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Die Spuren zu Kittylectrics Mörder verdichten sich! Ein kleiner Junge stolpert in ihr Geisterleben. Im Gedränge einer Berliner S-Bahn wird er von seinen Eltern getrennt. Kittylectric nimmt sich seiner an, doch die Suche nach seinen Eltern entwickelt sich zum Albtraum: verzerrte DDR-Kulissen, schwebende Himmelshäfen, Wolken unterm Ozean, kilometerhohe Riesen, Gewitterwolken aus Tentakeln, Barbarenstämme mit Elektrizität … Und am Ende ihrer Reise eine noch unglaublichere Offenbarung!
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Seitenzahl: 451
Veröffentlichungsjahr: 2025
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„Weltoffenheit, schön und gut, aber ist es nicht ebenso wichtig, eine Heimat zu ›besitzen‹, einen sicheren Hafen, der, bei all der Weltgewandtheit, oft stiefmütterlich vernachlässigt wird? Bleiben wir am Ende aller Tage, wenn Festes sich verflüchtigt, nicht doch an den Ort gebunden, der sich am tiefsten in unser Wesen eingebrannt hat? Erst in jenseitiger Ferne habe ich begriffen, wie stark dieses Band tatsächlich geknüpft ist, erst da habe ich sie erkannt, die wahre Schönheit dahinter und was es heißt, mit der Umgebung heimischer Gefilde verwurzelt zu sein.“
Im Traum sah ich’s klar und deutlich vor mir: unser Leben, wie’s in ferner Zukunft von Licht und Dunkelheit beeinflusst ward. Dunkelheit war’s Wachsein, Licht war Traum, wie die Kerzenflamme, ließ sich nicht greifen. Beides eng miteinander verwoben – was in dem einen Zustand schlimm, schwang in dem anderen heiter. Unsere wache Erdenkugel ward von einer unsichtbaren Energieform durchdrungen, fest umschlungen. Von da unten aus betrachtet schienen’s Schmarotzer zu sein, denn se gaben uns nichts und nahmen uns alles. Ein Ungleichgewicht ward nicht erkannt! Die wahren Schmarotzer überlebten, nährten sich von unseren Schwächen und liebten uns doch nicht, nur unsere Hoffnungslosigkeit. Sie wurden stärker mit unserem Leid, überlegener. Wir konnten nichts dagegen machen, weil wir se nicht sahen, ihr Gift nicht schmeckten. Und wir starben, und sterben noch daran. Doch dann kommt mir die Lösung – im Traum ist alles ja so einfach: Glücklich muss der Mensch sein! – Doch wer ist schon glücklich am Schluss? Locker muss der Mensch lassen! Denn wenn er sich emotional verspannt, haben ihn die dunklen Mächte in der Hand! Immer positiv denken, se an unserm Licht verkümmern lassen, bis der Schmarotzer abstirbt, austrocknet, sich zurückverkriechet in sein finster Weltenall. Die Ausschüttung von Glücksgefühlen führt dazu, dass se verschwinden, aus den Schatten, die überall sind, ohne dass wir se sehen, ohne dass die Schatten wie Schatten aussehen. Im Traum klang’s nach nem Geniestreich, im Traum war ich noch einer tiefen Wahrheit auf der Spur, die auf greifbarem Papier lediglich meine lächerliche Unreife bezeugt – ach, wenn ich doch nur Papier hätte! Im Traum gab’s auch noch keinen Sarg, keine beengte Bretterkiste – ach, wie hab ich darauf gehofft, gleich drüben bleiben zu können! Wenn ich wenigstens sehen könnte, was ich da ins Holz ritzle, kritzle. Oder ist’s egal? Ist am Ende alles egal? Wer wird je was von einer lebendig Verbuddelten erfahren oder was se da unten rausbekommen hat? Wer wird’s je erfahren?
»Die Welt wird von den Lebenden regiert …«, verband sich Mutters Stimme mit dem trüben Smog überm thailändischen Großstadtmoloch zu einem beruhigenden Brummton, den niemand wahrnahm. Darunter erstreckte sich Bangkok, ein unüberschaubar hektisches Gewimmel aus Menschen, die sich in überladenen Geschäftspassagen unter unzähligen Leuchtschildern aneinander vorbeidrängten. In dem chaotischen Durcheinander schoss ein einzelner Läufer rasant an den anderen Passanten vorbei: Der blutjunge Pana Ganja rannte durch die überfüllten Straßen, rannte um sein Leben, geradewegs hinein in eine albtraumhaft verschachtelte Gasse. Außer Atem wirbelte er herum und erblickte seine Verfolger: vier Personen, vielleicht fünf, gekleidet wie thailändische Polizisten. Keine Zeit zur Umkehr, die Gasse – ein klaustrophobisches Betonlabyrinth – erwies sich bald als fatale Fehlentscheidung: Hinter einer spitzen Eckmauer wurde der Spalt zwischen den hohen Wänden derart eng, dass Pana Ganja Gefahr lief, mit seinem Brustkorb dazwischen steckenzubleiben. Erste Schüsse fielen, Kugeln pfiffen bedrohlich nah an seinem Ohr vorbei und er war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht bereits getroffen hatten. Betäubend schoss das Adrenalin durch seinen Körper und spornte ihn zur Höchstform an. Die Betonkante drückte unerträglich gegen sein Brustbein, doch zähneknirschend zwängte er sich weiter, quetschte sein seitlich eingedrehtes Becken zwischen den Mauern hindurch und landete schließlich in einer Sackgasse: Eine offen stehende Tür führte in einen runtergekommenen Toilettenraum mit Urinalrinne. Weiter oben fiel Licht durch schmale, viel zu schmale Fenster, die nicht als Fluchtweg in Frage kamen. So soll es also enden mit mir! blickte er enttäuscht in die Rinne, auf seine ausgestreckten Hände. Hier werden sie mich also hinrichten. Hier werde ich liegen bleiben, endgültig, im Rinnstein. Seltsamerweise schwand seine Aufregung und er spürte nichts als Taubheit, die schaurige Kulisse vor Augen, die näherkommenden Schritte im Nacken. Von einer Situation überrumpelt, die er als derart unwirklich wahrnahm, dass er mitunter zu träumen glaubte – obgleich ihn sein Verstand unablässig vom Gegenteil zu überzeugen versuchte. Doch was blieb ihm anderes übrig, als mit zusammenzuckenden Augen auf seine Henker zu warten und die Kugel wie ein Phantom vorauszuempfinden?Pana Ganja ging tief in die Hocke, stürzte hart auf die nassen Fliesen und wippte unwillkürlich auf und ab. … »Die Welt wird von den Lebenden regiert …«, legte sich Mutters Stimme beruhigend über das Weltgeschehen, ein nervöses Getippel und Getappel unzähliger Füße auf einem festen Grund, den niemand wahrnahm, der unerschütterlichen Halt zu bieten versprach. In Zeitraffer wirkten diese Füßchen und ihre dazugehörigen Erdenbürger wie emsige Ameisen, unablässig damit beschäftigt, von Punkt ›A‹ nach Punkt ›B‹ zu gelangen. Mit einem Fingerschnippen nahm Mutter das Tempo heraus. Der Blick wanderte an den tippelnden, tappelnden Füßchen hinab, tiefer hinein ins Erdinnere. Ein alles vereinnahmender Brummton fraß die dünnen Stimmchen aller Erdenbürger, ihr zerbrechlich oberirdisches Geplärr: »… doch getragen wird sie von dem Fundament der Toten!« … »Irgendwann ist der Spuk Leben vorbei und der wahre Spuk beginnt!«, sprach Pana Ganja wie zum Gebet, bald im Zweiklang mit der Stimme im Wind, die körperlos über der Stadt geisterte – ein Vorbote aus Zukunft und Vergangenheit. »Fleischfresser haben es auf besonders schöne Seelen abgesehen. Die schlichten Gemüter interessieren sie nicht. Nein, sie sind da schon ausgesprochen wählerisch«, grinste er, während sich langsam die Mündung einer Pistole auf seinen wippenden Hinterkopf zubewegte. Pana Ganja fuhr herum und blickte tief in das kalte Todesloch: ein schwarzes Punktauge, das ihn bereits seit Tagen in seinen Träumen ausspioniert hatte, ihn Nacht für Nacht mit einem metallisch dumpfen Knall erwachen ließ – als Vorankündigung, auf dass er schon bald nie mehr erwachen möge. Ein blechernes Klicken, das noch lange danach in den Zähnen schmerzte. Doch nun verspürte er nur diese Taubheit, jeglicher Realitätsbezug blieb außen vor. Wie in Trance verfiel er seiner inneren Stimme: »Die, die nichts sehen, brauchen sich nicht zu fürchten, nur die Hübschen, Empfindsamen, Bildschönen werden zeit ihres Lebens nicht mehr froh. Ja, die Empfindsamen stehen doch stets auf der Regenseite des Lebens. Es gibt keine Gerechtigkeit, keinen tieferen Sinn dahinter. Es ist nun mal, wie es ist.« Die Gesichter der Uniformierten, die ihn nunmehr wie hohe Säulen aus allen Himmelsrichtungen umzingelten, blieben starr, gleichsam tot wie die Mündungen ihrer Tötungswerkzeuge. Kein Wunder würde sich hier ereignen – und doch war die Situation unwirklich genug, um eben dieses einzuräumen. »Dunkle Energien umgeben uns, beinahe überall, wo Menschen sind. Doch wo Schatten ist, da sollte irgendwo Licht sein. Da sollte doch irgendwo ein Licht sein!« Mit dem Schuss, im Geiste vorweg gedacht, glomm ein unwirkliches Flackern hinter einer seitlichen Toilettentür auf. Peng – sprang es wie aufs Stichwort an. Die Tür zum Nebenraum schien bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht existent, zumindest hatte sie niemand der Anwesenden im Vorfeld bemerkt. Das Licht, das durch die Ritzen drang, erinnerte an das grelle Blenden einer Lötlampe. Dann wurde es dunkel. Wie von Geisterhand vergrößerte sich der Spalt und hinter der uneinsehbaren Ecke erstrahlte nun ein schwachblaues Neonlicht, das herrlichste Blau, das Pana Ganja je mit seinen Sinnen wahrgenommen hatte – ein Licht wie Balsam für meine geschundene Seele. Monotone Rhythmen hallten von nirgendwo her und entluden sich explosionsartig in dem instrumentalen Intro zu ›Turn Back The Clock‹ von Johnny Hates Jazz (in einer sphärischen Slushwave-Version von Desert Sand Feels Warm At Night) – ein akustischer Gänsehautmoment, der untrennbar mit dem blauen Licht verbunden schien und Pana Ganja Tränen in die Augen trieb, bezogen sich diese Klänge aus weit entfernter Vergangenheit doch auf seine schmerzhaft schönste Erinnerung: auf ein ungreifbares Geburtstags-Gefühl, das gleichsam Freude und Melancholie zu etwas Größerem heraufbeschwor, zu einer Erhabenheit, die ein gesamtes Menschenleben umspannte. Doch die Uniformierten ließen sich in ihrem Vorhaben nicht beirren. Erneut klickte es metallisch-blechern, sodass sich weder Opfer noch Henker sicher waren, ob sich tatsächlich ein Schuss gelöst hatte. Geistesgegenwärtig nutzte Pana Ganja die Ablenkung, sprang auf und stürmte zum Licht – seinem vermeintlichen Fluchtweg. Als er die Tür öffnete, wurde er rabiat im Nacken gepackt und stolperte mit den Uniformierten geradewegs in die Arme der Kinderwald Gruppe, die im nicht existenten Nebenraum versammelt stand. Sprachlos blickten Täter und Opfer zu Kittylectric, Mondschnee, Blackylectric, CAT AT K, Arimala, Arimar, Käpt’n Albers und einer über die Zimmerdecke hinausragenden Schattensäule – eine polarisierende Versammlung, die den runtergekommenen Toilettenraum feierlich für sich vereinnahmte. Alles flimmerte in einem phantastischen Stroboskoplicht, unter dem sich die Bewegungen verstörend verlangsamten. Ohne Worte begriffen alle Anwesenden, was vor sich ging – und begriffen es doch nicht. Die Mörder sahen sich ihrem Opfer gegenübergestellt, sahen sich selbst, wie nach dem Tode, einer fremdartigenEnergieform ausgeliefert. Pana Ganja wollte erleichtert aufatmen und seinen Rettern in die Arme fallen, glaubte er doch noch immer, dass sich kein Schuss gelöst hatte und dass ihn die herbeigesehnten Helden vor seinen Verfolgern beschützen würden. Doch das Atmen erwies sich als schmerzhaft schweres Unterfangen – als würde er versuchen, unter Wasser Luft einzusaugen. Der Blick in die erschütternd einfühlsamen Augen der Katzenfrau ließ ihn verstehen, ganz ohne Worte. Er begriff, dass er tatsächlich tot war, hingerichtet von gesichtslosen Fremden – als wäre es so einfach!Die uniformierten Killer stießen indes umso grässlichere Schreie aus, schossen wild um sich und holten einen Großteil der kleinen Toilettenfliesen von den Wänden. Die Konturen des Raums begannen sich in der Dunkelheit aufzulösen, stechende Kälte breitete sich aus. Bald wurden die Uniformierten von der Leere erfasst und tauchten ein in einen schwarzen Ozean, während Pana Ganja in Kittylectrics bläulich-türkisem Nachtlicht wie auf einer Insel verschont blieb. Einem der Täter gelang es, sich in ihren neongetränkten Lichtkegel zu flüchten. Und erstmals bekam der Uniformierte ein konkretes Gesicht: ein junger, stark verschreckter Anwärter, der nicht selbst abgedrückt hatte, vermutlich nie hätte abdrücken können. Zitternd kroch er ins Licht, ging ehrfürchtig auf die Knie und sah zu Pana Ganja und den sonderbaren Gestalten auf. Kittylectric legte ihren Arm auf Pana Ganjas Schulter und lächelte ihm warmherzig – erschütternd warmherzig – zu. Ihre glatte Haut berührte ihn, wie er nie zuvor in seinem Leben berührt worden war: so viel weicher und sinnlicher als jede Berührung zwischen Menschen, ein zaghafter Kontakt, der aus dem allertiefsten Respekt für das Leben heraus aufgebaut wurde. Umso heftiger die Reaktion: In meinem Bauch fühlt es sich an wie ein Volltreffer, als hätte mich ein wunderschöner Pfeil schwer verwundet, mitten hinein ins Glückszentrum, da, wo die geheimnisvolle dritte Komponente schlummert, die von Kleinkindern noch verstanden wird, ohne die von der Liebe nur schmerzliche Melancholie, von der Lust nichts als fleischliche Leere übrig bleibt. »Was passiert jetzt mit mir?«, sah der Exekutierte zur Flimmerkatze auf. Ihre Augen trafen sich, Pana Ganja versuchte, ihnen standzuhalten, so furchteinflößend schön und intensiv sie auch brannten. Hab nichts mehr zu verlieren. Am Ende verlieren wir alles, immer und ohne Ausnahme! Ein guter Verlierer zu sein, ist vielleicht alles, was man im Leben erstreben sollte!»Keine Sorge, du hast dich tapfer geschlagen!«, lehnte sie ihre Stirn ermutigend gegen die seine. Als sie über seine Schulter blickte, bemerkte Kittylectric, dass von den anderen jede Spur fehlte. Die Dunkelheit hatte sie alle verschlungen. Doch unbeirrbar setzte sich ihr glimmendes Nachtlicht der schwarzen Leere zur Wehr, während sie Pana Ganja beschützend in ihren Armen hielt. »Was für ein Ort ist das?«, wagte er kaum zu fragen. Schwache Konturen von rotem Sand zeichneten sich ab – wie eine Wüste aus geronnenem Blut! Schier endlose Weite, die bei näherem Hinsehen unter einer Stadt aus Dunkelheit verschwand, verborgen unter schwarzem Beton. Wie ein Hologramm flackerte die Ebene darunter auf und doch schienen beide Welten untrennbar miteinander verwoben – die harte, beengte und die formlos verwehte. Irreal steile Barchane – überwältigend, aber nicht greifbar –, dazwischen schwindelerregende Schluchten mit dunkelroten Gewässern, die Pana Ganja unbewusst noch fester an die frei schwebende Beschützerin klammern ließen. Hinter den Dünen erstreckte sich eine nichtirdische Savanne im feurigen Sonnenuntergang, einem Zwielicht, das keinen irdischen Lichtverhältnissen entsprach, das weder Tag noch Nacht widerspiegelte. Zwei Monde schoben sich parallel vor zwei versetzte Sonnen: eine der irdischen gleichende und eine wesentlich kleinere, blutrote schräg darunter – bis nur noch die jeweils äußere Korona beider Sonnenatmosphären ringförmig erstrahlte, was im Auge des Betrachters das Bild einer unterbrochenen 8 ergab. Die Pyramiden der schwarzen Stadt schwebten halbdurchsichtig über den Wolken. Und spiegelverkehrt, aus einer Wolkendecke darüber, ragten dieselben Pyramiden kopfstehend zu den darunterliegenden hinab, sodass sich die höchsten Spitzen hauchfein berührten. Skurrile Schatten wanderten über die Savanne hinweg. Auf Felsvorsprüngen hockten, mehr liegend als sitzend, unwirkliche Geschöpfe, die aussahen wie pechschwarze Löwen – doch nur unter der Oberfläche. Ihre verstörenden Augen – den Tod im Blick – funkelten in der Dämmerung wie blau glimmende Zigaretten. Vor den paranormalen Geschöpfen lagen aufgeschlagene Brieftaschen weithin über die glatten Felsen verteilt, der Personalausweis zuoberst: eine Reihe anonymer Gesichter, stets dieselben Augen, dasselbe Zweitausend-Yard-Starren. »Dunkelheit breitet sich aus«, erklang die Stimme ihrer Mutter, ihrer großen, finsteren Freundin. »Doch anders, als du denkst!« Schwach zeichneten sich die Konturen des südakiremanischen Topmodels ›Blackylectric‹ hinter dem sonnigen Nachthimmel ab. Ihre langen, schwarzen Haare wehten vor der hypnotisch blutroten Mitternachtssonne und schienen weder Ende noch Anfang zu besitzen, wie sie sich kilometerweit in den Wolkenformationen verloren. »Pana Ganja hatte Glück, doch nicht jeder wird sich derart bedenkenlos in deine Arme fallen lassen. Die meisten Leute lehnen dich und dein Eingreifen entschieden ab. Sie fürchten sich vor dir, fürchten sich zu Tode. Die rettenden Engel werden verschmäht! Der rote Planet ersehnt!« »Ist das der rote Planet?«, sah sich Kittylectric vergebens nach dem Ursprung der mütterlichen Stimme um, die von überall her auf sie einredete: »Dunkelheit! Es ist nicht schwer, Dunkelheit zu erzeugen. Jeder feste Körper wirft einen Schatten. Weitaus schwieriger ist es, Licht zu erzeugen, natürliches Licht, aus sich selbst heraus. Kleine Flimmerkatze, sei auf der Hut! Die Dunkelheit breitet sich rasend aus. Doch anders, als du denkst!«
»Ich will dich zurückbringen in dein altes Leben!«, versuchte Kittylectric, zu einem jungen Mann durchzudringen, der unruhig in einer puppenstubenhaften Bungalowsiedlung umhersprang, unablässig damit beschäftigt, fruchtige Lampions für eine bevorstehende Feier aufzuhängen. Es war bereits weit nach Mitternacht, sodass in den meisten Bungalows bunte, träumerisch vernebelte Neonlichter brannten – wie die Früchte seiner Lampionkette aus melonengroßen Plastikzitronen, Erdbeeren und Himbeeren in den entsprechend knallig satten Neonfarben. Wieder hallte Johnny Hates Jazz aus undefinierbarer Entfernung, wieder in der sphärischen ›Take A Step Forward‹-Version von Desert Sand Feels Warm At Night (ab dem magischen Umbruch nach viereinhalb Minuten). »Du liegst nach wie vor im Koma. Dort oben …« – die Flimmerkatze verwies hinauf zum Sternenhimmel – »… im Krankenhaus!« »Aber mir gefällt es hier unten viel besser«, erklärte der junge Mann und warf seinen neuen Freunden, die sich nach und nach auf einem runden Platz in der Mitte der künstlichen Bungalowkulisse einfanden, ein verzücktes Lächeln zu. Bis auf eine lebensgroße ›Slush Head‹-Figur, die im Dunkeln giftgrün leuchtete, waren sie alle von unnahbarer Schönheit, makellos wie Schaufensterpuppen. »Und ich gehe mit dir garantiert nicht wieder zurück ins Krankenhaus!« Doch da hatte sich der Gedanke bereits verselbstständigt und der junge Mann wurde wach, unaufhaltsam. Noch immer blickte er in das Antlitz der Katzenfrau, die ihn gegen seinen Willen aus seinem Komaleben – und damit aus seinem wunderschönen Traum – gerissen hatte. … Im Schlaf fürchten sie mich nicht, bis maximal in den Halbschlaf darf ich vordringen. Nur wenn sie mich in ihrer heiligen Wachwelt erblicken, tut’s zu doll weh, um wahr zu sein! Jetzt macht er im Bett die Augen auf, alle anderen Patienten schlafen! Er sieht mich an und ich sehe ihn, und schon läuft er schreiend vor mir davon, als hätte er soeben seinem eigenen Tod ins Auge geblickt – »Was ist los mit dir? Noch nie ein Gespenst gesehen?«Wenige sehen mich, viele von ihnen fürchten mich, fürchten den Geist, der hinter den großen Vorhang geblickt und zurückgekehrt ist. Sie glauben, dass der Schmerz des Todes den Zurückgekehrten zwingend zu etwas ganz und gar Grauenvollem machen muss – denjenigen, der Dinge gesehen, Dinge erlebt hat, die ihren irdisch gefestigten Verstand überschreiten, ihre Illusion einer Ordnung, die über das Chaos triumphiert … Augen, die aus dem Tod heraus auf die Lebenden blicken. Nichts fürchten die Menschen mehr als diese Augen, die ihnen den Boden ihrer Realität entreißen, ihres alltäglichen Einerleis, und sich heimtückisch als Spiegel ihres eigenen Endes entlarven.Nur ein Gespenst – ›eine Sinnestäuschung ihrer irrationalen Angst‹ – vermag sie derart zu erschrecken. »Doch wovor fürchtet ihr euch? Da draußen in der Dunkelheit ist doch nichts! Oder ist es genau das, wovor ihr in Wahrheit die größere Angst habt? Das da draußen am Ende doch nichts ist?«
»Eine einzelne Feder aus der Kopfkissenfüllung«, flüsterte Kittylectric in die Dunkelheit hinein. »Alles wegen einer blöden, kleinen Feder in meiner Luftröhre. Ich will weiterhin dösend in meiner ruhigen Komfortzone verweilen, doch die gewichtslose Feder verfolgt mich dorthin. Auch wenn ich mich davonzuträumen versuche, die Feder bleibt unablässig in meiner Luftröhre.« Schwache Konturen eines Kinderzimmers zeichneten sich im Mondlicht ab, ein kaum mehr fluoreszierendes Sternenzelt, das an der Zimmerdecke klebte. Eine unerkennbare Gestalt – schwarz auf schwarz – hob einen Sichtschutz aus ihrem Blickfeld. »Er nimmt das Kissen wieder runter, nachdem mein Herz aufgehört hat, zu schlagen«, fuhr sie fort, an die lesende Person dieser Zeilen gerichtet, während sie die Gestalt, die sich mit ihr im Zimmer befand, weiterhin zu ignorieren vorgab. »Ich will sehen, wer es ist, aber der Raum ist zu dunkel, um meinen Mörder zu erkennen. Alles, was ich sehe, ist ein schwarzer Löwe mit schneidend blauen Augen, die mir unvorstellbare Schmerzen bereiten. Ich muss aufhören zu schlucken – es fühlt sich an, als steckten spitze Steine in Luft- und Speiseröhre.« Tatsächlich zeichneten sich die Konturen eines unwirklich großenRaubtiers in der dunklen Zimmerecke ab – kein Löwe, Liger dieser Welt reicht sitzend bis zum Himmelszelt! Kein Löwe, Liger dieser Welt! Zwei frostig klare Diamanten funkelten gestochen scharf aus konturloser Schwärze hervor. Eine Entität, die wir Menschen in unserer Unwissenheit für einen Löwen halten. »Und doch ist alles so leicht wie die Feder aus meinem Kopfkissen. Wie ein Huhn ohne Kopf renne ich weiter und will es nicht wahrhaben.« – Und mit einem Auge weggedöst sah sie sich wieder als das Mädchen Kitt, das mutterseelenallein durch die großen Wälder rannte und dem vermeintlichen Krieg zu entfliehen versuchte. »Und der Traum geht weiter, weil ich im Schlaf gestorben bin!« Abermals hob der Schatten das Kissen von ihrem Schaufensterpuppengesicht, als sie im Geiste Kitts gesamte Reise mit all ihren Stationen Revue passieren ließ. »Ich gehöre nicht mehr so richtig dazu«, blickte sie auf den Hinterkopf des Mädchens und begleitete sie zu dem schauerlichen Graben, aus dem ein Stiefel emporragte, dem Graben, in dem sie jeden Augenblick ihrem ersten toten Menschen begegnen sollte. Doch in diesem Traum war alles anders, in diesem Traum war sie es selbst, die da im Graben lag und zu ihrem jüngeren Ich wie zu einer Fremden aufblickte. Mit einer Seelenruhe sprach sie zu ihr: »Der Tod ist mein Alltag, bin tot in meinen Träumen. Nein, ich bin tot, wirklich und wahrhaftig tot, doch auch daran gewöhnt man sich, hoffe ich. Und wenn sich noch ein Hauch Gemütlichkeit in den Tod einmischt, die Erinnerung an öffentliche Räumlichkeiten, ein Museumsbesuch etwa oder das Hotel, wo du als Kind deinen Urlaub verbracht hast, als unbequemer Ersatz für ein Heim, das es nicht mehr gibt, überkommt dich ein großes Schaudern. Du willst es leicht nehmen, obwohl es dich schlimmer nicht hätte treffen können. Nicht einmal dein Körper ist dir noch geblieben. So glaubst du, dass wirklich alles verloren ist. Du glaubst, es stünde fest in Stein gemeißelt. Und doch, da dir nichts anderes übrig bleibt, nimmst du es letztlich hin. Du gewöhnst dich an alles, auch wenn es noch so unverkraftbar erscheint. Der Tod ist ein irres Kind ohne Verantwortungsgefühl, ohne die geringste Differenzierung zwischen richtig und falsch.« »Doch es ist nicht dein Tod, den du siehst!«, vernahm sie die Stimme ihrer großen dunklen Freundin, ihrer Führerin ins Ungewisse. – Und mit den Worten erwachte ein junger Mann in seinem Bett, fuhr schweißgebadet aus Albträumen auf, in denen er selbst als erschossener Soldat kopfüber im Graben lag. Die Flimmerkatze blieb unter ihm an Ort und Stelle liegen. An exakt demselben Fleck im Bett trat er aus ihr heraus, wie ein Geist aus einem festen Körper, wie ein fester Körper aus einem Geist. Als ihr Mitschläfer den Raum verlassen hatte, erwachte die tote Heldin zu totem Leben. Kittylectric streifte die verdrehte Bettdecke beiseite. Den Kopf unter Tränen zur Seite gewandt, die Lippen bibbernd von dunkelrot zu violett verfärbt, ertastete sie mit der Hand auf ihrem Bauch eine nicht vorhandene Atmung. Zuckend fuhr sie zusammen, rollte sich aus dem Bett und wandelte benommen durch die dunkle, ihr ganz und gar fremde Wohnung – muss sich wohl um die Bleibe meines Mitschläfers handeln.Im Wohnzimmer – einer ehemaligen Fabrikanlage mit Backsteinwänden, blau bestrahlten Metallgerüsten hinter Milchglas – fand sie ihren Schlafwirt wieder. Unter dem schmalen Lichtkegel einer frei schwingenden Glühlampe, die lediglich Sofa und Tisch in den Fokus rückte, saß er apathisch da und sprang unentwegt mit der Fernbedienung zwischen den Kanälen umher. Still und unbemerkt setzte sie sich neben ihn, von seiner zum Himmel schreienden Vereinsamung ergriffen. Die bis zur Unbewohnbarkeit verwahrloste Junggesellenbehausung ließ darauf schließen, dass er seit geraumer Zeit keinen Besuch mehr empfangen hatte, dass ihm inzwischen alles egal geworden war. Die Zeit verläuft schneller mit den Jahren, vernahm sie seine unausgesprochenen Hilferufe. Jahr auf Jahr auf Jahr verschmilzt alles zu einer einzigen konturlosen Soße voller Ballaststoffe. Die Schlafstörungen, die ihn mitten in der Nacht allein fernsehen ließen – und seine Verlustträume, die ihr unbewusst zuteil wurden –, zeugten von einem tief sitzenden Schmerz. Den Blick betrübt, in sich verschränkt, vermochte er sich des Schutzengels an seiner Seite nicht gewahr zu werden. So dicht sie auch an ihn heranrückte, etwas hielt sie stets auf Abstand: Eine andere Energieform hatte bereits Besitzansprüche an seiner verdunkelten Seele gestellt. Und plötzlich sah sie, was all sein Leid verursachte, sah die negativen Kräfte, die ihn unablässig umschwirrten: kleine verkümmerte Krebsgeschwüre, die wie schnelle Nacktschnecken mit hinterhältigen Gesichtern um ihn herumscharwenzelten, von seinen Armen zum Hals, unters Shirt, ohne dass er von ihnen Notiz nahm. »Bitte! Sieh mich an!«, flehte sie ihn an. Ihre malerisch feuchten Aquarellaugen trafen sein Blickfeld, doch er sah einfach durch sie hindurch. »Vergiss ihn ganz schnell wieder!«, geiferten widerlich schmatzende Fistelstimmen aus winzig verdrehten Fleischhäufchen. »Er kann dich weder sehen noch hören! Er will dich auch nicht sehen oder hören! Es ist schon gut so, wie es ist! Du wirst hier nicht gebraucht! Hau ab! Aaaaahhh, und wie wir uns am Todeskampf des Vereinsamten ergötzen werden, aaaaahhh.« Schreckhaft fauchend sprang Kittylectric auf und fuhr zu den kleinen Geschwülsten mit den schwarzen Punktaugen herum. Aus Schneckenschleim geformte Züge zwischen Nacktmull und Alligatorschildkröte, zwischen Nashorn und Mensch bewegten sich in fiebrigem Wandel – wie von künstlicher Intelligenz erdacht. »Ich hab es gesehen, hab es nachempfunden. Es ist ja so grausam, so unendlich qualvoll, wie er zugrunde gehen wird. Und ihr schaut einfach zu!« »Na und? Umso schöner wird er«, quäkte die schmatzende Fistelstimme wie zur Verteidigung. »Es gibt doch auf dieser Welt nichts Schöneres, als im Selbstmitleid zu sterben!« »Nur wer im Selbstmitleid stirbt, dem wird die wahre, die ultimative Schönheit zuteil!«, erklärte eine andere Geschwulst, die sich an seinem Hals festsaugte. »Die anderen, die werden diese Schönheit nie zu Gesicht bekommen. Wir Seelenfleischfresser haben es auf besonders hübsche Seelen abgesehen. Die hässlichen Leute interessieren uns nicht.« »Ja, ja, wir sind da schon ausgesprochen wählerisch«, krabbelte eine schneckenartige Geschwulst an der Schulter des Mannes hinauf. »Die, die nichts sehen, nichts empfinden, brauchen uns auch nicht zu fürchten.« »Nur die Hübschen, Empathischen, Bildschönen werden zeit ihres Lebens nicht mehr froh. Ja, die Empfindsamen stehen stets auf der Regenseite des Lebens …« »… und somit auf unserer Speisekarte!«, nahm ein Fleischklops am Unterarm des Mannes den kollektiven Gedanken auf: »Es gibt keine Gerechtigkeit, keinen tieferen Sinn dahinter. Es ist nun mal, wie es ist.« »Und es ist wunderschön, so wie es ist! Besonders wenn man es von unserer Warte aus betrachtet. Herrrrrrlich«, riss eine krabbelnde Kollektivgeschwulst ihr kleines, doch für die Gesamtgestalt überdimensionales Maul auf. Triefender Sabber lief zwischen seinen winzigen Babyzähnchen hinab. »Lasst mich nur einmal kurz mit ihm reden!«, schlug Kittylectric beinahe kameradschaftlich vor, während sie den Schmerz, der von den vermeintlichen Winzlingen ausging, wie eine nachhaltig radioaktive Verbrennung unter ihrer Haut spürte. »Wir machen einen Wettkampf daraus! Lasst ihm doch die Wahl, selbst zu entscheiden, welchen Pfad er beschreiten möchte!« »Für wie blöde hältst du uns?«, fauchten die Geschwüre aufgebracht. »Du kannst ihn nicht haben, er gehört dir nicht!« »Er hat uns herbeigerufen, nicht dich! Er glaubt nicht einmal an dich!« »Aber er glaubt an uns!« »Er will ja, dass wir ihn fressen!« »Er will, dass wir ihm wehtun! Der Schmerz ist es, an den er glaubt!« »Manche Menschen können nur der Kränkung vertrauen!«»Dem Schmerz und immer wieder dem Schmerz! Gibt es etwas Vertrauenswürdigeres auf dieser Welt als den Schmerz?« Und im quäkenden Chor plärrten ihre Stimmchen – die wie kratzende Fingernägel auf einer Schiefertafel wehtaten – wild durcheinander: »Er will von dir nichts wissen, hau ab! Selbst wenn er an deine Existenz glauben würde! Niemand will dich hier, niemand braucht dich! Die rettenden Engel werden verschmäht! Aaaaahhh, es ist ja so herrrrrrlich, in dieser Welt werden die rettenden Engel verschmäht!« Kittylectric knurrte, brüllte aus Leibeskräften, wutentflammt, einer Löwin gleich, doch letztlich machtlos. Die scharfen Zähne animalisch ausgefahren, verstummte sie, als ein gewaltiger Schatten von außen gegen den Häuserblock stieß und – wie als Reaktion auf ihren Schrei – den gesamten Plattenbau in seinen Grundfesten erschütterte. Geschwind huschte sie zum nächstgelegenen Fenster.Dunkelheit lag über den Straßen Berlins. Ein gewaltiger, viele hundert Meter langer Tentakel baumelte, sich windend, über eine Häuserschlucht hinweg, ohne dass ein Verkehrschaos ausbrach, ohne dass überhaupt jemand davon Notiz nahm. Nur Kittylectric wurde dieser erschreckende Blick hinter den Vorhang zuteil: Aus blutrotem Himmel – verborgen hinter tiefschwarzen Gewitterwolken – ragten unzählige dieser Fangarme zum Stadtgetümmel hinab. In schwindelerregenden Höhen sahen sie aus wie gigantische Würmer, Würgeschlangen – Sem-Uchs-Arme –, die sich überall einmischten und die Gesinnungen der Erdenbürger unbemerkt veränderten. Rein in die Häuser, durch Mauern hindurch in die kleinen Welten sämtlicher Geschöpfe – Semuchsunggzenoggziffens Einfluss war ungebrochen, vereinnahmender denn je. – Über die Stadt verteilt sehe ich ihre Augen. Alle stehen da, todernst. Und niemand lacht mit mir! »Und keiner kann sich davor schützen, da es niemand von den Atmenden jemals registrieren wird!«, lachte eines der Geschwüre voller Schadenfreude in Richtung der Tentakel. Kittylectric fuhr aufgebracht zu der winzigen Verknorpelung herum. »Alles Helle wird getrübt! Alles Leichte bis zum Kreislaufkollaps erschwert!«, fuhr die Geschwulst am Hals des Mannes fort. »Achte auf die ›Seelenlosen‹! Sieh ihnen genau in die Augen. Die ›Leute‹, die als verlängerte Saugnäpfe ihre Aufgabe erfüllen!« »Es gibt da einen einfachen Trick, wie du die Leute von den Menschen zu unterscheiden lernst! Leute können sich nicht an eine ganz bestimmte Sache aus ihrer Kindheit erinnern, obgleich ihr Verstand in der festen Welt messerscharf funktioniert!« »Und sie versuchen, dir einzureden, dass du dich auch nicht daran erinnern kannst, dass du alles wieder vergessen hättest.« Und nun begannen all die winzigen Geschwüre, aufgebracht durcheinander zu quäken: »Frag sie! Frag sie nach ihrer Kindergartenzeit!« »Es wird nicht lange dauern, denn es werden immer mehr! Auf zehn Leute kommt gerade mal ein Mensch!« »Weil’s viel zu viele Geburten und doch zu wenig Geborene sind, weil für all die Milliarden und Abermilliarden nicht genügend Seelen existieren.« »Auf zehn Leute kommt nur ein Mensch!« »Auf zehn Leute kommt nur ein Mensch!« All die stecknadelkopfgroßen Äuglein waren mit einem Schlag auf die Flimmerkatze gerichtet. Sogar der junge Mann starrte wie scheintot in ihre Richtung. »Dein Licht brennt besonders hell. Und springt über wie eine Flamme!«, sprach er geistesabwesend, doch klar an Kittylectric adressiert, als würden ihn die Geschwüre dazu veranlassen, als wäre er selbst einer von ihnen. »Und genau aus diesem Grund musstest du sterben.« Kittylectric wandte sich erschrocken vom Fenster ab und starrte dem jungen Mann in seine ausdruckslosen Augen. »Was hast du da gerade gesagt?« »Halt’s Maul!«, fuhr er ihr ins Wort. »Keine Sau interessiert, was du sagst, was du fragst! Keine Sau interessiert irgendwas! Außer vielleicht das Offensichtliche. Ja, gewiss das Offensichtliche. Mit dem Offensichtlichen lässt sich nach wie vor gut Kasse machen.« »Und da kann man doch ebenso gut tot sein«, pflichtete ihm die Geschwulst auf seiner Schulter bei, hintergründig erheitert. »Und der Sem-Uchs-Asteroid hätte sein Ziel erreicht und könnte beruhigt auf der Erde einschlagen«, gab die Flimmerkatze zynisch zurück. »Halt’s Maul! Was willst du hier?« Und wieder schnatterten die Geschwüre aufgebracht durcheinander: »Der Mensch ist ein Gewohnheitstier!« »Warum wohl klammert er sich instinktiv an unsere bequemen Komfortzonen?« »Wo er doch gar nicht weiß, was ihn da draußen erwartet?«»Warum geht er nicht nach draußen, was beunruhigt ihn an der Veränderung?« »Was ist da in der Ruhe, im Stillstand, was ihn wie einen Magneten anzieht?« Und alle Geschwüre im Chor: »Eins ist gewiss, du bist es nicht!« »Warum ekelt er sich mehr vor dir als vor uns?« »Warum zwingen die Hässlichen den Schönen ihre Hässlichkeit auf? Und warum kommen sie auch noch damit durch?« »Dein Licht brennt so hell«, fuhr die monotone Stimme des hypnotisierten Mannes lauthals dazwischen, »so unfassbar hell, dass es selbst jetzt, da du dir deines eigenen Todes bewusst bist, immer noch nicht erloschen ist.« »Er hat recht!«, quengelte die Geschwulst am Hals gehässig, bald bedrohlich. »Du befindest dich nicht mehr im Kreislauf des Sterbens und Geborenwerdens. Was aber bist du dann? Was willst du darstellen, kleine große Katzenmenschin?« »Ja, jetzt sehe ich es auch! Da vollzieht sich etwas Eigenartiges in dir! Was stellst du dar?« »Was stellst du dar?« »Was stellst du dar?« »Hat es etwas mit schwarzen Löwen zu tun?«, fragte Kittylectric vorsichtig, als fürchte sie die Antwort der ihr nicht gerade freundlich gesonnenen Gesprächspartner. Woran auch immer sie dachte, wenn sie die Augen schloss, stets landete sie bei den unnatürlichen Wesenheiten, bei dem mitternächtlichen Eindringling in ihrem Kinderzimmer, an ihrem Bett. Beratschlagend flüsterten die Geschwüre, ehe sie der großen Katzenfrau lauthals zur Antwort entgegenplärrten: »Tja, tja, tja, das würdest du wohl zu gern wissen!« – gehässiges Gekicher – »Ausgerechnet das!« »Was ist denn ein schwarzer Löwe in der Natur?«, versuchte ihr eine Geschwulst auf die Sprünge zu helfen. »Je länger ich meine Augen geschlossen halte, desto wahrscheinlicher wird ihr Erscheinen«, versank Kittylectric in ihren Gedanken. »Pechschwarze Löwen auf Felsvorsprüngen. Kein irdischer Sonnenuntergang? Weder Tag noch Nacht?« »Und wann tritt in der Natur ein Zustand ein, der weder Tag noch Nacht entspricht?« »Es existiert keine Kinderwald Gruppe und es existieren auch keine schwarzen Löwen!«, übertönte der Scheintote die Winzlinge mit seinem lauten Menschenorgan. »Arimala kam aus seinem Maul gekrochen. Der Löwe nahm ihr den Stachel und kurierte sie vom Tod. Tod und Tod heben einander auf. Tod neutralisiert Tod, und das Leben entpuppt sich als Traum.« Die eigenen Worte trafen den jungen Mann wie einen Schlaganfall: »Tod und Tod heben einander auf. Tod neutralisiert Tod!« Sabber lief aus seinem Mund, seine Iriden wanderten wie bei einem Chamäleon in entgegengesetzter Richtung nach außen. Schließlich sackte er zur Seite weg. Seine Schulter begann unwillkürlich zu zucken – ein letzter, verzweifelter Versuch seines Körpers, sich der festsitzenden Parasiten zu entledigen. Kittylectric eilte geschwind zum Sofa und fing ihn auf. Die Geschwüre schreckten quietschend vor ihrem blauen Licht zurück und verkrochen sich unter seinem Pullover, seiner Haut. Behutsam ließ sie seinen Oberkörper auf ihren Schoß sacken, während er regungslos an ihr vorbei zum Fernseher starrte. »Ich werde wiederkommen und dich retten!«, flüsterte sie ihm zärtlich zu. »Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde einen Weg finden! Ich habe deinen zukünftigen Absturz gefühlt, aber du wirst ihn nicht spüren. Ich werde kommen und deinen Sturz auffangen!« Sie legte ihn der Länge nach aufs Sofa, deckte ihn zu und lief zurück zum Fenster. Unter der Wohnung ratterte in diesem Augenblick eine frühe, charakteristisch rot-gelbe Berliner S-Bahn vorbei. »Auf Wiedersehen!«, warf sie einen letzten Blick zurück und sprang kurzerhand durch die Scheibe, ohne dabei das Glas zu zerbrechen. Mit halsbrecherischem Geschick landete sie auf dem Dach des fahrenden Zugs, auf allen vieren, von der Katze im Innern beflügelt.
Bäuchlings lag sie auf dem kalten Metall und fühlte sich paradoxerweise doch so warm, als sie auf dem Dach der S-Bahn durch die geteilte Hauptstadt der späten achtziger Jahre sauste. Alles wirkte so unwirklich wie eine Fahrt durch einen Themenpark, den sie bislang bloß aus dem Fernsehen kannte. Die Gewitterwolken auf blutrotem Grund hatten den Himmel gespenstisch verfinstert und die Nacht für sich zurückerobert, als unverhofft – wie bei einem Film – der Buchtitel über ihr in der Luft aufflackerte:
FLIMMER®KATZE
– Und mit dem Titel in himmelgroßen, bläulich flimmernden Lettern wich die Nacht einer herbstlichen Morgendämmerung. Kittylectric – Bezwingerin über das Wetter! Der Magier wäre stolz auf mich.Ihre Fahrt führte entlang der Berliner Mauer, die sich über weite Strecken unverändert durch das Stadtbild zog, obgleich die Grenzen seit wenigen Wochen offen standen. Hier und da wurde der ehemalige Todesstreifen von Schaulustigen durchwandert, fleißige ›Mauerspechte‹ hackten, mit Hammer und Meißel bewaffnet, an ›Mauergraffitis‹ herum. Die gigantischen Tentakel hatten sich ihrem Blickfeld weitestgehend entzogen, das rot-schwarze Nachtgewitter leuchtete nur noch schwach in finsterer Ferne – da, wo die Fabrikanlagen dampfen! – Und doch vernahm sie den fremden Einfluss an jeder Ecke, hörte die Stimmen der Leute, immer lautere Hilfeschreie, die mit dem Mauerfall nichts anfangen konnten. Echos, vom Wind getragen, gepeitscht durch verregnete Straßen: »Das ist kein Land, das sind zwei Systeme, die zusammengesperrt werden!«, ging es einer Frau durch den Kopf.»Wie zwei sich streitende Geschwister, Hund und Katze, Feuer und Wasser, jede andere Nation ist ihnen näher als der eigene Bruderfeind! Ich sehe nur eine Möglichkeit, wie dieses Land wiedervereint, wirklich wiedervereint werden kann: durch einen erneuten Krieg, in dem alle – Ost und West, Nord und Süd – ›gemeinschaftlich‹ untergehen«, vernahm sie die Stimme eines älteren Mannes. »Es gibt hier nur wenige wirklich revolutionäre Köpfe. Die Mehrheit sind Proleten mit Bauernschläue, politisch saudoofe Wohlstandsdegenerierte mit gefährlich verdrehter Doppelmoral, Mitläufer und narzisstische Haie. Die wenigen wirklich kreativen Köpfe übertreffen vielleicht alles, was auf der Welt je dagewesen ist, doch sie werden sich gegen die breite Masse aus Arbeiter- und Bauerntölpeln freilich nie durchsetzen! Es sind einfach viel zu viele Kleingeister!«»Ein Land, nein, eine Welt, in der Gewalt nicht universell, sondern parteiisch empfunden wird, ist früher oder später dem Untergang geweiht! Demoralisierung, die Doppelmoral der Dummen!«, erklang es aus einer anderen Ecke. Und die Stimmen vermehrten sich, redeten immer schneller, immer wirrer und aufgebrachter durcheinander.Unter der Flimmerkatze, die unverändert auf dem Dach des Zuges lag, herrschte reges Treiben: Im Innern der S-Bahn schielte ein kleiner Junge verstohlen zu einer Gruppe Jugendlicher, die ihm schräg gegenübersaßen. Er hatte sich augenblicklich in ein älteres Mädchen aus der Gruppe verliebt. Dabei war ihm gänzlich entgangen, dass der Zug soeben in einen Bahnhof eingefahren war. Seine Eltern waren bereits ohne ihn ausgestiegen, unachtsam in ihre eigenen Streitereien vertieft. In ihrer Eile bemerkte die Mutter ihr Versäumnis erst, nachdem sich die Türen wieder verschlossen hatten. Der Junge, der von seiner Flamme flirtend belächelt wurde, als er seine kindische CAT AT K Actionfigur unterm Anorak zu verstecken versuchte, wurde jäh aus seiner Träumerei gerissen: Zornig klopfend liefen seine Eltern neben dem Fenster her, brüllten sichtlich aufgebracht, doch unverständlich abgedämpft. Seltsamerweise vermochte er ihre Gesichter nicht zu erkennen, als wäre das Sicherheitsglas ausgerechnet auf Höhe ihrer Augen milchig beschlagen. Die aufgeregten Mienen seiner Eltern verloren sich mit jedem Meter in verschwommener Unschärfe.Aus dem mit Stickern vollgeklebten, ursprünglich weißen Radio der Jugendlichen erklang die Stimme eines Ansagers: »Und nun kommen wir zu einem Lied, das so gesehen in diesem Jahr noch gar nicht existieren dürfte«, verkündete die blecherne Stimme aufgesetzt konspirativ. »Aber da wir uns heute am achten Wochentag befinden, können wir den Song dennoch hören. Hey Jim, hast du zum Abschluss noch schnell einen schlauen Spruch für unsere Hörer parat?« »Ähm«, antwortete sein Co-Moderator wenig souverän und hauchte verrauscht ins Mikrofon, als bereits die ersten Takte des eingespielten Songs erklangen: »Was morgen war, wird eines Tages gestern sein.« »In diesem Sinne«, verabschiedete sich der Ansager, »hier ist der Song ›Flaming feat Gamefaq Moderator by Seafoam Xpresso‹!« Eine Etage darüber stolzierte Kittylectric zu den Klängen aus dem Radio – die sich allgegenwärtig über das Geschehen legten – leichtfüßig über das Dach der ratternden S-Bahn, während das städtische Lichtermeer der verregneten Morgendämmerung an ihr vorüberzog: Unzählige, an Häuserfassaden, Schaufenstern und Reklametafeln künstlich hinzugefügte Neonlichter verliehen dem Geschehen eine verklärte Atmosphäre, als würde sie die Zeit, in ihrer vermeintlichen Erinnerung, durch eine rosarote Neonbrille erstrahlen lassen. Die Scheinwerfer eines hellblauen ›Trabis‹ durchschnitten den verwaschenen Morgennebel. Durch das reflektierende Neonlicht der Geschäfte glänzte seine Oberfläche wie frisch aus der Waschanlage, fabrikneu auf Jungfernfahrt, einaus dem Ei gepelltes Museumsstück – und dabei so unwirklich wie das Neonlicht selbst, das sogar den hässlichsten, heruntergekommensten Seitenstraßen einen kindlich-naiven Glanz verlieh. Ein gleichsam hellblauer IFA-Lastkraftwagen der Marke ›W50‹ bog einige hundert Meter entfernt in ein großflächiges Industrieareal mit hangarartigen Hallen ein, in denen es vor W50s nur so wimmelte. Hinter hohen grünen Glasfronten brannte ein unwirklich träumerisches Licht – wie die Miniaturbeleuchtung einer Puppenstube –, das sich ebenso der Dämmerung widersetzte wie die Lichter des gelben Ikarus-Busses, der gerade in diesem Augenblick an der kleinen Haltestelle vorm Werk vorfuhr. Der hell erleuchtete Innenbereich des Busses hatte sich weitestgehend gelichtet. Lediglich in der letzten Reihe saß noch ein Drittklässler auf seinem allwöchentlichen Weg zur Schwimmhalle. Als die S-Bahn eine weite Kurve nahm, fiel Kittylectrics Blick westlich der Mauer auf eine in grellen Neonfarben erstrahlende Videothek an einer Ecke, wo einst eine charakteristisch berlinerische Eckkneipe zum fröhlichen Gemeinschaftsrausch eingeladen hatte. An der Außenfassade zeugte eine verblichene Stuckfigur mit Bierkrug von der Vergangenheit, während sich die Leuchtröhrenschilder, die die Filmplakate im Schaufenster bestrahlten, schreiend in den Vordergrund drängten. – Keine Sorge, ist nur ein kurzlebiger Trend! Der Alkoholkonsum wird den Filmkonsum um Äonen überdauern!Den Zaubertrick des Magiers inzwischen wie im Schlaf beherrschend, glitt Kittylectric einfach durch das geschlossene Dach ins Innere der S-Bahn, ganz langsam, als würde sie eine unsichtbare Treppe hinabsteigen. Ihre nackten Füße schwebten gemächlich dem Boden entgegen, wobei sie von dem kleinen Jungen beobachtet wurde. Kaum mit ihrer blanken Fußsohle im Durchgang aufgesetzt, trafen ihre Augen die des Jungen und er starrte schüchtern zu seinen Schuhen – doch der Kontakt war geknüpft. Nur wenige Menschen besaßen die Fähigkeit, die Flimmerkatze im Alltag zu erkennen – wie sie auf ihrer einsamen Mission ernüchtert feststellen musste. Verängstigt wanderte sein Blick von den kleinen Schuhchen zurück zu den Jugendlichen mit ihrem lauten Radio, dessen Musik noch immer – wie der Soundtrack zu einem geträumten Film – über dem Geschehen lag. Zu seiner großen Verwunderung hatten weder die Halbstarken noch sonst jemand im Zug von der unnatürlichen Erscheinung Notiz genommen und er realisierte, dass er sich dahingehend an niemanden wenden konnte. Umso gelassener setzte sich Kittylectric neben ihn. Augenblicklich ließ er von den Jugendlichen ab – und vergessen war das bildhübsche Mädchen in ihrer Mitte. Seine volle Aufmerksamkeit galt nun einzig und allein der blau leuchtenden Gespensterfrau, vor der er sich fürchtete und die ihn gleichzeitig mehr als alles andere faszinierte. Er dachte an die Kittylectric-Puppe, seinen illegalen Schatz, den er heimlich unterm Bett versteckt hielt – gab es doch auf dem Schulhof nichts Schlimmeres, nichts ›Verboteneres‹ als ›Mädchenspielzeug‹,wie es die Jungs in seiner Klasse herablassend verspotteten. Kittylectric lächelte ihm zu und augenblicklich brach das Eis, wohnte diesem Lächeln doch eine Wärme inne, nach der sich jedes fühlende Wesen im Innern sehnte, eine Wärme, die zwischen den Menschen im Alltag so nicht existierte, nicht existieren konnte. Manche suchten ein Leben lang nach dieser Wärme. »Zeig mal her die Figur, den kenn ich doch!«, flüsterte sie ihm schelmisch zu und verwies auf den CAT AT K-Helm, der ein Stück weit aus seinem Anorak hervorlugte. Rasch hatte sie das Vertrauen des Jungen gewonnen.
»Okay, welcher Witzbold hat hier die Notbremse gezogen?«, kam eine Schaffnerin aufgebracht durch den Waggon gestampft. Der Zug war auf offener Strecke überraschend zum Stehen gekommen, ein Umstand, der ihre Miene sichtlich verfinsterte. Kittylectric und der kleine Junge standen vor einer geöffneten Doppeltür, den Blick auf die Gleise. Der Junge wollte gerade aussteigen, vielmehr herausspringen, als ihn die Schaffnerin jäh am Schlafittchen packte und kratzbürstig anfuhr: »Auf offener Strecke wird nicht ausgestiegen! Hier ist doch keine Haltestelle!« Gerade als sie tief Luft holte, um dem »Stift« gehörig den Marsch zu blasen, verschlug es ihr abrupt die Sprache. Zum Erstaunen aller Fahrgäste war der Zug im hinteren Abschnitt in zwei Hälften gebrochen. Eine klaffende Lücke war unbemerkt entstanden, die sich stetig vergrößerte. Mehrere Punks sprangen zwischen den Abteilen auf die Gleise. Einer von ihnen, ein verlebterDürrländer mit einer grünen Haarsträhne, die zwischen seinen geröteten Augen hinab bis zum Mund verlief, nickte der Schaffnerin provozierend zu und präsentierte ihr dreist grinsend seine abgebrochenen Zähne. Er wollte gerade von der Unterbrechung zum Abteil der Schaffnerin hinübersteigen, als diese ihn wie ein lästiges Insekt wieder hinausbeförderte. »Da licht ’ne Prinzessin, die brochte ma frische Luft, wa!«, maulte der vermeintlich Autonome mit angetrunkenem, frech angriffslustigem Tonfall. »Hat unser Rumjefurze nich jut vertragen, wa!«, fiel ihm ein Kumpel in rotkarierter Lumpenhose ins Wort: eine für diese Zeit typische Berliner Randerscheinung mit rötlich-violetten, gut vierzig Zentimeter in die Höhe ragenden ›Irokesenstacheln‹. Ehe die sprachlose Schaffnerin erneut zum Luft holen kam, erblickte sie hinter den Punks im aufgebrochenen Nachbarwaggon die nächste unglaubliche Sensation: Mitten im Abteil stand ein schneeweißes Himmelbett nahe der Bruchstelle. Rundungen wälzten sich unruhig unter den verdrehten Laken, aus denen heraus sich eine blonde, hochschwangere Schönheit behäbig aufrichtete. In nichts als ihr hauchdünnes, weißes Laken gewickelt saß sie da und schaute verschlafen aus der Wäsche, als wäre sie soeben aus ihrem Schönheitsschlaf erwacht. »Ava! Ist das etwa Ava?«, zog Kittylectric irritiert die Augenbrauen zusammen. »Wer ist Ava?«, fragte der kleine Junge beiläufig. »Ich weiß nicht«, starrte sie noch verunsicherter ins Leere, »ich dachte für einen Moment, ich würde jemanden kennen, der so heißt und auch so aussieht … aber da hab ich mich wohl geirrt!« Und ihre Augen wanderten von der Schönheit zur Schaffnerin. »Komm schnell, sie sieht gerade nicht her!« Beide nutzten die Ablenkung und stiegen, trotz des lautstarken Verbots, mitten auf den Gleisen aus. Wenige hundert Meter entfernt, an der nächsten Haltestelle angelangt, hob Kittylectric den Knirps die hohe Bahnsteigkante hinauf. Hand in Hand eilten sie zum gegenüberliegenden Gleis, wo sich gerade in diesem Augenblick die Türen einer anderen S-Bahn schlossen. In letzter Sekunde hineingehuscht, fuhren beide in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren – vorbei an dem zerbrochenen Zug mit den Punks und der schlafenden Schönen – hin zu der Station, an der die Eltern des Jungen zuvor ausgestiegen waren. Der Junge sprang aus dem Zug und sah sich aufgeregt um. An jedem Treppenaufgang, hinter jedem ›Mitropa-Kiosk‹ blickte er ausschließlich in fremde Gesichter, doch von seinen Eltern keine Spur. »Sie sind hier nirgends!«, brach er schließlich in Tränen aus. Kittylectric, die ihn stillschweigend begleitete, legte dem Jungen mitfühlend ihren Arm auf die Schulter und ließ sich mit ihm auf einer nahegelegenen Bank nieder. Kaum berührt verlangsamte sich seine Atmung und er sah zu den Natriumdampflampen auf, die die gegenüberliegenden Straßen im Dämmerlicht gelblich-orange einfärbten. Bei längerer Betrachtung zogen die rundlichen Straßenlaternen vom Typ RSL 1 – die den Jungen einst an fliegende Untertassen erinnert hatten – seltsame Lichtbänder nach sich. Eher beiläufig tastete er die Bank ab und wirbelte panisch herum. »Oh Mist, ich hab meinen Rucksack im Zug vergessen!«, sah er mit weit aufgerissenen Augen zu seiner schaurig schönen Begleiterin auf. »Wir müssen wieder zurück!« »Normalerweise schon, aber nicht, wenn du jemanden wie mich an deiner Seite hast«, grinste sie geheimnisvoll, und wie aus dem Nichts zog sie den Rucksack hinter ihrem Rücken hervor. »Hä?«, staunte der Junge nicht schlecht und sah sich ungläubig hinter der Bank um, als erwartete er dort einen doppelten Boden. »Wo hast du den jetzt hergenommen?« »Tja, Zauberei!«, blinzelte sie ihm zu. »Den Trick hab ich von einem echten Magier! Hat was mit Geist und Materie zu tun. Die Kontrolle über die Wahrnehmung, mit der man interagiert, lässt sich trainieren.« »Du meinst, wie wenn man träumt?« »Ganz genau! Die Kontrolle liegt in der Leichtigkeit und doch gelingt es den wenigsten, vollständig loszulassen.« »Kannst du den Trick dann nicht auch bei Mama und Papa anwenden?« »Ich hab’s versucht, aber irgendetwas wirkte dem Trick entgegen, wie ein störendes Kraftfeld.« Sie beugte sich näher an den ›Knirps‹ heran und flüsterte ihm ins Vertrauen: »Keine Sorge, wir finden sie! Dir kann nichts Schlimmes passieren, nicht in meiner Nähe! Bin wie ein Blitzableiter für alles Negative!« – Doch die erhoffte Reaktion blieb aus. Beide saßen schweigend auf der Bank und starrten zu den einfahrenden Zügen, warteten und warteten, Zug um Zug, Gedränge um Gedränge. So viele Gesichter und kein einziges nahm von ihnen Notiz. »Hey, soll ich dir mal was vorspielen?«, stieß sie ihr Sorgenkind an, das sich träumerisch in dem rauschenden Menschengewirr zu verlieren drohte. »Wie denn? Du hast doch gar nichts an, gar keine Taschen in deinem …« Der Junge unterbrach sich selbst und nahm die mysteriöse Haut der Flimmerkatze musternd unter die Lupe. »Was ist das überhaupt, dein Fell? Nein, Fell soll ja wärmen, aber bei dir ist ja alles ganz glatt, wie Haut, sogar noch glatter als Haut. Frierst du da nicht?« »Leider nicht!«, seufzte Kittylectric und sah an ihren schwarzen und weißen Zebrastreifen hinab. »Wieso ›leider nicht‹? Sei doch froh!« »Nun, ich wünschte mir manchmal, ich würde wieder so frieren können wie früher. Harmlose Empfindungen an der Oberfläche. Jetzt ist alles so viel heftiger und ich fühle in Dimensionen, die ich mir früher nie hätte vorstellen können.« »Versteh ich nicht!« »Ist auch besser so, glaub mir!«, brach sie abrupt ab und begann, den Jungen stattdessen mit ihrer Musik zu erheitern. Die schwarzen und weißen Zebrastreifen auf ihrem Bauch wurden zu den schwarzen und weißen Tasten eines kosmischen Klaviers, das die herrlichsten Töne aus sich selbst herausholte. Der kleine Junge lachte unkontrolliert auf. »So was Komisches hab ich noch nie gehört!«, strahlte er bis über beide Ohren und lachte erneut auf, als sie einen bestimmten, überaus exotisch anmutenden Soundeffekt wiederholte – »Noch mal! Noch mal!« Doch auch der schönste Spaß vermochte auf lange Sicht nicht über die missliche Lage hinwegzutäuschen. »Sie kommen nicht mehr, hab ich recht?« »Wo genau wolltet ihr so früh eigentlich hin?« »Zur Arbeit und ich sollte zu einer Kollegin, weil die Schule erst in zwei Stunden beginnt. Ich weiß auch, wo! Ist gar nicht weit von hier, bin da auch schon mal alleine hin!«»Vielleicht sind sie ja dort und denken, dass du nachkommst.« Und zuversichtlich lächelnd streckte sie ihre Hand nach ihm aus: »Komm, wir suchen sie!«
»Junge, Junge, was hier los ist, an einem Samstagmorgen!«, schüttelte Kittylectric erstaunt ihr Pagenhaar, als sie mit ihrem Begleiter den Ausgang des S-Bahnhofs ›Leninallee‹ gegen den Strom einer dichtgedrängten Menschenmenge zu verlassen versuchte. Die Leute liefen scharenweise durch sie hindurch, doch es war der kleine Junge, dessen Hand sie festhielt, der sie im Gedränge zurückwarf. »Man könnte glauben, es wäre Montagmorgen!« – Doch etwas stimmt nicht. Meine Realität ist voller Risse: Da vorn ein Schatten, wo keiner sein dürfte. Eine Person grinst in meine Richtung und bewegt sich dabei in so merkwürdiger Zeitlupe, ohne dass sich die Augen mitbewegen. Ein Art Stachelschwein – oder doch eher ein Gürteltier – läuft die Straße entlang, verfolgt ganz bewusst ausgewählte Menschen, um sich in deren Kniekehlen zu klammern – um sich mit ihnen zu verbinden, dauerhaft eins zu werden mit ihren menschlichen Seelen … Aus der Menge ausbrechend zog sie mit dem Jungen weiter durch die herbstlich verregnete Stadt. Unmittelbar voraus erstrahlte die Beleuchtung eines Spaßbads – des multifunktionalen Sport- und Erholungszentrums ›SEZ‹, in dem in wenigen Minuten die Aufzeichnung der Fernsehsendung ›Medizin nach Noten‹ – einer musikalisch unterlegten Gymnastik-Show – beginnen sollte. Gleichsam war es der Arbeitsplatz seiner Mutter, die das Fitnessprogramm ›Popgymnastik‹ unterrichtete. »Der Samstagsunterricht ist in diesem Jahr abgeschafft worden, aber es ist ja auch nicht Samstag«, antwortete der Junge leicht verspätet auf Kittylectrics in der Unterführung aufgestellte Behauptung. »Heute ist Moortag!« »Was?«, fragte sie erst beiläufig, dann völlig perplex. »Es ist nicht Samstagmorgen! Die Wochen haben hier acht Tage und heute ist der Tag zwischen Freitag und Samstag.« »Aber das macht überhaupt keinen Sinn!« »Doch schon«, widersprach der Steppke, »denn nur mit acht Tagen ist alles im Gleichgewicht, alles perfekt und unendlich – perfekt für die Unendlichkeit. Sieben Tage sind hingegen der Wochenrhythmus der Sterblichkeit!« Sprachlos, die Worte des Kindes verinnerlichend, trat Kittylectric an eine äußere Glasfront des Mehrzweckkomplexes. Dahinter tummelten sich unzählige Badegäste in einem irreal weitflächigen Wellenbad. Das ungleiche Gespann streifte weiter an der Außenfassade entlang, vorbei an der großen, in mehrere Abschnitte unterteilten Turnhalle, in der jeden Augenblick die Aufzeichnung der Fernsehsendung starten sollte – weiter zum Haupteingang. Niemand nahm von ihnen Notiz, als sie die Eingangshalle durchquerten. »Die haben hier mein Lieblingseis«, strahlte der Junge, als sie gänzlich unbemerkt vom Ticketschalter zu einem futuristisch anmutenden Röhrentunnel wechselten. Darunter erstreckte sich das gut besuchte Spaßbad. Wie selbstverständlich geisterten beide durch die Dusch- und Umkleidekabinen, in denen ebenfalls seltsam künstliche Neonlichter brannten – wie die Beleuchtung für einen Filmdreh, als wären die Scheinwerfer extra für uns aufgestellt worden.»Mama?«, rief der Kleine in die Duschkabinen, und abrupt verschlug es ihm die Sprache: »Mam … äh …«, als er eine Frau erblickte, die statt eines Badeanzugs in straffe schwarze Ledergurte gekleidet vor ihm stand. Unterm Duschstrahl fing sie plötzlich an, sich gefährlich in diesen Gurten zu räkeln, die nur um Haaresbreite das verdeckten, was dem Jungen zu sehen verboten war und was – wie alles Verbotene, streng Verbotene – die Faszination im neugierigen Kindergemüt in ungeahnte Dimensionen steigerte; der unermüdliche Drang, die Geheimnisse dieser Welt zu ergründen. Die Augen des Jungen wurden groß. »Na, die gefällt dir, hab ich recht?«, lächelte ihm die gespenstische Begleiterin, auf seine Höhe gebeugt, über die Schulter und nahm ihn an der Hand. »Komm, die sehen wir gleich bestimmt noch in der Halle!« Kaum die Tür geöffnet, bot sich ihnen ein helles, unüberschaubar belebtes Areal; eine eigenständige Badwelt, die wie von künstlicher Intelligenz zu einem Gewirr aus Einzelbecken verbaut worden war, durchzogen von unzähligen Metallgerüsten, Treppen und einem hohen Glastunnel, der an die Kulisse eines Weltraumabenteuers aus den späten sechziger Jahren erinnerte. Kittylectric sah sich prüfend um. Ihr Blick schnitt durch Wände hindurch und drang bis in die angrenzende Turnhalle mit großer Glasfront vor, in der inzwischen die Aufzeichnung für die Fernsehsendung ›Medizin nach Noten‹ begonnen hatte. Hinter der weiten Glasfront, im trübe verregneten Herbstgrau, fuhren hauptsächlich Trabis über eine viel befahrene Hauptstraße – realund doch wieverzückende Miniaturen. Der verhältnismäßig junge Moderator, der in seiner Sportbekleidung leicht versteift dastand, legte los: »Hallo! Hier meldet sich wieder ihre tägliche, musikalisch-medizinische Hilfe! Und unsere sportliche Beraterin ist heute Dagmar.« Ein Badegast mit hasserfüllten Gedanken lief schroff durch die Flimmerkatze hindurch und holte sie schlagartig zurück an den Beckenrand der Schwimmhalle. Über die Stadt verteilt sehe ich ihre Augen. Alle stehen da, todernst. Und niemand lacht mit mir! seufzte sie mit Schmerzen auf der Brust und blickte in all die fremden, ach so fremden Augen, die ausnahmslos durch sie hindurchsahen, als wäre sie Luft. Unterdessen hatte sich der kleine Junge unbemerkt von ihr entfernt und war zurück zu den Duschkabinen geschlichen. Verstohlen lugte er hinter einer gefliesten Ecke hervor, den Blick in Richtung der Gemeinschaftsduschen. Doch die erhoffte Frau in der ungewöhnlichen Badebekleidung war verschwunden. Kittylectric blieb wie erstarrt stehen, als die Badegäste, einer nach dem anderen, durch sie hindurchschritten. Je mehr Abgründe sie in immer kürzeren Intervallen in sich aufnahm, desto transparenter wurde sie. Auf einen Schlag wurde alles um sie herum blaustichig und das Geschehen begann, sich zu verlangsamen. Ein Filter lag über dem Bad – wie die schlechte Bildqualität einer alten, ausgeleierten VHS-Aufnahme. Ein abscheulich tiefes Jaulen bei halber Geschwindigkeit dröhnte aus allen Lautsprechern und begleitete einen Turmspringer, der mitten in der Luft zum Stehen kam. Aus dem Jaulen heraus formte sich eine Melodie, die entfernt an ein Weihnachtslied erinnerte, vielmehr das Gefühl von Weihnachten zu imitieren, heimtückisch vorzugaukeln, versuchte. Hinter der Glasfront des Schwimmbads waren die schwarzen Gewitterwolken inzwischen zurückgekehrt. Das blutrote Dämmerlicht blitzte im Hintergrund und gigantische Tentakel schwangen über der Halle, schoben sich widerlich windend an der Glasfront hinab. Durch Schächte und Röhren der ›Poolrooms‹ hindurch gelangten sie schließlich bis in die belebten Becken, wo sie unbemerkt mehr und mehr Badegästen anhafteten.Und Kittylectric drohte, sich gänzlich aufzulösen – ein besorgniserregendes Phänomen, das sie in jüngster Zeit immer häufiger heimsuchte. Wohin sie auch ging, wohin sie auch davonzulaufen versuchte, ihre zunehmende Transparenz heftete sich unablässig an ihre Fersen. Die Gleichgültigkeit, mit der sie die Lebenden straften, verfolgte sie auf Schritt und Tritt. Ihr Dasein war nicht bedingungslos, es hatte einen Zweck zu erfüllen. Doch zusehends verfehlte sie ihr Ziel. Zumeist bekam sie derartige Anfälle mit erheblichem Kraftaufwand, mit Schmerz und Konzentration, wieder in den Griff. Doch ging sie stets geschwächt und ein Stück weit aufgelöst daraus hervor. Nur die Gegenliebe, die mit der Errettung einer Seele einherging, vermochte ihren Akku wieder aufzuladen, doch davon war sie hier weit entfernt. Die nüchterne Gefühlskälte der Leute zehrte gewaltig an ihrer Substanz.
