AVA - Oliver Rennicke - E-Book

AVA E-Book

Oliver Rennicke

0,0

Beschreibung

Ava ist zweimal da! In der einen Welt ein Junge, in der anderen eine Frau. Die eine Welt vermag der anderen nicht zu begegnen. Und dennoch gibt es gemeinsame Schnittpunkte, Überlappungen – einen geträumten Ort, an dem sich beide gegenüberstehen. Was hat es mit Avas spurlos verschwundener Schwester in der einen Welt auf sich, was mit dem "bösen alten Mann", der Ava in der anderen in den Abgrund reißt? Und dazwischen ein Ort, der sich weder in der einen noch in der anderen Welt befindet, ein Frauenhaus, tief im Wald versteckt. Drei Frauen, die auf den ersten Blick nichts miteinander verbindet, bis auf eine unbekannte Bedrohung aus den Wäldern, die sie in dem einsamen Haus gefangen hält, eine Entität, die eine zerstörerische Kraft auf den menschlichen Geschlechtsverkehr ausübt. Im "falschen" Körper jeglicher Erinnerung beraubt, findet Ava im Frauenhaus ihr eigenes Tagebuch, das ihr bald zum Torweg in ein anderes "fremdes" Leben gereicht. Welche kosmischen Kräfte wirken ein, dass sich aus derselben Seele in einer Welt Ava Türkis, in der anderen Ava Pink herausbildet? Und welche Rolle spielen dabei schwarze Löwen, Ochsenfrösche, die Roggenmuhme, ein weißblauer Kater, Göttin Freya und ihr berühmter Halsschmuck Brisingamen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 551

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



„Ja, ich bin geneigt, den Leib selber für eine handfest gewordene Seele zu halten … Der Baron hat eine Kommunikation zustande gebracht zwischen zwei Reichen, welche bisher wie durch einen Berg getrennt waren: zwischen dem Reich des Schlafs und dem des Wachens; man könnte sagen, zwischen den Polen des Bewusstseins, dem negativen und dem positiven Bewusstsein. Der Tunnel, der die Scheidewand durchbrochen hat, ist noch sehr labil, eng und finster. Wir wollen zusehen, dass wir ihn mit psychophysischen Ingenieurkünsten haltbar ausbauen, erweitern, erleuchten, damit die entgegengesetzten Reiche einander endlich zu paradiesischen Zuständen ergänzen. Denn alles Elend rührt von der Halbheit und Einseitigkeit her, welche in jedem der beiden Reiche für sich herrscht. Ich verrate aber, dass z.B. der schlafende Mensch immerhin de facto besser daran ist als der wachende … Der Mann gleicht dem wachenden, das Weib dem schlafenden Pol.“Mynonaaus ›Der Schöpfer‹

Oliver Rennicke

AVA(Überlappende Leben Brisingamen)

Kinderwald Gruppe 3

Freigegebene Auszüge aus dem „Traumtagebuch“ der Ava Yma

Die Seiten ›377‹ und ›437‹ teilweise unversehrt aus der Asche eines Komposthaufens nahe Blankenburg geborgen / weitere „Papierfetzen“ zur Rekonstruktion ans Labor übergeben / Kontakt zum Voreigentümer des Grundstücks konnte nicht hergestellt werden / Weiterführung der Fallakte **** *** *****

Seite 377  Die Nacht zum 23.6.2014

Hab von einem bösen alten Mann geträumt, der mir mit einer Nadel unerträgliche Schmerzen bereitet, über seinen „Spezialgriff“, dem ich mich hilflos ausgeliefert sehe. Und ich seh’ ihn immer noch, lächle in seine unbarmherzigen Augen, all meine Wärme und Empathie sende ich ihm zu und er schluckt sie rücksichtslos runter. Der böse alte Mann ist so viel stärker als ich. Meine zarten Hände und über mir nichts als Kälte, mir winkender Tod. Und in mir der Schmerz, leben auf der Nadelspitze, kann nicht leben auf der Nadelspitze. Er lässt nicht locker und seine Nadel tut es auch nicht, und ich frage mich, wer von beiden mir größere Schmerzen bereitet. Irgendwann hat er mich da, wo er mich haben will. Der Schmerz lässt mich in die Leidensfähigkeit eines anderen Körpers flüchten, eines weiblichen Körpers, in eine flexible Durchlässigkeit, um den Schmerz überhaupt irgendwie zu ertragen, der für jeden Mann tödlich wäre. Doch was war davor? War ich je etwas anderes als eine Frau? – Eine darüber gestülpte Form, bei der nur ein einziges Chromosom vom ursprünglichen Bauplan abweicht! – Auf der Nadelspitze wandelnd, glaube ich, ein Lächeln in seinen bösen, gar nicht mehr alten Augen erkannt zu haben, die erste menschliche Regung. Vielleicht ist für ihn doch nicht alle Hoffnung verloren, wenn er leise zu mir spricht: „Manchmal greif ich im Traum auf Bilder früheren Daseins zu. Manchmal erinnert sich mein Körper an eine Körperlichkeit, die er nie selbst erlebt hat!“

Seite 437

Die Nacht zum 13.10.2016

Da ist er wieder, der böse alte Mann. Vorher noch im vollen Saal schmeißt er mich aus seiner Vorlesung, nur weil ich anwesend bin, weil ich existiere. Hätte in der Halle nichts zu suchen, solange er da wäre, meint er vor versammelter Mannschaft. „Aber wo soll ich hin?“, frage ich, und keiner im Saal steht mir zur Seite.    Später dann am Abend, ganz allein auf der Straße, kommt er wieder angekrochen. Ich kann seine Nähe spüren. Hat er mich wieder, wo er mich haben will! Bin ich ihm wieder brav in die Falle gegangen, in meinen Strapsen schutzlos ausgeliefert – da gehöre ich hin und nicht in seinen Hörsaal!    Aber wer kommt denn da? Was erwartet mich denn da – ein kleiner, schmierig grinsender Freier mit Glatze, nicht ganz, wenn er wenigstens eine Glatze hätte. Schon kommt er angepoltert, grobmotorisch, doch fest entschlossen. Ich rühre mich nicht, wie bei einem anstürmenden Hund, als ob mir das bei ihm was nützen würde, als ob mir nichts passieren würde, wenn ich einfach nur stillstehenbleibe.   Aus heiterem Himmel umarmt er mich. In mir zuckt es widerstrebend, da drückt er nur umso fester zu, nimmt mich in seinen schwitzigen Schwitzkasten. Und schon fängt er an, sich an mir zu reiben. „Ist ja schon gut, ist ja gut!“ – Will der mich hier echt in aller Öffentlichkeit besudeln? Er beißt aggressiv in die Rüschen, zerreißt mir das bisschen Stoff, das mir noch geblieben ist – „Hast du ’ne Ahnung, wie teuer das war? Hey, nicht beißen! Aua, das tut mir doch weh!“ – Doch das interessiert den gar nicht und er drückt zu wie beim Heimlich-Griff! – „Na toll, das war meine Rippe!“ – und ich schaff’s einfach nicht, mich aus seiner Umarmung loszureißen – „Mann, ey, ich krieg keine Luft! Hör doch mal auf! Ohhhaaaaa ist das ätzend, ääääääääääääääääääääääätzend …“ – Und schließlich sehe ich es ein: Der ist zwar kleiner, aber viel stärker als ich. Ich spüre seinen widerlich warmen Atem, Kaffee und gespuckten Zigarettenrauch auf meiner Haut, wie spitze kleine Nadelstiche, das Zischen auf der heißen Herdplatte. Dann seine Faust in meinem Gesicht – ganz große Leistung! Vorne links bricht ein Stück meines Zahns heraus und es entsteht eine unangenehm scharfe Kante, ganz zu schweigen von dem Schmerz und der Erniedrigung. „Wenn ich mit dir fertig bin“, brüllt er mich an, „bist du nicht mehr so hübsch, kleines Büc****** ***** ****. Ich hab da noch was für dich, meinen Talisman! Das da ist der einundfünfzigste Breiten******** ****** **** *** ****** ****** **********************!

Prolog

»Es wird dunkel im Märchenwald!«, bemerkte das neue Lebenslicht, als es im Gleitflug über einen künstlichen Miniaturwald hinwegschwebte. Der Märchenwald, der sich unter ihm erstreckte, erinnerte an die Landschaften detailverliebter Modelleisenbahnen, und tatsächlich gelang es dem Ungeborenen, einen beleuchteten Zug an einem Gebirgspass auszumachen: eine Spielzeuglokomotive, die zischend durch einen irrealen Kunststoffwald im Innern der Mutter ratterte.     Mit weit ausgestreckten, winzig kleinen Fingerchen versuchte es, den Zug zu berühren, da es ihn in greifbarer Nähe glaubte. Das einzige, was sich jedoch ertasten ließ, war die ausgedehnte Leere, die es weit und breit umgab. Viele hundert Meter lagen zwischen ihm und der Lok, eine schwindelerregende Höhe, über die das Ungeborene vogelgleich hinwegschwebte. Es ist nur ein Traum, das ganze Leben, mir kann nichts passieren! – Und doch verblieb da eine leise Ungewissheit, ein stiller Begleiter, der sich jeglichen Erklärungsversuchen verwehrte. Eine tiefe Wahrheit, die das Ungeborene wider die eigene Vernunft alles andere als sicher und geborgen fühlen ließ. Hinter den festen Mauern der Ordnung verflüchtigen sich Rauchschwaden im konturlosen Raum. Dort draußen liegt das Chaos, alt wie die Zeit selbst. Das ist, was mich am Ende dieser Lebensreise erwartet!    Ein leichtes Ziehen begleitete seinen Flug, ein Schmerz, der sich über den vermeintlichen Traum hinaus erschreckend real anfühlte. Ein fieberhaftes Stechen lag in allem, was das Ungeborene umgab: in den vorbeiziehenden kleinen Wald- und Berghütten, die beleuchteten Puppenstuben glichen, in den unwirklichen Feldern, die an grünen Teppich erinnerten, selbst in den gräulich-weißen Wolken, die sich, in viel zu hohem Tempo – flockig und viel zu fest – über einem Miniaturhimmel ergossen, zu Wirbeln ineinander verschlangen.     Wie aus dem Nichts schnitt ein merkwürdig aufglimmender Vogelschwarm seine Flugbahn. Schmerzhaft zischend sausten die Vögel voraus, geradewegs hinein in einen Ozean aus vermeintlicher Watte. Jedes Mal, wenn sie mit ihrem weiß leuchtenden Gefieder in abgehackter Verlangsamung schlugen, funkelten ihre Flügel wie Blitze auf, kleine, kurze Risse in Raum und Zeit, die lange Nachbilder erzeugten. Mit ihrem befremdlichen Flügelschwung durchzog ein elektrisch stechender Schmerz das bis dato schwerelose Lebenslicht, das gleichsam raste und in sich ruhte. Im Schlafe schwerelos, durch Lüfte gleitend, doch kribbelnd bleibeschwert, gelang es dem Ungeborenen nicht einmal ansatzweise, die Blitzvögel einzuholen. Langsam aber stetig verschwanden sie als weiß aufglimmende Punkte in der Dunkelheit – und wenn ich die letzten Vögel aus den Augen verliere, werden auch für mich die Lichter ausgehen.     Ehrfurchtsvoll blickte das Ungeborene in die Tiefe. An einer hügeligen Lichtung machte es einen plüschigen Pandabären aus. Wacklig winkend stand er im Wind und schlug verängstigt die Pfoten überm Gesicht zusammen, als urplötzlich die Nacht über ihm hereinbrach.      Im Schwebeflug wagte das Ungeborene einen Blick zurück auf den Ursprung der plötzlichen Verdunkelung. Ein tiefblauer Mond mit einem hinterhältig grinsenden Gesicht und einer langen, spitzen Nase stand hoch oben am Firmament. Wie aus dem Nichts war er aufgeschlagen und näherte sich nun bedrohlich der kindlich harmonischen Miniaturwelt. Ein ekelerregend organischer Fremdkörper, umso abstoßender mit Blick auf die plüschig weiche Oberfläche. Mit erschreckendem Tempo wurde die Zerrfratze größer, bis sie beinahe den gesamten Himmel für sich vereinnahmte. Alles um das Ungeborene herum drohte der Himmelskörper in seiner Dunkelheit – dem harten, festen Ekel der Erwachsenenwelt – zu verschlingen.     Das Ungeborene beschleunigte seinen Flug. Hinter den Waldhügeln erreichte es eine merkwürdig helle Fläche, die in ihrer Beschaffenheit an menschliche Haut erinnerte. Ein Waldsee und hinter den Bergkuppen Beine, so weit das Auge reichte, kilometerlange Waden, ausgestreckte Schenkel, die sich um den gesamten See herum spreizten.    Dahinter weite Felder – und zwischen schwarzer Erde menschliche Haut, ein Bauch mit Nabel, der sich schier endlos in die Ferne erstreckte, sich unterm hügeligen Ackerboden auf und ab wölbte. Der Bauchnabel, ein tiefer Canyon und knapp darunter ein vermeintlich winziger Leberfleck, der sich zu einem Plateau erstreckte. In der Ferne stand ein gigantischer Laubbaum, der sich irgendwo im Himmelszelt verlor.     Mit unermüdlichem Schwung stieg das Ungeborene höher in die Lüfte empor, und mit ausreichender Distanz – der Weltenbaum blieb unerreichbar fern – glaubte es, ein menschliches Gesicht unter sich auszumachen, das mit der Erde verwachsen schien, allem Anschein nach weiblich, mit blasser Haut und stark geschminkten Augen, die sonderbar vertraut anmuteten, auch wenn sie sich in ihrer Makellosigkeit keiner realen Person zuordnen ließen. Wie ein Staubkorn hing das Ungeborene in der Schwebe zwischen zwei Giganten, der weiblichen Landschaft und dem vereinnahmenden Schatten darüber.     Der Vollmond erzeugte eine enorme Sogwirkung, deren Intensität stetig anschwoll, je näher die Kollision bevorstand. Das Ungeborene glaubte, mit der Berührung des Mondschattens, in eisiges, schwarzes Wasser einzutauchen. Und der Mond, den fliegenden Winzling erspähend, spitzte seinen kraterartigen Mund und intensivierte die Sogwirkung. Ein kräftiges Ziehen, ein reißender Strom, und bald schon würde sich das Lebenslicht in seinem tiefen Schlund verlieren – von jetzt auf gleich nicht mehr existieren.    Schutzsuchend hielt es auf das kilometerweite Frauengesicht zu, steuerte die blutunterlaufenen, gleichsam von melancholischer Schönheit überbordenden Augen an. Eine Art malerischeGrütze – Preiselbeeren, vielleicht Himbeeren – tränte aus stillen Trauerozeanen und ließ einen leuchtend roten Fluss entstehen, der sich unaufhaltsam über die Gesichtslandschaft hinwegschlängelte. Das Gesicht, so makellos seine Schönheit auch anmutete, wirkte ermattet, erkrankt, der Blick glasig und leer.     Die verzerrte Mondfratze verdunkelte ihre Züge. Lediglich zwei winzig weiße Lichtpunkte wurden in ihren Pupillen reflektiert.     »Mangrowjong!Aus Kummer und Leid geboren, all die Schönheit und Hoffnung, wo alles verloren!«, säuselte eine mütterliche Stimme allgegenwärtig, überall und nirgendwo zugleich. Der Mondschatten ließ den Wind verstummen, doch die Stimme blieb – ganz nah bei dem Ungeborenen, als flüsterte sie ihm hinter vorgehaltener Hand ins Ohr.      Mit dem Kopf voran tauchte das Lebenslicht in ihr glitzerndes Gewässer ein, tiefer und immer tiefer, in die ungebrochene Schönheit ihrer linken Pupille, die einem gewaltigen Gebirgssee gleichkam. Die Kälte, die seine Haut von außen mit Millionen kleiner Nadelstiche piesackte, blieb an der Oberfläche zurück und wich einer erfrischenden Wärme, einem knisternd kühlen Lagerfeuer, das das Ungeborene von innen heraus beruhigte und ihm die eigene Schönheit erschütternd vor Augen führte.     Die mütterliche Stimme wies ihm den Weg durch eine gänzlich andere Dunkelheit: die tiefen Untiefen ihrer linken Pupille:»Mangrowjong!Aus Kummer und Leid geboren, all die Schönheit und Hoffnung, wo alles verloren!«Verstehe kein Wort, die Wachwelt zieht mich fort. Was bleibt, ist ihr Klang, doch nicht mehr lang! Konkrete Konturen, fester wird der Raum, und schon heißt’s: Aus der Traum!

Mitternacht

Mit einem Stechen in der Brust erwachte Ava in seinem Bett. Wie unter Fieber glühte seine Stirn, der Rücken, die Laken, alles war klitschnass. Je tiefer er einatmete, desto stärker die Schmerzen in seiner Brust, gefolgt von heftigen Hustenanfällen. Der grinsende Mond und die melancholischen Trauergewässer steckten noch immer tief in den Knochen, als hätte er sie physisch aus seinem Traum mit hinaufgeholt. Es war bereits weit nach Mitternacht, der reale Vollmond schimmerte derart intensiv durchs Fenster, dass die Möbel lange Schatten über den Dielenboden warfen – wandernde Gestalten, die in Avas ausgeprägter Phantasie ein gespenstisches Eigenleben zu entwickeln drohten.      Wachsam ließ er seinen furchtgeschärften Blick durch den Raum wandern. In einer Ecke machte er den kleinen Panda aus seinem Traum aus. Und je länger er ihn betrachtete, desto klarer wurde das Bild, der absurde Gedanke, der Bär würde ihn wahrhaftig beim Schlafen beobachten. Kopfschüttelnd musste Ava über sich selbst schmunzeln. Glaubte er tatsächlich, in dem Plüschtier etwas Lebendiges, eine Art Funkeln in seinen angenähten Glasaugen, erkannt zu haben?     »Nein, ich würde dich nie in irgendeiner Kiste verstauen!«, flüsterte er dem stillen Wegbegleiter zu. »Solange ich lebe, werde ich mich nie von dir trennen!« Solange ich lebe!Hab nie darüber nachgedacht, was mit meinen Sachen geschieht, wenn ich nicht mehr bin. Mein geliebter Tiko und all die anderen Schätze, mit denen ich so viel verbinde– meine Geschichte, mein ganzes Leben –für andere sind sienichts als Müll – und es brach ihm das Herz, dass sie eines Tages vermutlich genau dort enden würden.       Für einen kurzen, herrlichen Augenblick glaubte sich Ava in dem Zimmer seiner frühen Kindheit zu befinden, doch dann erkannte er den spärlich möblierten Raum, die Bruchbude im Wohnheim, in der er sich zwecks seines Schauspielstudiums seit einigen Wochen einquartiert hatte. Enttäuscht stieß er einen tiefen Seufzer aus, schmerzlich realisierend, dass seine Kindheit lange vorüber war.     Seine Kommilitonen pflegten ihn stets als schrägen ›Kantinenkomiker‹ zu belächeln. Er selbst sah sich nie als den Spaßvogel, als den ihn die anderen wahrnahmen, entsprach dieses Bild doch lediglich einer Maske, die nach außen hin die eigene Unsicherheit kaschierte. Was ihn wirklich berührte, ging zu tief, als dass es seine Kommilitonen je würden verstehen können. Eine Tiefe des Fühlens, die ihn nur allzu angreifbar für all die Wölfe im Schafspelz machte, die da draußen in den Hörsälen auf ihn lauerten. Eine negative, nicht greifbare Energie schien allgegenwärtig in den Köpfen all jener Zufallsbekanntschaften mitzuschwingen, die über die Jahre hinweg seinen Lebensweg streiften. Ihr Aussehen mochte über die Jahre hinweg variieren, doch sollte Ava stets derselben Negativität in ihrem Innern begegnen – vielleicht liegt’s ja doch an mir. Ja, es muss zwangsläufig an mir liegen!     Seit er sich zurückerinnern konnte, beschäftigte ihn ein Ereignis aus früher Kindheit, das so einschneidend, so erschütternd seinen Schatten über Avas Leben warf, dass es ihn gänzlich daran hinderte, Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen – nicht, dass jemand dabei gewesen wäre, der tatsächlich eine Beziehung zu ihm hätte aufbauen wollen. Irgendetwas, was er selbst nicht wahrnahm, schienen die anderen an ihm zu bemerken. Und wenn sie auch nichts von den Ereignissen aus seiner Vergangenheit wussten, so sahen sie doch umso deutlicher, dass mit ihm etwas nicht stimmte, dass irgendetwas an ihm nicht der Norm entsprach. Die Tiefe seines Empfindens ließ ihn zunehmend zum Außenseiter mutieren, zu einem Sonderling, der oberflächlich betrachtet von seinen Mitmenschen sogar gemocht wurde, was ihm den Weg in die Zweisamkeit jedoch nur umso unüberbrückbarer blockierte, verbaute, verbarrikadierte – jemand, der sie zum Lachen brachte, jedoch nach Feierabend stets allein loszog, hinein in eine selbst auferlegte Isolation, in die er sich gleichsam von der Gesellschaft hineingedrängt sah. Hin und wieder erfand er Ausreden, um sich seine Mitmenschen vom Hals zu halten, sein Alleinsein als unantastbare Schutzzone zu verteidigen. Diejenigen, deren Nähe er wirklich herbeisehnte – was selten genug der Fall war –, hielten ihn wiederum auf Abstand, und so mochte er auch sie bald nicht mehr leiden.    Eine Entwicklung, die sich letztlich auf einen einzigen Menschen zurückführen ließ, einen Menschen, den es zu seinem großen Unglück nicht gab, der nie existiert hatte – die kleine Schwester, die in frühster Kindheit spurlos verschwand. Es waren inzwischen über zwanzig Jahre verstrichen, ohne ein Lebenszeichen von Lissie. Doch was ihn mehr schmerzte als die Ungewissheit über Lissies Verbleib, war die Ungewissheit über ihre tatsächliche Existenz – der springende Punkt, der ihn seit Jahren, Jahrzehnten von einem geordneten Leben fernhielt. Ich habe einen älteren Bruder, aber doch keine jüngere Schwester! Alle wollen mich das glauben lassen, doch woher kommen dann diese Bilder, Erinnerungen, Gefühle? – Und wie so oft zuvor malte er sich andere Leben aus, abenteuerliche Leben, die seine Schwester irgendwo führte, weit weg, an entlegenen Enden dieser Welt. Vielmehr wollte er daran glauben, wollte spüren, dass sie irgendwo da draußen doch noch existierte. Nur beweisen ließen sich seine Empfindungen nie.      Vor einigen Wochen wurde er zufällig– über mehrere Ecken vom Hundertsten ins Tausendste – auf eine Musikerin namens Relija Yma aufmerksam, eine junge, aufstrebende Künstlerin, die zum damaligen Zeitpunkt als absoluter Geheimtipp gehandelt wurde. Ausgerechnet in diesem unnahbaren Popsternchen glaubte er, sie wiedererkannt zu haben – zum ersten Mal erblickt, doch lange vorausgeträumt. Obgleich sie sich in all den Jahren gewaltig verändert haben musste, war Ava fest davon überzeugt, dass es sich um dasselbe Gesicht, dieselbe Aura handelte – doch die Erkenntnis hängt an einem hauchdünnen Faden. Sie bleibt eine persönliche Glaubensfrage, die mich vor dem Abgrund bewahrt oder genau in diesen hineinstürzt.     Momente, in denen er von plötzlich aufkeimenden Selbstzweifeln befallen wurde, ließen ihn bald Abstand nehmen, bald wieder hoffen. Er sah die Augen seiner Familie, sah, wie sie an ihm hafteten, mit all dem Kummer, den er ihnen bereitete. Und er sah die Distanz, mit der sie sein Innenleben durchleuchteten, den Teil eines Menschen, der keinen anderen Menschen etwas angeht. – Und ob sich nicht auch der Demenzkranke mitunter von solchen Blicken bis ins Mark seiner Seele durchleuchtet, zur Schau gestellt fühlt.    Sein Leben war zu einem hoffnungslosen Widerspruch verkommen. Äußerlich kerngesund, war ihm doch kein Frieden vergönnt. Im Innern klaffte eine unsichtbare Wunde, die nicht verheilte und die nicht behandelt werden konnte, da sie niemand verstand.     Von Zeit zu Zeit, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab, befragte er Leute seines damaligen Umfelds, ungezwungen, ohne erkennbaren Hintergedanken – ein Tag der offenen Tür seiner damaligen Grundschule, der Kindergarten als Wahllokal, die damalige Kindergärtnerin als Wahlhelferin … Aus diesen Plaudereien über vergangene Zeiten ergab sich stets die Frage nach der Erinnerung an die kleine Lissie, mit der er als Kind so gern gespielt hatte. Dabei vermied er es bewusst, von seiner Schwester zu sprechen. Doch niemand wollte sich, auf seine überaus detaillierte Beschreibung hin, an besagtes Mädchen erinnern. Etwas in ihm sträubte sich gegen die Akzeptanz der harten Fakten – ein unbeirrbarer Instinkt, der ihn, wider die eigenen Zweifel, weitersuchen ließ.      Rückblickend glaubte Ava, ein eigenartiges Aufblitzen in den Augen eines belauschten Nachbarn erkannt zu haben, etwas Kühles, Berechnendes, als enthielte man ihm ganz bewusst Informationen vor.     Einmal hatte er genügend Mut aufgebracht, um seine Eltern auf Lissie anzusprechen. Doch nicht einmal sie vermochten sich an das Mädchen zu erinnern, und nicht einmal der eigenen Mutter gelang es, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. In seiner wahnhaften Vorstellung glaubte er, dieses verheimlichende Aufblinzeln auch in ihren Augen wiedererkannt zu haben. Sie lügen, und ich seh’s in ihren Augen! Alle verhalten sich so merkwürdig, sah Ava die reservierten Mienen deutlich vor sich, diesen sonderbaren Gesichtsausdruck, der allen Befragten gleichermaßen innewohnte. – Ein Mensch kann aufhören zu existieren, aber können auch all seine irdischen Spuren, sämtliche Erinnerungen in den Köpfen seiner Mitmenschen gleichermaßen verschwinden? Ich werde hier noch wahnsinnig, ach, wär’s doch nur ein Hirngespinst, ach, könnt ich doch endlich Gewissheit haben! Doch der Stachel steckt zu tief!    Im Nachhinein bereute er, mit seinen Eltern darüber gesprochen zu haben. Die Unbeschwertheit der frühen Jahre wollte sich fortan nicht mehr einstellen, möglicherweise nie wieder.     »Relija Yma, vermutlich ein Künstlername«, sah er sich wieder im Hier und Jetzt seiner Studentenbehausung das Programmheft eines Konzertveranstalters durchblättern. Für die kommende Woche stand ein großes Hallenkonzert in seiner Heimatstadt auf dem Spielplan. Freude und Furcht vor diesem Tag schwangen sich auf zum Tanz in seiner Magengrube. Die Fallhöhe war schwindelerregend wie nie zuvor, blieb ihm doch nur diese eine Gelegenheit, mit ihr in Kontakt zu treten, dieser eine lächerliche Strohhalm, an dem er sich festklammerte.     Im Kleiderschrank wühlte er nervös in seiner Jacke, kramte eine Pille aus einer mit Krümeln und Flusen übersäten Innentasche hervor, gelb mit vier roten Punkten darauf, auf der Rückseite ein großes K. Ein Kommilitone, der sich selbst der ›Traumkönig‹ nannte,hatte sie ihm einst besorgt und ihm versichert, dass ihre Wirkung der eines Wahrheitsserums gleichkäme. »Eine bewusstseinserweiternde Erfahrung, die dein bisheriges Leben für immer verändern wird!«, hatte er allen Ernstes behauptet, bevor er für immer verschwand – denn wie sich später herausstellte, war der Traumkönig kein Kommilitone und hatte an der Uni nichts verloren.      »Deine ach so wichtige Wachwelt (›Welt der Atmung‹) killt dich in wenigen Tagen, Wochen«, erinnerte er sich an seine vereinnahmende Stimme, »oder wie lange kommst du wohl ohne Schlaf aus, ohne die Regenerationsebene und deine ach so unbedeutenden Träume? Ja, ganz richtig, ich bin der Traumkönig!« – So ein Spinner! – »Und ich vertraue dir jetzt ein Geheimnis an: In Wahrheit steht dieser Regenerationsanteil weit über deiner Wachwelt, die dir eine feste Ordnung vorgaukelt. Doch darunter liegt alles im Chaos, und das ist gut so! Mal darüber nachgedacht, was diese Regeneration über deine Sterblichkeit aussagt? Was währt wohl länger, dein Leben in der Wachwelt (›Welt der Atmung‹) oder dein Tod da draußen? Ganz richtig, ich bin dein Traumkönig und hier ist deine Medizin! Ich verspreche dir, damit kannst du wieder träumen, damit holst du dir deinen Sinn im Universum zurück, mehr Sinn als du dir je erhofft hast, oder du bekommst dein Geld zurück!«    Lange Zeit hatte Ava des Traumkönigs Tablette mit sich herumgetragen, unentschlossen, Angst vor den Nebenwirkungen, dem unbekannten Inhalt, auftretenden Angstzuständen, körperlichen Schäden, Vergiftung, Herzstillstand, Tod! Doch dieses Risiko war er inzwischen gewillt in Kauf zu nehmen. Ohne einen weiteren Gedanken schluckte er die Pille runter, Augen zu und durch, jetzt gibt es kein Zurück mehr! Ein Schluck Wasser zum Hinunterspülen, und alles Weitere, was nun folgte, würde sich fortan seiner Kontrolle entziehen.     Mit leichter Hitze im Kopf kehrte er in sein Bett zurück, versuchte zu schlafen, geduldig abwartend, frei von Angst, und bald ermattet, irgendwie taub, mit anschwellendem Druck im Kopf. Er blickte aus dem Fenster, doch nichts geschah. Da fing er an, seinen falschen Kommilitonen zu verfluchen, hatte er ihm doch ein vermeintliches Placebo angedreht, Melatonin bestenfalls. Traumkönig, dass ich nicht lache!       Minuten verstrichen, bis sich seine Wut legte. Langsam wurde er ruhiger, immer ruhiger, versank in Erinnerungen an die eigene Kindheit, ohne den fließenden Übergang vom Erinnern zum Träumen zu bemerken. Lediglich die Wanduhr versuchte, ihn erfolglos im Raum festzuhalten. Ein dumpfes Klicken, ein metallisches Klacken, und behäbig setzte sich ein Traum in Gang.

Ein neuer Mensch

Da ist sie endlich, meine kleine Schwester, jagte Ava ein laut lachendes Mädchen von vielleicht vier, fünf Jahren durch das einst so vertraute Elternhaus. Er selbst musste zu diesem Zeitpunkt etwa sieben oder acht gewesen sein, was ihm bitter aufstieß, wurde seine Mutter doch erst mit Lissie schwanger, als er das siebente Jahr bereits erreicht hatte. Doch vielleicht war auch dies nur eine Fehlannahme, beruhend auf einer falschen Erinnerung – und damit ein weiterer Sargnagel für Lissies Existenz!     Die kleine Schwester stürmte lachend ins Elternschlafzimmer, um sich dort vor ihrem Bruder zu verstecken.      »Pass auf, jetzt kommt das Kitzelmonster!«, brüllte Ava mit albern verstellter Stimme hinter ihr her, woraufhin sie nur umso lauter lachte.      »Müsst ihr denn immer so wild rumtoben?«, wurden sie von ihrer Mutter ermahnt, die gerade diverse Blusen in einen Kleiderschrank einsortierte. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sich die beiden vor ihr auf dem Bett kullerten und sich gegenseitig auskitzelten. Von ihren Kindern angesteckt, legte sie kurzerhand ihren Kleiderstapel beiseite, stieg auf das Bett und kitzelte mit.      Belinda befand sich in ihren frühen Vierzigern, als sie Ava bekam. Damals galt er bereits als ungeplanter, verspäteter Nachzügler, war doch sein großer Bruder Mel zu diesem Zeitpunkt bereits elf Jahre älter als er. Und war Mama nicht schon viel zu alt für einen runden Bauch? – Doch im selben Atemzug erinnerte er sich an einen Bericht im Fernsehen über eine Inderin, die wohl im Alter von vierundsiebzig Jahren Zwillinge zur Welt gebracht hatte.  Ich sehe sie so deutlich vor mir! Ja, ich kann sie anfassen, wahrhaftig festhalten. Meine kleine Schwester fühlt sich genauso real an wie mein großer Bruder, bemerkte Ava schwer seufzend, während er diesen neuen, zusätzlichen Menschen auf Familienfotos sah – und auf den zweiten Blick nicht mehr sah. Sein Blick fiel auf die anderen Familienmitglieder, die auf den Fotos nicht verschwanden, die fest im Leben verankert waren. In welcher Beziehung standen die anderen zu ihr? Sein großer Bruder Mel schien überhaupt keinen Bezug zu ihr zu besitzen. Doch schnell fand er auch hierfür eine plausible Erklärung: Nach ihrer Geburt war Mel kaum noch präsent, da er nicht mehr zu Hause wohnte. Früh hatte er das Nest verlassen und besaß inzwischen seine eigene Familie, die nicht mehr zu Avas Welt gehörte. Doch auch daraus ergab sich ein Widerspruch: Als Ava das siebente Lebensjahr erreicht hatte, war Mel gerade achtzehn und lebte sehr wohl noch unter demselben Dach.     Nach einer Weile des Grübelns, glaubte Ava, den Fehler in seinen Berechnungen gefunden zu haben: Er lag bei ihm selbst. Demnach fühlte er sich beim Spielen mit Lissie lediglich wie ein Siebenjähriger, musste in dieser Erinnerung jedoch bereits wesentlich älter gewesen sein. Sein Bruder Mel lebte tatsächlich nicht mehr im Elternhaus, somit war das kleine Mädchen verständlicherweise auf Ava als ihren einzig wahren großen Bruder fixiert. Ich dachte, ich würde noch einen Bruder bekommen, erinnerte sich Ava, während er das Gesicht seiner kleinen Schwester kopfüber in Augenschein nahm. Er stellte eine gewisse Ähnlichkeit zu den anderen Familienmitgliedern und vor allem zu sich selbst fest. Dennoch sieht ihr Gesicht irgendwie anders aus, ein neuer, eigenständiger Mensch! Schon als ich sie im Krankenhaus das erste Mal erblickte, bestand da eine tiefe Verbindung, die auch das Neugeborene zu spüren schien. Plötzlich griff diese kleine Hand nach meinem Zeigefinger und eine eisige Gänsehaut kroch mir wie ein Gespenst in den Nacken, als sie die Augen öffnete und mich unvermittelt angrinste … Als ich das abergläubische Schauermär vom Leibhaftigen endlich überwunden hatte, begegnete mir dieses Grinsen, dieses schelmische Grinsen jedoch in einem ganz anderen Licht: Sie lachte, freute sich, auf der Welt zu sein, einfach nur da zu sein und zu existieren.

-;-

Wie sich ihr Bauch nach außen wölbt, wie ’n Wasserballon, und doch fühlt sich ihre Haut an wie meine, dachte Ava beim Blick auf seine schwangere Mutter. In der Zeit zurückgereist, stand die Geburt seiner Schwester erst in einigen Wochen bevor. Belinda saß im Schatten unterm sommerlichen Pavillon auf dem damaligen Grundstück in der Kinderwaldsiedlung. Merkwürdig intensiv brannte die Sonne an diesem Nachmittag. Alles schimmerte, glitzerte in einem hellen, milchig ausgeblichenen Traumlicht – und wirkte dabei doch so lebendig, viel zu lebendig, um Realität zu sein.     Vom Frühlingsgetümmel beflügelt, suchten Mutter und Sohn händeringend nach einem Namen für das neue, noch ungeborene Leben. Schließlich brach Belinda das Schweigen und brachte einen höchst sonderbaren Namen ins Spiel: »Was hältst du von Marillion?«     »Marillion? Ich weiß nicht, klingt irgendwie …« – und er glaubte, die Worte bereits im Vorfeld laut ausgesprochen zu haben – »… wie in einem Traum!« Mit dem Déjà-vu-Erlebnis wurde ihm schwarz vor Augen, als hätte er die Szene schon einmal haargenau so erlebt. »Mich hast du Ava genannt, in der großen Gruppe halten sie Ava für einen Mädchennamen.«     »Ava ist auch ein Name für Jungs«, widersprach Belinda rechtfertigend.    »Das ist er nicht!«     »In Grönland ist es ein Name für Jungs!« – Du hasst mich dafür, hab ich recht? Würdest dich am liebsten umbenennen!    Belinda erinnert sich an eine Frau, die sie damals an ihrem Wochenbett aufgesucht hatte, als sie mit Ava schwanger war, eine ältere Nonne, die ihr nie zuvor begegnet war: »Sie hätten dem Jungen nie diesen Namen geben dürfen!«, hatte ihr die Ordensschwester mit bösartig belegter Stimme vorgehalten.      »Aber in Grönland …«      »Das hätte nie erlaubt werden dürfen!«      »Na hören Sie mal!«     »Sie wissen gar nicht, was sie damit angerichtet haben«, war ihr die Fromme vorwurfsvoll ins Wort gefallen, und ihre Miene hatte sich derart verfinstert, dass die junge Mutter augenblicklich verstummt war. »Dieser Name ist tabu für einen Jungen! Ausgerechnet dieser Name!«      »Aber was ist denn daran so schlimm?« – Doch was auch immer damals tatsächlich vorgefallen war, in ihrer Erinnerung fehlte von der verschleierten Frau von jetzt auf gleich jede Spur – als hätte sie mir mitten im Gespräch die Augen zufallen lassen.      Stattdessen erinnerte sich Belinda an einen seltsamen Traum von einer wunderschönenFrau, die ihr einst im Wald begegnet war, die nichts trug als goldenen Halsschmuck und ein offen stehendes Gewand aus Federn, und die sie im Gegenzug für ihre Namenswahl beglückwünschte: »Ava! Mit diesem Namen hast du ihr das Tor geöffnet, durch das sie eines Tages zu mir gelangen wird!« …     Und wieder im Garten – wieder im Augenblick – wurde sich Ava der großen Verantwortung gewahr, die mit der Namensgebung einherging: Ein neues Menschenleben befindet sich auf dem Weg, ein neues Menschenleben, das mein bisheriges Leben für immer verändern und diesen Namen bis zu seinem Ende tragen wird.     »Wie wär‘s mit Melanie, Marisa oder Lissie?«, fragte Ava versöhnlich, wobei die Worte wie von selbst über seine Lippen kamen.      Beide schwiegen und lauschten der Musik des Waldes, einem geheimnisvollen Vogelgezwitscher aus dem schwarzen Bereich, der die Siedlung weithin von der Außenwelt abschottete. Der Klang des letzten Namens hallte noch lange nach und setzte sich schlussendlich gegen die anderen Vorschläge durch.     »Lissie klingt schön!« Nachdenklich ließ er sich den Namen auf der Zunge zergehen: »Ja, Lissie klingt nach der richtigen Entscheidung!«

Jahrtausendereignis

Belinda saß mit ihren Söhnen auf dem alten Sofa im Wohnzimmer und starrte gebannt auf einen noch älteren Röhrenfernseher, hochschwanger, was sich inzwischen schwerlich übersehen ließ.     Im Fernsehen lief eine seriös anmutende Nachrichtensendung, dennoch klang die verkündete Neuigkeit so absurd, so unwirklich, dass sie unmöglich wahr sein konnte. Wenn man den Worten des Nachrichtensprechers Glauben schenkte, stand die Ankunft außerirdischer Besucher unmittelbar bevor. Alle Welt schien dem Spektakel aufgebracht entgegenzufiebern, wie das Bildmaterial rund um den Globus belegte: In den Straßen wurde ausgelassen gefeiert, Millionen und Abermillionen fanden sich unter freiem Himmel zusammen, die Probleme der Welt schienen, zumindest in dieser Nacht, zweitrangig.     Belinda legte eine Hand auf ihren rundlich geschwollenen Bauch. Da entfuhr ihr ein schwacher Seufzer: Was diese einschneidende Veränderung wohl für ihre ungeborene Tochter bedeuten mochte – sie würde später einmal in einer Welt groß werden, in der es als selbstverständlich galt, dass anderes Leben im Universum existierte.     Überraschend erhellte sich der Nachthimmel in grünen, befremdlich flackernden Lichtern, sonderbare Strahlen fielen durchs Fenster ein. Belinda – im Sofa versackt, an langen Armen emporgezerrt – stürmte mit ihren Söhnen zur Straße vor, um sich das unheimliche Schauspiel genauer anzusehen, die ungeborene Tochter – in ihr schwimmend, schwebend – mittendrin.    Umzingelt von unzähligen Anwohnern starrte Belinda gebannt zu den Sternen, als sich gigantische Bilder aus Licht in den Nachthimmel projizierten. Ein gespenstischer Anblick, der entfernt an Aurora borealis, das flimmernde Nordlicht, erinnerte. Unverhofft zeichneten sich geisterhafte Erscheinungen ab, menschenähnliche, langhaarige Fratzen ragten als belebte Riesenleinwände kilometerweit über den klaren Nachthimmel – ein Jahrtausendereignis, an das sich bald jedoch niemand mehr erinnern sollte. Lediglich in den Köpfen vereinzelter Individuen sollte dieses Ereignis als Konfabulation, als kollektiv falsche Erinnerung, weiterhin herumspuken. 

Semuchsunggzenoggziffen

Im Körper des kleinen Jungen stiefelte Ava mit seinem Vater und seinem großen Bruder Mel durch die verschneiten Wege der Kinderwaldsiedlung. Vater Nutter, eine unscheinbare Erscheinung in den späten Fünfzigern, schlitterte zügig vorneweg. Es war eine gespenstisch ruhige Nacht, lediglich das knirschende Stapfen durch den Schnee durchbrach die Stille. Die warmen, orangestichigen Lichter der Straßenlaternen warfen einen verträumten Schleier auf die eingeschneite Winterlandschaft und ließen den Schnee in Avas Augen wie glimmernden Zucker erstrahlen.     Es war Weihnachten und dies der traditionelle Heiligabend-Familienspaziergang. Einzig Mutter Belinda fehlte, ›um mal wieder den Weihnachtsmann in Empfang zu nehmen‹. Ava und sein Bruder standen kurz davor, eine kleine Schwester zu bekommen. Es würde vermutlich nicht mehr an diesem Abend geschehen, dennoch lag Lissies Niederkunft allgegenwärtig in der Luft, umgab alles und jeden und verlieh diesem Fest einen ganz speziellen Glanz.    Unverhofft zog Nutter das Tempo an und rannte vorneweg, als wäre ganz überraschend der Teufel hinter ihm her. »Na los, wer als Letzter bei der Kirche ist, bekommt keine Geschenke!«, fuhr er lachend zu seinen Söhnen herum. Mel und Ava zügig hinterher.      »Warte!«, rief der Siebzehnjährige hastig.     »Warte auf uns!«, lachte der Sechsjährige beim Rennen und schmiss sich in den Schnee.     Bald gelangten die Männer zu einer kleinen, festlich beleuchteten Kirche auf einem Dorfplatz. Avas Blick wanderte hinauf zu den hohen Kirchenfenstern, die schon immer einen ehrfurchtgebietenden Eindruck auf seine Phantasie ausgeübt hatten – ein kindlicher Blickwinkel, aus dem alles größer erschien, aus dem die Welt noch voller Geheimnisse steckte.     Mit einem langgezogenen Knarren öffneten sich die schweren Kirchentüren, warmes Licht drang aus der Halle nach draußen. Zwanzig bis dreißig dunkelgekleidete Personen stapften zügig hinaus in den Schnee. Einige von ihnen wünschten im Vorbeigehen ein frohes Fest, wobei es Ava nicht gelang, auch nur ein einziges Gesicht auszumachen. So sehr er sich auch bemühte, alles, was er sah, waren unscharf verwaschene Schatten.      »Der Gottesdienst ist schon vorbei. Wir kommen mal wieder zu spät, wie jedes Jahr!«, bemerkte Mel.     »Wie schnell die alle nach Hause rennen, jetzt, wo sie ihren göttlichen Segen haben«, amüsierte sich Nutter lästerlich. »Ja, ja, der Herr hat’s gegeben!«     »Und wann gehen wir endlich nach Hause?«, nörgelte Mel, und der Knirps klapperte fröstelnd mit den Zähnen.     Als sie auf dem Rückweg in ihre vertraute Siedlung einbogen, warf Ava einen Blick auf das altbekannte Straßenschild: ›KINDERWALDWEG‹ – die Straße, in der er wohnte, lebte, seit er sich zurückerinnern konnte. Und doch klang der Name in diesem Moment, da er ihn flüsternd über seine Lippen brachte, so fremd, als hätte er ihn das erste Mal gehört, gelesen, ausgesprochen. Er versuchte sich vorzustellen, wie es sich wohl anfühlen mochte, zum allerersten Mal in diese Straße einzubiegen, wenn er woanders das Licht der Welt erblickt hätte und ihn nichts mit diesem Ort in Verbindung brächte. Die Kinderwaldsiedlung! Warum sie wohl so heißt? Warum hab ich nie danach gefragt?, begann er zu rätselnund malte sich bereits abenteuerliche Theorien aus, von Kinderseelen, die sich, von der Erwachsenenwelt abgeschworen, ihre eigene Existenz in den Wäldern aufgebaut haben mochten, die noch immer tief verborgen im Gehölz lebten und für die meisten Erwachsenen unsichtbar blieben.     Ava warf einen faszinierten Blick auf den schwarzen Wald, der von weihnachtlich geschmückten Vorgärten unterbrochen wurde. Wärmende Lichterketten verzierten unzählige Fenster, Dächer, Bäume, Zäune. In der träumerischen Atmosphäre schwelgend, verbanden sich die verwaschenen Lichter, Linsenreflexionen vor seinen Augen zu einem flächendeckenden Ozean am Nachthimmel. In seiner kindlichen Phantasie erweckte es den Anschein, als wäre Aurora borealis, das flimmernde Nordlicht, vom Himmel gestürzt, um sich unmittelbar über seiner Straße zu ergießen. Die Niederkunft der noch ungeborenen Schwester nahte und er glaubte, dass diese Lichter in einer Verbindung zu ihrem Lebenslicht standen und aus diesem Grund weitaus intensiver brannten, als sie’s für gewöhnlich am heiligen Abend taten.     In den Sträuchern eines benachbarten Grundstücks blieben seine großen Kinderaugen an einer schwarzen Säule hängen, erst unbewusst, dann hellwach: Die Säule wurde zur Statue, die Statue zur faszinierenden Riesenfigur, die in all dem farbenfroh geschmückten Weihnachtsgetümmel geradezu schauerlich deplatziert anmutete. Doch genau darin lag für den Jungen die große Faszination. Aus dem Kopf der Gestalt ragten hohe, spitze Ohren in den Nachthimmel empor, Ohren, die Ava an die Bilder der altägyptischen Gottheit Anubis erinnerten, die er noch vor kurzem bei einem Museumsbesuch bewundert hatte. Auf der glattpolierten Oberfläche reflektierten sich die Lichter der umliegenden Häuser, Hecken, Bäume, Becken – doch anders als beispielsweise das Mondlicht auf einem schwarzen Tümpel reflektiert wurde, schienen diese Lichter von der Statue regelrecht verschlungen zu werden. Ein reißender Fluss aus Licht, der in ein schwarzes Loch ohne Boden stürzte.     »Da!«, glaubte Ava, eine minimale Kopfbewegung vernommen zu haben. Ach, Quatsch mit Soße! Wahrscheinlich bloß wegen der Beleuchtung und weil ich ja selber in Bewegung bin. Doch obwohl er nicht recht an ein Innenleben der Figur glauben wollte, war ihm der Finstermann nicht geheuer. Schnellen Schrittes stapfte er mit Vater und Bruder an der vermeintlichen Statue vorbei, ohne sie auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Da schon wieder! – als würde sich der Kopf der Statue heimlich mitbewegen – Quatsch mit Soße! Das Ding hat doch nicht mal Augen!

-;-

Mit demAuftauchen der Schattensäule kündigte sich ein plötzlicher Wetterumschwung an. Die Stille wich einem stetig anschwellenden Brausen und unerwartet peitschte ein Sturm über den lockeren Pulverschnee hinweg. Ein pfeifendes Schneegestöber braute sich unheilvoll am Nachthimmel zusammen, gerade als sie ihr Zuhause am Ende der Waldsiedlung erreichten. Unmittelbar überm Dach zog sich das sonderbare Wetterphänomen zu einem trichterförmigen Strudel zusammen.      Eilig liefen sie die Stufen zur festlich geschmückten Haustür hinauf, wo Belinda sie bereits sehnsüchtig erwartete. Mit einem strahlenden Lächeln öffnete sie die Tür und ließ das drohende Unheil über ihrem Heim augenblicklich in Vergessenheit geraten. »Oh, jetzt habt ihr ihn gerade verpasst! Der Weihnachtsmann ist gerade wieder weg«, wandte sie sich augenzwinkernd an Ava.     »Dein Glück!«, begann der Vater ungehobelt laut zu lachen und musste dabei rülpsen.     »Hey!«, ermahnte ihn Belinda. »Ich hab es hier echt nur mit Kerlen zu tun!«     Nutters Lachen schallte indes mit so ohrenbetäubender Lautstärke durch die Siedlung, dass sämtliche Hunde aus der Nachbarschaft mit lautem Gebell darauf reagierten.     »Hast du ihm gesagt, dass ich artig war?«, fragte Ava schüchtern bei der Mutter nach, wobei es ihm weniger um den Weihnachtsmann als solchen ging – an ihn hatte er zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr geglaubt – als vielmehr um den Glauben an das Ungewisse, an eine wie auch immer geartete höhere Instanz, die ihn und seine Taten womöglich doch irgendwo beobachtete. Irgendetwas ist da draußen, so die Überzeugung des kleinen Jungen. In meinen Träumen kann ich es sehen, doch niemals wenn ich wach bin.     »Na! Schau doch einfach mal nach!«, schlug Belinda vor und führte ›ihre Männer‹ in den gut geheizten Flur, der ihnen nach dem frostigen Schneegestöber umso kuscheliger anheimelte.     Auf Zehenspitzen schritt Belinda vorneweg, öffnete langsam die Tür zum festlich beleuchteten Wohnzimmer. Die Lichter warfen einen unwirklichen Schleier über den Raum, als hätte das Nordlicht tatsächlich Einzug in ihr kleines Heim erhalten. Kurz darauf läutete Belinda ein kleines Glöckchen, woraufhin Ava, Mel und Vater Nutter nacheinander das Wohnzimmer betraten. Ava stürmte als Erster auf den Weihnachtsbaum zu. Eher beiläufig bemerkte er, dass die Kerzen im Vorbeigehen dünne Lichtfäden hinter sich herzogen, die noch lange als Nachbild über dem Raum hängenblieben.     Im Hintergrund legte Belinda eine weihnachtliche Schallplatte auf. Als dezente Untermalung angedacht, erzeugten die Töne bald ein eisiges Eigenleben mit ganz und gar gegenteiligem Effekt: Je länger sich die Platte drehte, desto schmerzlicher verdeutlichte sich, dass mit dem Gerät etwas nicht stimmte. Die Platte schien indes nur mit halber Geschwindigkeit zu laufen, wodurch die Musik eine zunehmend unheimlichere Stimmung erzeugte. »Nein, die Geschwindigkeit stimmt!«, bemerkte der kleine Junge – oder liegt es an mir? Stimmte mit mir etwas nicht?     »Können wir das bitte ausstellen?«, flehte er inständig, doch die anderen Familienmitglieder reagierten nicht auf sein Bitten, als würden sie die Grässlichkeit der Musik überhaupt nicht bemerken.     »Das größte Geschenk steht uns noch bevor«, strich Belinda lächelnd mit der Hand über ihren Melonenbauch – Wasserballon –, als würde ich mein eigenes Aquarium mit mir rumschleppen.     »Dann mach doch bitte endlich diese Musik aus! Ist doch Gift für Lissie!«, versuchte sich der kleine Junge, wutentbrannt Gehör zu verschaffen. Doch wie so oft in dieser Familie reagierten die Erwachsenen nicht auf seine Worte. Ob sie mich tatsächlich nicht gehört haben? Oder haben sie beschlossen, mich einfach zu ignorieren?     »Ich höre dich!«, vernahm er eine fremde Mädchenstimme, die gleichsam wie seine eigene klang und ihm frostig in den Nacken kroch. Da realisierte er, dass sich noch jemand im Raum befand. Sein kindisches Geschrei verstummte. Wie erstarrt blieb er vor dem geschmückten Baum stehen, als es zwischen den Zweigen zu knistern und zu schmatzen begann. Dunkelheit lag hinter dem Festtagsschmuck an den toten Zweigen, flüchtige Wölbungen ließen mit dem Holz verwachsene Gewebestrukturen erahnen.     Aus einer viel zu dunklen Ecke kroch ein fremder Mann in gebückter Haltung hinterm Sofa hervor. Auf den ersten Blick wie der Weihnachtsmann gekleidet, auf den zweiten wie ein Obdachloser in zerrissener Kutte. Das Gesicht des Weihnachtsmanns wurde beinahe vollständig von Schmutz und einem ekelerregend verfilzten Bart verdeckt. Dennoch bemerkte Ava, dass die durchschimmernde Haut in einem unnatürlich violetten Ton verfärbt war, ähnlich der Haut eines Ertrunkenen. Das Befremdlichste waren jedoch seine Augen. Ava glaubte, Iris und Pupille in der Schwärze durchschimmern zu sehen, jedoch vertauscht, in falscher, völlig verdrehter Anordnung – als würden sich drei Iriden in einen Augapfel hineindrängen, als hätte Avas Gehirn mit diesem Anblick den Schaden eines Schlaganfalls erlitten. – Böse Worte, böse Gedanken als Auslöser für einen Hirnschlag: »Sei dir mal nicht so sicher!«, höre ich die Stimme im Traum zu mir sprechen. »Sei dir deiner Existenz mal bloß nicht zu sicher!«     Verzerrte Bilder strömten auf den Schläfer ein, in Krankheit visualisiert: Eine Knetmasse veränderte ihre Gestalt in aneinandergereihten Einzelbildern, die eine fließende Bewegung vorgaukelten. Vom Mann in der Weihnachtsmannkutte fehlte jede Spur, dennoch bemühten sich die deformierten Einzelbilder um die Formung eines menschlichen Gesichts, was jedoch nur recht dürftig gelang. Der entstandene Wasserkopf war bei weitem zu überdimensional, um auch nur annähernd als Menschenkopf durchzugehen, dasselbe galt für den hochgewachsenen Tentakelkörper, der den Riesenkopf bis an die Zimmerdecke drängte, die Haut in dunkelgrüne Reptilienmuster färbte. Und doch schien es auf eine seltsam morbide Art lebendig zu sein, ein entfernt vermenschlichtes Etwas, nicht von dieser Welt. Würgeschlangen kringelten sich über Ava, als würden sie frei durch die Luft schweben. Hier und da holten sie aggressiv schnappend nach ihm und seiner Familie aus, strafften sich quer durch den Raum – wie dicke, fette Wäscheleinen –, nur um die Starre im nächsten Augenblick in widerlichen Windungen aufzulösen. Kein Winkel im Raum bot Schutz vor ihren meterweiten Ausschlägen. Nahtlos gingen die Schlangen in den flexibel ausfransenden Kopfkörper über. Möglicherweise, so hoffte Ava und sah sich durch den erwachsenen Schläfer bestätigt, bloß ein Gebilde, das seinem Traum entsprungen war, höchstwahrscheinlich sogar. Und doch erfuhr sein alarmierter Körper keine Entwarnung.      Die Bewegungen des Fremdgewebes stagnierten zu einem eingefrorenen, scheingefrorenen Standbild und ließen sich mit bloßem Auge kaum mehr wahrnehmen – wie langsam vorüberziehende Wolken, unmerkliche Veränderungen in einer statischen Fotografie. Umso aktiver die inneren Vorgänge, die es aussandte. Den Eindringling umgab eine schmerzhafte Melancholie, die sich durch die grässliche Musik entfaltete. Eine depressive Stimmung breitete sich im Raum aus und wandelte die ursprünglich so träumerische Atmosphäre zu einer grässlichen Krankheitsschwere – es erweitert meine Wahrnehmung gegen meinen Willen, lässt mich an meiner eigenen Geburt teilhaben. Es ist ja so schrecklich, kein Mensch sollte sich daran erinnern müssen! – Und an meinem Tod, wie sie alle um mich herumstehen und versuchen, mir zu helfen, auf dass ich ja mit meinem Bewusstsein bei ihnen bleiben möge!     Die bloße Präsenz der tumorartigen Geschwulst genügte, um sich tief in das Gefühlszentrum des Jungen hineinzufressen und dieses von innen heraus zu vergiften, harmlos schleichend, im Deckmantel einer besinnlichen Festtagsmelancholie. Fatalerweise hatte sich Ava dem Eindringling gegenüber bereits emotional geöffnet, wodurch er den Schmerz nun ungefiltert am eigenen Leib zu spüren bekam, einen Schmerz, der ihn aufwachen ließ und ihn gleichsam im Schlaf gefangen hielt, der ihn aufschreien ließ und ihm gleichsam Luft und Ton raubte. Ein unangenehm metallisches Ziehen durchfuhr seinen schmächtigen Kinderleib – wie damals, als ich die viel zu süße Schokolade in viel zu großen Mengen in mich reinschaufeln musste, du dummer, dummer Junge!     Beiläufig fiel der Blick auf ein Familienfoto, das im Hintergrund an der Wand hing. Mit großem Schrecken erkannte Ava, dass es um ein weiteres Familienmitglied ergänzt worden war, das auf dieser Fotografie nichts zu suchen hatte: den Schatten einer krummen, uralten Großmutter mit pechschwarzer Haut unter einem pechschwarzen Schleier, mit einem wehklagenden Schreigesicht, das ihre kaum erkennbaren Züge verzerrte. Erst bei längerem Hinsehen erkannte Ava sein eigenes Kindergesicht in der schreienden Greisin wieder. Und unbewusst tastet der Träumer nach seinem tauben Arm, nach den versteiften Fingern, Nägeln einer fremden, toten Hand.     Wieder versuchte er zu schreien, versuchte die unsichtbare Berührung abzuwehren, doch die kalten Phantomschlangen unter seinen Rippen raubten ihm auch weiterhin den Atem. Und unablässig hielten sie an ihm fest. Das unangenehme Ziehen kroch langsam an seinen Oberschenkeln hinauf – oder waren es ihre?  »Ist es echt!« Schlagartig war der Junge um Jahre gealtert und hatte nun nichts Kindliches mehr an sich, war nun nicht mal mehr ein Junge. Bin ich sie? Sehe ich durch ihre Augen?    Ava spürte, dass dieser Fremdkörper nach der ungeborenen Schwester trachtete, ihr zukünftiges Heim bereits ausspionierte. Eines Tages würde er Lissie mit sich nehmen, weit, weit weg, an einen Ort, wo sie für Ava auf ewig unerreichbar bleiben würde. »Denn alles Elend rührt von der Halbheit und Einseitigkeit her, welche in jedem der beiden Reiche für sich herrscht.« Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Unglück zuschnappen würde. Er ist bereits so nah, doch irgendetwas hält ihn noch zurück.

Mondschnee

»Er ist fort!«, schluchzte der kleine Ava aufgebracht, nun wieder Kind, wieder ganz Junge. »Und er wird für immer fortbleiben!« Mit einer Taschenlampe bewaffnet jagte er durch den finsteren Wald hinterm Haus. Der Sonnenuntergang versank tief hinterm Geäst, die Dämmerung nahte mit großen Schritten. Aus der Ferne schimmerten die Lichter des Elternhauses, von dem sich Ava zunehmend entfernte. Ich spüre die Distanz zum Haus, wie sie wächst, spüre die Distanz zu den Lebenden!    Einige Meter verstreut liefen sein Vater und seine Schwester Lissie, die nun seltsamerweise in einem ähnlichen Alter wie Ava selbst zu sein schien, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger. Inzwischen wurde sie, wie selbstverständlich, als ein fester Bestandteil der Familie wahrgenommen, als wär’s nie anders gewesen, als würde es nie anders sein. Die beiden hielten ebenfalls helle Strahler in der Hand und suchten damit den nächtlichen Wald ab.      »Mondschnee!«, brüllte ihr Vater und leuchtete hastig von einer Richtung in die gegenüberliegende. Ruhig abwartend blieb er stehen, um nach einer möglichen Antwort zu lauschen. »Mir ist, als wenn ich was gehört hätte!«     Mit kleinen, hastigen Schritten näherte sich Lissie ihrem Bruder, legte sanft ihre Hand auf seine Schulter und versuchte, ihn zu trösten. »Wir werden ihn finden. Ich bring ihn dir zurück!«, flüsterte sie zuversichtlich und drückte ihre Stirn gegen die seine. »Ich versprech’s!«     »Versprich es mir lieber nicht! Es ist alles so unwirklich. In der ersten Nacht ohne ihn träumte ich, wir hätten ihn im Wald gefunden und dass er ganz dünn geworden wäre«, schluchzte Ava aus geschwollener Kehle.     Belinda lief im Abstand von fünfzig Metern hinter den anderen her. »Mondschnee!«, brüllte sie in deutlicher Anspannung und ließ ihre Taschenlampe hastig durchs finstere Geäst kreisen. Inzwischen war die Nacht über dem Wald hereingebrochen.     Niedergeschlagen, dabei seltsam schläfrig, übermüdet, blickte Ava zu den Strahlern, die viel zu langsam durchs Astwerk schwirrten, wie in einer unrealistischen Zeitlupe. In der realen Wachwelt gibt es keine Zeitlupen!     Bald wurde der Wald lichter. Die Geschwister wechselten mit ihrem Vater vom Waldrand auf ein angrenzendes Feld. Der Mond strahlte derart hell, dass ihre Schatten weithin über die hügelige Wiese ragten.     »Wenn ich rufe, habe ich das Gefühl, ihn manchmal in der Ferne wimmern zu hören, ganz, ganz leise«, schluchzte Ava, »aber wenn ich dem Geräusch nachgehe, dann ist es irgendwann wieder verschwunden und es kommt nie wirklich näher.«     »Ich werde noch mal die anderen Wälder hinterm Feld absuchen!«, rief der Vater, hörbar nach Luft schnaufend. Leise wandte er sich an Belinda, die nun ebenfalls das Feld erreicht hatte: »Ich glaub nicht mehr, dass die Sache ein gutes Ende nimmt! Geh du mit den Kindern ruhig zurück, ist ja auch schon verdammt spät.« Und er blickte überrascht auf seine Uhr: »Meine Güte, schon gleich Mitternacht!«     »Als ob jetzt einer schlafen könnte. Lass sie doch ruhig noch ein bisschen mitsuchen!«     »Die anderen beiden hattest du rein gelassen?«, fragte Nutter mit unheilvollem Unterton.     »Ja, die sind sicher im Haus. Es wird wieder kälter und der arme kleine Kerl ist noch irgendwo da draußen. Ich versteh das nicht, er war doch immer so vorsichtig mit seinen drei Beinchen, hat sich doch nie weit vom Grundstück entfernt.«           Lissie und Ava entfernten sich zusehends von ihren Eltern. Tief in ihre eigene Welt versunken stapften sie im weiten Bogen über die Wiese. Der Vollmond warf sein ungewöhnlich brennendes Mitternachtslicht auf die Gräser und machte ihre Taschenlampen überflüssig.      Verschlafen ließ Ava seinen Blick über die weite Fläche schweifen, auf der sich die Schatten seiner Familie zu einem gespenstischen Paralleldasein verzerrten. Dieses Schattenspiel erinnerte ihn an die Silhouettenfilme Lotte Reinigers, die derart tief in sein kindliches Unterbewusstsein hinabreichten, dass er mitunter sogar in diesen schlichten Wechselwelten aus Licht und Schatten, aus Schwarz und Weiß, träumte – wobei am Ende seiner Träume stets zu befürchten war, sich hinter dem Schatten aufzulösen, für immer eins mit ihm zu werden und nicht mehr in die andere Welt zurückkehren zu können.     »Wann hast du Mondschnee zuletzt gesehen?«, fragte Lissie.     »Als ich gegen Morgen auf die Toilette musste, lag er auf dem Schuhschrank im Flur, auf dieser alten, braunen Zottelfelldecke. Ich hab ihn noch mal gestreichelt und fühlte mich dabei schon so seltsam traurig.«     »Hey, lauft mal nicht so weit weg!«, rief Nutter aus der Ferne. »Kommt, wir kehren um! Hat doch alles keinen Zweck.«

-;-

Im Wohnzimmer krabbelte eine schwarze Riesenspinne übers Sofa, die einen merkwürdig langen Schweif hinter sich herzog. Mit einem großen Becher und einer festen Unterlage bewaffnet, fing Ava das rattengroße Tier ein, doch wusste er nicht recht, was er damit anfangen sollte. »Auf der Terrasse totmachen!«, riet ihm sein Vater. So schleppte er das exotische Tier unschlüssig nach draußen, hob seinen Schuh und war drauf und dran, zuzutreten, es unter seiner Sohle zu zerquetschen. Doch stattdessen entfernte er das Bechergefäß und ließ es frei. Da erhob die Rattenspinne ihren langen, schlaffen Schweif, der sich nun bedrohlich zu einem Stachel kringelte, und entpuppte sich als eine Anomalie aus Spinne, Ratte und Skorpion. Mit irrwitzigem Tempo sauste das abstoßende Geschöpf durch die offen stehende Tür zurück ins Wohnzimmer, wo gerade in diesem Augenblick sein kleiner vermisster Kater unterm Tisch angehumpelt kam. Ava stürmte hinterher, doch keine Möglichkeit, den Skorpionstachel aufzuhalten. Dieser hielt, erhoben drohend, auf Mondschnee zu und versengte seinen giftigen Schweif in dem schmächtigen Katzenleib, einmal, zweimal – und Ava glaubte, auf der Stelle zu treten.       Schreiend erwachte der Junge in seinem Kinderzimmer und wirbelte verängstigt umher. Licht an, keine Bewegung im Raum, hinter den Plüschtieren, der Schrankwand. Eine dunkle Energie schwebt über diesen Räumen! All die abstoßenden Geschöpfe sind verfestigte Geister, die zu ihm gehören!     Durch die verschlossene Tür hörte er, wie seine Eltern im Nebenzimmer stritten und damit unbewusst negative akustische Impulse an seine Träume übermittelten. »Diese Nachbarn sind doch wohl der primitivste Abschaum, asoziales Pack!«, schrie Belinda aggressiv. »Du rennst da immer noch rüber und leckst denen den Arsch! Die haben sich wirklich die harmloseste kleine Katze weit und breit geschnappt. Ein kleines Kätzchen mit drei Beinen, das unter unvorstellbaren Schmerzen auf diese Welt kam und nun ebenso grausam wieder von ihr gehen musste. So sinnlos! Dieses gemeine Arschloch hat früher schon Katzen gequält und getötet, hab mal beobachtet, wie er in seinem Auto extra Gas gegeben hat, aus reiner Freude hat er sie auf dem Asphalt zerteilt. Und als ich ihn ansah, hat er mich angegrinst, hat einfach nur gegrinst!« …Der Streit zwischen meiner Mutter und meinem Vater wurde zunehmend bedrohlicher, der böse alte Mann würde jeden Augenblick durchdrehen und uns etwas Schreckliches antun.…     Die Aggressionen aus dem Nebenzimmer schlugen sich vergiftend auf Avas kindliches Gemüt nieder. Er hielt das schrille Gekeife nicht länger aus und flüchtete fluchend in den Keller. Dort unten gab es ein zweites Kinderzimmer, einen Rückzugsort mit vielen alten, vergilbten Spielsachen. Zudem war es ein fester Schlafplatz der Katzen.     Belindas Geschrei verfolgte ihn durchs Mauerwerk. Gerade als er die Tür zu seinem Kellerzimmer verschließen wollte, sagte sie etwas, was ihn dazu veranlasste, einen Moment lang innezuhalten: »Die haben doch was zu verbergen«, schrie sie ungeniert durchs ganze Haus. »Wer schon privat so ein komisches Auto mit abgedunkelten Scheiben fährt … Nach außen machen die auf idyllische Großfamilie, früher haben sie ganze Existenzen vernichtet. Und jetzt wollen sie unsere Familie hier rausekeln, mit allen erdenklichen Mitteln. Ist mir auch egal, ob die hier Wanzen bei uns angebracht haben. Das kann dieses blöde Arschloch da drüben ruhig alles mithören!«     Zögernd schloss Ava die Tür, ging zum Schlafplatz seiner Katzen und roch an einer blauen Decke, auf der Mondschnee bis vor kurzem geschlafen hatte. Weiße Katzenhaare lagen auf der Decke und er vermochte sein weiches Fell, seine Persönlichkeit sogar noch zu erfassen. Doch der Geruch wurde schwächer und ihm wurde klar, dass dies alles war, was ihm von seinemallerbesten Freund auf der Welt geblieben war.        Dann folgte die Sensation, als sich die Tür zum Kellerverlies gemächlich auftat – gespenstisch,wie von allein – und Schwester Lissie ihm seinen allergrößten Wunsch erfüllte: War’s Wunschdenken? War’s Illusion?  Oder hielt sie ihn tatsächlich im Arm, seinen geliebten Mondschnee? – Und dabei wirkte sein Erscheinen so selbstverständlich, als wäre sein Band zum Leben doch nicht abgerissen, als würde sich jetzt alles zum Guten wenden.    »Sieh mal, wen ich hier habe!«, flüsterte sie mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen.     »Bah!«, verschlug es ihm die Sprache. Erschaudert, im positiven Sinne, hielt er sich beide Handflächen übers Gesicht, bedeckte Mund, Nase, Augen. »Mondschnee! Und ich dachte, ich würde dich nie mehr wiedersehen!« Eilig lief er zu seiner Schwester. Da bemerkte er das seltsame Schimmern über Mondschnees Fell. »Aber warum tut es nur so weh?«, begann er sich zu wundern, unter Tränen der Freude, während sich ihm langsam die Kehle zuschnürte. Trotz seiner weichen Knie versuchte er, gefasst zu bleiben, wollte er die unwirkliche Situation doch unbedingt begreifen, ergreifen, festhalten. Der Kater fühlte sich erschreckend real an, doch tief im Inneren spürte Ava, dass Mondschnee unmöglich wieder da sein konnte. Skeptisch wandte er sich an seine Schwester und erschrak – dieselbe schmerzvolle Schwere strahlte nun auch von ihr aus. Mondschnee und Lissie umgab ein verwaschenes Strahlen, eine flimmernde, hellblau überzogene Unschärfe – als wären sie Geister!     »Hey, was siehst du uns denn so komisch an?«, fragte Lissie lächelnd, während sie sich setzte, den Kater auf ihrem Schoß streichelnd an sich drückte. Mondschnee schnurrte und blickte ihr dösend in die Augen.     Ava trat misstrauisch näher. Erst auf den zweiten Blick bemerkte er, dass Mondschnee am ganzen Körper mit Kratzern übersät war. Schlamm und Dreck durchzogen sein einst so weiches, gepflegtes Fell. Die hintere Körperhälfte war komplett kahl und gab ein erschreckend dünnes Häufchen Elend preis.      »Hier, nimm ihn ruhig auch mal, aber sei vorsichtig!«, übergab sie den Kater an ihren Bruder, der ihn ebenso fürsorglich in seine Arme schloss. Erschrocken stellte er fest, dass Mondschnee so gut wie überhaupt nichts wog. Umso zärtlicher streichelte er über sein ungepflegtes, stark ramponiertes Fell. Dabei ertastete er unzählige Stellen mit verkleisterten Fellbatzen, offenen Wunden.     »Er ist leider nur für sehr kurze Zeit wieder da«, hauchte Lissie geschwächt und sah mitfühlend zu ihrem Bruder auf.     »Wie lange?«, fragte er zitternd, als fürchtete er sich vor der Antwort. Ein anschwellender Kloß stieg in seiner Kehle auf.     »Für einen Tag!«, seufzte sie stimmlos und versuchte, ihren Bruder gleichsam aufzumuntern: »Klingt wenig, aber für manche ist es ein ganzes Leben! Versuche, die kurze Zeit mit ihm zu genießen! Versuche, ihn hier im Haus zu behalten! Aber lass ihn sich jetzt erst einmal ausruhen!«      »Er ist so kalt!«     »Hier, wickele ihn vorsichtig in die Decke ein!«     Behutsam legte er den schmächtigen Katzenkörper auf seinen alten Schlafplatz und deckte ihn mit seiner blauen Lieblingsdecke zu. Der Kater kuschelte sich sofort in die Decke, schnurrte, schmiegte sein Köpfchen an und schlief ein.      »Lass ihn aber nicht zu lange und zu fest schlafen! Behalt ihn immer im Auge, solange er da ist!«, warnte Lissie mit sanfter Stimme. »Wir dürfen ihn unter keinen Umständen nach draußen lassen, dann ist er fort!«     Ava gab dem Kater einen Kuss auf das feine, glatte Fell seines Hinterkopfs, das ihn beinahe an nach hinten gekämmtes Menschenhaar erinnerte. »Ich hatte immer versucht, ihn vor den Gefahren da draußen zu schützen, meinen allerbesten Freund auf der Welt. Und trotzdem ist er verschwunden und ich konnte nichts dagegen machen. Alles, was man verlieren kann, wird man eines Tages auch verlieren, das weiß ich jetzt. Alles, was ich liebe, wird mir viel zu früh wieder weggenommen. Nur die Bösen da draußen, die gehen niemals fort!« In seiner kindlichen Stimme keimte Wut auf, naive, unschuldige Wut. – Unkraut vergeht nicht! Auf dieser Welt wird sich das Unkraut immer durchsetzen!     Als Ava beiläufig zur Tür aufsah, bemerkte er, dass sich jemand in der Dunkelheit des Kellerflurs versteckt hielt. Ein Auge lugte durch den schmalen Spalt ins Zimmer. Als es auf Blickkontakt traf, zog es sich reflexartig in den schützenden Schatten zurück.»Du?«, kam ihm ein finsterer Gedanke und er wirbelte erschrocken zu Lissie herum: »Ist da noch jemand bei dir?«     Doch bevor seine Schwester antworten und er hinter der Tür nachsehen konnte, wachte Mondschnee auf und zog augenblicklich den Fokus auf sich. Hektisch begann er zu strampeln, mit der Decke zu kämpfen, in die er wie ein Säugling eingewickelt worden war. Ava versuchte Mondschnee von der lästigen Decke zu befreien. Er wollte ihn auf seinen Arm nehmen, doch der Kater beruhigte sich nicht.     »Er ist scheu geworden, weil er so lange Zeit im Wald gelebt hat«, erklärte Lissie.      Mondschnee strampelte wie toll, derart wild, dass er sich aus Avas Griffen befreite und wie angestochen im Raum umherraste.      »Schnell, mach die Tür zu! Lass ihn nicht nach draußen!«, rief Lissie.