Mo Cat und der Silbermann - Oliver Rennicke - E-Book

Mo Cat und der Silbermann E-Book

Oliver Rennicke

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Beschreibung

Ein neues Abenteuer aus dem Dunstkreis der Kinderwald Gruppe: Wie Kilian zum Silbermann CAT AT K wird und warum Kittylectric nicht seine Mo Katz ist. Auf seiner ruhelosen Suche nach Vergebung für einen Mord aus einem früheren Leben führt sie unseren tragischen Antihelden durch die Ewigkeit … begleitet von der "ewigen" Frage: Kann Schuld in ein neues Leben "weitervererbt" werden?

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Seitenzahl: 345

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Oliver Rennicke

MO CATUND DER SILBERMANN

(Mo Kat og sølvmanden)

Kinderwald Gruppe 6

778 n. d. Z.(Später Nachmittag)

»Flieht, eure Heimat ist verloren! Sachsenkönig, hört auf mich! Ihr müsst fliehen, hier ist nichts mehr zu holen, nicht für euch und euresgleichen! Weiter nach Norden! Die Ostsee ist ihnen ein Graus!« – Oh, du Kind des Waldes, sieh nicht zurück, die Abendglut ist gefährlich! Die rote Sonne liegt auf verfärbtem Laub! Und ich sehe sie doch, auch wenn du noch so stark dagegen ankämpfst: die schwermütige Sehnsucht in deinem linken Auge. Wurzeln schlagen, ein Leben lang. Dann kam Wynfreth mit der Axt. – »Ihr dürft euch nicht mehr umdrehen! Seht nur da vorn, unaufhaltsam zieht das Wasser der Elbe. Nicht mehr weit bis zum Meer!« – Oh, du Kind des Waldes, da draußen erwartet dich die raue Ungewissheit der See. Eine Linie, so weit das Auge reicht. Und dahinter, wo sich Wasser und Himmel begegnen, die Riesen der Tiefe. Nichts Grünes atmet dort draußen, alles, was du kennst und liebst, bleibt an der Küste zurück.  – »Dies ist nicht mehr euer Land, Sachsenkönig, für dieses Land seid Ihr ein toter Mann!« – Und ich seh’s in deinem linken Auge! Jetzt begreifst du, ganz langsam – ein schleichender Dolch in deiner Brust –, begreifst, was es heißt, loszulassen, die eigene Heimat! Endgültiger Abschied winkt hinter der Abendglut! Und dann? Sich treiben lassen, wenn’s Nacht wird, immer weiter dem Unbekannten entgegen. – »Sachsenkönig, auf diese Reise kann euch niemand begleiten! Und doch werdet Ihr nicht allein sein. Seht Ihr die alte Mühle am Rande der Lichtung? Unweit vom Wasserrad liegt ein Floß! Jemand wartet dort geduldig auf euch. Seht nur die verhüllte Gestalt unter der Kutte!« – Doch du verspürst keine Furcht! Es ist Wehmut in deiner Seele, die rote Glut der Sonne auf der Wassermühle. Doch da ist noch eine andere Glut, unter der Kutte deines weiblichen Fährmanns, ein animalisches Funkeln. ›Starring at the Sea. Will she come? Is there hope for me? After all is said and done.‹ »Wer ist das? Was ist das?«»Keine Fragen, auf die Ihr die Antwort nicht wissen wollt! Sie wird euch rauf zur Ostsee geleiten, immer stromaufwärts. Sie ist das Unbekannte. Niemand weiß von ihr, nur Ihr und meine Wenigkeit. Hier trennen sich nun unsere Wege. Steigt nur ein und verlasst mich für dieses Leben! Und habt keine Sorge, ich werde euer Geheimnis mit ins Grab nehmen!« – Oh, du Kind des Waldes, fahre dahin, nur ein Weg bleibt, eine Richtung: immer dem Horizont entgegen! Wellengepeitschte Berge und Seeungeheuer werden einem toten Mann nichts anhaben können. Dann, in tiefer Nacht, rück ganz nah an sie heran und spüre den Schutz ihrer Haut, die unter der Kutte blank zutage liegt. Und mögen die feuchten Berge auch brechen in des rauen Sturmes Frust, dann vergrab dich tief in ihrem Schoß wie ein schlafendes Kind an der Mutter Brust. Halte die Augen fest verschlossen und späh, Kind des Waldes auf dunkler See, wo nichts und alles sich regt und man das Licht im Herzen trägt. 

Prolog

»Irgendwann ist der Spuk Leben vorbei und der wahre Spuk beginnt«, legte sich eine kratzend belegte Altherrenstimme über eine Reihe vermeintlicher Kinderzeichnungen, die auf verstörende Art lebendig anmuteten – das ›S‹ in Lyserg›S‹äurediethylamid fiel tanzend aus der Reihe. Unruhige Linien, die vermutlich Häuser darstellen sollten, mit viel Schwarz und verschmiertem Rot. Dreckiger Qualm quoll lassoartig aus den Schornsteinen, dahinter begann sich die weiße Fläche gemächlich zu verfärben, altersbedingt zu vergilben. Unmerklich überlagerten sich krakelige Linien – weder gezeichnet noch real, doch was soll es sonst sein? – mit menschlicher Haut und menschlichem Haar. Die irrwitzigen Abstraktionen nahmen bald konkrete Formen an, als würde sich ein Bild gemächlich scharf stellen, gestochen scharf, ohne dass sich jedoch ein konkreter Bildinhalt erkennen ließ. – Was soll es darstellen? Gekritzel? Fleisch? Schlachtnebenprodukte?Haut und Haar gehen nahtlos über in silbernes Metall.  »›At the Heart of It All‹ von den Nine Inch Nails, jedoch ohne Beteiligung der Nine Inch Nails, schlechterdings produziert von Aphex Twin«, trompetete eine blecherne Radioansage, die klang, als wäre sie hundert Jahre alt, wie mit einer Wäscheklammer auf der Nase. Pulsierend legten sich die dumpfen Töne über eine unwirtliche Landschaft aus Haut, Haar und Metall.  Darüber atmete eine glatte, milchig weiße Haut mit geheimnisvollen schwarzen und rotbraunen Fleckenmustern, die sich in unaufhörlichem Wandel ineinander verdrehten, ohne je miteinander zu verschmelzen.  Ein Katzenfloh, verkrochen in den tiefsten Wäldern menschlichen Kräuselhaars, schlüpfte durch eine Hautspalte, wie durch einen dunklen Schacht. Dort unten erblickte er eine Landstraße im nebeligen Morgengrauen. Die Hautspalte zuckte und ließ den mikroskopischen Beobachter haltlos in die Tiefe stürzen. Der Winzling sauste über weite Felder hinweg, geradewegs auf die verregnete Alleenstraße zu. Blaugraue Herbstdämmerung lag über der Welt, grelle Autoscheinwerfer durchschnitten den Morgennebel.  Einer dieser – aus Sicht des Flohs – gigantisch anmutenden Blechkästen raste mit überhöhter Geschwindigkeit an allen anderen vorbei, scherte zu gefährlichen Überholmanövern aus – ein Lebensmüder, bei dieser Nässe! Und überall Bäume, so dicht am Fahrbahnrand! ›Next Heap With‹ von Aphex Twin dröhnte ohne erkennbaren Ursprung über die weite Flur, als hätte sich die Radiofrequenz hörbar über die Welt gelegt. – Und liegt diese Welt nicht nach wie vor im Schatten der Hautfalte?  Hinter dichten Nebelschwaden näherte sich ein silbern glänzendes, in ein metallisches Ritterkorsett gefasstes Motorrad. Der Motorradfahrer – Kilian, der große CAT AT K – trug gleichsam eine Art glänzender Ritterrüstung, die bei näherem Hinsehen eher an eine metallische Footballmontur erinnerte. Kleine, metallisch spitze Öhrchen durchbohrten den Helm wie blutige Speerspitzen. Die angewinkelten Beine steckten in einer dunkelgrünen Hose unbekannten Materials, die wiederum in silbern glänzenden Stiefeln steckte. Wackelig ging der Silbermann in die Schräglage, wobei sein Knie beinahe den spiegelnden Asphalt streifte, und setzte zu einem gefährlichen Überholmanöver an. Auf der Gegenfahrbahn näherte sich ein Lastkraftwagen hinter trügerischen Nebelbänken, wie ein auftauchendes Seeungeheuer. Reflexartig riss Kilian sein K-Bike zurück auf den Mittelstreifen – ’ne halbe Sekunde, vielleicht nicht mal, und es wäre aus gewesen!  Doch auf den Schreck folgte keine Einsicht: In schwindelerregendem Tempo verringerte er den Abstand zum flüchtenden Wagen und rückte ihm dicht auf die Pelle. Ein Ortseingangsschild sauste an ihm vorbei – schwarze Schrift auf gelbem Grund –, viel zu schnell, als dass er den Namen der Stadt hätte lesen können – irgendwas mit W. Gut fünfzig Meter voraus kam ein Reh vom Feld auf die Fahrbahn gehumpelt und blieb dort wie versteinert stehen, als es von Kilians grellem Scheinwerfer erfasst wurde. Jetzt noch auszuweichen, ist ein natürlicher Impuls, der zumeist mit dem Leben der Fahrinsassen quittiert wird! Aber ich habe keine Wahl! Alles ging derart schnell, und doch glaubte Kilian, sich dem Baum wie in Zeitlupe zu nähern. Das Motorrad überschlug sich mehrfach in einem spektakulär hohen Bogen, der bis zu den Kronen der Alleenbäume hinaufreichte. Auch Kilians Körper, inzwischen vom Rad getrennt, wurde hoch durch die Lüfte geschleudert. Es fühlte sich an, als würde er in einer unwirklichen Blase schweben. In der Ferne sah er noch den verfolgten Wagen, der wie ein Gespenst verschwand, während alles andere um ihn herum erstarrte. Doch sein Flug fand ein jähes Ende: Die Blase war zerplatzt und der Kopf schlug auf dem harten Asphalt auf. Der Schock ließ ihn den Ernst der Lage verkennen, ließ ihn glauben, dass alles nicht so schlimm sei und dass es am Ende schon irgendwie gut ausgehen müsste – war doch bislang immer so, so weit ich mich zurückerinnern kann, so lange ich lebe. Ungläubig blickte er auf seinen Arm, der regungslos neben seinem Helm auf dem Asphalt lag und ihm den Befehl verweigerte, begleitet vom Nachhallen des Aufschlags in der Endlosschleife. Da klopft einer in meinem Kopf herum, vermisst die Ausmaße meines Schädels von innen mit einem Hammer.Die Erschütterung ist viel zu heftig, als dass ich mit bloßem Kopfschmerz darauf reagieren könnte. Nein, hier gilt es, zu improvisieren! Keine Ahnung, wie man auf so etwas reagiert, dabei sieht das von außen immer so eindeutig aus. Ein unheimliches Stimmengewirr erfüllte die Stille. Im Zwielicht, vermeintlich noch immer an Ort und Stelle verweilend, erblickte er verborgene Gesichter, die ihn aus den Bäumen der Alleenstraße heraus anstarrten. Ja, sieht so aus, lauter Gesichter, oder? Sicherlich würden ihn diese Fratzen unter normalen Umständen zu Tode geängstigt haben, doch was war in dieser Situation noch normal? Hatte er die Schwelle zu ihrem Reich nicht längst überschritten und wollte es bloß nicht wahrhaben? War es nur noch ein letzter, verzweifelter Versuch, sich weiterhin am Leben festzuklammern? – Und wenn es doch bloß ein Traum ist? Alles bloß ein Traum! Und ich warte nur darauf, mich endlich auszuklinken.Schlagartig wurde es dunkel und die Welt um ihn herum verschwand. Wo ist das blaue Licht, wo bleibt meine Erlösung? Abgehackt kurze Momentaufnahmen flackerten auf: wieder die Kinderzeichnungen, die – wie man sie drehte und wendete – nirgendwo zugehörig blieben, weder zu dieser Welt noch zu der anderen.  Huuuuuuuuu, verlor sich jegliche Form in einem Meer aus Schwarz, gänzlich ohne Kontur, wie der traumlose Schlaf. Auch das akustische Nachhallen des Aufpralls wurde zunehmend schwächer und verwandelte sich in sphärisches Rauschen: Huuuuuuuuu. Bilder des Weltalls überlagerten sich mit Bildern aus dem Mutterleib. Durch den Geburtskanal hindurch erblickte der Verunglückte Silhouetten amphibienartigerZwiegeschöpfe. Unter der Oberfläche des irdisch Sichtbaren wandelten demnach Krötenmutanten unter den Menschen. Ungesehen, bei zeugenlosem Feindkontakt, verwandeln sie sich in schmal schlängelnde Froschfische, die sich am Hals ihrer zumeist menschlichen Opfer festsaugen – wie aalartige Blutegel – und doch unsichtbar bleiben.Die Bilder wurden zunehmend brüchig, das instabile Konstrukt eines wirren Traums krachte Stein um Stein in sich zusammen. Von jetzt auf gleich sah sich Kilian durch eine verfremdete Plattenbausiedlung irren, die ihn im ersten Augenblick an den Berliner Stadtteil Marzahn erinnerte, jedoch um etliche Etagen erhöht – als hätte der Architekt im Traum ganze Neubaublöcke auf bereits bestehende gesetzt. Gleichsam wirkt alles doppelt so trostlos, doppelt so deprimierend. Zwischen den Betonklötzen entdeckte er einen freien Platz mit einem kunterbunten, wie von Kinderhand bemalten Schulhaus in dessen Zentrum. Zielstrebig näherte er sich einem leergefegten Seitenhof, als wüsste er plötzlich ganz genau, wohin er steuerte: einmal um den halben Gebäudekomplex herum, schnurstracks vor zum Haupteingang. Auf dem vorderen Schulhof angelangt, fiel sein Augenmerk auf ein Mädchen, das oben auf dem Dachfirst bedrohlich nah überm Abgrund balancierte – darum die Eile! Als hätte ich es vorher gewusst! Ihr Name war Lisa, Lisa M., doch ansonsten wusste er nichts. Und obwohl er sie kaum kannte, spürte er, dass Lisa M. in diesem Augenblick zum wichtigsten Haltepunkt seiner schwindenden Existenz geworden war – komisch, was für unwichtige Leute im Traum plötzlich wichtig werden.Ein luftig dünnes Tuch, von ihr ausgesandt, weht bis unter meinen Brustkorb, schmiegt sich seidig an – und ist doch nur ein Tuch aus Luft, das mir stimmlos zuflüstert: »Bin dein, ganz dein, wer auch immer du bist! Vielleicht treffen wir uns eines Tages dort oben unter den Lebenden wieder … Doch wer trifft dort oben schon auf die Seelen, die dem Umherirrenden hier unten alles bedeuten?« Ohne den Blick von ihr abzuwenden, hastete Kilian aufs Schulhaus zu, wusste er doch im Vorfeld, welches Unglück sich in den nächsten Augenblicken ereignen würde. Sein schneller Laufschritt wurde bald zum Sprint über den leergefegten Schulhof. Beinahe zeitgleich ließ sich Lisa M. rückwärts fallen, den Blick unablässig gen Himmel gerichtet.  Mit weit ausgestreckten Armen versuchte Kilian, unter sie zu gelangen. Kurz bevor er sie jedoch zu fassen bekam, brach das Bild ab und er sah sich selbst abstürzen, über ein Geländer in die Tiefe. An Lisas Stelle sah er den letzten Augenblick der Rettung schwinden, den letzten Haltepunkt durch seine ausgestreckten Finger entrinnen. – Ein Unglück? Oder wurde ich doch gestoßen? Spielt keine Rolle mehr, nichts spielt noch eine Rolle, die Hände finden keinen Halt, nichts zum Festhalten. Doch ich brauche etwas Festes, um fest sein zu können! Gleich ist alles aus!  Und wieder rauschte es sphärisch im Mutterleib, wieder blickte er durch den Geburtskanal den hohen Silhouetten der Weißkittel entgegen, die sich im Gegenlicht in einem Halbkreis versammelt hatten, um ihn am Ende seiner Reise in Empfang zu nehmen. – Und die da draußen betrachten es tatsächlich als den Beginn. Sie haben ja keine Ahnung, was tief unter der Oberfläche vor sich geht. Nein, das sind keine Amphibien, diesmal sind es wahrhaftig menschliche Gesichter. Alles ist so hell, so laut, so anstrengend kalt, dass es tatsächlich real sein könnte.  Kaum angekommen, sehnte sich der Säugling nach der wärmenden Dunkelheit im Mutterleib zurück. Unvorstellbar traumatisiert würde er sich in den kommenden Wochen und Monaten vor dem Chaos seiner vorausgegangenen Erfahrungsreise davonzuträumen versuchen – wie auch immer diese Reise ausgesehen haben mochte: wirre Bilder, die sich gleichsam zu einem intensiven Traum verfremden werden, den das neugeborene Gehirn bald nicht mehr zu greifen bekommt – brauch doch etwas Festes, um fest sein zu können! Die grelle Deckenbeleuchtung brannte in seinen verschlossenen Augen, die harten Umrisse der Zimmerdecke engten sein bis dato grenzenloses Blickfeld klaustrophobisch ein. Substanzen ließen sich in ihrer festen Zusammensetzung nicht mehr durchschauen. Und das Universum begrenzte sich wieder auf das bloße Blickfeld seiner irdischen Augen.

Im Krankenhaus

»I bin neu hia und i möcht mi a Auge ausstechen!«, erklang eine frostige Stimme, die in Kilian augenblicklich eine Gänsehaut auslöste. Er glaubte, eine junge Frau an der Türschwelle stehen zu sehen. Und obwohl ihr Gesicht und das strohblonde Haar bis zur Unkenntlichkeit verschwommen blieben, lag ein umso schärferer Fokus auf ihrer Hand, die einen Zirkel mit der Nadelspitze nach oben umklammert hielt. Begleitet von einem metallischen Phantomschmerz blitzte eine Corona von Stecknadeln gefährlich dicht vor Kilians linkem Auge auf und ließ ihn reflexartig in seinem Bett zusammenzucken. »Aber, aber nicht doch!«, erklang die Stimme eines älteren Mannes. »Marisa ist doch so ein hübscher Name!« Vorsichtig näherten sich zwei Gestalten in weißen Kitteln der bewaffneten Frau ohne Gesicht, die aussah wie ein zerlaufendes Ölgemälde. Und für den Bruchteil einer Sekunde gestochen scharf: tiefgelber Schleim in ihrem linken Auge – »›Sieht nicht gut aus‹ wäre geschmeichelt!«, seufzte ein Weißkittel von oben herab. »Das Auge werden wir wohl verlieren, meine Liebe! Das ist aber auch alles voller Schleim, ohne dass da überhaupt noch von einem Auge die Rede sein kann! Ne, Fräuleinchen, das ist hin, das können wir abschreiben!« Teilnahmslos lag Kilian neben dem Geschehen. Und als wäre soeben kein Unglück geschehen, beugten sich die Weißkittel – ein älterer Chefarzt und ein junger Assistenzarzt – über sein Krankenbett. Vor der Phantomnadel zurückzuckend öffnete Kilian die lichtempfindlichen Augen, den Blick starr zur Zimmerdecke gerichtet. Im Gegenlicht der grellen Beleuchtung sah er die beiden Ärzte zunächst in denselben verschwommenen Umrissen wie in den vorangegangenen Wirren seines Fiebertraums. Hatte er sich den Auftritt der ungebetenen Besucherin soeben bloß eingebildet? Wie war doch gleich ihr Name? Arnisa?»Wieder von drüben zurück? Also ich würde ja nicht freiwillig tot sein wollen!«, beugte sich der junge Assistenzarzt näher an Kilian heran. Er sprach die Worte ganz im Vertrauen, als vermochte sie der ältere Chefarzt von der gegenüberliegenden Bettkante aus nicht zu hören. »Dann können irgendwelche Weißkittel an deinem Körper rumschnippeln und du kannst nichts dagegen unternehmen. Am Schluss gehört dir nicht mal mehr dein eigener Körper!« Ausgelaugt und schlapp versuchte Kilian, sich im Bett aufzurichten. Seine Augen hatten sich weitestgehend an die grelle Deckenbeleuchtung gewöhnt, sodass er die Gesichter der beiden Weißkittel nun erstmals zu erkennen vermochte, gestochen scharf, doch ohne Wiedererkennungswert.»Wie fühlen sie sich?« »Wie erbrochen! Als hätte ich ’ne Metallplatte im Kopf!« Beiläufig tastete er nach seinem brummenden Schädel und geriet in Panik, ließ sich anstelle des Haupthaars doch tatsächlich hartes Metall ergreifen, kalt und warm zugleich – als ob sich oberhalb meiner Augen nichts als ein metallisches Kuppeldach über einem Hohlraum befinden würde, als ob mein Kopf überhaupt nicht mehr existent wäre.  »Was ist das? Was ist das?« Hysterisch versuchte er, den vermeintlichen Metallhelm vom Kopf zu ziehen, was von den beiden Ärzten jäh unterbunden wurde. »Nicht!«, rief der Chefarzt mit Nachdruck, während er Kilians Hände von seinen Schläfen wegzog. »Den Helm können wir nicht entfernen, ist durch den Unfall mit ihrer Kopfhaut quasi – verschmolzen!« – Ja, ja, wer’s glaubt! »Er hat ihnen das Leben gerettet! Doch sie dürfen unter keinen Umständen versuchen, ihn abzusetzen. Wenn sie das tun, dann werden sie sterben! Haben sie das verstanden?« »Spiegel!« »Davon ist vorerst abzuraten!« »Spiegel!«, befahl der Patient und beugte sich aufgebracht vor, bis er beinahe aus dem Bett rutschte.  Als man sich schließlich dazu erbarmte, ihm ein kleines Kosmetikspiegelchen zu reichen, erblickte Kilian erstmals das volle Ausmaß der Tragödie: Der Footballhelm war stark verbeult und wie zu einem Truthahnlappen zerlaufen, ein großer Teil des Gesichtsschutzes war scharfkantig herausgebrochen und gab die entstellte Haut sowie die lange, spitz gebrochene Nase preis. Der silberne Glanz war einem verkohlten Überzug gewichen, teils schwarz, teils dunkelrot.  »Oh nein! Bitte nicht!«, seufzte Kilian unter Tränen und hielt sich die Hand vors Gesicht, nur um im selben Augenblick vor dem befremdlich scharfkantigen Metall zurückzuweichen. »Sie hatten einen besonders schweren Motorradunfall, oben auf der Berliner Chaussee«, holte ihn der Chefarzt auf den Boden der Tatsachen zurück. »Sie sind gefahren, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Was hat sie nur dazu bewogen, sich und andere Verkehrsteilnehmer derart zu gefährden?« »Können sie sich an irgendwas erinnern?« »Da ist etwas«, versuchte Kilian, sich unter seinem verbeulten Helm zu konzentrieren. Die verbrannte Gesichthälfte, die darunter offen zutage lag, verkrampfte sich zu einer schmerzverzerrten Fratze aus Schwarz und Rot. »Aber ich bekomm’s nicht mehr zu fassen.« – Brauch etwas Festes, um fest zu sein! – Und er sah ergriffen zum Chefarzt auf: »Festplatte gelöscht!«, und wischte sich eine geschwärzte Träne von der verkohlten Wange. »Tja, ich weiß ihnen da leider auch nichts Aufheiterndes zu sagen«, reagierte der Chefarzt überraschend reserviert – gleich Schichtwechsel, Klappe zu – und drehte seinem Patienten kurzerhand den Rücken zu – ist schließlich nicht der einzige dumme August hier auf der Station.  In stille Alarmbereitschaft versetzt, dem Gefühl, einer feindseligen Umgebung schutzlos ausgeliefert zu sein, nahm Kilian die negativen Schwingungen auf, die die Weißkittel unbewusst – zwischen den Zeilen und Blickwechseln – aussendeten.  Der Chefarzt klopfte dem Assistenzarzt auf die Schulter und ging mit ihm zur Tür, um ihm etwas zuzuflüstern, das offensichtlich nicht für Kilians Ohren bestimmt war. Das kurze, misstrauische Aufsehen des Assistenzarztes über die Schulter seines Kollegen verstärkte in Kilian dieses Unbehagen. Irgendwas verschweigen sie! Trifft sich ja ausgezeichnet, dass ich mich an nichts mehr erinnern kann. Ja, glotz nur rüber! Ich bin euch hilflos ausgeliefert, wie ein Neugeborenes.»Keine Sorge, wir lassen sie jetzt in Ruhe!«, lächelte der Chefarzt hochprofessionell. »Wir werden später noch einmal nach ihnen schauen!« Und schon waren sie im Flur verschwunden, hinter den Mauern eines Krankenhauses, von dem Kilian nicht einmal wusste, in welcher Stadt es sich befand. Berliner Chaussee, die gibt’s nicht nur an der Spree … Unbeholfen trat er die weißen Laken beiseite und versuchte, aufzustehen. Als seine Füße den kalten Linoleumbodenbelag berührten, biss er unweigerlich die Zähne zusammen und sog zischend Luft ein. Fröstelnd taumelte er zum nächstgelegenen Fenster. Draußen döste die Stadt im trüben Herbstnebel. Da jagt man keinen Hund auf die Straße! Autoscheinwerfer warfen ihr Licht wie in unwirklicher Zeitlupe über die schläfrig-träge Regenlandschaft – abgehackte Ruckelbilder, die Kilian auf eine mögliche Hirnschädigung zurückführte. Auf einer nahegelegenen Rasenfläche im Park erblickte er einen verwahrlosten Mann in einem graugrünen Lodenmantel, mit rotbraunem, ungepflegt schulterlangem Zottelhaar und einem weiten, abschreckend irren Dauergrinsen, das ihm das Antlitz einer starren Maske verlieh. Möglicherweise ließ sich dieses Zerrgesicht gleichsam auf einen Schaden seiner sensorischen Wahrnehmung zurückführen.»Was für eine stinkhässliche Grinsefresse!«, flüsterte Kilian leise, woraufhin der Mann, der gut und gerne an die fünfzig Meter von ihm entfernt im Regen stand, überraschend zu ihm aufsah.  Wie aus dem Nichts tauchte eine blauschwarze Gestalt hinter dem Mann auf – als wär’s sein versetzter Schatten.  Erschrocken wirbelte Kilian herum und versteckte sich hinter der Wand neben dem Fenster. Hat der mich tatsächlich gesehen?Zur selben Zeit vernahm er das bedrohlich näherkommende Lachen des jungen Weißkittels, das ihm hallend durch den Flur vorauseilte. Eilig tapste Kilian zurück zum Bett und warf sich die verdrehten Laken über. Nur wenige Sekunden später trat der Assistenzarzt mit einem überschwänglichen ›Mir kann keiner was!‹-Lächeln an sein Bett. »Freuen Sie sich! Ihre Frau ist gerade gekommen!« »Meine Frau? Gekommen?«, stammelte Kilian irritiert. Was nutzten ihm seine Muskeln, wenn er nicht begriff, was vor sich ging? Einer fremden Welt ausgeliefert, die seinen Verstand verschleierte. »Aber ich habe doch gar keine … Frau!« Und verwundert brabbelnd sah er zu dem Weißkittel auf, als wäre er, trotz seiner unnahbaren Kälte, die einzig noch verbliebene Bezugsperson: »Wie sich das anhört: ›eine Frau haben‹! Wie etwas, das mir nie passieren könnte!« »Und ob Sie eine Frau haben und was für eine! Sie hat Sie hier beinahe jeden Tag besucht und ich musste ihr versprechen, sie umgehend zu benachrichtigen, sollte sich an Ihrem Zustand etwas ändern. Sie wartet unten. Ich würde sie dann jetzt gern zu Ihnen raufholen! Es sei denn, Sie brauchen noch einen Moment für sich. Nein? Gut!« Und schon war der Weißkittel abermals im Krankenhausflur verschwunden, noch bevor Kilian zur Antwort ausholen konnte. Warum kommt sie denn nicht direkt hoch? Ich bin doch das Monster, vor dem sie vorgewarnt werden muss, nicht umgedreht! Und wenn sie mir hier jeden Tag einen Besuch abgestattet hat, dann weiß sie doch schließlich, was sie erwartet! – Aber nicht wie das Monster ausschaut, wenn es die Augen auftut und spricht!Innerlich angespannt starrte er auf die knarrende Tür, die vom Weißkittel abermals offen stehen gelassen worden war. Das Ächzen der ungeölten Scharniere und das Schwanken im Durchzug verstärkten seine Anspannung – als hätte er das absichtlich gemacht! Wie durch ein Tor in eine fremde Welt blickte er auf den Türspalt, der sich gemächlich verkleinerte – Huuuuuuuuu – und wieder vergrößerte – uuuuuuuuuH. Was sich wohl dahinter verbergen mochte? Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, das Gesicht von Lisa M. hinter der Tür zu erblicken. Lisa M.? Wer ist Lisa M.? Die Tür wurde aufgestoßen und der Assistenzarzt kehrte mit einer jungen Frau zurück, die nicht Lisa M. war. Kilian versuchte, seine Befremdung mit einem aufgesetzten Lächeln zu überspielen. Wer ist das? – Er hatte diese Frau nie zuvor gesehen und ihm lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als sie sich umso vertraulicher zu ihm aufs Bett setzte und wie selbstverständlich über seine Wange streichelte.  »Hey, mein großer Held!«, lächelte sie mit glitzernden Tränen in ihren großen Augen. Doch ihr Erscheinen ließ ihn merkwürdig kalt.  »Es tut mir leid«, zog er sich von ihrem Annäherungsversuch zurück, »aber ich kann mich im Augenblick nicht an Sie erinnern! Der Onkel Doktor hat mir erzählt, dass Sie mich hier besucht haben«, versuchte er, die Fremde zu trösten, bemüht einfühlsam, doch mit einer Distanz, die er nicht zu überspielen vermochte.  »Jeden Tag!«, legte sich ein herzerweichendes Lächeln über ihr feuchtes Gesicht. »Ich bin’s doch, deine Tori! Ich schwöre dir, ich werde dich so glücklich machen, dass dir alles wieder einfällt!« »Na, na, ganz so einfach geht das aber nicht!«, mischte sich der grinsende Arzt von der Seite ein, stieß jedoch auf taube Ohren. »Ich liebe dich!«, starrte Tori mit umso ernsterer Miene in die Augen ihres Mannes. Er hätte ein Herz aus Stein besitzen müssen, um von diesem Gefühlsausbruch unberührt zu bleiben, dennoch vermochte Kilian auf ihre Worte nichts zu erwidern. So ungern er ihr eine Antwort schuldig blieb, kam doch keine Silbe über seine Lippen. Ungeachtet dessen umarmte sie ihn, um Haaresbreite an den scharfen Metallkanten vorbei. »Nicht, du wirst dich noch verletzen!«, genierte sich der bis zur Unkenntlichkeit Entstellte.

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Nach kurzem Zögern wagte Kilian den ersten Schritt über die Schwelle, hinein in eine fremde Welt. Gestützt von seiner Frau schritt er behäbig durch einen kalten, sterilen Krankenhausflur, an dessen Ende ein Fenster den Ausblick auf einen unverändert grauen Herbstmorgen bot. Vorbeihuschendes Krankenhauspersonal warf den beiden erstaunte Blicke nach – es muss schon ein bizarrer Anblick sein, an der Seite dieser bildhübschen Frau ein derartig entstelltes Ungetüm wandeln zu sehen, ein von verbrannten Muskeln gespanntes Nachthemd, aus dem ein verbeulter Footballhelm herausragt! Stark gekrümmt hakte sich der ramponierte Blechmann bei seiner Tori unter. Das Laufen fiel ihm doch schwerer, als er sich zunächst eingestehen wollte.  Ein unheimlicher Brummton kroch unter seinen Helm, der ihn auf Schritt und Tritt verfolgte, auch wenn er noch so leise im Hintergrund mitschwang. Das schräge Paar – die Schöne und der Blechmann – polterte dem Ausgang entgegen, begleitet von bestürzten Blicken. Am Wagen angelangt, wandte sich Kilian beunruhigt zur nahegelegenen Rasenfläche um. Vom Grinsemann und seinem schauerlicheren Begleiter fehlte nunmehr jede Spur.… In dem verlassenen Krankenzimmer war es inzwischen still geworden. Die Augen eines allgegenwärtigen Beobachters schwenkten durch den Raum, bis sie den verwahrlosten Mann in einer Ecke neben dem Schrank erfassten. Wie eine starre Maske grinste der Grinsemann aus den Seiten dieses Buchs, geradewegs in die Augen des Lesers.

Die Fahrt „nach Hause“

Während der Autofahrt durch die verregnete Kleinstadt, die laut Toris Aussage ›Wikingberg‹ hieß, brach nach kurzer Zeit betretenes Schweigen aus. Die beiden hatten sich nichts zu sagen. Tori konzentrierte sich auf den nicht vorhandenen Verkehr, während die Blicke des Beifahrers – desmaskierten Phantoms an ihrer Seite – unablässig auf ihr hafteten. Wer war diese Fremde, die da vorgab, ihn zu lieben? Sein Blick streifte den Rückspiegel und sofort lief ihm ein eisiger Schauer den ramponierten Rücken hinab, als ihn zwei irrwitzig große Pupillen anstarrten, die ihm selbst fremd waren: schwarze Höhlen, in denen lediglich ein minimales Glitzern die Position der Augen erahnen ließ – nein, das sind nicht meine Augen!Nie würde ich diese schwarzen Kreise als meine eigenen Augen akzeptieren. Und dieses martialische Metallkonstrukt – was soll es darstellen, eine vorsintflutartige Zahnspange? Eine mittelalterliche Folterapparatur? Nicht einmal seine eigene Frau glaubte, den Helm je bei ihm gesehen zu haben, doch schien sie dieser Umstand auch nicht weiter zu beunruhigen.  Entsetzt wandte er sich ab und starrte aus dem Fenster: Bewaldete Vorstadthäuser zogen vorbei, Grünanlagen, gepflegte Hecken, hin und wieder unterbrochen durch kaum befahrene Vorstadtkreuzungen. »Wie bin ich nur hierher geraten?«, flüsterte er leise und zog sich fröstelnd in seine Gedanken zurück: Fühlt sich an wie ein Hinterhalt. Was, wenn sie mich gar nicht nach Hause fährt? »Und? Kommt dir hier irgendwas bekannt vor?«, fragte Tori beiläufig, den Blick starr auf die Fahrbahn gerichtet. »Ich weiß nicht recht«, brabbelte Kiliangeistesabwesend, als ihn der unheimliche Brummton unterm Helm erneut heimsuchte – wie ein kitzelndes Insekt, das unerreichbar unter meiner Schädeldecke sitzt.Unverhofft tauchte hinter einer Wohnsiedlung ein neobarockes Theater auf, das sich weithin über einen großen Platz erstreckte und so gar nicht zur umliegenden Kleinstadtkulisse passen wollte. »Schon komisch, dass ausgerechnet Wikingberg so ein riesiges Theater bekommen hat!«, griff Tori Kilians Gedanken vorweg. »Seltsam!«»Was?«»Irgendwie habe ich gewusst, dass du das sagen würdest! Ich meine, genau das, derselbe Wortlaut! Als hätte ich diese Szene schon einmal erlebt, genauso – mit diesen, meinen eigenen Worten – mit diesen, meinen eigenen Worten. – Und dieses Theater! – Und dieses Theater! – Als würde ich es von früher kennen! – Als würde ich es von früher kennen! – Ohne je dort gewesen zu sein! – Ohne je dort gewesen zu sein!«

In Toris Haus

In einer beschaulichen Wohnsiedlung im Grünen bog Tori ganz überraschend in die Einfahrt eines jener malerischen Anwesen ein, die Kilian bislang nur aus der Distanz bewundert hatte. Wie befürchtet gab es auch hier keinen Moment des Erkennens. Der blaugraue Morgendunst hatte sich weitestgehend gelichtet und war einer milden Morgensonne gewichen, die verstohlen durch umliegende Nadelwälder auf die Schauimmobilien schimmerte. Tori betätigte eine Fernbedienung, woraufhin sich ein leuchtend weißes Garagentor behäbig in Gang setzte. Umso schwärzer erschien Kilian die Dunkelheit, die ihn dahinter wie eine Wand erwartete – ein Torweg, der ihn nur umso tiefer in diese fremde Welt hineinzuführen versprach. Mit einem mulmigen Kribbeln im Magen stieg er aus und näherte sich einer roten Tür, die über die Garage in einen ebenso düsteren Kellerraum führte. »Ich weiß nicht, hier riecht’s irgendwie … modrig«, erschnüffelte er sich seinen Weg durch eine finstere Waschküche. »Hier unten im Keller war schon immer so schlechte Luft! Keine Ahnung, wo der Geruch herkommt!«, versuchte sich Tori zu rechtfertigen. »Das merkt man immer erst, wenn man längere Zeit nicht zu Hause war.« »Als würde hier irgendwo ’ne Leiche verwesen«, lächelte Kilian mit einem Augenzwinkern, das sich unter seinem Helm – und in der Dunkelheit – nur schwerlich erahnen ließ. »Hab hier deinen Vorgänger eingemauert«, schlug Tori in dieselbe Kerbe, jedoch derart nüchtern, dass er sich nicht sicher war, ob ihre Replik tatsächlich als Scherz aufzufassen war.  Wieder vibrierte der unerklärliche Brummton unter seiner Schädeldecke, ohne dass seine Frau davon Notiz nahm. Das Lachen war ihm schnell vergangen angesichts dieser Kitzelfolter. Vor sich selbst und der eisigen Berührung flüchtend eilte er die Kellertreppe hinauf, die in einem stockdusteren Flur mündete.  »Willst du hier nicht mal Licht anmachen?«, wirbelte er erschrocken zu Tori herum, die ihm inzwischen bis in den Wohnbereich gefolgt war. Doch zum ersten Mal gab sie ihm keine Antwort, sondern stand einfach nur da. Ihre großen Augen reflektierten ein schwaches Licht ohne erkennbaren Ursprung. »Warte, ich mach’s selber!«, ertastete er sich den Weg zur nächstgelegenen Klinke und öffnete die Tür zum Wohnzimmer, wo er von umso grellerem Tageslicht erfasst wurde. Geblendet hielt er die Hand vor den Helm. Die Morgensonne fiel durch eine weite Glasfront ein, die Ausblick auf eine leuchtend grüne Rasenfläche gewährte. Tori ignorierend trat er durch die Glastür nach draußen und legte sich behutsam ins Gras. Wie von den Toten auferstanden griff er nach dem Himmelszelt und ließ sein entstelltes Gesicht von rötlichen Sonnenstrahlen streicheln. Tori legte unterdessen eine Schallplatte auf. Exotische Instrumente, die er nicht zuzuordnen vermochte, lockten ihn zurück ins Haus. »Was ist das?«, sah er verwundert zu Tori auf. »Ach Dummerle, das ist doch unser Lied!«, lächelte sie in erwartungsvoller Verletzlichkeit. »Sagt mir überhaupt nichts!«, schüttelte er ungerührt den Kopf und erschrak angesichts seiner eigenen Gefühlskälte. »Wenn das wirklich unser Lied ist, wieso empfinde ich dann nichts? Da drinnen müsste doch was sein, aber da ist nichts!« Tori sackte enttäuscht auf der Couch zusammen. Mit Tränen in den Augen blickte sie zu seinem verbeulten Blechschädel und stieß einen tiefen Seufzer aus.

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Mit Toris Hilfe, die stützend ihre Hand in seinen Nacken legte und seinen viel zu schweren Kopf abfederte, ließ sich Kilian auf seiner Seite des gemeinsamen Ehebetts nieder – zum vermeintlich ersten Mal. Starr lag er auf dem Rücken und starrte auf die geschwungenen Ornamente an der Zimmerdecke. Nichts kam ihm an diesem Ort vertraut vor.Plötzlich drängte sich Tori in sein Blickfeld. Große, ernste Augen tauchten viel zu dicht in seine Komfortzone ein. Und ehe er sich’s versah, zog sie ihr Nachthemd nach oben und legte sich auf ihn, sodass ihr unterkühlter Bauch beim Ausatmen gegen den seinen stieß. Ganz bewusst drückte sie mit ihrem vollen Körpergewicht nach und blockierte seinen ohnehin recht eingepferchten Brustkorb – wie ein Nachtalb, der mich langsam zu ersticken droht.»Los, tank mich wieder auf! Ich will, dass du mich bis zum Rand vollmachst!« »Aua! Aua!«, versuchte der Demolierte vergeblich, sich aus seiner Bedrängnis zu winden. »Liebst du mich?«, nahm ihn ihr schneidend scharfer Blick unter sich gefangen. Wieder verstärkte sich das Brummen unter seinem Helm, als ihre krallenartigen Fingernägel die Brust zur Kehle hinauf wanderten.  »Ein falsches Wort!«, drohte sie, und Kilian begann unter seinem Helm zu lachen, obgleich er sich nicht sicher war, ob sie tatsächlich scherzte. »Nicht, die Helmkanten sind scharf wie Rasierklingen! Pass auf, dass du dir nicht die Lippen aufschneidest!«, versuchte er, sie zu warnen. »Du solltest besser aufpassen, dass du dich nicht schneidest!«, ergriff sie seine kohlrabenschwarzen Lippen zwischen ihren spitzen Nägeln. »Ich frag mich, wie du das aushältst. Die hätten dich doch so gar nicht gehen lassen dürfen!« »Tut mir leid, ich fürchte, ich bin einfach noch nicht so weit!«, wimmerte Kilian wenig erregend und die Spannung erschlaffte. Ohne ein weiteres Wort stieg sie von ihm herunter, legte sich auf ihre Seite des Doppelbetts und drehte Kilian mit kalter Schulter den Rücken zu.  »Es tut mir wirklich leid!« »Nein, du tust mir leid!«, beendete Tori sein ausflüchtend wehleidiges Getue und schloss ihre Augen in stillem Zorn. Nachdem er viereinhalb Stunden lang wach zur Decke gestarrt hatte, schlich sich doch noch der Schlaf an ihn heran, mit so heimtückischer List, dass er ihn glauben ließ, noch immer hellwach im Bett zu sitzen und seiner Frau beim Schlafen zuzusehen, obwohl es sich in Wahrheit genau umgekehrt verhielt. Die Wirren des Traums hielten ihn derart fest in ihrem Würgegriff, dass Kilian keinen Unterschied zu den Wirren der vermeintlichen Wachwelt verspürte, zu den vier Wänden, die ihn mit unsichtbaren Fesseln an sich banden. …Im Traum saß er erneut auf dem Beifahrersitz und sah durch eine trübe Schattensicht das große Theater vom Vormittag an sich vorüberziehen. »Unter dem Theater treffen sie sich heimlich in einem Schacht!«, vernahm er die Stimme der Fahrerin, die ganz und gar nicht der von Tori entsprach. Stets im toten Winkel verborgen, wollte es ihm nicht gelingen, ihr Antlitz zu erblicken, so krampfhaft er sich auch nach ihr umzuwenden versuchte. …  Nur einen Wimpernschlag entfernt fand er sich in einem tiefen, dunklen Wald inmitten einer schweißtreibenden Verfolgungsjagd wieder. In die Haut eines anderen geschlüpft, fühlte er sich auf einen Schlag um ein ganzes Jahrzehnt gealtert, vielmehr betrogen. Freddy hieß der Unglücksrabe, der von einem Lynchmob durch zunehmend unwegsameres Dickicht gehetzt wurde. Offensichtlich versuchten sie, ihn einzukreisen, ihn jeglicher Fluchtmöglichkeiten zu berauben. Ein disharmonisches Sirenengeheul hallte weithin durchs Unterholz. »Klingt wie das Gejammer einer uralten Frau!«, bemerkte Freddy mit schmerzverzerrtem Gesicht. Panisch stürzte er eine bewaldete Schlucht hinab. Am Abhang entdeckte er ein schmales Erdloch, vermutlich einen Fuchsbau, in den er sich in seiner Verzweiflung mühsam hineinzwängte. Im Innern des Baus schlug ihm nach wenigen Metern ein feindseliges Knurren entgegen. Am Ausgang verdunkelten indes dichtgedrängte Beine den Lichteinfall.  »Ich glaube an die Menschen!«, sprach der Gehetzte wie zum Gebet und blickte doch nur auf die Nähe ihrer Stiefel. »Das ist mehr, als die meisten Religionen von sich behaupten können! Hure, Hexe, Teufel – mit allen, die man in ihre Rollen des Bösen verbannt, auf die man herabsieht, stirbt unser Mitgefühl füreinander. Wir sitzen alle im selben Boot, aber sie wollen uns glauben lassen, dass dem nicht so sei. Wer sagt, dass wir die Guten sind, nur weil wir von oben auf sie herabblicken? Hure, Hexe, Teufel, nein, ich glaube an die Menschen! Nein! Nein! Nein!«, brüllte Freddy laut, als die Stiefel wild gegen das Erdreich traten und die Öffnung des Fuchsbaus zum Einsturz brachten.  … Schweißgebadet erwachte Kilian im Ehebett und stieß einen lauten, blechernen Schrei aus, als er in Toris Augen blickte – wie lange sie wohl schon so dasitzt und mich beim Schlafen beobachtet? Noch immer vernahm er die Alarmsirene, das Wehklagen einer uralten Frau. DieEntfernungließ sich nur schwereinschätzen, möglicherweise kam das Geräusch sogar aus diesem Haus. »Was ist das für ein Gejammer?«, flüsterte er einer Frau leise zu, fürchtete er doch, belauscht zu werden. »Das wollte ich dich gerade fragen«, entgegnete Tori. »Hast du etwa Angst vor mir?« »Nein, das meine ich nicht! Hörst du das denn nicht? Kommt das etwa aus unserem Keller?« »Was denn? Ich höre nichts!« Kilian fiel es schwer, sich zu erheben, begraben unter dem Gewicht des Nachtalbs. Und je länger er es aufschob – so erschreckend real das großmütterliche Gewimmer auch durch die Räume spukte – desto schläfriger wurde er. Eine Winselmutter im Haus zu hören, ist so ziemlich das schlimmste Omen, was einem Menschen überhaupt begegnen kann! schlummerte er seelenruhig dem Unheil entgegen.

Im Theater

Am nächsten Morgen, kaum hatte Tori das Haus verlassen, machte sich Kilian auf den Weg, das große Festspielhaus aufzusuchen – war dies doch sein einziger Anhaltspunkt, der einzige Ort, den er von irgendwoher zu kennen glaubte. Etwas verband ihn mit dem ehrfurchtgebietenden Barockgemäuer, das ihn inzwischen sogar bis in seine Träume hinein verfolgte. Als er den geträumten Ort tatsächlich vor sich sah, überkam ihn die unheilvolle Vorahnung, mit seinem Besuch eine Katastrophe heraufzubeschwören. – Ein weiterer Torweg! Dieses Theater umgibt etwas Fremdartiges, als wär’s einem anderen Universum entsprungen: ein barockes Raumschiff, das in der falschen Zeit, am falschen Ort gestrandet ist.Ja, ich kenne diese Hallen, doch nicht aus dieser Welt! Kann ein und derselbe Ort zweimal existieren? ließ er sich von der bedrückenden Aura des Gebäudes vereinnahmen. In der gut besuchten Eingangshalle streifte sein Blick unzählige Gesichter, die ihn zunehmend verwirrten. Offensichtlich erkannte ihn niemand wieder, wobei er den verbeulten Helm auf seinem Kopf inzwischen vergessen hatte. Doch auch daran schien sich niemand zu stören. Vermutlich hielt man ihn für einen kostümierten, überaus realistisch geschminkten Schauspieler. Unzählige Augen sahen an ihm vorbei oder geradewegs durch ihn hindurch, als wäre er nicht wirklich da, sein Körper nicht physisch anwesend. Kilians Aufmerksamkeit wanderte zu einer jungen, überaus attraktiven Frau, die auffällig in seine Richtung starrte – mit so merkwürdig wachen Augen! Ob sie wirklich mich ansieht? Zu seiner großen Überraschung kam sie bald darauf auf ihn zu. »Verdammt! Was machst du hier?«, reagierte sie offenkundig schockiert über sein Erscheinen und sah sich aufgeregt in der Halle um. »Ich?«, fragte Kilian ungläubig, als müsse es sich doch gewiss um eine Verwechslung handeln. »Hey, Sie sind doch hier Schauspielerin, oder? Ich glaube, ich hab Sie da hinten auf einem Plakat gesehen. Nancy, äh, …?« »Komm weg hier!«, nahm sie den auffälligen Footballritter an der Hand und schaute sich verängstigt um. Ihre Aufregung übertrug sich bald auch auf Kilian, der sich ebenso auffällig umdrehte, ohne zu wissen, worin die eigentliche Gefahr bestand. Immerhin deckte sich ihr Verhalten mit seinem Bauchgefühl. Geschwind ließen sie die überfüllte Lobby hinter sich und huschten in einen abgeschiedenen Seitenkorridor, von dort in einen nahegelegenen Garderobenraum. Kaum eingetreten, verschloss Nancy die Tür von innen, während sich Kilian verwundert in der Garderobe umsah. Sein Blick wanderte zu den Reihen kleiner Lämpchen um einen arttypischen Schminkspiegel: ein grelles, dennoch gedämpftes Licht, das den Raum in träumerisch nebulöse Schleier hüllte. »Hier sind wir für uns!«, warf die Schauspielerin einen Blick in die mit Kleidern und Requisiten vollgestellte Kammer und fuhr Kilian in barschem Tonfall an: »Was zum Teufel ist los mit dir? Was denkst du dir bloß? Du hast versprochen, dich hier nie wieder blicken zu lassen!« »Aber ich kann doch nicht wissen, kann mich doch an nichts erinnern!«, stammelte der Blechkopf. »Ach ja, richtig, dein Unfall!«, schien es Nancy wie Schuppen von den Augen zu fallen, mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre sie über seinen gesamten Krankheitsverlauf im Bilde. »Aber sag mal, müsstest du nicht eigentlich – nun ja – tot sein? Merkst du noch irgendwas? Da draußen gibt es ein paar wirklich böse Leute, die dir wirklich böse wehtun wollen. Ein Wunder, dass du immer noch rumläufst! Wie ein Schlafwandler, der mit geschlossenen Augen über die Autobahn stolpert!«  »Ach ja? Dann klär mich doch auf!« »Ich?«, fasste sich Nancy unschuldig lächelnd an die Brust. »Wie komme ich denn dazu? Ich bin hier nur als Schauspielerin engagiert, wie du schon sehr richtig bemerkt hast. Um mich geht’s hier doch auch gar nicht, auch wenn du mich mit deinem bescheuerten Auftritt gerade in Lebensgefahr bringst. Komm! Komm! Komm! Du musst von hier verschwinden! Frag nicht weiter nach, ich kann dir auch nicht mehr sagen! Die haben dich vielleicht noch nicht entdeckt, oder sie beobachten uns bereits. Pack sofort deine Sachen und verlasse Wikingberg! Und komm nie wieder hierher zurück!« »Wo ich doch gerade erst angekommen bin«, lächelte er, ohne die Schauspielerin ernst zu nehmen – schlecht gespielt, überzeugt mich nicht.  Nancy hielt ihren Zeigefinger vor seine schwarzroten Lippen und wirbelte mit großen Augen zur Tür herum – schon glaubwürdiger. Von außen drückte jemand die Klinke herunter, ganz langsam und vorsichtig, als wollte man sich möglichst unbemerkt Zutritt zur Garderobe verschaffen. Als der Eindringling bemerkte, dass die Tür von innen verschlossen war, blieb er regungslos stehen – sein Schatten verriet ihn durch den schmalen Spalt unter der Tür. »Es ist wahrscheinlich ohnehin zu spät«, flüsterte Nancy, die Tür verängstigt im Blick. Auf leisen Sohlen führte sie Kilian zu einer seitlichen Verbindungstür in einen angrenzenden Garderobenraum. »Was wird mit dir? Werde ich dich wiedersehen?«, fragte der Blechschädel, woraufhin ihm Nancy erneut ihren Zeigefinger auf die verkohlten Lippen legte und ihm leise zuflüsterte: »Hoffentlich nicht!« In erhöhter Alarmbereitschaft öffnete sie eine weitere Verbindungstür, über die Kilian kurzerhand in einen schmalen Gang gestoßen wurde. Ehe er sich’s versah, hatte sie die Tür hinter sich zugezogen und – klick, klack, klick, klack – von innenverschlossen.