Flucht aus der Wirklichkeit - Notausgang Tod - Mike Gerhardt - E-Book

Flucht aus der Wirklichkeit - Notausgang Tod E-Book

Mike Gerhardt

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Beschreibung

Das Forschungsschiff Linus-6 hat seine Mission im Weltraum beendet und kehrt zur Erde zurück. Für die Besatzung beginnt ein nicht enden wollender Albtraum. — Wer oder Was verbirgt sich hinter L.U.C.I.E.? — Auf jeden Fall spielt L.U.C.I.E. in June Baileys Leben eine große Rolle, nachdem sie sich als junge Studentin zu einem waghalsigen Experiment hinreißen lässt. Erst kurz vor ihrem Tod erhält sie durch L.U.C.I.E. die Antwort, auf ihre ewige Suche nach dem Sinn ihres Daseins und ist entsetzt. — Aber wer ist L.U.C.I.E. wirklich? — Eine künstliche Intelligenz, die das Leben auf der Erde radikal verändert und letztendlich die Menschheit ablöst? Christina, eine Gefangene zwischen Traum und Wirklichkeit, will endlich die Wahrheit über L.U.C.I.E. erfahren und muss sich dabei mit ihrem tiefsten Innern, dem Unterbewusstsein, auseinandersetzen. Der Autor schafft es, eine Fiktion in die Wirklichkeit zu holen, einen Zeitgeist einzufangen, der weit außerhalb der gegenwärtigen Vorstellung liegt.

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Inhaltsverzeichnis

Flucht aus der Wirklichkeit

L.U.C.I.E.

Verschollene Menschheit

Impressum

Flucht aus der Wirklichkeit

Notausgang Tod

2085

L.U.C.I.E.

Hallo, mein Name ist L.U.C.I.E., komm ruhig ein wenig näher und berühre meine Hand.

Es tut mir leid, aber dich hat es nie gegeben. Genauso wie mein Autor glaubt, mich erschaffen zu haben, so ist es doch alles nur Illusion.

Komm noch ein wenig näher, ganz nah. Siehst du die Leere in meinen Augen? Komm mit mir, begleite mich in meine Träume.

Lehne dich jetzt zurück, schau mich ein letztes Mal an und … schließe deine Augen ...

Schlaf … schlaf … sccccchhhhh … schlaf ein.

Begonnen hat alles in einer stürmischen, regnerischen Nacht … als ...

Verschollene Menschheit

Es war so dunkel, dass sich das Blaulicht in den wild schwankenden Baumreihen und den dahinterliegenden Hauseingängen verfing. Sturmböen heulten erbarmungslos durch die kleinen Gassen nahe dem Universitätsgelände. Äste und Blätter schlugen an die Windschutzscheibe des Rettungswagens.

Hektisch und viel zu schnell raste der Fahrer mit dem Krankenwagen durch die schwach beleuchtete Londoner Innenstadt. Der immer stärker werdende Sturm brachte den Wagen beinahe zum Kippen. Das starke Schaukeln des Krankenwagens ließ die Patientin fast von der Trage fallen.

Notärztin Dr. Hellen O´Brian zog die Fixiergurte enger und tupfte der Patientin das Blut von der Lippe. Sie musste sich Mühe geben, gegen den Krach der herumwirbelnden Luftmassen anzukommen und rief laut: »Ihr Name, wie ist Ihr Name?«

Die kleine zarte Frau antwortete ängstlich: »June, June Bailey!«

Furchtsam, fast regungslos blickten Junes weit aufgerissene Augen die Notärztin an. Eine Träne lief langsam über ihre Wange. Beruhigend drückte Dr. O´Brian die kleine kalte Hand von June Bailey.

Plötzlich wurde alles schwarz um June herum. Die Stimme der Notärztin wurde leiser und leiser, bis schließlich alle Geräusche verstummten.

Dr. Elena Floyd schüttelte sich. Ein Zucken durchfuhr ihren zierlichen Körper. Fast besinnungslos stand sie vor dem Beobachtungsfenster auf Deck 8 des Forschungsschiffes Linus-6. Ihre Handflächen berührten die kalte Glasscheibe. »Aahh, was ist passiert, wo bin ich?« Sie zwinkerte ein paarmal benommen.

Kapitänin Florence Lacroix stand etwas abseits am hinteren Türschott. Skeptisch beobachtete sie Dr. Floyd schon einige Minuten lang. Leise ging sie auf die Anthropologin zu und fasste ihr behutsam an die Schulter. »Mit wem sprechen Sie da Elena, ist Ihnen nicht gut?«

Dr. Floyd reagierte nicht. Die rot unterlaufenen Augen starrten träge vor Müdigkeit in die Ferne des Weltalls. Abertausende Sterne und schwach leuchtende Galaxien verteilten sich in der Weite des Raumes.

Kapitänin Lacroix wunderte sich über das zurückgezogene Verhalten von Dr. Floyd. Was machte sie ganz alleine hier im hinteren Teil des Schiffes? Florence Lacroix nahm ihre blaue Kapitänsmütze ab. Langes blondes Haar legte sich leicht zur Seite. Vorsichtig versuchte sie ein Gespräch aufzubauen.

»Beeindruckende Aussicht! — Was denken Sie, ob es da draußen irgendwo ein Ende gibt?«

Elena drückte die Handflächen noch immer flach gegen das Beobachtungsfenster. Mit zarter Stimme flüsterte sie: »Mir war gerade so komisch zumute. Ich dachte, ich träume.« Langsam drehte sie sich um und schaute in die schönen blauen Augen der Kapitänin, die deutlich älter als sie war. »Verrückt, was?«

Florence Lacroix war irritiert. Verlor Dr. Floyd die Nerven? Es dürften doch noch keine Gerüchte durchgesickert sein. Sie nahm Dr. Floyds Hand und sah ihr fest in die Augen. »Elena, wir sind alle ein bisschen nervös. Schließlich geht es nach siebzehn Jahren wieder zurück zur Erde.«

Elena drehte sich wieder um. Abwesend blickte sie durch das Beobachtungsfenster und presste ihre Nase an die Scheibe. Der feuchte Atem beschlug das Glas. »Wissen Sie, was ich dort sehe? Endlose Einsamkeit! Irgendwo da draußen ist die Erde, irgendwo unter den Milliarden Punkten dort draußen. Und sie ist genauso verloren wie mein Verstand. Wenn ich nicht aufpasse, verliere ich ihn. Was ist bloß los mit mir?«

Florence Lacroix zögerte. Sie wollte Elena wie ihre Tochter in die Arme nehmen, bewahrte aber in ihrer Eigenschaft als Kapitänin Distanz.

Lautlos bewegte sich das Forschungsschiff Linus-6 bereits auf den äußersten Rand des Sonnensystems zu.

Co-Pilotin Caroline Dijon begann langsam die Geschwindigkeit zu reduzieren. Sie schaute nervös auf die Cockpit-Armaturen. Die Messinstrumente zeigten falsche Entfernungsangaben an. Caroline leitete den Bremsvorgang ein. Das Schiff musste manövrierfähig sein, bevor es auf den äußeren Asteroidengürtel traf.

Traurig blickte sie auf den leeren Pilotensessel neben sich. Sie konnte den tragischen Tod von Pilotin Yvonne noch immer nicht verkraften. Ihr fehlten die langen Gespräche, wichtiger noch, der wortlose Halt in kritischen Situationen. Sie kam sich manchmal sehr einsam vor, dann verloren sich ihre Gedanken. Sie schaute in die Dunkelheit des Weltalls, auf kalte erstarrte Planeten, die seit ihrer Entstehung niemals Leben kannten. Stumme wertlose Zeugen der Ewigkeit.

Caroline legte ihren Kopf auf die Sessellehne. „Ob Yvonnes Geist irgendwo dort draußen ist, was passiert mit uns nach dem Tod?“ Sie zuckte zusammen.

Zum Glück hatte sie in Navigationsoffizierin Martina Moreau eine gute Gesprächspartnerin gefunden. Sie lachte nicht über ihre manchmal diffusen Gedanken, hörte ihr aufmerksam zu und konnte selbst schwierige Themen sehr anschaulich erklären.

Caroline schaute wieder aus dem Cockpitfenster. Der Asteroidengürtel, der noch wie ein dichter Ring aus Felsen aussah, löste sich langsam in große Zwischenräume auf. Dahinter kam endlich die Erde, sie war nicht mehr weit entfernt, aber auch noch nicht zu sehen.

Auf der Kommandobrücke standen sich Navigationsoffizierin Martina Moreau und Astrophysikerin Elsa van Galen schweigend gegenüber. Sie konnten die Tatsachen nicht mehr länger ignorieren. Irgendetwas schien im Sonnensystem falsch zu sein. Die kartografische Abtastung des Tiefensonars stimmte nicht mit der Datenbank des Bordcomputers überein. Die geometrischen Daten zeigten eindeutig das Heimatsystem, doch die Umlaufbahnen aller Planeten waren um mehr als drei Grad verschoben. Der Mondabstand zur Erde war auffällig groß.

Martina beugte sich über die Monitore im Leitstand der Kommandobrücke. Sie schob nochmals die Kartensimulationen übereinander. Gemeinsam verglichen sie die elektronische Auswertung. Beide standen sie jetzt nachdenklich nebeneinander, die Astrophysikerin Elsa van Galen in ihrer zugeknöpften schwarzen Uniform und Navigationsoffizierin Martina Moreau, die immer misstrauischer auf die Kartensimulationen schaute.

Elsa beobachtete Martina, die ständig ihr leicht gewelltes rotes Haar nervös beiseite streifte. Sie wirkte trotz ihrer 1,80 Meter recht klein gegenüber Martina.

Plötzlich wurde Elsa ganz weiß im Gesicht, als sie die Erkenntnis wie ein Schlag traf. Entsetzt schaute sie Martina an.

»Eine Verschiebung von drei Grad bedeutet, dass unser Sonnensystem um Jahrtausende gealtert ist und wir in der Zukunft landen werden!« Sie verlor ihre konservative Haltung und öffnete die oberen zwei Knöpfe der schwarzen Uniformjacke.

Martina wurde ganz flau, ihr sackten fast die Knie weg. Verkrampft hielt sie sich am Kartentisch fest. »Bei einer derartigen Zeitverschiebung müssten wir schon durch ein Wurmloch geflogen sein.«

Elsa rollte mit den Augen und lachte nervös. »Wir sind aber durch kein Loch geflogen und werden es auch nie. Wurmlöcher, schwarze Löcher, Löcher aller Art gibt es im Universum nicht. Das sind bloß Science-Fiction Märchen. Die einzige Kraft im Universum, welche die Physik aus den Fugen hebelt, sind massehaltige Sterne mit extrem starker Verdichtung, aus dessen Gravitationsbereich keine Materie und keine Lichtsignale in den Raum gelangen können. Die magnetische Wirkung zieht einfach alles an, vermutlich auch Zeit.«

Martina hob ungläubig die Augenbrauen. Ihr rechtes Augenlid zuckte. »Zeit? Bei diesen Abweichungen ist unser Sonnensystem um mindestens 200.000 Jahre gealtert! Ist dir klar, was das bedeutet?«

Das Türschott öffnete sich. Maria Cuéllar, technische Ingenieurin, betrat fröhlich die Kommandobrücke. »Ihr beide könntet etwas Sonne vertragen, ihr seht ganz schön blass aus.«

Martina Moreau und Elsa van Galen starrten sie an, weiß wie die Wand standen sie da.

Langsam setzte Maria sich in einen der Ledersessel. Sie fragte erst gar nicht, was oder ob etwas passiert war. Stumm schaute sie die zwei an. Es verstrichen ein paar Sekunden, bevor Elsa Maria über die neue Sachlage aufklärte. Währenddessen gelang es Martina mit einem Spektral-Teleskop, erste Bilder der Erde einzufangen. Die Wellenlängen des Lichts stimmten nicht mit den vertrauten Farbelementen der reflektierten Erdoberfläche überein. Blauanteile fehlten ganz oder konnten nur gering nachgewiesen werden. Beeinflussten elektromagnetische Wellen – Masseteilchen der Sonne – eine genaue Messung?

Kapitänin Florence Lacroix und Dr. Elena Floyd fanden sich ebenfalls auf der Kommandobrücke ein. Schweigend schaute sich die Crew der Linus-6 ungläubig an.

Bis auf die Co-Pilotin Caroline Dijon standen jetzt alle Crewmitglieder auf der Kommandobrücke beisammen: Navigationsoffizierin Martina Moreau, Astrophysikerin Elsa van Galen, die technische Ingenieurin Maria Cuéllar, Anthropologin Dr. Elena Floyd, Kapitänin Florence Lacroix und Monique DuPont, die Leiterin der medizinischen Abteilung.

Geschockt schauten sie auf die Monitore in Richtung Befehlsstand. Auf dem Bedienpult blinkte eine rote Lampe auf, ein Warnton ertönte. Die automatischen Abtaster meldeten Kontakt. Von der Erde aus abgestrahlte Radiowellen sendeten deutliche Signale in den Weltraum; eine Sprache künstlichen Ursprungs, zweifelsfrei von Computern benutzt, bestehend aus komplexen binären Übermittlungsdaten.

Es war Maschinensprache!

Maria saß zusammengekauert in ihrem Sessel. Sie fuhr sich beunruhigt durch ihr dichtes schwarzes Haar. »Haben wir in den letzten siebzehn Jahren etwas verpasst? Hat die Menschheit jetzt im Weltraum Kolonien? Welche Nation kann sich einen so hohen Kostenaufwand leisten? Man funkt nicht einfach mal eben ins All!«

Elsa tupfte sich Schweiß von der Stirn, die dezente Schminke verwischte ein wenig. »Vielleicht habe ich mich nicht ganz verständlich ausgedrückt: Wir waren mindestens 200.000 Jahre unterwegs, keine siebzehn. Glaubst du, der Mensch hat so lange überlebt, Maria?«

Martina zwinkerte Elsa zu. »Moment, unterwegs waren wir tatsächlich nur siebzehn Jahre. Die Zeit hat sich lediglich um 200.000 Jahre verschoben.«

Maria zuckte leicht zusammen und wurde immer bleicher im Gesicht. »200.000 Jahre! Vor 32.000 Jahren gab es den Menschen noch gar nicht, jedenfalls nicht so, wie wir ihn heute kennen. Modernes Denken besteht gerade mal seit 10.000 Jahren.«

Elsa schüttelte den Kopf. »Augenblick, der älteste fossile menschenähnliche Fund ist circa 200.000 Jahre alt.«

»Ach, das kann man doch nicht als Mensch bezeichnen. Fossile Funde von Vorfahren der Menschen werden sogar noch älter datiert. Natürlich gab es vor dem Homo sapiens jede Menge Unterklassen. Aber gut, wenn du den Neandertaler oder den Homo erectus als Mensch bezeichnen möchtest …«

»Ist ja schon gut, streiten wir uns nicht über Jahreszahlen. Wenn ich mich recht erinnere, standen sich vor 32.000 Jahren der Neandertaler und der anatomisch weiter entwickelte Homo sapiens in Mitteleuropa gegenüber. Jedenfalls haben die Neandertaler die Begegnung mit unseren Vorfahren langfristig nicht überlebt.«

Maria schob ihre langen schwarzen Haare beiseite und fasste sich an die Stirn. »Was ist wohl in den letzten 200.000 Jahren passiert? Hat eine neue Spezies den Menschen abgelöst? Wenn auf der Erde tatsächlich eine neue Spezies herrscht, sind dann die Menschen etwa ausgerottet wie einst die Neandertaler? Wo sollen wir denn bloß landen? Wir werden womöglich sofort angegriffen sobald wir in Reichweite ihrer Raketenabwehr sind.« Die sonst so stille technische Ingenieurin wurde immer hysterischer, ihr zitterten die Knie.

Sanft strich Martina ihr über den Pony. »Schhhh ruhig, Maria. Die neue Spezies kann sich ja nur aus unserer menschlichen Zivilisation heraus entwickelt haben. Also, ganz so bedrohlich dürften wir auf sie nicht wirken. Eher glaube ich, dass sie mit uns nichts anfangen kann und uns einfach ignoriert. Mit unserer mangelnden menschlichen Intelligenz sind wir wahrscheinlich nicht mal wert, versklavt zu werden. Überlege doch mal, welchen rasanten Fortschritt wir selbst in den letzten fünfzig Jahren erlebt haben, bevor wir den Rand der Nachbargalaxie NGC 247 erforschten. Deren Fortschritt wird wahrscheinlich unsere Vorstellungskraft überschreiten.«

Maria schweifte mit ihren Gedanken ab: Der Fortschritt war wirklich rasant. Meine Urgroßmutter staunte noch über den USB-Stick. Man konnte auf einem Schlag die komplette CD-Sammlung darauf speichern. Als endlich Wohnmodule auf dem Mond eingerichtet wurden, war das eine Sensation. Wer hätte 1623 bei der Entwicklung der ersten mathematischen Rechenmaschine gedacht, dass es jemals Computer geben könnte, es gab noch nicht einmal Strom. Heute können wir uns ein Leben ohne leistungsfähige Robotertechnik nicht einmal vorstellen.

Sie verlor die Fassung. »Heute! In welchem Heute befinden wir uns denn überhaupt?«

Die Stimmung an Bord wurde immer unruhiger.

Caroline Dijon steuerte derweil das Forschungsschiff ohne Störung durch den Asteroidengürtel des Sonnensystems. Und da war sie, die Sonne! Klein wie ein Stecknadelkopf. Noch konnte man nichts von ihrer gewaltigen Kraft spüren.

Zwei Tage später waren alle Besatzungsmitglieder wieder auf der Brücke versammelt. Es gab nur noch ein Thema: »Was erwartet uns auf der Erde?«

Caroline Dijon saß nachdenklich neben Dr. Elena Floyd, die sich zitternd eine Zigarette drehte. Martina Moreau trommelte nervös mit den Fingern auf den Tisch und beobachtete die Anthropologin.

»Na endlich!« Elsa van Galen stand hastig auf. Die Erde war aus dem Sonnenschatten herausgetreten. Sofort richteten sich mehrere Teleskope auf die Erde. Auf dem Bildschirm erschienen erste detaillierte Bilder des Heimatplaneten. Elsa fiel es sofort auf: Die tektonischen Platten hatten sich um einige Längengrade verschoben. Da die Kontinentaldrift zwischen zwei und zehn Zentimeter pro Jahr lag, hatten sie nun endgültig den Beweis:

Die Crew der Linus-6 befand sich rund 200.000 Jahre in der Zukunft.

Caroline nahm das Blättchen mit dem Tabak und drehte Elena die Zigarette zu Ende. »Hier, Frau Doktor.« Sie lächelte kurz, dann begab sie sich auffallend schnell zur Pilotenkanzel.

Martina folgte ihr eilig. Am Türschott zur Kanzel blieb sie beeindruckt stehen. Aus dem Cockpitfenster sah sie die Erde als schwach leuchtenden Punkt. Ihre Augen glänzten vor Freude.

Caroline beugte sich über die Armlehne des Sessels und schaute in Martinas strahlendes Gesicht. »Wunderschön, nicht?« Das rötlich schimmernde Armaturenlicht glänzte in ihren Augen. Martina sah auf ihre roten Lippen. Caroline lächelte, dann drehte sie sich verschämt um.

Martina setzte sich neben Caroline in den Co-Pilotensessel. Sie berechnete den Einfallwinkel in die Umlaufbahn der Erde. Ein Anflug sollte entgegengesetzt erfolgen. Die Erde kam immer näher. Gleich würden sie am Mond vorbeifliegen, der schon als kalter blasser Punkt zu erkennen war.

»Caroline, hast du Funkfeuer auf dem Schirm?«

»Nein. Ich empfange zwar Signale, aber die sind nicht für uns bestimmt.«

Die Navigationsoffizierin versuchte Kontakt herzustellen.

»Hier spricht das Forschungsschiff Linus-6, rufe ESA-Raumkontrolle. Wir befinden uns im Anflug zur Erde.«

Es kam keine Antwort, das Schiff wurde nicht einmal angepeilt. Wer auch immer die Erde jetzt bewohnte, es war ihnen völlig egal, ob sie da waren oder nicht.

Sie wunderten sich, als das Radar überraschend metallischen Widerstand auf dem Mond registrierte. Überreste der Mondbasis MV-4 existierten also noch.

Co-Pilotin Caroline Dijon wartete auf die Freigabe von Kapitänin Florence Lacroix, die Nachtseite des Mondes ansteuern zu dürfen.

Und dann tauchte kaum sichtbar in der Dunkelheit die Mondbasis MV-4 auf. Wohn- und Versorgungsmodule ragten aus der felsigen Mondoberfläche heraus. Schwarzer Schatten füllte die umgebenden alten Krater und Furchen. Caroline leitete den Bremsvorgang ein. Sie positionierte das Schiff in zwanzig Kilometer Entfernung zur Mondbasis. In den kahlen grauen Felsvorsprüngen verfing sich das Blinken der roten Positionslichter. Durchlöchert von Meteoriteneinschlägen lagen einzelne Moduleinheiten verstreut im zerklüfteten Boden des Mondes. Vor ihnen lag ein Trümmerfeld, nichts erinnerte mehr an eine Mondstation.

Monique DuPont, Leiterin der medizinischen Abteilung und Astrophysikerin Elsa van Galen bereiteten sich für die Erforschung der einstigen Mondbasis vor. Navigationsoffizierin Martina Moreau half ihnen dabei, die schweren Raumanzüge anzulegen. Sie hielt sich diesmal strikt an die Checkliste und las alles zweimal vor. Der tragische Unfall von Sanitätsoffizierin Sophie Charron und Pilotin Yvonne vor neun Jahren kam nicht nur ihr wieder ins Gedächtnis.

»Ganz schön schwerfällig der Anzug«, keuchte Monique.

Elsa beobachtete Monique und erinnerte sich ebenfalls an den Unfall vor neun Jahren:

Yvonne und Sophie hatten den wöchentlichen Routinecheck durchgeführt. Sophie beklagte sich damals genauso über den schweren Raumanzug. Yvonne half ihr und vergaß dabei, den Sauerstofftank zu kontrollieren. Als Sophie an den Triebwerksregulatoren ankam, war ihr Sauerstofftank leer.

Es wäre bestimmt nicht aufgefallen, hätte Yvonne die blinkende Sauerstoff-Anzeige beim Abschnallen von Sophies Tank übersehen. Yvonne hielt es erst für eine technische Störung, aber das Steuermodul zeigte keine Fehler. Laut Wartungshistorie wurde kein Sauerstoff nachgefüllt. Sophie war die ganze Zeit ohne Atemluft im Weltraum. Sie war ein Android!

Der Konzern hatte unbemerkt einen Menschenroboter an Bord geschmuggelt. Der Android sollte nicht nur menschliches Verhalten studieren, er sollte, falls notwendig, die Crew in kritischen Situationen ersetzten und die Linus 6 sicher zurück zur Erde steuern.

Yvonne verkraftete es nicht, dass sie all die Jahre belogen wurde, dass sie auf gefälschte Gefühle hereingefallen war. Sophie, ihre einzige Freundin, war bloß eine Maschine! Yvonne nahm sich zwei Stunden später das Leben. Sophie wurde kurz danach von der Crew deaktiviert. Niemand von ihnen hatte gewusst, dass sie einen Androiden an Bord gehabt hatten.

Plötzlich stand jeder dem anderen misstrauisch gegenüber, bis die Leiterin der medizinischen Abteilung, Monique DuPont, eine medizinische Untersuchung durchführte, ob auch wirklich alle Crewmitglieder Menschen waren.

Martina Moreau und Kapitänin Florence Lacroix verließen die Luftdruckschleuse zur Landungsfähre. Für eine kurze Weile wurde die Erde uninteressant.

Monique DuPont und Elsa van Galen steuerten die verstreuten Containermodule der Mondstation an. Sie erblickten zwei noch unzerstörte Wohnmodule. Etwa zehn Minuten brauchten sie mit der Fähre dorthin. Als sie die Druckluftschleuse der Landungsfähre öffneten und den Mond betraten, fiel ihnen als Erstes diese absolute Ruhe auf. Das gewohnte Vibrieren des Raumschiffbodens war weg. Weit in der Ferne sahen sie Galaxien, die sich in der Unendlichkeit verliefen. Beide stolperten mit den schwerfälligen Raumanzügen auf einen der noch intakten Wohncontainer zu. Der Weg dauerte nur einige Minuten. Elsa schaltete die Helmkamera ein. Als sie das nur leicht beschädigte Containermodul A-5 betraten, wunderten sie sich. Alles war komplett geordnet, nirgendwo ein Durcheinander, keine Anzeichen von Flucht. Tische und Stühle waren zurechtgerückt, als hätte gerade jemand aufgeräumt. Wäre es nicht überall staubig gewesen, hätte man meinen können, hier wohnte noch jemand.

Monique strich mit dem Handschuh die dicke Staubschicht auf einem der Monitore weg. »Wie neu!« Sie durchsuchte noch weitere Kabinen der Wohneinheit. Das Licht der Helmkamera war nicht hell genug. Sie erschrak bei jedem Schatten im Raum.

Plötzlich hörte Elsa Monique keuchend über Helmfunk rufen: »Ich habe zwei Skelette gefunden. Eins liegt auf der Pritsche und das andere auf dem Boden verteilt … Elsa?«

»Ja, ich habe dich gehört, ich habe hier auch etwas gefunden, ich komme.« Sie wollte sofort losrennen, aber durch die geringe Anziehungskraft des Mondes verlor sie das Gleichgewicht und prallte mit dem Rücken auf den Boden. Sie kam gehetzt in die Kabine und blieb ruckartig am Eingangsschott stehen. Dann trat sie langsam näher an die beiden Skelette heran. »Handelt es sich hier um menschliche Skelette?«

»Der Optik nach ja, das Becken am Boden könnte von einer Frau sein.« Die Leiterin der medizinischen Abteilung leuchtete jeden einzelnen Knochen ab und fand dabei eine Glasflasche am Kopfende der Pritsche. »Keine Gewalteinwirkung zu erkennen, sieht wie Selbstmord aus, wahrscheinlich aus Verzweiflung. Möglich, dass sie die letzten Überlebenden der Station waren.«

»Vielleicht sind sie aber auch nur im Schlaf gestorben. Komm, Monique, der Sauerstoffvorrat reicht kaum noch, wir packen die Skelette ein und nehmen sie mit. Doch vorher müssen wir noch einmal zurück in den ersten Container, dort befinden sich unbeschädigte Datenspeicher.«

Elsa van Galen und Monique DuPont waren längst überfällig, sie reagierten auf keines der Funksignale. Martina Moreau trommelte mit den Fingern gegen das Beobachtungsfenster. »Wo bleiben sie denn? Wieso antwortet denn keiner?«

Plötzlich eine Staubverwirbelung weit ab am Horizont.

»Da! Da sind sie!«, rief Kapitänin Lacroix aufgeregt.

Martina griff zum Fernglas. Sie sah zwei grelle Scheinwerfer. Mit hohem Tempo raste ein Fahrzeug auf sie zu. »Ich dachte, Elsa und Monique sind mit der Landungsfähre unterwegs.«

»Waren sie auch. Schnell, wir müssen umgehend die Landungsrampe herunterlassen. Den beiden dürfte der Sauerstoff jeden Moment ausgehen.«

Gleich nach dem Senken der Landungsrampe eilten Martina Moreau und Kapitänin Florence Lacroix auf die Plattform.

»Was war los, warum habt ihr nicht geantwortet?« Martina sah die zwei Schädel, aber viel interessanter fand sie den Kasten, den Elsa in den Händen hielt. »Ist das eine Blackbox?«

»Weiß ich nicht. Als ich sie an den Bordcomputer angeschlossen habe, wurde die ganze Elektronik der Fähre lahmgelegt. Deswegen konnten wir nicht funken und mussten auf das Fahrzeug hier zurückgreifen. Vielleicht kann Sophie diese neue Digital-Dialektik entschlüsseln.«

»Nein!! Dieser Android wird nie mehr aktiviert!«

Sie beschlossen, den Mond so schnell wie möglich zu verlassen. Antworten würden sie hier nicht mehr finden.

Caroline Dijon startete die Triebwerke. Ein leichtes Vibrieren verteilte sich im Raumschiff. Sie schauten ein letztes Mal auf die Ruinen der Mondbasis, dann gab die Co-Pilotin Schub.

Das Schiff gewann schnell an Höhe. Die Mondbasis verlor an Größe, die gewaltigen Krater wurden immer kleiner, bis schließlich der Mond nicht mehr das ganze Beobachtungsfenster ausfüllte und kleiner und kleiner wurde. Irgendwann konnte man nur noch einen großen Punkt erkennen, umgeben von Sternenformationen. Es sah so aus, als hätte der Weltraum sich den Mond zurückgeholt und wäre dabei, ihn wieder zu verschlingen.

Während Caroline auf die Berechnungen des Navigations-Computers wartete, sah sie vor sich die wehrlose Erde in der Ferne. »Wofür die ganzen Sorgen?«, dachte sie. »Nur ein Einschlag und alles war umsonst, genau wie das Leben. Irgendwann einmal ist alles weg und vergessen, einfach gelöscht.«

Merkwürdige Blitze strahlten von der Oberfläche der Erde aus ab. Sie konnten es nicht gleich erkennen, es waren Sonnenstrahlen, reflektiert von riesigen Blöcken, groß wie Städte. Auf den Ozeanen bewegte sich das Wasser schwerfällig, eher dickflüssig, es war kaum Wellengang zu beobachten. Die vertraute blaue Farbe fehlte. Teile der Alpen und anderer Gebirgsketten waren abgetragen oder gar nicht mehr vorhanden. Nach natürlicher Korrosion sahen die Abtragungen nicht aus, eher nach mechanischem Abbau.

An der Grenze zur Nachtseite fiel der Anthropologin Dr. Elena Floyd auf, dass überhaupt keine Beleuchtung vorhanden war; alles dunkel, nirgendwo Lichter, keine erkennbare Nachtaktivität. Sie suchten Überreste einstiger Millionenstädte. Was sie aber dann auf dem Bildschirm sahen war erschreckend.

Resigniert hob Martina die Schultern. »Nicht mal Reste unserer Zivilisation?«

»Zivilisation?« Elena lachte hysterisch. »Dort unten ist überhaupt keine Infrastruktur zu erkennen, und auch die komplette Vegetation fehlt! Das Einzige was da unten zu sehen ist sind diese merkwürdigen Blöcke, die aussehen wie Särge mit einer spiegelglatten Oberfläche.«

Nicht nur in Europa, auf dem ganzen Planeten setzte sich ein Raster dieser übergroßen Blöcke zusammen. Sie glichen Städten, präzise angeordnet in Abständen von jeweils tausend Kilometern.

Elena stand erregt auf. »Das sind Bunkeranlagen! Vielleicht hat es einen Dritten, wenn nicht sogar einen Vierten Weltkrieg gegeben. Der Planet ist komplett verseucht, sonst wären doch Straßen oder Vegetation zu sehen. Überall Wüste, die Kontinente völlig ausgetrocknet! Gibt es überhaupt noch Menschen?!«

Das leise Surren der Klimaanlage auf der Kommandobrücke war auf einmal unerträglich laut, jeder Atemzug hörbar. Hatte eine andere Intelligenz auf der Erde die Menschheit abgelöst oder ausgelöscht? Wer oder was war schlauer als der Mensch? Eine Frage, die sie belastete, denn Außerirdische waren dort unten sicherlich nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass organisches Leben Distanzen dieser Größenordnung zurücklegen konnte, war kaum denkbar. Die Entfernungen waren viel zu groß für die kurze Zeitspanne von 200.000 Jahren.

Kapitänin Lacroix versuchte vergeblich Funkverbindungen herzustellen. Sie benutzte jedes ihnen bekannte Mittel, sogar die veralteten Morsezeichen. Auf keiner der Frequenzen erhielt sie eine Antwort. Schließlich ordnete sie die Umkreisung der Erde an.

Das Ausmaß wurde immer beängstigender. Verstreut auf weiten Teilen der Erdoberfläche schien geschmolzenes Metall die Landschaft teilweise zu bedecken. Es musste also eine sehr große Hitzeentwicklung stattgefunden haben. Die Atmosphäre war streckenweise so verschmutzt, dass braune Nebelwolken die Sicht verhinderten.

»Vielleicht sind diese Blöcke ja wirklich Bunkeranlagen, und die Menschheit hat eine ganz neue Technologie des Lebens entwickelt«, vermutete Elena.

»Wo landen wir, falls wir nicht abgeschossen werden?«, fragte Martina besorgt, die hinter dem Co-Pilotensitz stand.

Caroline neigte ihren Kopf und schaute hoch zu ihr. »Doch ein Atomkrieg?«, flüsterte sie.

Martina legte ihre Hand auf Carolines Schulter. »Wahrscheinlich ist es viel schlimmer. Ich vermute, die Menschen haben sich nicht mehr als Einheit verstanden. Vielleicht war es ein geistiger Krieg mit moralischen Verlusten. Gleichzeitig breiteten sich religiöse Irrläufer immer mehr aus, ihr Verstand hat sich zersetzt.«

Als die Linus-6 der Umlaufbahn der Erde näher kam, begann Caroline Dijon den Orbit nach Satelliten und ausgedientem Weltraumschrott abzusuchen, um Kollisionen zu vermeiden. Die Radarüberwachung erfasste keine metallischen Körper. Auch die zwei großen Andockstationen, ChronosCR-5 und Selene SZ-3, existierten nicht mehr. Der Raum rund um den Planeten war leer. Außer ihnen schien keiner mehr hier zu sein.

Martina schaute Kapitänin Lacroix besorgt an. »Ich weiß, was Sie denken, aber wenn wir runtergehen, kommen wir nicht mehr hoch.«

»Hier oben ist aber auch nicht viel.«

Florence Lacroix ließ nochmals jeden Quadranten der Erdoberfläche abtasten. Eins wunderte sie: Nirgendwo waren Militäreinrichtungen oder Verteidigungsanlagen zu erkennen. »Warum auch, wenn es keine Feinde gibt?«, dachte sie.

»Martina, welche Zivilisation ist in der Lage, ohne gewaltverhindernde Einrichtungen schutzlos zu existieren?«

»Ganz einfach: Ameisen oder Bienen. Deren Komplexität übertrifft unsere menschlich sozialen Strukturen um ein vielfaches — oder ein Computer.«

Die Gesichtszüge der Kapitänin verhärteten sich. »Aber ja, ein Computer! Diese ganze Anordnung der Blöcke sieht fast aus wie eine Computerplatine. Ist Ihnen aufgefallen, dass keiner der Metallblöcke einen Eingang hat? Nein, unmöglich, Leben kann nur in organischer Form existieren. Wie sollte es ein Computer schaffen, ein Bewusstsein zu erlangen?«

Angespannt studierte Caroline die Landungsbücher des Raumschiffes. Sie ging zusammen mit Martina die Checklisten durch und simulierte Abstürze. Ihr war klar, dass ein Raumschiff dieser Größenordnung lediglich für das Andocken an Raumstationen konstruiert worden war. Im Notfall konnte es zwar auf Planeten landen, war aber nicht dafür vorgesehen. Um wieder abheben zu können, brauchte das Schiff dieser Baureihe fremde Hilfe und einen unglaublichen Energieaufwand. Caroline wurde rot, eine Notlandung hatte sie nur im Simulator geübt. Sie bekam Angst und stotterte: »Wir können es doch auch erst einmal mit der Landungsfähre versuchen.«

Florence Lacroix sah, wie ihr Schweiß von der Stirn lief. Sie legte beruhigend die Hand auf Carolines Schulter. »Sie schaffen das schon. Wir haben noch die Rettungskapseln, wenn etwas schiefgeht. Elsa, suchen Sie bitte nach einem geeigneten Landeplatz, wir gehen in zwei Stunden runter.«

Elsa gab mögliche Landeziele vor. Martina berechnete bereits den Wiedereintrittswinkel und suchte eine stabile wetterfeste Zone in Mitteleuropa. Die Landung sollte möglichst nahe an einem der Blöcke erfolgen. Caroline synchronisierte die Koordinaten des Navigationscomputers mit dem Autopiloten. Ein letztes Mal sahen sie die Erde aus dieser Perspektive.

Das Zünden der Triebwerke löste ein dumpfes Vibrieren aus. Ein gewaltiger Schub brachte das Schiff in den Orbit. Sofort wurden sie vom Magnetfeld der Erde erfasst, die Gravitation ließ sie nicht mehr los. Caroline zündete die schweren Bremsraketen. Ein kräftiger Ruck war im Schiff zu spüren.

Und da kamen sie — die Luftmassen! —

Wie unsichtbare Barrieren schlugen sie von allen Seiten gegen den Schiffsrumpf. Der Widerstand immer dickerer Luftschichten löste ein furchtbares, bizarres Knarren und Krachen in den Bordwänden aus. Angst, die nicht mehr aufhören wollte, breitete sich aus.

Maria schrie, sie konnte nicht mehr aufhören. Die Kapitänin fasste ihren Kopf und drückte ihn fest an ihre Brust. Monique klammerte sich am Arm der Astrophysikerin fest. Das laute Rütteln riss ihren Verstand beinahe auseinander.

Caroline steuerte das Schiff langsam durch schwerfällige Wolkenformationen, die mehr Schwermetalle als Wasserdampf enthielten. Bei ungefähr achttausend Höhenmetern durchbrachen sie die Wolkendecke. Braune Nebelschwaden schwebten bewegungslos über der Oberfläche. Überall zerklüftete, felsige, tote Landschaft. In den Tälern sammelte sich zerlaufenes Metall in kleinen rötlich-braunen Pfützen. Der Rost hatte das erstarrte Metall bereits mit tiefen Löchern zersetzt. Nichts erinnerte mehr an Menschen oder deren Zivilisation.

Bis zum Bodenkontakt waren es nur noch dreitausend Meter. Caroline konnte kaum noch steuern, sie musste in den nächsten Minuten aufsetzen. Langsam türmte sich der riesige Metallblock vor ihnen auf. Er war gigantisch, groß wie eine Stadt. Die Wände waren so glatt, dass sich die Umgebung darin spiegelte. Nirgends eine Spur von Verwitterung. Caroline legte das Schiff leicht backbord. Der Bremsschub sollte ein Luftkissen bilden und sie noch einige hundert Meter näher an das Objekt herantragen, bis der Treibstoff verbraucht war. Elsa nutzte die wenigen Minuten der Landung, um die Umgebung nochmals zu fotografieren und zu scannen. Caroline brachte das Schiff zurück in die Horizontale. Ein letztes Mal gab sie den vollen Schub, bis es endlich weich zu Boden sank.

Vor ihnen eine riesige Wand aus Metall, die sie anstarrte. Sie war so hoch, dass der Himmel aus dem Cockpit heraus nicht zu sehen war. Das Schiff stand ungefähr achtzig Meter entfernt vor dem Block.

»Wir kommen hier nie mehr weg!«, schrie Caroline hysterisch, sie zitterte am ganzen Körper.

Kapitänin Lacroix war sehr stolz auf Caroline. Sie klopfte ihr erleichtert auf die Schulter. »Was für eine Landung!«

Elsa spielte augenblicklich die Aufzeichnungen ab, die sie von der unmittelbaren Umgebung des stählernen Blocks während der Landung aufgenommen hatte. Gebannt schaute die Crew auf die etwas verwackelten Bilder.

»Da, habt ihr das gesehen? Das ist ein Schacht.« Elsa hielt den Film an. Sie versuchte ein einigermaßen scharfes Standbild hinzubekommen. »Es könnte ein Bunkereingang sein.«

»Mein Gott!« Elena schluckte vor Entsetzen. »Hier gab es mehr als nur einen Atomkrieg!«

»Es ist viel schlimmer als ein Atomkrieg«, erwiderte Martina.

»Wie meinst du das, schlimmer? Müssen wir uns etwa bewaffnen? Wem begegnen wir?«

»Unserer eigenen Spezies, 200.000 Jahre weiterentwickelt. Könnt ihr euch eine solche Entwicklung vorstellen?«

Caroline klammerte sich an Martina, ihre Augen waren rot angeschwollen und die dezente Schminke unter den Wimpern ein wenig verschmiert.

Martina fuhr fort: »Das Einzige, was hier gefährlich ist, sind wir, eine andere Intelligenz hat uns Menschen abgelöst.«

»Mutanten?«, fragte Maria irritiert.

»Nein, ich denke eher an Computer.«

»Computer?! Ha, ehrlich, Martina, denkende Computer, die programmieren sich womöglich selbstständig was?« Maria wurde leiser, sie musste spontan an Sophie denken. »Warum nicht? Künstliche Intelligenz wie unser Android als Computerchip?«

»Völliger Unsinn, der Android war autonom, nur programmiert, aber hier vermuten wir ein komplexes System. Kein Computer ist in der Lage eine solche Rechenleistung zu bewältigen. Leben funktioniert nur organisch.«

Sofort machten sich Dr. Elena Floyd, Monique DuPont, Maria Cuéllar und Elsa van Galen bereit für den Ausstieg. Sie mussten Raumanzüge anlegen. Die Luft war mit Oxiden durchsetzt. Es war kaum Sauerstoff vorhanden und die Strahlungswerte lagen oberhalb des Grenzbereichs. Ohne Schutz konnte der menschliche Organismus hier nicht länger als zwanzig Minuten überleben. Elsa fluchte, sie hatte Schwierigkeiten, den kompakten Außenanzug anzulegen. »Ahh! Wie wird das erst mal draußen? Auf dem Mond gab es weniger Anziehungskraft.«

Martina schloss jetzt die Druckkabine und öffnete die äußere Schleusentür. Zischend schob sich die schwere Hydrauliktür zur Seite.

Elsa hielt sich an der Bordwand fest. Ihr Helmvisier beschlug von innen. Sie regulierte die Temperatur der Luftzufuhr, dann sah sie auf den Boden. Überall verteilt lagen eigenartige Splitter. Sie wischte über ihr Helmvisier. »Keine Feuchtigkeit, alles ausgetrocknet.« Neugierig schabte sie mit dem Handschuh über den Boden. »Granulat, das ist Plastik! Plastik mit Metall und anderem Zeugs vermischt.«

»Weißt du, was mir auffällt, Elsa?« Elena ging ein paar Meter weiter. »Ruhiger Boden, endlich stiller, ruhiger Boden, nicht die ständige leichte Vibration wie an Bord des Raumschiffs.«

Der Bunkereingang befand sich dreihundert Meter westlich etwas außerhalb des vor ihnen liegenden Blocks. Mit dem Geländefahrzeug fuhren sie langsam auf den Block zu. Eine stählerne Wand, die immer höher und bedrohlicher wirkte, je näher sie kamen und deren Breite sie mit dem Auge schon gar nicht mehr abschätzen konnten.

Maria wurde immer unruhiger, sie nahm ihr Funksprechgerät. »Martina, bist du auf Empfang?«

»Ja, ich höre dich, Maria. Ist was passiert?«

»Noch nichts. — Wenn du recht hast mit deiner Theorie einer Computerintelligenz, hat sie die Menschen vernichtet. Gab es vielleicht einen Krieg mit Maschinen?«

Es herrschte kurze Funkstille.

»Ich denke eher, das war weniger spektakulär. Die Menschheit hat sich einfach selber ruiniert. Da brauchte keiner nachhelfen. Übrig geblieben sind die Computer mit ihren Netzwerken.«

»Und das Bewusstsein? Ich meine das Leben, wie kommt Leben in einen Computer?«

»Wie kommt denn Leben in dein Gehirn? Das besteht auch nur aus Kohlenstoffatomen und Neuronen.«

Maria sah auf den Boden. Sie versuchte, eine Stelle zu fixieren. Jede Menge Schlaglöcher hinderten sie daran, die Gedanken zu sortieren: Wie entsteht überhaupt Leben? »Martina, was ist wohl hinter dieser Wand?« Marias Blick fiel auf die Kameradinnen. Jede schien ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. »Der Motor des Denkens sind Reize und Neuigkeiten. Sind sie nicht mehr vorhanden, wird uns langweilig. Komisch, wo kommen plötzlich diese Gedanken von mir her? Neuronale Netzwerke im Gehirn lösen sie wohl unbewusst aus, denke ich. Denke ich? Martina erzählte etwas von Computernetzwerken. Meinte sie mit Computernetzwerken etwa das Internet?«

»Martina, ein Computer hat kein Unterbewusstsein wie wir. Ein Computer kann nicht in den Tag träumen.«

»Ja, vielleicht hast du recht, Maria. Meine Theorie ist zu weit hergeholt.«

Martina lehnte sich im Sessel zurück und schaute aus dem Beobachtungsfenster den riesigen Metallblock an. Da kam ihr eine Idee. Sie richtete Wärmebildkameras und Röntgenstrahlen auf die Wand. Die Anzeigen reagierten nicht, was bedeutete, dass die Wand eine enorme Panzerung haben musste.

Inzwischen hatte das Erkundungsteam vor dem riesigen Metallblock haltgemacht.

Monique hielt als Erste die Hand an das glatte Metall. Sie rieb mit dem Handschuh kleine Kreise. »Völlig glatt!«, staunte sie, »keine Risse oder Furchen!« Ihr Blick ging nach oben in die schwindelerregende Höhe. »Unglaublich! Elsa, was schätzt du, wie hoch ist die Wand wohl?«

»Vierhundert Meter würde ich sagen.«

Elena legte Akustiksensoren an. Die Sensoren nahmen eine sehr schwache sich nicht verändernde Vibration wahr. Irritiert sahen

sich die Wissenschaftlerinnen an.

Elena regulierte die Temperatur des Raumanzugs, ihr war furchtbar warm. »Und nun?«, fragte sie.

Elsa schaute auf das Navigationsgerät. »Ich schlage vor, wir fahren die Wand in östliche Richtung ab, bis der Metallblock endet. Sollten wir keinen Zugang vorfinden, suchen wir den Bunkereingang auf.«

Das monotone Anstarren der Wand, um mögliche Eingänge zu finden, ermüdete Elena so sehr, dass sie kurzfristig einnickte.

Plötzlich schreckte sie hoch. Kaltes Metall presste sich an ihre Haut, ein starker Stromstoß durchfuhr sie, ihr Brustkorb hob sich an. Verwirrt blickte sie sich um. »Wo bin ich? Wer sind Sie?«

Notärztin Hellen O´Brian nahm ihre Hand. »Sie hatten einen Unfall, Mrs. Bailey.«

Elena griff nach dem Arm der Ärztin. Verzweifelt stotterte sie: »Einen Unfall?«

»Ja, Mrs. Bailey.«

»Bailey!? … Mein Name ist nicht Bailey, ich heiße …«

»Bleiben Sie wach! Mrs. Bailey, Mrs. Bailey, Mrs. Bailey.«

Elena schüttelte sich. Ihr Tagtraum löste sich auf.

Ungefähr vierhundert Meter vor ihnen tauchten verschwommen zwei röhrenartige Gebilde am Horizont auf. Die heiße Luft flimmerte. Je näher sie den Röhren kamen, desto mehr wuchs ihre Enttäuschung. Von weitem konnten sie schon erkennen, dass die Eingänge über Jahrhunderte unbenutzt waren. Steine und Geröllmassen drangen mindestens fünfzehn Meter tief in die dunklen Schächte. Die beiden Tunnel konnten nur zu dem Block gehören, es mussten die Eingänge sein. Sie nahmen den rechten Tunnel. Das schwache Licht der Lampen in den Helmstrahlern verlor sich nach zehn Metern in der Dunkelheit. Sperrige Steine und aus den Wänden ragende Drähte verhinderten ein schnelles Vorankommen. Nach wenigen Metern wurde es merkwürdig sauber. Die Wände glänzten im reflektierenden Licht, als wären sie eben erst poliert worden.

Plötzlich standen sie vor einem massiven stahlgrauen Panzertor.

Maria stockte der Atem. »Das Tor bekommen wir nie auf, nicht mal mit Sprengstoff!« Sie ging bis auf zwei Meter an das Tor heran. »Aalglatt, nirgendwo Entriegelungsmechanismen zu sehen.«

Elena lehnte sich seitlich mit dem Rücken gegen die Tunnelwand. »Hm! — Warum überhaupt ein gepanzertes Tor? Eine Gesellschaft, die keine Bedrohung fürchten muss, braucht keine Sperrvorrichtungen. Feinde von außerhalb sind nicht zu erwarten.«

Monique beobachtete, wie Elena das Tor anstarrte. »Was starrst du das Tor denn so an? Meinst du, wir bekommen das Tor mit positiven Gedanken auf oder klingt das zu mystisch?«

»Mystik und Religion, zwei Faktoren, die fast jeden Menschen in jeder Kultur blockieren und den Verstand auflaufen lassen. Zwei Begriffe, deren Inhalt nur aus Glaube besteht.«

Maria ging einen Schritt auf Elena zu. »Und Glaube ist bekanntlich ein Vakuum, in das man alles hineininterpretieren kann.«

Monique schmunzelte. »Das sollte bloß ein Scherz sein. Mir ist klar, dass wir das Tor nicht wegdenken können.«

Elsa fasste Monique am Ellenbogen. »Warum nicht? Ein Verschlusssystem im Frequenzbereich! Gedanken strahlen tatsächlich Schwingungen aus. Nur welche Frequenz kommt hierfür infrage?«

Beide schauten sie sich durch das leicht verschmutzte Helmvisier an. Etwas Bedrohliches schlug ihnen entgegen, eine unheimliche Aura strahlte von den schweren dunklen Panzertüren ab.

»Angst! Die Frequenz der Angst. Primitive Völker wurden früher mit Symbolen oder Geschichten von etwas ferngehalten. Beim intelligenten Primaten wird das Gehirn manipuliert, mit magnetischen Schwingungen geht es direkt in das Angstzentrum des Gehirns. Das Tor ist eine Ablenkung. Hier ist gar kein Tor. Wir sollen nur ein Tor sehen!« Elena schlug mit der Hand gegen das Tor und verlor das Gleichgewicht. Sie fiel auf die andere Seite durch die scheinbar massive Wand.

Maria erschrak. »Elena, wo bist du?«

»Na hier, hier hinter der Wand! Das Tor ist tatsächlich nur Einbildung.«

Monique, Elsa und Maria fassten gleichzeitig mit den Fingern an die Torwand.

»Maria, gib mir endlich deine Hand!«

Maria zog Elena hoch. Beide schauten sich an, dann lachten sie laut los.

Alle vier drehten sich gleichzeitig um und staunten über das, was sie da vor sich sahen.

»Ist das auch Einbildung, Elena? Von jetzt an fasse ich alles vorher an.«

Caroline Dijon saß zusammengekauert im Pilotensessel. Nachdenklich hielt sie leicht schräg ein Rotweinglas in die langsam untergehende Sonne. Ihre Augen verfolgten aufmerksam die kleinen tanzenden Schwebeteilchen, die sich im Wein abzusenken versuchten. »Huch!« Sie zuckte erschrocken zusammen und drehte sich abrupt um. »Martina, hast du mich erschreckt!« Ein Kribbeln fuhr ihr durch den Bauch, als sie zu ihr hoch sah.

Martina Moreau war irritiert. Ein so intensives Lächeln hatte sie noch nie von Caroline bekommen.

Caroline hatte den Pilotenoverall ausgezogen. Durch die leicht aufgeknöpfte Bluse tat sich ihre Brust etwas hervor. Als sie bemerkte wie Martina sie ansah, verdeckte sie den Busen schamhaft mit der Hand.

»Wo hast du denn den Wein her?«, fragte Martina ablenkend. »Ich dachte, an Bord gibt es keinen Alkohol.«

Caroline schien schon ein wenig angetrunken zu sein, die Augenränder waren beinah so rot wie ihre Lippen. In der Dämmerung wirkte sie fast wie ein Vampir. Sie neigte sich leicht zur Seite. »Magst du dich nicht zu mir setzen, Martina?«

»Ja natürlich, Nova-Li.«

Caroline senkte den Kopf und schaute verwirrt auf den Boden. »Wieso nennt sie mich Nova-Li?« Die Sonnenstrahlen kamen jetzt flach durch die Cockpitscheibe. Sie hob ihre Hand der Sonne entgegen. Der große Metallblock warf unnatürliche lange Schatten auf den öden metallischen Boden. Sie drehte den Kopf hin zu den riesigen Metallblöcken und nippte an ihrem Weinglas. »Wir werden sowieso alle sterben. Unser Nahrungsvorrat reicht höchstens noch für vier Monate.«

Martina wusste nicht, was sie sagen sollte, also streichelte sie ihr über das Haar. Carolines Lippen öffneten sich leicht.

»Was denkst du, wer wohnt wohl in diesen Metallblöcken?«

Caroline streckte die Arme in die Höhe. »Hoffentlich wird diese Zivilisation nicht von Männern regiert.«

Martina sah sie verblüfft an. »Wieso, was hast du gegen Männer?«

»Gar nichts, sie sind ein notwendiges Übel. Ach was, ich denke, es ist eher unwahrscheinlich, dass Männer in der Evolutionsstufe weiterkommen. Sie werden sich vorher mit ihrer infantilen Religion und dem gegenseitigen Hass selber zerstört haben. Nur Männer bringen Kriege und Diktaturen hervor!«

Martina schmunzelte. »Und wir Frauen, können wir es besser?«

»Aber ja!« Sie berührte Martinas Wange und tastete ihren weichen Flaum ab.

Martina errötete. »Wenn Florence jetzt herein kommt.«

Caroline trank das Glas leer und schenkte direkt nach. »In diesen stählernen Blöcken muss etwas anderes sein, etwas, was sich nicht selber zerstört – und das ist schwierig. Leben zerstört sich nämlich immer selber, es steht sich im Weg. Leben ist ein Widerspruch in sich, weil organisches Leben aus mehreren Komponenten besteht: Aus Zellen, Viren, Bakterien und so weiter.

---ENDE DER LESEPROBE---