mit Willi völlig verdrängt.

Schnell nahm sie seine Vorstellungen, Wünsche und Ratschläge an. Ihr gefiel alles, was er mit ihr anstellte. Sie erinnerte sich oft an das erste Mal, als sie ihn besuchte. Seine Eltern waren einen Tag nach Husum gefahren, die Bude war sturmfrei. Kaum waren sie in seinem Zimmer, stand er nackt vor ihr. Er lachte, als er wahrnahm, wie prüde sie wegschaute.

„Zieh dich auch aus. Nackt ist einmalig!“

Selma genierte sich, und es dauerte ziemlich lange, bis sie bis auf das Höschen ohne Kleidung vor ihm stand. Willi griente sie unverschämt an. Seine Männlichkeit war längst voll erwacht. Selma hatte tatsächlich noch nie einen nackten jungen Mann bei Tageslicht gesehen und schon gar nicht in dieser Verfassung. Sie war irritiert.

Willi ließ sie erst gar nicht zur Besinnung kommen. Er hatte Angst, dass sie es sich vielleicht überlegen könnte. Er näherte sich ihr, schon berührte sein Körper ihre zarte Haut. Selma zitterte. Vorsichtig griff er an ihren Schlüpfer und zog ihn sacht hinunter. Dann trat er wieder einen Schritt zurück.

Wie schön sie war! Haut aus Porzellan, dachte er. Ihr Busen war prall und himmlisch geformt, das gefiel ihm. Er zerrte das verschüchterte Mädchen vor den Schrankspiegel und sagte:

„Wir sind doch ein tolles Paar, oder?“

Er zog sie an sich, drückte mit seinem Unterleib gegen ihren, legte seine Arme um ihren Hals und küsste sie. Ein bisschen zu heftig, wie er fand, denn Selma wusste noch gar nichts davon. Zuhause wurde nämlich nur auf die Wangen geküsst.

„Was ich dir zeige, nennt man Knutschen!“, gab Willi lachend von sich und schob seine Zunge in ihren Rachen.

Ein merkwürdiges Kribbeln ging durch ihre Glieder. Sie mochte es.

Dann war’s geschehen.

Und es war wunderbar, wie sich Selma erinnerte. Willi war so zärtlich und liebevoll, so behutsam, dass sie sich an seinen Körper schmiegte und unwillkürlich einen Gegendruck ausübte, der ihn beseelte.

Die Gefühle wollte sie jeden Tag haben!

Bald war sie es, die ihn öfters heimlich besuchte, wenn seine Eltern unterwegs waren. Selma verlor all ihre Schüchternheit, wurde selbstbewusst und fordernd. Für sie war sein männliches Glied ein aufregendes Spielzeug.

Sie genoss es, wie Willi ihr alle Facetten des Sexes beibrachte, die er kannte. Als sie dreißig war, konnte ihr niemand mehr etwas vormachen, und sie ließ sich auch nichts vormachen. Schließlich war sie wer.

Die Pension war jedes Jahr ausgebucht. Die Menschen, die den Urlaub hier verbrachten, waren so unterschiedlich, wie Selma sich das nie hätte vorstellen können. Immer wieder staunte sie, wie sich Leute aufführten, gaben und verhielten. Willi sprach von einer interessanten Mischpoke. Das Wort hatte Selma noch nie gehört, und Willi erklärte es ihr geduldig. Zu Anfang kamen auch sehr viele junge Leute, Ferienwohnungen waren fast noch ein Fremdwort. Später buchten die meisten Familien mit Kindern die in allen Orten der Insel angebotenen Appartements, mal waren es zwei Zimmer, mal auch drei, oft aber große Einzimmerwohnungen mit Kochzeile, Bad und drei Betten.

Willi bat sie, auf Dialekt, auf den Klang der Sprache, auf die Art des Sprechens, auch auf Frisuren zu achten, darauf, wie man Brote schmiert, wie man sich anzieht, wie man mit seiner Freundin, seinem Freund oder mit den Eltern umgeht. Er fand immer neue Unterscheidungsmerkmale. Wenn man all das beachtet, könnte man sich auf jede Person einstellen.

Damals wusste Selma noch nicht, dass sie nach dem Tod ihres Mannes seine Ratschläge durch eigene Erfahrungen ergänzen würde. Wie konnte man sich mehr Informationen über den Logierbesuch beschaffen? Natürlich übers Internet! Nur fühlten sich ihre Gäste für Facebook und Instagram zu alt. Was für ein Unsinn, nein, die Leute waren nicht so flexibel wie sie selbst. Sie kannte sich darin aus und machte dort für ihre Pension Werbung.

Getrieben von ihrer Erinnerung an Willis Sexspiele, geisterte sie in den letzten Jahren daher nachts oft durch die Flure und blinzelte durch die Schlüssellöcher. Gäste, die sie manchmal traf, erklärte sie, dass sie aus Fürsorge Fensterverschlüsse und Türen überprüfe. In Wirklichkeit hielt sie Ausschau nach beleuchteten Räumen. Kaum entdeckt, blinzelte sie durch die Schlüssellöcher. Manchmal sah sie Verhalten, die ihr fremd waren, und in den drei Räumen, die noch nicht über ein Badezimmer verfügten, sondern ein Waschbecken hatten, überraschte sie schon zweimal Männer, die ins Becken pissten, diese Säue. Nackt waren viele. Sie kamen nicht an Willi heran. Und der Sex, den sie mitbekam, war weit entfernt von Willis Phantasien. Er war langweilig, sie unten, er oben. Kein bisschen Pep. Selma wollte mehr. Und die zwei Jungen, die schon im letzten Jahr gebucht hatten, werden ihr einiges bieten. Sicher sind die nicht anders, als sie mit Willi gewesen ist.

Ein Gaudi wird das!

Selma lächelte hintergründig.

Mit all dem Erlebten wurde Selma aufgeschlossen für Neues, tolerant Fremden gegenüber und andersartigen Charakteren und Körpern. Aber auch kritischer und wie bei den Pinklern abweisender. Vielleicht hat Ivo so etwas verspürt, denn er wusste von sich, er gehörte nicht zu den an die Masse angepassten Jugendlichen. Er war anders.

Ihr Stolz waren inzwischen Stammgäste. Diese kamen nicht des Frühstücks wegen. Vielmehr der großartigen Weitsicht, die man übers Watt hat, besonders, wenn es fast leer gelaufen ist.

Stammgast war auch Myriam König.

Auch wenn Myriam einen eigenartigen Charakter zu haben schien, und manchmal wie ein junges Mädchen tat, für Selma Kayer war das damals kein Grund, sie abzuweisen, als sie vor der Tür stand und nach einem Zimmer fragte. Im Gegenteil. Sie solidarisierte sich gern mit alleinstehenden Frauen, gleichgültig, ob der Mann verstorben war oder weggelaufen, ob man sich scheiden ließ oder einfach nur ohne Anhang blieb.

Myriam König kam nie mit Partner. Als Witwe erklärte sich Selma das so: Der Frau fehlen zwei kräftige Brüste, wie Willi sie liebte. Das stimmte, und dennoch irrte die Wirtin. Myriam trug ein Geheimnis mit sich herum, über das sie noch nie mit jemand gesprochen hatte.

 

„Dieses blöde Wattenmeer! Wie eine dunkle Wüste“, hatte einmal ein Logierbesuch behauptet.

„Das stimmt nicht!“ Selma Kayer war empört. Sie war froh, als der Mann Leine zog. Solche Leute passen nicht hierher, meinte sie.

„Das Watt hat Gott in seiner glücklichsten Stunde geschaffen“, ließ sie jeden wissen.

„Wenn Sie wüssten …“, dann hielt sie einen Augenblick inne und ihre Miene verklärte sich zu einem glücklichen Lächeln, „was hier los ist. Wo tummeln sich mehr Krebse, Krabben, Käfer, Larven und Würmer auf einen Kubikmeter als hier? Und woanders zaubert der feuchte Schlick aus puren Sonnenstrahlen ein flimmerndes glänzendes Meer?“

Selma Kayer wandte sich bei diesen Worten ihrer Arbeit zu: Geschirr abräumen, Krümel aufsaugen und Servietten einsammeln. Ihre Augen waren feucht geworden, als sie laut über diesen besonderen Teil der Nordsee redete, und das sollte keiner merken.

Inzwischen hatte sie das Buffet gedeckt, den Kaffee gekocht und auf jeden Tisch Brötchen und Brot gestellt. Die Hälfte ihrer gegenwärtigen Gäste schien gleichzeitig in den Frühstücksraum zu drängen.

Zwei weitere Gäste würde sie noch in dieser Woche erwarten, meinte sie allen zugewandt, verschwieg aber, dass es zwei Jungs waren und auch, dass sie sich auf diese freute.