Schattensäule - Oliver Rennicke - E-Book

Schattensäule E-Book

Oliver Rennicke

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Beschreibung

Das Ende der Welt steht unmittelbar bevor. Ein Asteroid mit Eigenleben droht auf der Erde einzuschlagen. Ava versucht, mit dem letzten Mitternachtszug zu seiner Familie zu gelangen. Doch die feste Ordnung bricht aus den Fugen und alles um ihn herum versinkt im Chaos. Mithilfe seiner verstorbenen Katze – die angeblich als südländisches Model wiedergeboren wurde – versucht er, ein Signal ins All auszusenden, ein Musikstück seiner verschollenen Schwester, das ihm den Weg durchs All, zu einer neuen Heimat – und darüber hinaus zu einer neuen Daseinsform – weisen soll. Doch dunkle Kräfte versuchen, dies zu verhindern.

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Seitenzahl: 462

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Oliver Rennicke

SCHATTENSÄULE– Ava Mangrowjongs seltsames Ende und was danach geschah in zwei Teilen(Ava Türkis)

Kinderwald Gruppe 4

Teil 1  RELIJA YMA und  Die Jenseitssendestation11

Prolog13

Der letzte Arbeitstag19

Julfest27

Teil 1RELIJA YMAund Die Jenseitssendestation

Prolog

»Oh, du mein brüderliches Ich, sollte ich das hier überleben, werde ich dir zur Unsterblichkeit verhelfen, werde dir erscheinen in all den naheliegenden Formen, die du nicht erkennen wirst, so naheliegend, dass nicht einmal sie mich erkennen werden«, drang eine Stimme im Halbschlaf an Avas Ohren, die sich anhörte, als gehörte sie seiner Mutter. Und doch schwang etwas Fremdartiges in ihr mit, etwas Kosmisches von weit draußen. Mir ist heiß, obwohl sich mein Körper kalt anfühlt, wälzte sich Ava in seinem Bett umher, angestrengt, aufgekratzt –  und wieder eine dieserverflucht kurzen Nächte, in denen ich einfach nicht zur Ruhe kommen soll! Gedanken kreisten auf und ab, führten unaufhörlich vom Hundertsten ins Tausendste. Blieb er bewegungslos liegen, begann es bald an seinem Körper zu jucken, zu zucken, irgendwo, immer woanders. Und war dies nicht der Fall, so klammerte er sich an Störgeräusche aus der näheren Umgebung, so belanglos diese auch erscheinen mochten. Oder ihn hielt, wie in diesem Augenblick, die verdrehte Bettdecke munter. Entweder gab sie Avas Hals oder dessen Füße der kalten Zugluft preis, je nachdem, ob er die Decke hinter den Schultern festklemmte oder seine Füße damit umwickelte. Fröstelnd tastete er seine Oberschenkel ab, die von eisigem Schweiß wie von winzig kleinen Nadelstichen gepiesackt wurden. Mama meinte immer, der Schlafentzug würde sich eines Tages an mir rächen. Durch den Mangel an Schlaf würde ich bestimmt zehn Jahre früher sterben! Wie sehr wünschte ich, sie würde mit ihrer Prognose recht behalten …     Ehe sich’s Ava versah, saß er auf der atmosphärenlosen Krateroberfläche eines Asteroiden und sauste geräuschlos durchs All. Allem Anschein nach war er endlich eingeschlafen, doch die erhoffte Ruhe fand er nicht, ganz im Gegenteil: Er spürte, wie sein Nachthemd – vom Schweiß durchnässt – kühlte, wie ihn die Kälte durchzog, während er auf dem vermeintlichen Asteroiden hockte und mit schwindelerregendem Tempo auf die Erde zusteuerte.     … denn eines ist gewiss: An Altersschwäche werde ich nicht sterben. Mein letztes Jahr auf der Erde neigt sich dem Ende entgegen. Bald schon wird er eintreffen, der Asteroid, der alles Leben für immer beendet, Punkt! Bald schon ist alles Vergangenheit, auf ewig zerstört! Das bitterste Ereignis der Menschheitsgeschichte, doch gleichsam das einzige, das letztlich alle miteinander vereint – sagt doch ’ne Menge aus über uns Menschen! Vielleicht ist es gut so, lieber ein Ende mit Schrecken …      »Doch ich bin nicht auf der Erde, schon lange nicht mehr! Nein, ich bin weit draußen im All und blicke wie ein Fremdkörper auf meine einstige Heimat«, bemerkte Ava erstaunt. Von großer Neugier gepackt, sah er sich auf dem blutroten Gesteinsbrocken um, der einsam und verlassen mit ihm durchs All reiste, als wär’s ein lebendiger Begleiter – als wäre es ein Teil von mir!     So angestrengt er auch auf allen vieren über die Krateroberfläche kroch, wollte es ihm doch nicht gelingen, sich auch nur einen Meter vom Fleck zu rühren. Wie angewurzelt hing er an Ort und Stelle fest.     »Wie kann es sein, dass ich hier bei dir bin, obwohl sich mein schlafender Körper nach wie vor auf der Erde befindet?«, fragte er seinen stillen Begleiter – starres Gestein, durchzogen von pulsierenden Adern. »Fühlt sich nicht an, wie sich ein Traum anfühlen sollte!« – Vielmehr wie die Fortsetzung eines zusammenhängenden Zustands, der mich vor Jahren unter die Oberfläche blicken ließ und meine Wahrnehmung des Lebens nachhaltig verändert hat. Vielleicht ist das da unten nur ein Traum, der lange Winterschlaf eines erschöpften Lebens. Und wie es aussieht, bin ich aus diesem Winterschlaf noch immer nicht erwacht. Ja, jetzt erinnere ich mich: In diesem Traum bin ich wenige Tage vor dem Weltuntergang an den Leiden einer Krebserkrankung gestorben …     Seltsamerweise fühlte sich Ava in diesem Augenblick so befreit wie seit Jahren nicht mehr. Da stand er nun auf dem rasenden Gesteinsbrocken und sah, wie der kleine blaue Erdball näher rückte. Unwirkliche Entfernungen, in denen nichts als Leere bestand und die mit unwirklicher Geschwindigkeit zurückgelegt wurden. So dauerte es nicht länger als einen Wimpernschlag, bis das blaue Erdenrund – wie eine irrwitzige Miniaturwelt – sein gesamtes Blickfeld vereinnahmte.     »Hab meinen Körper vorzeitig verlassen, deshalb kann ich auf die untergehende Welt hinabblicken. Doch was geschieht mit all den anderen?«,richtete er seine Worte vorwurfsvoll an den Asteroiden, den Verursacher. Ava allein sah die Bedrohung, die in Kürze über die gesamte Menschheit hereinbrechen würde, als einzig Wacher in einer Welt der Schlafenden.     »Ich werde wie die Mondkatzen auf den Dächern der Erde landen!«, brüllte er aus Leibeskräften, um gegen das ohrenbetäubende Rauschen seines Begleiters anzukämpfen. Der Asteroid stand kurz davor, in die Erdatmosphäre einzudringen.     »Musst dir einen neuen Körper suchen, in deinen alten wirst du nicht zurückkehren können, weil er dir nicht mehr zur Verfügung steht«,schob sich eine ruhige Stimme zwischen Avas Geschrei und das ohrenbetäubende Brummen. Der dreibeinige Kater Mondschnee, sein Freund, den er vor Jahren verlor, saß wenige Meter entfernt auf einer scharfkantigen Anhöhe aus blutrotem Gestein.     »Ist noch nicht lange her, dass ich ihn verließ!«,wehrteAva ab.     Von einem auf den nächsten Augenblick wurde die Oberfläche von einer alles umhüllenden Dunkelheit verschlungen und das lärmende Dröhnen des Asteroiden von Milliarden Schreien übertönt, die sich zu einem gespenstisch hallenden Chor verbanden.     »Gleich werden sie alle zu uns raufkommen«, flüsterte Mondschnee verheißungsvoll. »Und niemand weiß wohin, da kein Ort mehr existiert.«     »Aber was wird dann aus all den Heimatlosen?«, fragte Ava besorgt. »Wohin wandern sie, nachdem die Erde aufgehört hat zu existieren?«     Schweißgebadet erwachte Ava in seinem Bett. Bereits in frühester Kindheit hatte ihn derselbe Traum heimgesucht, lange bevor die ersten Astronomen von dem drohenden Himmelskörper Wind bekamen. Schon damals war er sich sicher, dass die Erde eines Tages auf diese Weise untergehen würde, und dies noch zu seinen Lebzeiten. Viele Jahre hatte er die bedrückende Vorahnung verdrängt, sie als unbegründete kindliche Wahnvorstellung abgetan. Doch bald schon sollte das Aufwachen aus diesem Albtraum keine Entwarnung mehr geben.     Eine Schwere lag auf seiner Brust. Früher war es ihm gelungen, nach dem Aufwachen erleichtert durchzuatmen, sich darüber zu freuen, dass alles nur ein Traumund nicht echt war, während ihm der Alltag eine gewisse Sicherheit und Geborgenheit geboten hatte. Doch der Sem-Uchs-Asteroid hatte seine Träume verlassen und war nunmehr zu einem festen Bestandteil seiner Wachwelt geworden – wo er nichts zu suchen hat! Der Traumkönig hatte recht, als er mich warnte: »Es könnte sein, dass auch deine Wachwelt, die du von früher zu kennen glaubst, fortan nicht mehr ganz dieselbe ist, dass nach deinem Übertritt gewisse Unstimmigkeiten auftreten …«     Verstört blickte Ava aus dem Fenster. Es war der Mond, der so unnatürlich grell in sein Zimmer eindrang. Ein Glück, nur der Mond, atmete Ava auf. Ein Glück, nur der Mond!     Schon sehr bald würde ein weiteres Licht am Nachthimmel auftauchen, ein wesentlich intensiveres, unnatürliches Licht – das dort nicht hingehört! Und stetig würde es heller werden und größer, beeindruckender, bis es der Welt die ewige Dunkelheit bescheren würde. Wenn es da ist, wird dieses Licht ein schmerzvolles Brennen in den Augen auslösen, ein Gefühl, das langsam aufsteigt, aus den tiefsten Tiefen der Magengrube, um ganz heimtückisch, als anschwellender Knoten im Hals, die Kehle zuzuschnüren.    »Über Milliarden Jahre hat sich hier das Leben entwickelt und nun wird diese Entwicklung in so kurzer Zeit wieder ausgelöscht, einfach so, als ob nie etwas gewesen wäre. Der Mensch – ganz gleich, welcher Sprache oder Nationalität, welcher politischen Gesinnung oder Religion (oder was da sonst noch einen Keil der Entfremdung zwischen ihn und seinesgleichen zu treiben vermag) – und mit ihm jede Spezies, jede Form von Kunst und Kultur, jedes Buch, jedes Lied, jedes Gemälde, jede Fotografie, einfach alles wird verschwinden, als ob nie etwas existiert hätte. Oh, wie zerbrechlich doch das Leben ist!«

Der letzte Arbeitstag

Angestrengt wälzte sich Ava im Bett umher, in der verzweifelten Hoffnung, noch einmal die langersehnte Ruhe wiederzufinden, schwebend all den Sorgen zu entfliehen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Doch so sehr er sich auch dazu zwang, der Zugang zum Reich der Träume blieb ihm fortan verwehrt – über lange Stunden hinweg bis zum Morgengrauen. Wie so oft überkam ihn ausgerechnet in den letzten Minuten, bevor er aufstehen musste, die Trägheit, die er die ganze Nacht über verzweifelt herbeigesehnt hatte. Umso ärgerlicher, da er an diesem Morgen besonders früh aufstehen musste. Ein weiterer Arbeitstag erwartete ihn, ein Tag, von dem Ava bereits im Vorfeld wusste, wie er ablaufen würde. Es gibt keinen leichten Weg durchs Leben! Egal, wie du es auch anstellst, es gibt keinen leichten Weg durchs Leben!    Sanft schellend klingelte das Telefon auf dem Nachttisch neben seinem Bett. Ava brauchte eine Weile, um sich aus seinen Gedanken loszureißen und sich des Klingelns gewahr zu werden. Verschlafen nahm er das Gespräch entgegen. Zwar hörte er eine Stimme am anderen Ende der Leitung – und musste wohl auch selbst gesprochen haben –, jedoch konnte er keine klaren Worte, keinen konkreten Inhalt aus dem unwirklich verträumten Dialog herausfiltern. Teilnahmslos hörte er sich selbst beim unverständlichen Gebrabbel im Halbschlaf zu, unfähig, in das Gespräch einzugreifen, es bewusst zu führen. Sein Mund bewegte sich, ohne dass sein Geist Schärfe zog. Alle Worte schienen von ganz allein in einem sanften Fluss zu fließen.      Die eindeutig weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung klang beruhigend, geradezu hypnotisch.     »Bist du das? Bist du es wirklich?«, fragte Ava und realisierte, dass dies die ersten Worte waren, die er aus seinem Zombiegenuschel herauszufiltern vermochte. »Lissie?«, meinte er, die Stimme seiner verschollenen Schwester wiedererkannt zu haben. »Also gibt es dich doch!« – zumindest wollte er im Halbschlaf daran glauben – »Aber wo hast du nur all die Jahre gesteckt und wie hast du mich hier aufgespürt?«      Außer sich vor Glück versuchte er, eine weitere Frage über ihren derzeitigen Aufenthaltsort zu formulieren. So leicht ihm die Worte bis dahin auch über die Lippen gekommen waren, sah er sich plötzlich außerstande, diese so essentiell wichtige Frage laut auszusprechen. Wo bist du? – Und er spürte das Unheil nahen, spürte, dass sie sich weiter von ihm entfernte, je angestrengter sich seine Gedanken verfestigten – bis der Kontakt gänzlich abbrach.     Schlagartig riss Ava die Augen auf. In grenzenloser Enttäuschung erkannte er, dass er noch einmal eingeschlafen war. Das Telefonat demnach nichts als ein Wunschtraum, im Halbschlaf vorgegaukelt – doch es fühlte sich so real an! –, so real, dass er augenblicklich das Anrufprotokoll überprüfte. Auch die Tatsache, dass er keinen eingegangenen Anruf in der Historie vorfand, vermochte ihn nicht vom Gegenteil zu überzeugen. Nach wie vor bestand für ihn die Möglichkeit, dass der Anruf dennoch real, auf einer tieferen, unterbewussten Ebene, stattgefunden hatte – als hätte die Stimme seiner Schwester aus einer anderen, jenseitigen Sphäre mit ihm Kontakt aufzunehmen versucht. Was hatte sie mir nur sagen wollen? Wach auf! Etwas Wichtiges habe ich vergessen, hab es irgendwo im Halbschlaf verloren. Etwas muss ich noch erledigen, bevor die Welt untergeht, bevor die große Dunkelheit über uns alle hereinbricht.     »Verflucht!«, warf er einen erneuten Blick aufs Display. Die Zeit des morgendlichen Herumtrödelns war mit einem Schlag vertan. ›Why work so hard, when you could just be free?‹,spukte ihm ein Liedtext durch den Kopf. »Warum überhaupt noch zur Arbeit gehen, wenn doch ohnehin bald alles vorbei ist?«     »Das Signal, denk an das Signal!«, flüsterte es am Fußende seines Betts. Ein herrliches Nachtlicht, das, wie aus dem Nichts, in sein finsteres Zimmer einfiel.      »Mondschnee!«

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›Why work so hard, when you could just be free?‹, hastete Ava summend in die morgendliche S-Bahn, quetschte sich in letzter Sekunde durch die sich schließenden Türen. Da saß er nun in seinem Zug, blickte aus dem Fenster, während er schweren Herzens all die Fahrten der Vergangenheit und die damit verbundene Lebenszeit rekapitulierte: Das Fahren in der S-Bahn durch die Morgendämmerung der Großstadt, der Weg zur Arbeit, so alltäglich, so gewöhnlich – hätte nie gedacht, dass mir das einmal fehlen würde! All die Musik, die ich in diesen herrlichen Stunden des gemeinschaftlichen Alleinseins hörte, all die alternativen Heimwege, auf denen ich die Routine durchbrach. Hätte ich viel häufiger tun sollen, die Routine durchbrechen. Es gibt auf dieser Welt so viel zu entdecken, und ich habe so lange Zeit so wenig daran teilgenommen.      Ava wandte seinen Blick vom Fenster ab und sah sich in der ungewohnt leeren S-Bahn um. All die unbekannten Menschen auf ihrem allmorgendlichen Weg zur Arbeit – und er wurdezusehends melancholisch. – Alles war so lebendig, immer in Bewegung. Die Stadt, ein eigener Kosmos, ein verlässliches Uhrwerk. Ich hätte nie gedacht, dass selbst der routinierte Arbeitsalltag, den ich so oft verflucht hatte, einmal als süße Sehnsucht der Vergangenheit angehören würde. Hätte mir nie vorstellen können, dass dieser lebendige Kreislauf einmal zum Stillstand kommen würde, dass er tatsächlich enden würde und das noch zu meinen Lebzeiten. Immer hatte ich mir gewünscht, dass etwas passieren würde, etwas Großes, Sensationelles. Und jetzt, wo es wahrhaftig eintritt – viel größer und sensationeller, als alles, was ich mir je hätte träumen lassen –, will ich es einfach nicht glauben.

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»Kaum noch jemand auf Arbeit. Klopf, klopf, der Weltuntergang steht vor der Tür!«, murmelte Ava, als er die elektronisch gesicherte Eingangspforte des Großraumbüros öffnete, jene Pforte, durch die er in den letzten Jahren seines Lebens beinahe täglich hindurchgeschritten war. Vor ihm die ausgetretene Fußmatte mit der ausgefransten Lücke, auf die er tagein, tagaus seinen passgenauen Schuh zu setzen pflegte.   Das ist er also, der Arbeitsplatz, an dem ich meinen Lebensabend verbringen werde. Damals nur als temporäre Lösung angedacht, bin ich doch bis zum Schluss geblieben. Scheußlicher Schinderverein! Eigenartig, kommt mir vor, als hätte ich den Moment schon einmal erlebt, genau diesen Gedanken. Nur in einem anderen Beruf, als Datenerfasser – Datenerfasser? – unter einer blutroten Sonne! – Und mit einem Schlag sah sich Ava einem roten Licht ausgeliefert, das die gesamte Büroetage wie durch eine blutgetränkte Sonnenbrille verdunkelte. Ein Blick in ein anderes Leben? Eine Verbindung zum bevorstehenden Weltuntergang?     Zu jener Zeit musste ihm dieser Gedanke schon einmal – Wort für Wort – durch den Kopf gegeistert sein, spiegelverkehrt, von der gegenüberliegenden Seite aus: ›Kaum noch jemand auf Arbeit. Klopf, klopf, der Weltuntergang steht vor der Tür!‹ – Demnach hatte er auch dieses ›einmalige Ereignis‹ schon einmal durchgemacht. Sollte ich tatsächlich einen Weltuntergang miterlebt haben? Unwahrscheinlich, andererseits: Alles ist irgendwann schon mal dagewesen! Als wär’s gerade erst passiert, obwohl Millionen Jahre dazwischenliegen, wohl eher Milliarden!     Ava sah sich im Geiste an seinen früheren Arbeitsplatz versetzt. Das Licht an diesem Ort, dieses schwere, dunkelrote Licht, bedrückt mich, schnürt mir die Kehle zu. Doch es ist nicht die Büroeinrichtung, keine der Lampen, sondern das Außenlicht. Der Himmel selbst erstrahlt in diesen blutgetränkten Farben.    Schwankend stolperte Ava zum Fenster des rotstichigen Büros und verlor sich in dunkelroten Wolkenfronten, die geradewegs auf die Fensterfront zusteuerten. Wohin er auch sah, nichts als rote Wolken, ein blutgetränktes Wattemeer, als wäre dieses Bürogebäude die letzte Zuflucht, die noch unversehrt durchs Himmelszelt trieb.     Ava riss die Augen auf – alles grau! – Das rote Himmelszelt war einem tristen Ausblick auf die Mauern des ehemaligen Gewerbehofs gewichen – grau in grau!     Den Rechner hochgefahren, die nötigen Programme gestartet, verfiel er bald in seinen routinierten Trott: Tätigkeiten, an die er keinen Gedanken zu verschwenden brauchte; die Eingabe von Passwörtern, die er derart häufig eingetippt hatte, dass er nicht mehr wusste, wie sie eigentlich lauteten – seine Finger tippten die Reihenfolge der Zahlen und Buchstaben im Schlaf. Nur wenn er bewusst darüber nachdachte, geriet er ins Stocken. Arbeiten, immer nur arbeiten! Den ganzen Tag im Büro gefangen sein, tagelang, wochenlang, monatelang, jahrelang, und irgendwann ist das Leben dann vorbei, oft früher, als man denkt. Man sollte am Tag nicht mehr Stunden arbeiten, als man nachts schläft, ein einfacher Grundsatz. Kaum hatte er über seinen gestörten Schlaf nachgegrübelt, brach überraschend Dunkelheit hinter den Fenstern des Großraumbüros herein – eben noch trübes Tageslicht, im nächsten Augenblick tiefste Nacht.  Die Zeit rennt mir davon!»Es sind Schulferien, deshalb übernimmst du die Nachtschicht von null bis acht Uhr dreißig!«, hatte sich sein Vorgesetzter unbemerkte an ihn herangeschlichen. Akim war eine der wenigen Personen, die sich in dem leergefegten Großraumbüro noch antreffen ließen – einer, der auf den ersten Blick ruhig und sachlich wirkt, im Härtefall, wenn sich genügend Frust angestaut hat, aber auch ganz schnell explodieren kann.     »Der historische letzte Gehaltsscheck!«, legte er einen Brief neben Avas Tastatur. Und mit einem leichten Grinsen, das nur schwerlich die kapitulierende Verzweiflung in seiner Stimme zu überdecken vermochte: »Falls die Prognosen stimmen!« Ava den Rücken zugewandt, blickte er aus dem Fenster, zum unwirklichen Nachthimmel am Vormittag. »Gibt immer noch Expertenmeinungen, die berechnet haben wollen, dass der Asteroid an der Erde vorbeirast. Aber was soll man diesen kaputten Medien überhaupt noch glauben!«     »Wird der letzte Gehaltscheck sein, bin ich mir ziemlich sicher!«, antwortete Ava mit gefasster Ruhe. »Du, sag mal, eine andere Sache: Ich hab Nachtschicht vom Sonntag auf den Montag, soll aber am Montag gleich wieder ab neun Uhr dreißig loslegen. Da kann doch was mit der Planung nicht stimmen. Da hab ich ja zwischen beiden Schichten nur eine Stunde frei!«     »Und dann hättest du siebzehn Stunden durchgearbeitet«, schlussfolgerte Akim kopfschüttelnd und starrte übernächtigt zu einem kleinen, schwarzgrünen Frosch, der wie ein Trugbild unter Avas Tisch hüpfte und in einer dunklen Ecke verschwand. »Du weißt doch, wie chaotisch hier alles zugeht«, wandte er sich wieder Ava zu. »Letztlich liegt es bei dir, ganz allein bei dir. Ich für meinen Teil bin froh, dass ich die Arbeit hier noch habe. Hält mich vom Nachdenken ab! Gerade jetzt erlebst du hier die ergreifendsten Schicksale, die rührendsten Menschen, die anrufen und noch schnell einen letzten Kurier bestellen wollen. Aber ich kann dich natürlich zu nichts zwingen, letztlich musst du das mit dir allein ausmachen.«Akim ging weiter, ohne Ava eines weiteren Blicks zu würdigen. Unter den Tischen nachschauend ließ sich der Frosch nirgendwo aufspüren. Was blieb, war die quälende Ungewissheit.     Die Augen auf Akims Hinterkopf gerichtet, wurde Ava schwermütig: Ich werde ihm nie wieder in die Augen sehen!    »Du brauchst diese Arbeit nicht zu verrichten!«, schnurrte Mondschnee mit durchdringender Ruhe vom unbesetzten Nachbarstuhl. »Nimm nichts von deiner Arbeit mit nach Hause! Sehr bald wird dies alles hinfällig sein, nichts wird mehr übrig bleiben. Das hier ist Zeitverschwendung! Versuch, dich auf das Wesentliche zu konzentrieren!«

Julfest

Schreckhaft erwachte Ava in seinem Bett, wieder einmal. Ist es jetzt so weit? Ist die Zeit gekommen? schoss er in die Höhe, wie an jedem Morgen, seit die Endphase eingeläutet worden war. Im Traum sah er sich in eine endlose Tiefe stürzen. Oft glaubte er, dass es bereits geschehen wäre und dass er nur noch vom Fortbestehen seiner Welt träumen würde, dazu verdammt, orientierungslos in diesem Traum umherzuirren. Und alles ist heute so unwirklich, dass es keine Rolle mehr spielt, ob ich wach bin oder träume!      Mühsam trat er die verdrehten Laken beiseite und stand auf. Da bin ich nun also, allein in meiner Wohnung, in der fernen großen Stadt, weit entfernt von meiner Familie.      Die Dämmernacht warf ihr schwaches Zwielicht in den Raum, früh am Morgen war es nur der Uhrzeit nach. Seltsamerweise fand er sich in seiner kleinen Studentenbehausung wieder, obwohl er diese schon seit Jahren nicht mehr bewohnte. Eigenartig, hätte schwören können, dass ich aus dem Wohnheim vor Jahren ausgezogen bin!    Doch die vermeintliche Studentenwohnung hatte sich verändert – und sie veränderte sich weiter. Auf den ersten Blick ließ sich nichts Außergewöhnliches feststellen. Alles leuchtete in einem mitternächtlich kühlen Blaustich, lediglich ein schwaches Nachtischlämpchen bemühte sich kläglich, das Zimmer zu erwärmen. Als sich Ava genauer in dem kleinen Raum und seinen dunklen Ecken umsah, entdeckte er einen versteckten zusätzlichen Raum hinter den Zwischenwänden, einen Raum, der dort nicht hingehörte. Merkwürdigerweise erstreckte sich der Durchgang unmittelbar hinter seinem Bettgestell, auf Höhe seines Bauchnabels – wohl für kleine Kinder gemacht!    Über drei versteckte Stolperstufen stieg er in den befremdlich tiefen Raum hinab. Eigenartig, ist mir in all den Jahren nie aufgefallen. Nein, da war kein zusätzlicher Raum! Und dann auch noch diese irrsinnige Anordnung, ausgerechnet in der dunklen Ecke hinterm Bett. Kommt mir vor wie in der Moor-Videothek! Er hielt inne und begann sich über seine eigenen Gedanken zu wundern. »Wie in der Moor-Videothek?«    Unruhig inspizierte er die länglich schmale Abstellkammer. Kaltes Mondlicht fiel durch ein winziges Bullauge an der schrägen Zimmerdecke ein. Von einem Ende zum gegenüberliegenden tastete Ava die Wände des bedrückend engen, spitzen Winkels ab, um sich seiner tatsächlichen Existenz gewahr zu werden. Heute ist Heiligabend! realisierte er beiläufig. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich an diesem Tag ganz allein, nur ich und die leere Wohnung im blauen Mondschein! Erschwerend kam hinzu, dass dies nicht irgendein Weihnachtsfest war, auf das er in einigen Jahren nostalgisch verklärt zurückblicken würde. Nein, dies sollte für ihn – wie für alle anderen Menschen auf der Erde – das letzte Weihnachten sein.  Ich bin wie ein Geist durch mein eigenes Leben gerast, zog er ernüchternd Bilanz, und sein Herz wurde schwer. Das erdrückende Gewicht des letzten Weihnachtsabends ließ ihn in altbekannter Melancholie versinken. Wieder trauerte er seinen verstrichenen Jahren hinterher, all den nicht wahrgenommenen Möglichkeiten, verflossenen Beziehungen, Freundschaften und natürlich der Tatsache, dass er das Verschwinden seiner Schwester nie hatte aufklären können. Oh, wie hatte er versagt, in allen Punkten versagt.    »Es ist Weihnachten, frag dich lieber, was du hier machst!«, hockte Mondschnee schauerlich auf dem finsteren Sofa. Das blaue Mondlicht fiel auf sein leuchtend weißes Fell und vernebelte seine Umrisse – der letzte Freund, der mir noch geblieben ist!     »Aber ich muss doch auf das Haus aufpassen!«, rechtfertigte sich Ava kleinlaut. Auf das Haus aufpassen? Was soll das bedeuten?    »Für wen? Du bist niemandem mehr verpflichtet! Sie halten dich zum Narren! Auf das Haus aufpassen, wenn die Erde untergeht!«      Da ging Ava ein Licht auf und automatisch setzten sich seine Beine in Bewegung. Er stieß einen überfüllten Wäschekorb beiseite, um dahinter eine versteckte, ungeheuer steile Wendeltreppe hinabzusteigen. Wie sonderbar, diese ach so beengte Studentenwohnung, nach all den Jahren, als derart verschachtelt vorzufinden. An jeder Eckeverbargen sich nunmehr verzweigte Korridore zu Räumen, die in andere, unbekannte Wohnbereiche führten. Hinter jedem Sofa und jedem Schrank schienen sich weitere Durchgänge zu verbergen. So viele Räume, die sich hier erkunden lassen, von Zwischenwand zu Zwischenwand, vom Kleiderschrank bis unters Bett. Was für eine seltsame architektonische Bauweise, die das Gebäude von innen um ein Vielfaches größer erscheinen lässt! Doch die Einsamkeit in diesen Gemäuern bleibt bestehen, und je weiter sich alles ausdehnt, desto größer wird sie.     In einer der unteren Etagen angelangt, realisierte Ava, dass es sich nicht mehr nur um eine bloße Wohnung oder ein gewöhnliches Haus handelte, sondern vielmehr um einen gewaltigen Gebäudekomplex, der sogar noch größer war als seine damalige Schule – ein irrwitzig majestätisches Herrenhaus, auf das er wohl über die Feiertage aufzupassen hatte. Das Alter verlieh dem angestaubten Gemäuer eine derartige Schwere, dass sich Avas ohnehin stark angeschlagener Gemütszustand bis zur Unerträglichkeit verschlimmerte – Räume voll angestauter, negativer Energien, die über Jahrhunderte hinweg in den Mauern konserviert worden waren. Der Mief drängte Ava zu den Fenstern, drängte ihn dazu, einfach hinauszuspringen – und wenn ich mir das Genick breche, spielt doch alles keine Rolle mehr!     Tief durchatmend blickte er aus einem der hohen, spitzen Giebelfenster, das eher an die Stummfilmkulisse deutscher Expressionismuswerke erinnerte. Die Nacht lag über der Stadt. Und darüber, erschreckend nah, der angestrahlte Asteroid. Wie ein vollgesogener Parasit schwebt er über den Dächern.Ein unnatürliches, bösartig schadenfrohes Auge, das die gesamte Welt ins Visier seines Spotts genommen hat.      Langsam senkte Ava den Blick. Im Wohnhaus gegenüber brannte noch Licht. Hinter einem der Fenster erstreckte sich eine finstere Silhouette mit langen schwarzen Haaren. Je länger Ava hinübersah, desto deutlicher realisierte er, dass ihn diese Gestalt gleichsam in Augenschein nahm.     Trotz der Entfernung wandte sich Ava erschrocken ab. Doch seine Neugier gewann die Oberhand. Als er erneut nach draußen sah, war das Licht in der gegenüberliegenden Wohnung erloschen. Stattdessen brannte Licht in einer schräg dahinterliegenden Mietskaserne. Auch dort zeichneten sich silhouettenhafte Umrisse einer Gestalt hinter den Gardinen ab. Vermutlich bloß eine Puppe mit langen, spitzen Ohren, wandte sich Ava vom Fenster ab und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem merkwürdig verschachtelten Anwesen. Hab schon einmal in diesem Haus gewohnt, vor langer Zeit. Aber nicht als ich studierte, nein, das muss noch früher gewesen sein, viel früher. Vielleicht sogar … Nein, solche Gedanken sind gefährlich! Es ist eine schwere Last, die in den alten Mauern steckt. Warum fühle ich mich diesem Gemäuer gegenüber nur derart verpflichtet? Wer zwingt mich dazu, weiterhin hierzubleiben?    »Niemand zwingt dich! Es gibt keinerlei Verpflichtungen, die es rechtfertigen würden, deinen Lebensabend hier zu verbringen! Der Weltuntergang steht über die Feiertage vor der Tür und du bist hier ganz allein! Du solltest endlich aufbrechen, zu deiner Familie, der einzigen, die du hast!«     Mit einem Aufschrei im Innern eilte Ava durch die verschachtelten Korridore in Richtung Freiheit. Er schlug nicht den Weg ein, den er gekommen war, vielmehr die Richtung, die ihm sein innerer Kompass wies. Dem Geheiß des Katers folgend machte er sich auf zum Hauptbahnhof. Seit langem hatte er wieder ein klares Ziel vor Augen, doch Hoffnung war gefährlich in diesen Tagen. »Ob überhaupt noch Züge fahren?«     »Ja, aber du musst dich beeilen! In einer halben Stunde fährt der letzte Mitternachtszug!Doch bei allem, was du tust, behalte stets deine wichtigste Aufgabe im Hinterkopf: das Signal! Du wirst dich um das Signal kümmern müssen!«     Nervös suchte Ava seine Sachen im Haus zusammen, ohne auf die Worte des gespenstischen Freundes zu reagieren. So aufgescheucht er auch umherhetzte, ließen ihn seine Füße doch nicht von der Stelle treten. Bei all dem Zeitdruck, der ihn so plötzlich befiel, wollte es ihm nicht gelingen, das labyrinthische Gemäuer endlich zu verlassen.     »Raus hier!«, knurrte der Kater, erstmals feindselig fauchend, und versetzte ihm den nötigen Anstoß.      Ava ließ alles stehen und liegen, seine Siebensachen fielen zu Boden. Ohne einen weiteren Blick zurückzuwerfen, raste er ins nächstgelegene Treppenhaus, die Stufen hinunter und dann schnurstracks nach draußen.      Der kleine Kater blieb allein in dem einsamen Gemäuer zurück und machte es sich auf dem Sofa bequem. Lediglich das Mondlicht schien ihm jetzt noch Gesellschaft zu leisten. Kaum hatte Ava die Haustür hinter sich ins Schloss krachen lassen, trat die finstere Silhouettengestalt mit den langen schwarzen Haaren vom gegenüberliegenden Gebäude zum offen stehenden Fenster hinüber, als wär’s ein Katzensprung. »Wieder hier!«, hauchte eine weiblich warme Stimme, durch das lange, dichte Haar vor ihrem Gesicht. Ihre dunkle Mähne glänzte feucht im Mondlicht und fiel auf ihr weites, weißes Shirt, das beinahe aussah wie ein Krankenhausnachthemd. »Du wolltest nie wieder Mensch werden, nach allem, was sie dir angetan haben. Ich bin sehr stolz auf dich!«, lächelte die große, finstere Frau gerührt und setzte sich zu Mondschnee aufs Sofa. »Du bist doch noch immer mein lieber, kleiner Junge!«

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Schnellen Schrittes hastete Ava durch die Nacht, über weite Straßen hinweg, die wie ausgestorben vor ihm lagen. Er musste sich beeilen, wollte er den letzten Mitternachtszug Richtung Heimat noch erwischen. Nach Hause! Bei meiner Familie sein, wenn es passiert! Das ist alles, worauf es jetzt noch ankommt. Zuhause ist da, wo das Herz ist. All die Meinungsverschiedenheiten, all der Streit der vergangenen Jahre, das böse Blut, nichts ist jetzt noch von Bedeutung.    Obgleich das Verhältnis zu seinen Eltern nach der Sache mit seiner Schwester lange Zeit äußerst angespannt geblieben war, schlug er doch gerade in den vergangenen Monaten der Endphase wieder versöhnlichere Töne an und besann sich auf die schönen Kindheitsmomente vor Lissies Verschwinden. Lange Zeit wusste er nicht, wie er auf seine Eltern zugehen sollte. Lange Zeit war da eine unsichtbare Wand, eine unüberwindbare Barriere, die ihn um viele kostbare Jahre des glücklichen Zusammenseins mit seinen Eltern berauben sollte. Schlussendlich musste erst die Welt untergehen, bis es ihm gelang, über seinen Schatten zu springen. Nun wünschte er sich nichts sehnlicher, als bei ihnen zu sein, mit ihnen gemütlich vorm Fernseher zu sitzen, wenn es geschah – wie in den guten alten Zeiten!     Ganz gleich, was ihn da draußen auch erwartete, er war sich sicher, dass sein Weg nicht einfach werden würde. Viele der anderen armen Teufel würde es ebenfalls zu ihren Lieben ziehen, vermutlich viel zu viele. Und dies war der letzte Zug, der letzte, der überhaupt noch verkehrte. Er würde sich durchkämpfen müssen. Doch zunächst musste er den Bahnhof überhaupt erst erreichen, verblieben ihm doch nicht einmal mehr siebenundzwanzig Minuten bis zur Abfahrt.     Vor ihm erstreckte sich eine gotische Brücke, daneben führte ein steiler Pfad hinab zu den verwilderten Parkanlagen – nicht ungefährlich, doch der kürzeste Weg! Abseits der Straße wurde es bald derart finster, dass er die eigene Hand vor Augen nicht erkannte. Der Vollmond und der noch heller leuchtende Asteroid verbargen sich hinter einem Geflecht aus Blättern, Zweigen und einer undurchdringlichen Wolkendecke. Blindlings stolperte Ava durch schlammige Pfützen, hinein in wucherndes Strauchwerk.      »Oh, wie ich diesen Zeitdruck hasse!«, keuchte er außer Atem. Aus der Ferne wiesen ihm flackernde Laternen den Weg vom Park zu einer unbefahrenen Hauptverkehrsader. Einst rund um die Uhr befahren, erweckte sie nun den Eindruck, als wäre Ava der letzte noch verbliebene Mensch auf Erden.     An jeder Kreuzung, jedem Abzweig blickte er zur Uhr – die Zeit nie aus den Augen verlieren, sonst betrügt sie dich!    Trotz allem lag er erstaunlich gut im Rennen. Gerade einmal zehn Minuten waren seit seinem Lauf durch den Park verstrichen, doch es galt noch eine große Distanz in den verbleibenden vierzehn Minuten zu bewältigen.     Unterdessen überkam ihn die abergläubische Vorstellung, höhere Mächte, sogenannte ›Zeitdiebe‹, würden ihn um die verbliebenen Minuten prellen, immer dann, wenn er die Uhrzeit nicht im Auge behielt und sich von ihrem verzückenden Blendwerk ablenken ließ. Die Zeit nie aus den Augen verlieren, sonst betrügt sie dich!

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Atemlos erreichte Ava den Hauptbahnhof. Zu seiner großen Verwunderung glaubte er, die Bahnhofskulisse spiegelverkehrt vorzufinden. Merkwürdig, hätte schwören können, das Aufenthaltsgebäude stand auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise! beugte er sich keuchend nach vorn, die Hände auf den Knien abgestützt. Der Blick auf die gespiegelten Ziffernblätter der Bahnhofsuhr bestätigte seinen beunruhigenden Verdacht – ja, hier ist alles seitenverkehrt! Mit dieser Welt stimmt etwas nicht!     Laut dröhnend riss ihn das Signalgeräusch einer Lok aus seinen Gedanken. Der Zug stand zur Abfahrt bereit. Eilig stieg Ava ein, kurz bevor sich die Türen schlossen. Von einem Fensterplatz aus sah er hinaus zum gegenüberliegenden Bahngleis. Überraschenderweise stand dort noch ein zweiter Nachtzug zur Abfahrt bereit. Kann durch die Sichtbehinderung kaum was erkennen. Weit vorgebeugt erhaschte er einen flüchtigen Blick auf die gegenüberliegende Anzeigetafel und wurde kreidebleich: Er saß im falschen Zug!     »Das darf doch wohl nicht wahr sein! Das darf doch wohl einfach nicht wahr sein!« Wutentbrannt, doch mit weichen Knien, hastete er zu den verschlossenen Türen. »Noch steht er da! Noch steht er da! Ich muss hier raus! Muss hier raus!« Mit aller Gewalt stemmte er sich gegen die Türen, bohrte seine Fingerkuppen in die Gummiummantelung. Und tatsächlich gelang es ihm, einen schmalen Spalt zwischen sich und die Türen zu schaffen, sich schmerzlich durch ihren Würgegriff zu zwängen, als sich der falsche Zug bereits behäbig in Bewegung setzte.       Kaum befreit, steuerte Ava wie angestochen auf die Bahnhofsunterführung zu, befürchtete er doch, der Zug auf dem gegenüberliegenden Gleis würde sich gleichsam jeden Augenblick in Bewegung setzen. »Das Triebwerk wurde bereits angeworfen, hab doch da gerade was gehört! Das war’s! Nein, das schaffe ich nie!«      Kerzengrade blieb er stehen, sackte in sich zusammen und sprang wieder auf, geradewegs auf die Gleise. Durch seinen starren Tunnelblick eingeschränkt, zielte sein halsbrecherischer Sprung nur wenige Meter hinter dem davonfahrenden falschen Zug vorbei. Die Luftschleuse der Lok streifte seine Sprungrichtung, wodurch er das Gleichgewicht verlor, vornüberkippte und mit dem Luftzug auf die Gleise geschleudert wurde. Ein harter Sturz auf den Rücken, und er glaubte zu ersticken.     Da lag er nun, wenige Meter vor seinem Ziel entfernt, und sah sich doch außerstande, auch nur den kleinen Finger zu rühren. Bleibeschwert hielten ihn seine Glieder an den harten Untergrund aus Metall und Steinen gebunden. Nach all der Aufregung fand er erstmals die Zeit, tief durchzuatmen und sich auf die Geräuschkulisse seiner Umgebung zu konzentrieren. Im Hintergrund schallte leise ein Lied aus den Lautsprechern. Schon sehr bald wird jegliche Musik für immer verschwunden sein.    Der Song näherte sich seinem Ende. Es folgte ein Lied von Relija Yma, und mit diesem Lied all die persönlichen Erinnerungen, die Ava wie eine Explosion durchströmten – ein Defibrillator für meine erstarrte Seele!    Von den pulsierenden Klängen angetrieben, richtete er sich auf und stolperte über die Gleise. Nur wenige Meter trennten ihn von den Türen des letzten Beförderungsmittels. Der finale Zug rollte bereits, doch noch wollte sich Ava nicht geschlagen geben, noch griffen seine Hände nach den vorbeiziehenden Türen. Als hätte mir das Schicksal böswillig einen Köder hingeworfen, nur um mir diesen in letzter Sekunde wieder zu entreißen!     Ava setzte zum finalen Sprint an. Und tatsächlich gelang es ihm, einen Türvorsprung zu erreichen und seinen Körper an den fahrenden Zug zu heften. Der Fahrtwind peitschte ihm die Kleider um die Ohren und drückte ihn gleichsam an die Außenverkleidung, an der er verzweifelt nach Halt suchte.     Nach einigen hundert Metern kam ein Schaffner an seiner Tür vorbei, der ihm über eine manuelle Türverriegelung unverzüglich öffnete und ihn in den fahrenden Zug hievte.    »Na, na, was machen sie denn für Sachen?«, schimpfte der historisch Uniformierte kopfschüttelnd, mit erhobenem Zeigefinger.     »Bin auf dem Weg zu meinen Eltern«, schnaufte Ava. »Möchte an Heiligabend bei meiner Familie sein, noch dieses eine Mal.«     Der Schaffner sah Ava mit strenger Miene an. Musternd zwirbelte er mit Daumen und Zeigefingern an der linken Spitze seines Schnauzbarts, und hypnotisch quollen seine Augen hervor. Seine Erscheinung erinnerte Ava mehr und mehr an Salvador Dalí.     »Wünsche eine angenehme Fahrt!«, verbeugte sich der Schaffner– Dalí Doppelgänger – und ging weiter.

Eine Zugfahrt durch die Nacht

»Die Nacht aller Nächte!«, flüsterte Ava erschaudert, als er von seinem Fensterplatz aus Felder und Waldabschnitte an sich vorüberziehen sah. Aus der Dunkelheit heraus versuchte er, die vorbeihuschenden Straßenlaternen zu zählen. So belanglos sich diese unter normalen Umständen auch seiner Aufmerksamkeit entzogen hätten, nun fand er sie wunderschön, ihr warmes Licht geradezu magisch.     Eine attraktive Frau setzte sich ihm gegenüber. In Avas Augen sah sie leicht orientalisch aus, möglicherweise indischer Abstammung, doch genau vermochte er es nicht zu sagen. Sie hatte schwarze, kurze Haare und trug eine Brille mit teuer anmutendem Gestell. In den Händen hielt sie ein dickes Buch, dem sie ihre volle Aufmerksamkeit widmete. Ein straff anliegendes, schwarzes Halsband zierte ihren langen, schlanken Schwanenhals. Avas Blicke wanderten weiter zu ihrem gewagt kurzen Sommerkleid, das nur um Haaresbreite ihren strahlend weißen Slip bedeckte, der hin und wieder darunter zum Vorschein kam, wenn sie ihr langes Bein anhob und auf der Erhöhung unterm Fenster absetzte.  Diese geschmeidig glatte Haut, dachte Ava und wurde verlegen. Er versuchte, sich loszureißen, seinen Blick erneut aus dem Fenster schweifen zu lassen, doch die Nähe zu ihr erschien derart gering, dass er die ausgestrahlte Wärme ihrer Haut auf der seinen zu spüren glaubte.      Derart in ihr Buch versunken, setzte sie ihren Fuß erneut auf der Erhöhung unterm Fenster ab, sodass ihre weiße, provokant aufleuchtende Unterbekleidung in Avas Blickfeld stach. Oder ob sie mir damit ein Zeichen geben will? grübelte er. Der Weltuntergang steht kurz bevor und es gibt nichts mehr zu verlieren! In der Landschaft ihrer langen, glatten Beine versunken, bemerkte er erst viel zu spät, dass ihre Aufmerksamkeit von dem Buch in ihren Händen längst auf ihn übergesprungen war. Der Moment des Erkennens, diese peinliche Sekunde, in der beide Augenpaare aufeinandertrafen, ließ ihn vor Scham erröten. Blitzschnell wandte er seinen Blick von ihr ab und sah aus dem Fenster. Schon oft hatte er seine Schüchternheit im Nachhinein bitter bereut. So viele Gelegenheiten hatten sich in seinem Leben auf Zugfahrten ergeben, so viel Liebe auf den ersten Blick, stets zum Greifen nah. Doch nie war etwas geschehen, nie hatte er den Mut aufgebracht, diese letzte, unüberwindbare Hürde zu meistern.     Als die Frau zu Ava aufsah und seinen Blick bemerkte, zog sie mit einer Hand ihr kurzes Kleidchen straff, bis es ihre Unterwäsche knapp bedeckte. Kaum dass sie losließ und ihr unruhiges Bein anhob, verrutschte der Stoff von neuem.    Ava blickte im Sekundentakt zur Decke, von der Decke zum Fenster, vom Fenster wieder zur Decke und von der Decke zum weiß leuchtenden Drachenviereck, weiter raufzu ihren wunderschönen Mandelaugen. Er schlug verlegen das linke Bein über das rechte, kratzte sich an unterschiedlichen Stellen, zog mit der Oberlippe unfreiwillige Grimassen, den Blick vom Fenster zur Decke, auf die Flecken an der eigenen Hose, die er auffällig zu verdecken versuchte.    Während er sich krampfhaft zwang, die Frau zu ignorieren und stattdessen aus dem Fenster zu starren, bemerkte er im toten Winkel einen leichten Luftzug, mit dem die Fremde aufstand und sich einen anderen Platz am gegenüberliegenden Ende des Abteils suchte, so weit weg wie möglich von diesem versteiften, von nervösen Zwangsstörungen geplagten Freak.    Nach ihrem Verschwinden zog sich die Fahrt umso zähfließender in die Länge, obgleich der Schnellzug in schwindelerregendem Tempo durch die Nacht raste. Irgendwann verlor Ava das Zeitgefühl, als die immer gleichen, orange vernebelten Laternen – wie in einer Endlosschleife – am Fenster vorbeisausten.      Nach einer Weile – waren es zwei Stunden? Vier? Sechs? Acht? – realisierte er, dass die Zugfahrt sehr viel länger dauerte, als er gewöhnlich für diese Strecke benötigte. Ein beunruhigender Fiepton begleitete das mulmige Gefühl in seiner Magengegend, unhörbar und doch allgegenwärtig. Die Fahrt hätte lediglich anderthalb Stunden dauern sollen, doch stattdessen musste er inzwischen die drei- bis vierfache Zeit abgesessen haben. Steckte dieser Zug in einer Schleife fest, dazu verdammt, auf einem sich ständig wiederholenden Abschnitt stets an denselben Laternen vorbeizuziehen?     »Das stimmt doch was nicht!« – Was, wenn die Welt inzwischen wirklich untergegangen ist? – »Nein, das kann unmöglich real sein, der Zug steckt in einer Schleife fest!«Er wippte auf seinem Sitz vor und zurück und blickte sich nervös um, als suchte er nach einer Bezugsperson, die ihm Rede und Antwort stehen könnte.     Wie unter Strom sprang er von seinem Sitzplatz auf und hastete von Waggon zu Waggon, stolperte ungeschickt durch einen Speisewagen, weiter durch einen Schlafwagen, bis er irgendwann in einem Waggon mit gestapelten Tierkäfigen ankam. Darunter hauptsächlich Käfige, in denen die verschiedensten Katzen ihr trostloses Dasein fristeten: rote Katzen, graue, schwarze, sogar eine violette war dabei.      Dahinter, ganz versteckt, ein separat abgetrennter Wagen mit einem großen, luxuriösen Whirlpool. Die angenehm blaue Neonbeleuchtung des Pools bot die einzige Lichtquelle des gesamten Abteils. Die Wellen tänzelten wie eine projizierte Lichtshow über die gewölbte Deckenverkleidung.     »Jennifer?«, zog Ava ungläubig die Augenbrauen zusammen, als er im warmen Blubberwasser seine große Jugendliebe vor sich hin planschen sah. In all den Jahren schien sie kein Stück gealtert zu sein. Ihre Erscheinung mutete derart unwirklich an, und doch blieb sie ihm auch auf den zweiten, dritten Blick erhalten.     »Na, wie ist das Wasser?«, stammelte er schüchtern und wandte sich ab, noch immer verlegen von der vorangegangenen Blamage. Scheinbar versuchte ihm das Schicksal erneut in die Karten zu spielen. Die Frage war nur, was er daraus machen würde.     In Zeitlupe schleuderte Jennifer ihre nasse Mähne über ihren Kopf und ließ sie auf ihren Rücken klatschen. »Oh, das ist herrlich! Komm doch auch rein! Komm schon, probier’s aus!«,lächeltesie ihm verführerisch zu.     Zögerlich entkleidete sich Ava bis auf seinen eingerissenen Schlüpfer, den er krampfhaft mit den Armen zu verdecken versuchte. Mit kurzen, geschwind tippelnden Schritten gesellteer sich zu Jennifer in das warme Wasser. Die Wärme zog augenblicklich durch seinen Körper, bis hoch zur Kopfhaut. »Ah, das tut gut!«, ließ er sich stöhnend in seiner Ecke nieder.      Beiläufig warf er einen Blick aus einem der nahegelegenen Fenster. »Draußen ist alles dunkel! Ich sehe weder den Mond noch den Asteroiden am Himmel! Herrje, da draußen ist rein gar nichts!«     Jennifer zwinkerte flirtend in seine Richtung, griff zwei Champagnergläser und schwamm auf ihn zu.      »Hier, lass es dir gut gehen!«, hauchte sie ihm sanft ins Ohr, während sie mit ihrer untergetauchten Brust beiläufig über seinen Bauch hinwegstreifte.     Die beiden prosteten einander zu und blickten sich lächelnd in die Augen. Ava starrte tief in ihre Pupillen und zuckte zurück. Ihre Augen hatten nichts von einem Traum, ihre Augen sahen erschreckend real aus.     »Du wunderst dich, warum ich hier bin«, beugte sie sich vor und wollte gerade zur Antwort ausholen, als ihr Blick auf etwas gelenkt wurde, was sich hinter Avas Rücken abspielte. »Oh mein Gott! Oh mein Gott!«, brach sie abrupt aus dem Techtelmechtel aus. Und ihre Augen wurden groß.     Noch bevor Ava aus dem Fenster sehen konnte, spürte er, dass sich ihm die Sitzfläche unter seinem Gesäß entgegendrückte, dass der Zug wie ein startendes Flugzeug vom Boden abhob. Der Winkel, in dem der Waggon aufstieg, kippte, bis sie sich in einer steilen Schräglage befanden.     Der Blick aus dem Fenster bestätigte sein ungutes Gefühl: Der Zug war tatsächlich in die Lüfte emporgestiegen und hatte bereits die oberen Baumkronen eines bewaldeten Berghangs überschritten. Behäbig manövrierte er sich gen Himmel, bis auch der letzte Waggon dem festen Untergrund der Gleise entstiegen war. Bald darauf beschleunigte er und setzte zum furchterregenden Flug Richtung Mond an. In schwindelerregendem Tempo stiegen sie höher, durch Wolken hindurch und bald gänzlich über das Wolkenmeer hinweg.     Jennifer und Ava pressten ihre Gesichter fest an die Scheibe. Das Herz rutschte in die Hose, als sie zu den hinteren Waggons der fliegenden Lok blickten, die sich wie ein losgelöster Drache durch die Wolken schlängelte.     In kurzer Zeit hatte sich die Atmosphäre verflüchtigt. Das Weltall erstreckte sich vor ihren fassungslosen Augen, vereinnahmte ihr Blickfeld. Schwerelos stiegen ihre Körper mit dem Wasser auf und schlitterten über die seitwärts kippenden Scheiben hinweg.     Im Orbit ließ sich ein metallisch funkelndes Gebilde ausmachen, das von der Lok zielgerichtet angesteuert wurde. Je näher sie kamen, desto deutlicher entpuppte sich dieses Gebilde als eine gigantische Raumstation.      Der schwebende Zug scherte zum riskanten Andockmanöver aus. Mit äußerster Vorsicht näherte er sich einer Luftschleuse, gegen die er mit umso heftigerem Scheppern anstieß.

S-CAT AT K

»Da seid ihr ja endlich! Ihr seid verdammt spät dran!«, empfing sie ein junger Mann, als sich die Luftschleuse der Dekompressionskammer behäbig öffnete. Er holte tief Luft, doch augenblicklich verschlug es ihm die Sprache, als er ihre nackten, lediglich vom Schaum bedeckten Leiber erblickte. Verlegen wandte er sich zur Seite.     Ava und Jennifer warfen sich verdutzte Blicke zu. Krampfhaft darum bemüht, sich mit dem zusehends zerfließenden Schaum zu verhüllen, folgten sie dem jungen Mann durch die Einstiegsluke ins Innere der Raumstation. Kalte Metallgitter kitzelten unangenehm unter ihren blanken Fußsohlen. Winzige Würmer huschten hier und da durch die Gitter, einer stach mit seinem stacheligen Ende in Jennifers Knöchel. »Aua!«, fuhr sie auf und konnte den Übeltäter, der sie soeben gestochen hatte, doch nirgendwo ausmachen.     »Ja, sie sind beide hier! Ja … gut … ich bringe sie jetzt rüber!«, gab der junge Mann über sein Headset durch und hinterließ eine entsprechende Notiz auf seinem Klemmbrett.    Jennifer zog aufgeregt an Avas Arm und ließ sich mit ihm zurückfallen. »Findest du’s nicht auch seltsam, dass hier Dreharbeiten auf einer realen Raumstation stattfinden, während da draußen die Welt untergeht?«, flüsterte sie Ava zu und blickte sich misstrauisch nach dem jungen Aufnahmeleiter um.     »Das ist alles viel zu unwirklich!«, entgegnete Ava in demselben konspirativen Flüsterton und vermochte seine Faszination doch nicht zu verbergen. »Und doch kommt mir diese Station so vertraut vor,als ob ich hier früher schon mal gewesen wäre?«     Von den eigenen Gedanken aufgeschreckt erinnerte er sich an die außerirdische Geschwulst, die ihm einst die Schwester zu entreißen versucht hatte, an die Nacht, in der er mit Lissie durch die Siedlung geflohen war, als der Fremdkörper über den Dächern gekreist und unermüdlich jeden Winkel nach ihrer kindlichen Existenz abgesucht hatte. Zumindest glich dieses Filmset haargenau dem Inneren des Schiffs, das er in frühkindlichen Fieberträumen oft durchwandern musste.     Im selben Augenblick huschte ein gewaltiger Schatten durch die Halle, an den Kameras und Studioscheinwerfern vorbei. Eine vereinnahmende Dunkelheit durchzog die gesamte Station, gefolgt von stroboskopartigem Flackerlicht, schmerzend intensiv, wie fortwährende Stromschläge.     »Was war das?«, riefen Jen und Ava synchron. Zögerlich folgten sie dem Aufnahmeleiter in Richtung des unheimlichen Schattenspiels.     Nach einigen Metern blieb der junge Mann abrupt stehen und lehnte sich über ein Geländer. »Mal herhören!«, röhrte er lauthals in die Halle, woraufhin sich ein Team von vierunddreißig Mitarbeitern um ihn versammelte. »Der Regisseur und die weibliche Hauptdarstellerin sind jetzt da! Das heißt, alle wieder auf ihre Positionen! Alles so weit einrichten, wie besprochen! Wir können dann in Kürze mit der fünften Szene beginnen. Traum vom Asteroiden, Arbeitsplatz, das Herrenhaus und die Bahnfahrt sind bereits im Kasten!«     Ehe sich’s Ava versah, machten sich zwei Frauen an Jennifer zu schaffen, schminkten sie auffällig und pappten den Schaum zurück auf die zu verhüllenden Stellen. Jennifer blickte ebenso verwundert zu Ava, während sie von den beiden zu einer Bodenmarkierung geschubst wurde.      »So Mädel, da bleibst du jetzt stehen!«, befahl eine der Frauen in barschem Befehlston, Jennifers Mähne lieblos ruppig und auf die Schnelle stylend.     »Aua!«, beschwerte sich die Hauptdarstellerin mit vorwurfsvollem Blick zum Regisseur.    »Bleib da stehen und rühr dich nicht vom Fleck!«, zog sich die Stylistin zurück. »Und pass auf, dass dir der Schaum nicht wegflattert!«      Der Aufnahmeleiter wandte sich an Ava. »So now it’s up to you! Dann zeig mal, wie’s weitergeht mit deinem Wunderwerk!«, flüsterte er unüberhörbar schadenfroh.     »Alles klar, legen wir also los!«, klatschte Ava voller Tatendrang in die Hände, laut und weit ausholend, als hätte er tatsächlich einen Plan.  Mit überzogen großer Geste brüllte er durch die Halle: »Ich habe einen gewissen Anspruch an dieses Projekt und ich fordere hundertzehn Prozent von jedem von euch!«, hörte er sich selbst von außen beim Reden zu. So spontan er in die Rolle des Regisseurs geschlüpft war, so unbeschwert gelang es ihm, diese mit Leben zu füllen. – Als hätte ich nie was anderes gemacht! Im Traum erbaut der Architekt eine ganze Welt in Echtzeit!    »Wir werden hier den vielleicht gruseligsten CAT AT K-Film aller Zeiten drehen, das muss jedem von euch bewusst sein, ziemlich starker Tobak!« Die Worte wanderten wie automatisch über seine Lippen, nur der Inhalt war ihm ein Rätsel. Peinlich berührt bemerkte er, wie sein langes Schweigen die Mitarbeiter zunehmend verunsicherte, wie der Schaum in seinem Schritt verräterisch abtropfte. »Wie gesagt, ich verlange von jedem von euch die totale Hingabe zu diesem Film! Da unter uns die Welt gerade gute Nacht sagt, dürfte wohl auch niemand was Besseres vorhaben, oder?« Ein schwaches Gelächter ging durch die Runde und der Witz erstickte.     Grinsend wandte sich Ava an seine Hauptdarstellerin, die ihren Schaum gerade an den unmöglichsten Stellen zurechtschob. »Und du kommst klar? Hast du ein Bild der Situation vor Augen?«, fragte er die große Jugendliebe und wechselte wie auf Knopfdruck in seine schüchterne Tonlage zurück.     »Muss ich wirklich die ganze Zeit über so rumlaufen?«, blickte sie kopfschüttelnd auf ihren Körper, sammelte den Schaum auf ihrem Bauch zusammen und schob ihn in ihren Schritt.     »Ich brauche dich so ungeschützt und verwundbar wie möglich! Das dürfte dir auch bei deiner zu verkörpernden Angst helfen!«     »Apropos Angst: Bin mal gespannt, was du mir da für einen Filmpartner ausgesucht hast«, lächelte Jennifer sichtlich aufgeregt. Offensichtlich fühlte sie sich äußerst unwohl in ihrer Haut und ließ das Tamtam nur aus dem einen Grund über sich ergehen, um Ava einen Gefallen zu tun.     Ihm verschaffte es hingegen große Genugtuung, mit diesem Projekt seiner Jugendliebe zu ihrem langersehnten Durchbruch zu verhelfen, auch wenn es bald schon keine Welt zum Berühmtwerden mehr geben würde.     Mit einem lauten Rumpeln wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Wieder huschte ein gewaltiger Schatten durch die Halle und jagte allen unvermittelt einen eisigen Schauer über den Rücken. Begleitet von einem ebenso lauten wie langsam stampfenden Basston, der bedrohlich näher rückte, die Verschraubungen lockerte und das Schiff zum Ächzen brachte.      Ava hielt sich reflexartig die Hand vors Gesicht, als er von einem grellen Suchscheinwerfer geblendet wurde. Dahinter ließen sich zunächst nur vage Umrisse von erschreckender Größe ausmachen.     »Ist das etwa CAT AT K?«, schluckte Jennifer sichtlich geschockt und vergaß für einen Augenblick ihr lästiges Spiel mit dem Schaum.      »Da ist er, dein Hauptdarsteller, dein CAT AT Kilian!«, sprach der Aufnahmeleiter von der anderen Seite, heimtückisch grinsend.     Polternd schepperte das Metallgitter, als der kostümierte Held die Kommandobrücke betrat. Eine gut drei Meter große, extrem muskulöse Hünengestalt, die von einer silbern glänzenden Football-Montur verschleiert wurde. Überall befanden sich messerscharfe Kanten, teilweise herausgebrochenes Metall, Blut und schwarz verkohltes Fleisch, als hätte CAT AT K kurz zuvor einen schweren Verkehrsunfall erlitten. Kein Held von dieser Welt! Der sieht eher aus wie aus einem Fiebertraum! – Und doch glaubte Ava, den Verunstalteten von irgendwoher zu kennen.     »Kilian? Bist du das etwa?«, war er sich plötzlich sicher, in ihm einen der schlimmsten Schläger seiner Schulzeit wiedererkannt zu haben. Doch keine Reaktion erfolgte.      Jennifer fiel indes die Kinnlade runter, ihre geweiteten Augen wanderten an ihrem Spielpartner hinauf, während sie unfreiwillig in seinen überdimensionalen Schatten eintauchte und vor Kälte erzitterte.     »Wenn wir dann endlich loslegen könnten!«,funkte Ava mit wackliger Stimme dazwischen.      Doch der kostümierte Riese reagierte weder auf Avas Ansprache noch auf irgendeine andere Person am Set. Einzig und allein Jennifer galt sein Augenmerk. Wie ein Raubtier pirschte er sich an sie heran, ohne den Blick hinterm verbeulten Helmgitter auch nur für eine Sekunde von ihr zu lassen. Blut lief aus seinem grinsenden Maul, aus dem schiefe Sägezähne schmerzhaft hervorlugten.      Die heldenhafte Hauptdarstellerin suchte gleichsam den Augenkontakt zu ihrem Spielpartner. Aus drohender Genickstarre heraus blickte sie zu zwei abgrundtief schwarzen Höhlen auf, die sie durchs Gitter hindurch reflektierend anfunkelten.     Plötzlich erklang Weihnachtsmusik aus dem Hintergrund, dröhnte durch die gesamte Station. Niemand wusste, wo die befremdlichen Klänge herkamen, die unerträglich durch die röhrenartigen Flure hallten. Schrille Klagelaute, die Ava seit vielen Jahren nicht mehr vernommen und doch nie vergessen hatte, kosmische Schmerzensschreie, die er untrennbar mit dem Krebsgeschwür seiner Kindheit verband.      Unterdessen vollzog sich in dem Footballritter eine beunruhigende Wandlung. »Ich glaube, ich habe in einem früheren Leben eine Frau ermordet«, waren die ersten ultratiefen Worte, die über die Lippen des hünenhaften Hauptdarstellers kamen. »Ich hab ihre Leiche irgendwo schäbig eingewickelt und verbuddelt, sodass sie ihre geliebte Familie nicht finden konnte. Auch nach all den Jahren werden sie keine Gewissheit bekommen, nie werden sie Gewissheit über den Ort ihrer Leiche haben, weil die Sache in meinem früheren Leben nie aufgeklärt wurde. Ich glaube, ihr Name war Lisa!«     »Gehört das jetzt schon zur Szene?«, wandte sich ein Kameramann irritiert an den Aufnahmeleiter.     Auf grausame Weise mutierte der Maskierte zu einer unförmigen Masse – ineinander verschlungene Arme und Beine mehrerer Körper verdrehten sich zu vermeintlichen Tentakeln –, wobei sich die metallische Rüstung untrennbar mit ihm verformte.      Mit seiner riesigen Pranke holte der Held nach Jennifers Hals aus, und ehe sich’s die anderen versahen, schleuderte er sie im hohen Bogen durch die Halle. Sie landete geradewegs auf einem der höhergelegenen Metallgerüste. Stark lädiert kroch sie über die harten Gitter und blickte verstört zum Set hinab.     »Und jetzt sollten wir uns über deine Schwester unterhalten!«, brummte es in höllischer Tiefe. Erstmals fuhren die schwarzen Augenhöhlen der Fieberphantasie zum Regisseur herum, provozierend, furchteinflößend wie ein wilder Stier.     Doch Ava blieb standhaft und wich ihnen nicht aus. »Was ist mit meiner Schwester? Was habt ihr mit ihr gemacht?«,schrie er voller Verzweiflung und fügte beinahe flehend hinzu: »Sag mir wenigstens, warum!«     »Wenn man etwas Schönes zerstört, wird es dadurch noch schöner!«,erklärte der Deformierte mit monotoner Stimme und sprang umso erschreckender auf Ava zu.     Der Regisseur wich reflexartig zur Seite aus. Die schwerfällige Urgewalt wechselte die Richtung und rüttelte heftig an den Gerüsten, auf denen Jennifer verzweifelt mit dem Gleichgewicht rang. Schließlich stürzte sie ab und landete geradewegs in Avas Armen.      »Wir müssen hier sofort raus!« Ungestüm setzte er sie ab, gab ihr von seinem Schaum – denn niemand kümmerte sich um die Nacktheit des Regisseurs – und flüchtete mit ihr in einen nahegelegenen Röhrentunnel. Ein tiefes Jaulen jagte hinter den beiden her.     »Mach jetzt bloß nicht schlapp!«, brüllte er über seine Schulter und zog an ihrer Hand.     »Aber wo sollen wir hin?«, keuchte Jennifer, nach ihrem harten Sturz körperlich angeschlagen. »Wie sollen wir von dem Schiff runterkommen?«     Schrille Schreie erklangen aus dem Hintergrund, Todesschreie des Filmteams.     »Dreh dich nicht um! Was auch immer geschieht, sieh bloß nicht zurück!« Er konnte ihre Furcht spüren, wie es wohl auch sein grässlicher Hauptdarsteller vermochte. Kein Vorsprung würde ihn abwimmeln, überall würde er ihre Furcht wittern, zumal sie sich auf der begrenzten Station ohnehin nicht lange vor ihm verstecken konnten.     Ohne anzuhalten stürmte Ava von einem beleuchteten Röhrentunnel in den dahinterliegenden, Jennifer unablässig hinter sich herzerrend, die Schreie im Nacken. Erst jetzt bemerkte er, wie labyrinthisch sich die Station im Innern zu verschachteln drohte. Wie im Herrenhaus befanden sich auch diese futuristischen Gänge in einem ständigen Wandel. Überall verzweigten sich Röhren zu neuen, verwirrenden Anordnungen, an jeder Ecke tauchten wieder andere Quertunnel auf, die jegliche Orientierung ad absurdum führten.      Der Film schien sich ohne sein Zutun zu verselbstständigen. Jennifer und er wurden unfreiwillig Teil der Handlung, Teil eines Machwerks, das er vor langer Zeit schon einmal im Fernsehen gesehen hatte. Die Szenen, die tatsächlich existierten, und die, die nur in seinen Träumen zum Film gehörten, griffen nahtlos ineinander über – und im Traum erbaut der Architekt eine ganze Welt in Echtzeit!    Beide standen an einer langen Fensterfront, die sich unwirklich in die Ferne erstreckte. Dahinter bot sich ein überwältigender Blick auf die untergehende Erde. Gebannt drückten sie sich gegen das Glas und vergaßen sogar ihren übermächtigen Verfolger angesichts dieses einmaligen Spektakels, das sich unter ihnen abspielte: Die Erde wurde von seltsam aufblitzenden Lichtphänomenen überzogen. Gigantische Explosionen, die von der Station aus deutlich zu erkennen waren.     »Eigenartig, von hier oben wirken diese unheimlichen Aktivitäten ganz friedlich und wunderschön«, flüsterte Jennifer mit ruhiger Stimme. »Wie kann etwas so Grauenvolles nur so faszinierend anzusehen sein?«