Flucht - eine globale Herausforderung - Bruno Johannsson - E-Book

Flucht - eine globale Herausforderung E-Book

Bruno Johannsson

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Beschreibung

Wäre Angela Merkels Flüchtlingspolitik ohne die Mauern in Ungarn und der Türkei kläglich gescheitert? Ist die Nicht-Zurückweisungsklausel der Genfer Flüchtlingskonvention überhaupt praktisch durchführbar, wenn zu viele über die Grenze drängen? Wie soll der einzelne Bürger sich verhalten, wenn ihm plötzlich Opfer abverlangt werden, die er freiwillig nie auf sich genommen hätte? Wie kann die dramatische Unterversorgung von zig Millionen Flüchtlingen weltweit beseitigt werden? Was kann oder soll ein Nationalstaat tun, wenn die UNO nicht in der Lage ist, das Problem zu bewältigen? Das sind einige der Fragen, denen in diesem Buch nachgegangen wird. Das Ergebnis sind zum Teil beunruhigende Analysen und im Vergleich zum flüchtlingspolitischen Mainstream revolutionäre Vorschläge.

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Dieses Buch

zeigt die Handlungsalternativen aller Akteure im globalen flüchtlingspolitischen Szenario auf: Der Bedrohten, der Flüchtenden, der Bürger und Politiker in den Aufnahmeländern, der Gesellschaften und Staaten sowie der Staatengemeinschaft und ihrer Organisationen. Alle befinden sich in einem wie auch immer gearteten Dilemma, in dem ihr ethisches Profil gefordert wird. Dabei geht es um das Wohl von hunderten Millionen von Menschen, insbesondere natürlich um die 65 Millionen auf der Flucht, aber auch um die Bürger in den Aufnahmeländern, die von der Entwicklung mitunter stark gefordert, manchmal sogar überlastet werden. Die besseren Wege aus den Dilemmas lassen sich nicht mit Polemik, Intoleranz und Gewalt finden, sondern nur im sachlichen, respektvollen Diskurs. Dazu soll dieses Buch einen Beitrag in Stil und Inhalt leisten.

Der Autor

hat Ökonomie, Philosophie und Theologie an der Universität des Saarlandes studiert, war als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschung und als Dozent in der beruflichen Bildung tätig. Nach Renteneintritt verlagerte sich sein Schwerpunkt mehr auf philosophische und theologische Themen. Er ist Mit-Initiator des Café Philo in Chemnitz. 2015 erhielt er den Preis der Jury beim Philosophy Slam, Chemnitz. 2017 publizierte er zusammen mit Thea Johannsson „Spielregeln der Gesellschaft“ (siehe Anhang). In der vorliegenden Publikation verbindet er seinen ökonomischen, philosophischen und theologischen Sachverstand.

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Meiner Mutter und ihren hessischen Fluchthelfern gewidmet, durch deren Kooperation ich als sechsjähriger Junge gut getarnt vorbei an russischen Wachsoldaten von Ost- nach Westdeutschland geschleust wurde.

„Wir sehen uns mit der größten Flüchtlings- und Vertreibungskrise unserer Zeit konfrontiert. Vor allem ist dies nicht eben nur eine Krise von Zahlen; es ist auch eine Krise von Solidarität.“

Ban Ki Moon, Generalsekretär der Vereinten Nationen 2007 – 2016

Inhalt

Vorbemerkung

Teil 1Menschen im Dilemma

1.1. Flüchten oder bleiben? Ethik in der Not

1.1.1. Was ist Flucht?

1.1.2. Der Flüchtling - ein mehrfach Geschlagener

1.1.3. Die Freiheitsspielräume eines potentiellen Flüchtlings

1.1.4. Pro und Contra Flucht

1.1.5. Beschränkte Rationalität

1.1.6. Die Dietrich-Bonhoeffer-Entscheidung

1.2. Einladen oder abschrecken? Eine ethische Gratwanderung

1.2.1. Einladende Signale

1.2.2. Das Dilemma der Willkommenskultur

1.2.3. Rationale Abwägung

1.2.4. Relativierende Faktoren

1.2.5. Das rechte Meinungsspektrum

1.3. Anhalten oder vorübergehen Die Samaritersituation

1.3.1. Das Verhaltensspektrum der Einheimischen

1.3.2. Das tatsächliche Verhalten als Spitze eines Eisbergs

1.3.3. Gewalt und Anfeindung

1.3.4. Die Gleichgültigen und Überlasteten

1.3.5. Geschädigte und Opfer von Flüchtlingen

1.3.6. Ehrenamtliche Flüchtlingshilfe im Rahmen staatlicher Maßnahmen

1.4. Sich integrieren oder isolieren? Flüchtlinge im Aufnahmeland

1.4.1. Fluchtbewegungen mit minimalem Anpassungsbedarf

1.4.2. Zusammenprall der Kulturen

1.4.3. Was bedeutet Integration bzw. Isolation?

1.4.4. Flüchtlingsprofile

1.4.5. Rechte und Pflichten, Chancen und Risiken im Aufnahmeland

1.4.6. Der Preis vollkommener Integration

1.4.7. Die Dragan-Atorovic-Entscheidung

1.4.8. Ausnutzung des Empfängerlandes

1.4.9. Terrorismus und Kriminalität

1.5. Königswege und niedrigere Pfade Eine individualethische Perspektive auf das Flüchtlingsproblem

Teil 2 Eine Herausforderung Staat und Gesellschaft

2.1. Öffnung oder Abschottung? Wie sich Gesellschaften zur Flüchtlingsfrage positionieren.

2.1.1. Das Spektrum sozialer Handlungs-Alternativen

2.1.2. Große Flüchtlingsströme – eine neue Qualität

2.1.3. Wirtschaftliche Kapazität und moralische Bereitschaft

2.1.4. Totale Öffnung

2.1.5. Obergrenze und Kontingent

2.1.6. Völlige Abschottung

2.2. Fair oder ausbeuterisch? Die Verteilung der Nutzen und Kosten der Flüchtlingspolitik

2.2.1. Flüchtlingspolitik: Was sie bringt und was sie kostet

2.2.2. Die Verteilung des sozialen Nutzens

2.2.3. Direkte Kosten – Steuersystem – Sozialsystem

2.2.4. Die Krux mit den negativen Neben-Wirkungen

2.3. Freiwilligkeit oder Zwang? Flüchtlingshilfe im demokratischen Prozess

2.3.1. Die karitative Souveränität der Bürger

2.3.2. Die karitative Souveränität von Gesellschaften

2.3.3. Entscheidungskompetenz und karitative Souveränität

2.3.4. Aufnahmebereitschaftserklärungen

2.4. Offenheit – Selbstbestimmung – Fairness Eine sozialethische Perspektive

Teil 3 Globalisierung – auch der Verantwortung

3.1. Ausflug in eine utopische Welt Zwei Modelle zur globalen Flüchtlingsproblematik

3.1.1. Welt ohne Flüchtlinge

3.1.2. Welt mit offenen Grenzen

3.2. Die Lage in der Mitte des zweite Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts Mehr als fünfundsechzog Millionen auf der Flucht

3.2.1. Ein Jahrhundertproblem

3.2.2. Der Status-quo der globalen Problemlösung

3.2.3. Laissez-Faire oder striktes UNO-Règlement?

3.3. Soziospezifisch oder global einheitlich? Ein abgestuftes Konzept globaler Flüchtlingspolitik

3.3.1. Das Konzept im Überblick

3.3.2. Landesinterne Lösungen

3.3.3. Der Weg über die Anrainerstaaten

3.3.4. Einheitliche Standards weltweit

3.3.5. Globale Verteilung von Asylanten

3.3.6. Temporäre Integration und Rückkehr ins Herkunftsland

3.3.7. Kosten und Finanzierung

3.3.8. Etappen zur Umsetzung der globalsolidarischen Flüchtlingspolitik

3.4. Die Dimensionen des Gipfels oder womit alle leben könnten Eine globalethische Perspektive

Exkurs 1

Wohlwollen und Wohlfahrt – zwei Seiten einer Medaille

Exkurs 2

Kriterien für eine faire Verteilung von Nutzen und Lasten der Flüchtlingspolitik

Literaturverzeichnis

Anhänge

Vorbemerkungen

Im Herbst des Jahres 2017 darf man hoffen, dass die nahöstlich-europäische Flüchtlingskrise nicht wieder aufflammt, die Europa seit September 2015 ein Jahr lang in Atem gehalten hatte. Sie schwelt dahin, unterliegt aber einer gewissen Kontrolle, sodass man nicht mehr von Krise sprechen möchte. Neues Feuer könnte entfacht werden, wenn das Abkommen der EU mit der Türkei annulliert wird. Während die Balkanroute einer gewissen Kontrolle unterliegt, kann man dies von der Mittelmeerroute keineswegs behaupten. Der Blick dieser Arbeit geht jedoch über die jüngeren Ereignisse im Nahen Osten und in Europa hinaus. Weltweit ist die Situation mit ca. 65 Millionen Flüchtlingen insgesamt beunruhigender denn je. Eine Besserung zeichnet sich nicht ab. Die Staatengemeinschaft und ihre Organisation, die UNO, haben die Situation kaum im Griff, sodass man eigentlich von einer globalen Flüchtlingskrise sprechen könnte, was aber niemand tut. Man hat sich an diesen Zustand schon seit Jahren gewöhnt. Er gehört zur globalen Normalität. Die Beruhigung in Europa und die Dauerkrise weltweit begründen den Ansatz dieser Arbeit: Wie sollen wir mit der anhaltenden globalen Herausforderung umgehen? Welche ersten Schlüsse können wir dazu aus der jüngsten Erfahrung in Nahost und Europa ziehen? Letztere ist insbesondere dadurch bemerkenswert, dass relativ große Flüchtlingsströme in relativ kurzer Zeit eine große Entfernung mit einem bestimmten Ziel zurückgelegt haben, nämlich Europa, insbesondere Deutschland.

Ein besonderes Anliegen dieser Arbeit besteht darin, die Alternativen, insbesondere die Dilemmas, der von Flucht betroffenen Menschen aufzuzeigen und einer ethischen Analyse zu unterziehen. Dabei handelt es sich auf individueller Ebene um die von einer Gefahr bedrohten Menschen in den unsicheren Ländern, um die Flüchtlinge unterwegs und im Aufnahmeland und um die Einheimischen in den Durchgangs- und Aufnahmeländern. Zu den Einheimischen zähle ich auch die Politiker aller Staatsformen auf deren verschiedenen Ebenen. Die individualethischen Analysen der Handlungssituationen der genannten Akteure stellen eine Art Grundlage für die anschließende sozialethische Betrachtung dar. Diese ist untergliedert in die Betrachtung einer einzelnen Gesellschaft als Akteur einerseits und der gesamten Staatengemeinschaft andererseits. Die beiden Betrachtungsweisen könnte man als national- bzw. globalethische Analyse bezeichnen. Bei dem nationalethischen Ansatz ist die gesamte Gesellschaft das handelnde Subjekt, wobei der Staat, den sie bildet, eine besondere Rolle spielt. Bei der globalethischen Betrachtung ist die gesamte Menschheit, repräsentiert durch die Staatengemeinschaft und deren Organisation, die UNO, handelndes Subjekt. Für diesen globalen Ansatz ist die unmittelbare Grundlage die nationalethische Betrachtung. Bei globaler Sicht gibt es aber eine Reihe bedeutsamer neuer Aspekte. Wer sich für die Begründung der von mir benutzten ethischen Bewertungsmaßstäbe interessiert, findet diese in Exkurs 1 am Ende dieses Buches dargestellt.

Die Arbeit wurde im Wesentlichen im Frühjahr 2017 abgeschlossen. Vor Drucklegung ist am 30.6.2017 Global Trends 2017, der neueste statistische Bericht von UNHCR, der UN Refugee Agency, erschienen, dessen >zahlen ich an manchen Stellen noch einfügen konnte. Er zeigt die Entwicklung im Jahr 2016. Erfreulicherweise haben sich Umfang und Struktur der weltweiten Flucht gegenüber dem Jahr zuvor nicht nennenswert geändert. Als neues Phänomen ist die Flucht der Rohingya aus Myanmar hinzugekommen, die immerhin mehr als eine halbe Million Menschen betrifft. Da die kleineren Abweichungen für meine Argumentation unerheblich sind, darf der Leser den Stand per 31.12.2015 als relativ aktuelle statistische Grundlage für meine Überlegungen betrachten. Auch die neueren Statistiken des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bzw. neuere Prognose und Analysen von Forschungsinstituten ändern nichts an meiner Betrachtungsweise.

Die Benutzung von Thesen ist für den Leser sicher gewöhnungsbedürftig aber wie ich hoffe hilfreich. Er kann auf diese Weise den roten Faden meiner Argumentation leichter verfolgen. Die Begründung der Thesen erfolgt eher im Essaystil und sollte von daher allgemein verständlich sein. Kleinere Ausflüge in wissenschaftliche Präzision habe ich meist in die Fußnoten und in die Exkurse verbannt. Beide könnten vom Leser notfalls übergangen werden. Mir kam es auf die Erhaltung des Sachbuchcharakters an, um eine möglichst breite Leserschaft zu erreichen. Schließlich geht es auch um die Versachlichung einer teilweise populistisch geführten Diskussion.

Ganz besonderen Dank bin ich Thea Johannsson schuldig, die dieses Buch Kapitel für Kapitel mit konstruktiver Kritik und als Lektorin begleitet hat. Ohne ihren Beitrag würde dieses Buch wahrscheinlich sehr viel mehr Mängel aufweisen als dies ohnehin möglicherweise der Fall ist. Die Verantwortung dafür trägt selbstverständlich der Autor. Dank gebührt UNHCR, The UN Refugee Agency, für die Überlassung des Coverfotos. Die dazu nötige Kommunikation über Berlin und Genf verlief zügig und reibungslos. Mark Glumann danke ich für die Information über einige Publikationen in der deutschen Presselandschaft, die für die Aktualität dieser Arbeit wichtig waren.

Teil 1 Existenzielle Entscheidungen

1.1. Flüchten oder bleiben? Ethik in der Not

1.1.1. Was ist Flucht?

Flucht und Auswanderung gehen vielfach ineinander über. Bei der Flucht ist die unmittelbare Zwangslage zum Verlassen eines Ortes gravierender und damit das Interesse an Rückkehr evtl. größer.

Die Alternative „Flüchten oder Bleiben“ hat sich im Laufe der Jahrtausende der Menschheitsgeschichte sicherlich schon hunderten von Millionen Menschen gestellt. Der Report 2016 der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR spricht von ca. 65 Mio. Menschen, die sich Ende 2016 auf der Flucht befanden, d. h. „gewaltsam vertrieben als Ergebnis von Verfolgung, Konflikt, allgemeiner Gewalt und Menschenrechtsverletzungen“ waren. Dabei macht UNHCR einen Unterschied zwischen den ca. 40 Mio. Binnenvertriebenen (engl. internally displaced persons), den ca. 22 Mio. Flüchtlingen (engl. refugees) und den ca. 3 Mio. Asylbewerbern (engl. asylum seekers). 1

Die Unterscheidung von UNHCR in Binnenvertriebene hat nicht nur statistische Bedeutung sondern prägt auch die Politik von UNHCR. Daraus wird deutlich, dass es nicht ganz unwichtig ist, welchen Begriff von Flucht man in Theorie und rechtlich-politischer Praxis unterstellt. Darauf weist auch Piskorski hin und führt als eines von vielen Beispielen die vietnamesischen Boat People an, die offiziell als Wirtschaftsflüchtlinge deklariert und als Folge davon repatriiert wurden.2 Es macht also durchaus Sinn, einen Moment über das Wesen von Flucht nachzudenken, zumal es auch in der weiteren Betrachtung darauf ankommen wird, zwischen echten und unechten Flüchtlingen zu unterscheiden, weil davon ihre Rechtsansprüche an die nationale und globale Flüchtlingshilfe abhängen. Im Falle der vietnamesischen Boat People wurden diese abgelehnt.

Eine weitere vor allem rechtlich relevante Quelle für die Abgrenzung des Fluchtbegriffs ist die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)3, die in ihrem Artikel 1 den Begriff „Flüchtling“ definiert. Als einzige Gruppe von Fluchtgründen lässt sie Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung und/oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gelten. Krieg, Bürgerkrieg, Folter, Naturkatastrophen finden hier keine Erwähnung, werden aber de facto von UNHCR akzeptiert. Die Überschreitung der Grenze des eigenen Staates und damit die Nicht-Inanspruchnahme seines Schutzes sind gemäß GFK Bedingung für die Flüchtlingseigenschaft. 4 Diese Bedingung hat UNHCR möglicherweise zu der oben erwähnten Unterscheidung in Flüchtlinge und Binnenvertriebene veranlasst. Aber auch für Letztere fühlt sich UNHCR zuständig.

Für unsere weitere Betrachtung ist es wichtig, eine Vorstellung von Flucht zu umschreiben, die über die aktuelle Statistik und Politik hinausgeht. „Flucht ist eine Reaktion auf Gefahren, Bedrohungen oder als unzumutbar empfundene Situationen. Meist ist die Flucht ein plötzliches und eiliges, manchmal auch heimliches Verlassen eines Aufenthaltsortes oder Landes. Die eilige Bewegung weg von der Bedrohung ist oft ziellos und ungeordnet, eine Flucht kann aber auch das gezielte Aufsuchen eines Zufluchtsortes sein. Fluchtverhalten gehört zum natürlichen Verhaltensrepertoire von Tieren. 5 Man darf getrost hinzufügen: Flucht gehört auch zum natürlichen Verhaltensrepertoire von Menschen, wobei diese evtl. eine sorgfältigere Entscheidung treffen, wenn ihnen genügend Zeit gegeben ist. Einen weiteren Punkt möchte ich dieser Definition als wesentlich hinzufügen: Der Flüchtende möchte den Standort, an dem er sich zum Zeitpunkt der Flucht befindet, eigentlich halten. Es war zu diesem Zeitpunkt der Ort seiner Wahl, in vielen Fällen sogar – subjektiv empfunden – seine Heimat, in der er Wurzeln geschlagen hat. Dieser Ort ist evtl. stark mit der Lebensgeschichte des Flüchtenden verbunden, er verbürgt Traditionen und ist möglicherweise das Ergebnis von Investitionen wie z. B. bei einem eigenen Anwesen. Je mehr diese Faktoren gegeben sind umso näher liegt es, dass der Flüchtling eigentlich zurückkehren möchte, sobald die gefährliche Situation beseitigt ist. Diese Rückkehrwilligkeit möchten wir als ein Merkmal von Flucht im Auge behalten. Sie unterscheidet Flucht von Auswanderung, obwohl auch dabei das Heimweh mitunter auf dramatische Weise zur Rückkehr drängt.

Insbesondere bei der Flucht vor plötzlichen Naturkatastrophen wie Stürmen und Vulkanausbrüchen muss sehr schnell, mitunter geradezu überstürzt, gehandelt werden. Aber es gibt auch Fluchtarten, bei denen eine langfristige Planung nicht nur möglich sondern auch unumgänglich ist. Ich denke an manche Flucht aus der DDR, die jahrelang sorgfältig geplant wurde.6 In solchen Fällen ist Flucht häufig auch zielgerichtet, ist somit nicht nur eine Bewegung weg von einem Ort, sondern gleichzeitig eine gezielte Bewegung hin zu einem bestimmten anderen Ort. Im Falle des DDR-Flüchtlings war dies meistens Westdeutschland. Im Zuge der nahöstlich-europäischen Flüchtlingskrise 2015/16 waren die Zielorte häufig europäische Länder mit einer besonderen Präferenz für Deutschland. Allerdings muss man bedenken, dass die große Mehrzahl der Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Afghanistan auch in dieser Krise in einem der Anrainerstaaten Türkei, Jordanien und Libanon gelandet ist. Die Rückkehr von dort in die Heimat ist sehr viel leichter zu bewerkstelligen. Aus diesem und anderen Gründen dürfte die Rückkehrwilligkeit bei diesen mehr als 4 Millionen Menschen ausgeprägter sein als bei denen, die in Europa angekommen sind. Bei letzteren spielte der Aspekt „Flucht wohin“ teilweise eine größere Rolle als der in Not geborene Gedanke „Flucht wovor“. Daraus ergibt sich eine beträchtliche Zahl von Asylbewerbern, deren Antrag abgelehnt wird, weil die Gerichte eher Auswanderungsmotive als Fluchtgründe unterstellen.7

Wir beobachten in der Menschheitsgeschichte die Rückkehrwilligkeit insbesondere auch nach Vertreibungen, die man als durch eine politisch-militärische Macht unmittelbar erzwungene Flucht betrachten kann. Ein eindrucksvolles Beispiel bieten uns über Jahrtausende hinweg die Juden, die nach ihrer Babylonischen Gefangenschaft als Volk wieder zurückkehrten und nach ihrer Zerstreuung durch die Römer knapp 1900 Jahre später wieder einen Staat bildeten Auch die deutsche Geschichte weist eindrucksvolle Beispiele auf. Wir wissen z. B. nicht genau, wie viele Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in den 50er und 60er Jahren zurückgekehrt wären, wenn man ihnen ihr Grundeigentum zurückerstattet hätte. Es könnten Hunderttausende und mehr gewesen sein, wenn man die Aktivitäten der Heimatvertriebenen in den Jahrzehnten nach dem Krieg betrachtet.

Wir haben damit Flucht zumindest grob gegenüber Auswanderung abgegrenzt und Vertreibung als einen Sonderfall von Flucht eingeordnet. Als Ursachen für Flucht kommen weiterhin in Frage: Naturkatastrophen, Hungersnot, Verfolgung, Unterdrückung, Bürgerkrieg, Krieg und wirtschaftliche Not. Der Freiheitsspielraum des potentiellen Flüchtlings ist bei den einzelnen Ursachenkomplexen unterschiedlich. Während es bei plötzlich auftretenden Naturkatastrophen häufig um das nackte Überleben durch schnelles Handeln geht, können sich Vertreibung und Unterdrückung über einen längeren Zeitraum hinziehen, der evtl. eine gewisse Fluchtvorbereitung ermöglicht. Unterdrückung kann man grob umschreiben als die gewaltsame Hinderung an der Ausübung der Menschenrechte.

1.1.2. Der Flüchtling – ein mehrfach Geschlagener

Der Flüchtling ist ein vielfach Geschlagener: Von seinem Ursprungsort musste er weichen, dann eine beschwerliche Flucht auf sich nehmen und am Zufluchtsort zahlreiche Schwierigkeiten bewältigen.

Die Flüchtlingskrise 2015/16 hat vielen Menschen in Europa und besonders in Deutschland etwas in Erinnerung gebracht, was manche schon fast vergessen, die meisten aber noch nie erlebt hatten: Das Leid eines Flüchtlings. Die letzte große Fluchtbewegung in Europa war die aus der DDR.8 Der Zielort war überwiegend Westdeutschland, das dazu geeignet war, die in der These angeführten Leidfaktoren besonders niedrig zu halten: Die wirtschaftliche Eingliederung verlief häufig zügig, sodass der materielle Verzicht durch Verlassen der Heimat bald ausgeglichen war, zumal das Konsumgüterangebot am Zufluchtsort deutlich besser war. Der Fluchtweg war vor dem Mauerbau kurz und unproblematisch, danach evtl. durch Umwege über die Ostsee oder den Balkan länger bzw. wegen des Schießbefehls an der Mauer viel gefährlicher. Immerhin hat er ca. 1000 Menschen das Leben gekostet.9 Durch die Willkommenskultur der Bundesrepublik und evtl. vorhandene Verwandte waren die Startschwierigkeiten begrenzt. Ich erinnere mich, dass allein meine Eltern mindestens 6 Flüchtlingen erheblich geholfen haben. Trotzdem: Ein vertrautes Umfeld wurde verlassen. Nicht immer hat sich der ehemalige DDR-Bürger im „kapitalistischen Westen“ gut eingewöhnen können. In wieweit die Integration der DDR-Flüchtlinge zumindest in der zweiten und dritten Generation gelang, kann man vielleicht daran erkennen, dass sich der Rückstrom in die Heimat nach der Wiedervereinigung in Grenzen hielt. (Vgl. Frage 1). Das bedeutet, dass viele DDR-Flüchtlinge ihr Ziel erreicht haben: Leben in einem freieren und wirtschaftlich stärkeren Land mit größeren Entwicklungschancen.

Die ökonomische Wirtschaftstheorie hält hier ein aussagekräftiges Gleichnis bereit, das uns in diesem Buch begleiten wird: Ein Bergsteiger befindet sich auf dem Weg zu einem bescheidenen Gipfel und sieht in der Ferne einen viel höheren und attraktiveren Gipfel. Er entschließt sich zum Abstieg, um sich an den Fuß des anderen Berges zu begeben, der ihm so viel mehr Chancen bietet. Dort muss er zwar von vorn anfangen, aber er hat die Perspektive eines viel höheren Gipfels. Insoweit ein DDR-Bürger nicht politisch verfolgt wurde, aber das System mit seinen begrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten satt hatte und aus diesem Grund nach Westdeutschland ging, konnte man ihn bestenfalls als Wirtschaftsflüchtling einstufen. Er war in diesem Falle eher ein Auswanderer als ein Flüchtling. Er war weniger ein Geschlagener als ein Frustrierter. (Vgl. Frage 2)

Die Flucht 2015/16 aus dem Nahen Osten über die Balkanroute hatte demgegenüber ganz andere Dimensionen: Höherer Leidensdruck durch Bürgerkrieg und Verfolgung am Ursprungsort, ein langer und entbehrungsreicher Fluchtweg durch unfreundliche Länder und über schwierige Grenzen, das Ankommen in der völlig fremden Kultur eines europäischen Landes. Ein syrischer Flüchtling musste sich in seiner Heimat geschlagen geben, sei es gegenüber Bombenangriffen, einem heranrückenden Islamischen Staat oder der Bedrohung durch Verhaftung und Folter. Er musste sein Heim verlassen und in das nächst verfügbare Lager in Jordanien, dem Libanon oder der Türkei ausweichen. Wenn er Pech hatte musste er dort mit seiner Familie Hunger und andere Not leiden. Er wieder ein Geschlagener und musste seine Flucht fortsetzen. Wenn er Pech hatte, ist er in das Netz von Schleppern geraten und ausgebeutet worden oder gar zu Tode gekommen. Hat er diesen Schlag verkraftet, so kann ihn das Pech weiter verfolgt haben, dass er in Idomeni vor einer unübersteigbaren Mauer ankam und schließlich wieder in einem türkischen Lager gelandet ist. Gehörte er zu den Glücklichen, die vor dem Bau der Balkanmauern nach Europa gelangten, so kann es ihm passieren, dass sein Antrag auf Asyl abgelehnt und er abgeschoben wird. Darf er bleiben, so findet er sich in einer fremden Kultur, die er nicht wirklich gewählt hat und die ihm viele Schwierigkeiten bereitet, z. B. in Form von langen Wartezeiten und rechtsextremen Anfeindungen.

Die Formen des geschlagen seins sind von Fall zu Fall und auch von Region zu Region natürlich sehr unterschiedlich. Haben wir es beispielsweise mit einer Hungersnot zu tun, so ist der Feind die Natur und weniger der Mensch. Für den Bedrohten ist es wichtig so rechtzeitig aktiv zu werden, dass er und seine Familie noch die Kräfte haben, um einen längeren Fluchtweg in eine bessere Region bewältigen zu können. Wenn er schon in die Lethargie des Hungernden verfallen ist, bekommt er den Start nicht hin. Daran erkenne wir auch, dass sich der Flüchtige sich mit seinem Schicksal ganz in der Nähe des Verhungernden befindet. Letzterer hat nicht mehr die Kraft, dem Tod zu entfliehen. Der Flüchtling hat sie noch, auch wenn der Tod in Form von Krieg, Bürgerkrieg, Verfolgung und Folter droht.

In obiger Beschreibung sind wir von einem echten Flüchtling ausgegangen, bei dem im Anfangsstadium die „Flucht wovor“ nahezu zwingend war. Es ist bei drohenden dramatischen Lebenssituationen nur allzu verständlich, dass jemand versucht frühzeitig zu reagieren, um nicht einem totalen Zeitdruck ausgesetzt zu sein und die Bewegung weg von einem gefährlichen Ort umzugestalten in eine Bewegung hin zu einem möglichst viel besseren Ort, z. B. Europa.

Offene Fragen

Wie viele DDR-Flüchtlingen in der ersten, zweiten bzw. dritten Generation sind nach der Wiedervereinigung wieder in ihre Heimat zurückgekehrt?

Wie viele der ca. 3,5 Mio. „DDR-Flüchtlinge“ waren von ihrer Ausgangslage und Zielsetzung her eher Auswanderer als Flüchtlinge?

1.1.3. Die Freiheitsspielräume eines potentiellen Flüchtlings

Die Handlungsalternativen potentieller Flüchtlinge sind je nach Art der Notlage, ihren Persönlichkeitsmerkmalen und ihren Ressourcen sehr unterschiedlich. Sie reichen vom Ausharren bis zum überstürzten Aufbruch.

Die Handlungsalternativen eines potentiellen Flüchtlings kann man wie folgt abstufen:

Bleiben und versuchen, die Gefahr abzuwehren,

Bleiben, aber Frau, Kinder und evtl. wertvolle Vermögensteile in Sicherheit bringen,

Rückzug zum nächsten sicheren Ort innerhalb desselben Staates evtl. mit der Absicht, bei nächster Gelegenheit in das Geschehen einzugreifen bzw. zurückzukehren,

Flucht in einen anderen mehr oder weniger fernen Staat mit oder ohne Rückkehrabsicht.

Der Freiheitsspielraum des potentiellen Flüchtlings ist bei den schon erwähnten Ursachenkomplexen Naturkatastrophe, Vertreibung, Verfolgung, Unterdrückung, Krieg, Bürgerkrieg und wirtschaftliche Not unterschiedlich. Während es bei plötzlich auftretenden Naturkatastrophen häufig um das nackte Überleben durch schnelles Handeln geht, können sich Vertreibung und buchstäbliche Verfolgung über einen längeren Zeitraum hinziehen, der evtl. eine gewisse Fluchtvorbereitung ermöglicht. Unterdrückung kann man grob umschreiben als die gewaltsame Hinderung an der Ausübung der Menschenrechte. Hier hat das Individuum zahlreiche Handlungsmöglichkeiten: Flucht, Widerstand, Ertragen der Unterdrückung, evtl. bis zum Märtyrertod. Krieg ist eine soziale Katastrophe, bei der zumindest für gesunde Erwachsene die Option im Raum stehen kann, an den militärischen Handlungen aktiv teilzunehmen, um ihren Ausgang im Sinne der eigenen Interessen zu beeinflussen. Für Kinder besteht diese Option nicht. Sie müssen in Sicherheit gebracht werden. Noch etwas weiter können wie oben bereits erwähnt die Handlungsspielräume bei wirtschaftlicher Not sein. Bei einer mit einer plötzlichen Naturkatastrophe verbundenen Hungersnot ist wieder schnelles Handeln erforderlich. Anders ist die Lage bei einer allgemeinen Wirtschaftskrise oder einer sehr schlechten Wirtschaftslage mit hoher Arbeitslosigkeit und Inflation. Hier besteht mitunter die Möglichkeit in einer Nische über die Runden zu kommen und durch das eigene Handeln die Lage im Land zumindest lokal zu verbessern.

Die Handlungsalternativen des potentiellen Flüchtlings hängen natürlich auch in hohem Maße von seinen Persönlichkeitsmerkmalen ab: Alter, Gesundheit, Familienstand, Ressourcen, Mobilität, Bildung und Ausbildung, Beziehungen, sozialer Status usw. Diese Faktoren beeinflussen nicht nur die Möglichkeit und Notwendigkeit der Flucht, sondern auch die Einflussmöglichkeiten auf das heimatliche Geschehen im Falle des Bleibens. Ein Arzt mit Frau und drei Kindern könnte mit diesen die Flucht ergreifen, um sich und die Familie vor Kriegswirren in Sicherheit zu bringen. Er könnte aber auch mit der Familie bleiben, um in den Lazaretten zu helfen. Eine Mischvariante wäre es, wenn er seine Familie in Sicherheit bringen könnte und selbst hinter oder an der Front Verwundete versorgen würde.

Ein wichtiger Faktor für das Handeln eines potentiellen Flüchtlings ist sein Informationsstand. Es gilt für ihn, die Lage und weitere Entwicklung im eigenen Land realistisch einzuschätzen. Daraus ergeben sich die Perspektiven, die ein weiteres Verbleiben am gegenwärtigen Wohnort eröffnen würde. Wenn die Flucht nicht überstürzt stattfinden muss, so wird er auch über ein Fluchtziel und den dazugehörigen Fluchtweg nachdenken. Auch dazu braucht er möglichst zuverlässige Informationen. Generell wird man sagen müssen, dass ein Schleier der Ungewissheit über allen oben genannten Informationen liegt, der größer ist als bei einer normalen Umzugs- oder Auswanderungsentscheidung. Dies liegt daran, dass sich der potentielle Flüchtling in vielen Fällen in einer Ausnahmesituation befindet, in der auch die Informationsflüsse gestört sind. In solche Situationen sind z. B. die Fotos gerauscht, die syrische Flüchtlinge im Spätsommer 2015 von der deutschen Bundeskanzlerin geschossen hatten. In einer extremen Situation der Unsicherheit taucht plötzlich Angela Merkel auf dem Display auf und sendet einladende Signale aus dem fernen Deutschland.10

1.1.4. Pro und contra Flucht

Flucht ist eine individuelle Entscheidung von großer Tragweite, deren Vor- und Nachteile außer unter persönlichen und familiären auch unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten abzuwägen sind, wenn man nicht egoistisch bzw. gruppenegoistisch handeln möchte.

Die Tragweite einer Entscheidung zur Flucht ist gekennzeichnet durch das Umfeld, das der Flüchtling verlässt, durch die Ungewissheit über den Weg, den er zurücklegen muss, um sein Ziel zu erreichen und schließlich durch die Ungewissheit über das Umfeld, das ihn am Zielort erwartet. Nehmen wir den Fall einer christlichen syrischen Familie, die in den Bürgerkriegswirren mehr und mehr wegen ihres Glaubens angefeindet und bedroht wird. Sie wohnt in einem eigenen Haus, betreibt ein kleines Geschäft und hat trotz aller Anfeindung auch Verwandte und Freunde in der Stadt. Vor Ausbruch des Bürgerkrieges hat die Familie ein erträgliches Leben führen können. Selbst in den bisherigen Bürgerkriegswirren ist sie noch über die Runden gekommen, aber die Stimmung in der Stadt wird immer bedrohlicher, die Truppen des Islamischen Staates rücken näher. Das ist eine Situation, in der die Eltern anfangen, über Flucht nachzudenken. Sie würde bedeuten, die Heimat und eine über Jahre aufgebaute soziale und wirtschaftliche Existenz zu verlassen. Kinder und Erwachsene würden die Nähe ihrer Freunde, Verwandten und Glaubensgenossen verlieren. Eine dramatische Einbuße an Lebensqualität wäre zu verkraften. Man müsste sie hinnehmen in der vagen Hoffnung, in einem fremden Land auf lange Sicht ein besseres Leben führen zu können als man es in der Heimat erwarten durfte.

Dies wäre die Skizze einer familienbezogenen Interessenlage bei der Fluchtentscheidung. Zur Veranschaulichung dieser Entscheidungssituation möchte ich auf das schon erwähnte Bild aus der Wohlfahrtsökonomie verweisen: Die syrische Familie befindet sich in der Ausgangslage am Hang eines Berges. In den Jahren vor dem Bürgerkrieg konnte sie sich Schritt für Schritt emporarbeiten: Die Familie hat sich vergrößert, die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen zu Menschen in Stadt und Umland sind im Durchschnitt vertrauter geworden, das häusliche Anwesen wurde verbessert, der Betrieb konnte langsam bei Umsatz und Gewinn wachsen. Wenn der Bürgerkrieg nicht gekommen wäre, hätte man unter dem Strich weiteren Fortschritt prognostizieren dürfen: Die Familie hätte ihren Gesamtnutzen, ihre Wohlfahrt, weiter gesteigert. Im Bild gesprochen: Sie wäre an dem Wohlfahrtsberg weiter emporgeklettert, hätte sich dem Gipfel durch kleine – im Fachjargon: marginale - Schritte weiter genähert. Durch den Bürgerkrieg hat sich die Lage dramatisch geändert. Nicht nur die Aussicht auf weiteren Fortschritt hat sich zerschlagen. Rückschritte müssen verkraftet werden mit der Erwartung, dass es weiter bergab geht. Auswanderung bzw. – sofern die Zeit drängt – Flucht bedeutet in dieser Situation: Runter an den Fuß des Wohlfahrtsberges, den man jahrelang mühsam aber erfolgreich bestiegen hat. Sie bedeutet Aufbruch in ein vielleicht fernes Land in der Hoffnung, dort einen Berg vorzufinden, den man wieder in Ruhe besteigen kann und der einen höheren Gipfel hat als der, den man in der Heimat hätte erreichen können. Eine solche Veränderung im Leben eines Menschen oder einer Familie hat strukturellen Charakter: Es ändern sich grundlegende Dinge. Darin besteht die große Tragweite einer Entscheidung zur Auswanderung bzw. zur Flucht. Im Falle der Auswanderung kann dieser Strukturwandel sorgfältig geplant und Schritt für Schritt vollzogen werden. Im Falle der Flucht besteht meistens Zeitdruck, was viele materielle und immaterielle Kosten in die Höhe schnellen lässt. Aus dem Strukturwandel wird ein mehr oder weniger abrupter Strukturbruch im Leben der Familie.

Millionen DDR-Bürger standen vor ähnlichen Entscheidungen. Wir wissen, dass mehr als 3 Millionen gegangen sind.11 Wir wissen nicht, wie viele mit dieser Entscheidung gerungen haben und geblieben sind. Die Entscheidung war in mancher Hinsicht einfacher als die der syrischen Familie. Der Fluchtweg war kürzer, das Fluchtziel war ein Land mit gleicher Sprache, in dem in nicht wenigen Fällen Verwandte und Freunde lebten. Dieses Land, die Bundesrepublik Deutschland, pflegte eine ausgeprägte Willkommenskultur für DDR-Flüchtlinge. Die Wirtschaft florierte und profitierte von den Fähigkeiten der eingewanderten DDR-Bürger. Trotzdem war die Flucht, zumal nach Errichtung der Mauer, eine in vieler Hinsicht riskante Sache. Sie bedeutete Aufgeben einer mühsam erarbeiteten privaten und sozialen Existenz in der DDR und Neuanfang unter unsicheren Bedingungen. Es war eine drastische und mitunter schnelle Veränderung elementarer Lebensstrukturen, ein Strukturbruch wie oben beschrieben. Wir wissen nicht, wie viele Menschen diesen Schritt irgendwann einmal bereut haben. Zumindest in privatwirtschaftlicher Hinsicht dürften die meisten Fluchtgeschichten Erfolgstories gewesen sein. Im Bild gesprochen: Es war die Verlagerung der Existenz an den Fuß eines höheren Wohlfahrtsberges, der dann auch erfolgreich bestiegen werden konnte. Wir wissen nicht, wie viele DDR-Flüchtlinge im Westen Millionäre wurden. Einige tausend werden es wohl gewesen sein. Gravierender für die Menschen war wohl das Leben in einem System mit größerer Freiheit. Auch diese konnte nicht nur genossen, sondern musste auch verkraftet werden. Der eine oder andere ist vielleicht daran gescheitert. Eine solche Möglichkeit gehörte zu den Risiken der Fluchtentscheidung eines DDR-Bürgers.

Die christlich geprägten Eltern der syrischen Familie werden bei ihrer Entscheidung nicht nur an ihr eigenes Wohl, sondern auch an das ihrer Kinder denken. Was das Wohl der Erwachsenen anbelangt, so stehen im Raum elementare Werte wie Überleben, innere Sicherheit, freie Religionsausübung, freie politische wirtschaftliche und soziale Entfaltung, Ausübung aller Menschenrechte. Alles das wünschen die Eltern natürlich auch ihren Kindern, wenn sie einmal groß sind. Streben sie als Ziel ein europäisches Land an, so dürfen sie zumindest hoffen, dass sie dort Anschluss an eine christliche Gemeinde finden und dadurch einen leichteren Start haben. Andererseits müssen sie mit einer schweren Zeit bis zu ihrem Ziel rechnen, zumal die meisten Mitflüchtlinge Moslems sein werden, die sich möglicherweise intolerant verhalten.

Damit sind die Chancen und Risiken der Fluchtentscheidung im Hinblick auf das zukünftige Wohl der syrischen Familie in ihrer Gesamtheit einigermaßen umrissen. In obiger These hatte ich darauf hingewiesen, dass bei einer verantwortungsvollen Fluchtentscheidung auch soziale Aspekte zu berücksichtigen sind. Dies ist zumal dann der Fall, wenn die Entscheidungsträger christlichen Maßstäben genügen wollen. Bisher stand das eigene Wohl und das der eigenen Familie im Vordergrund der Betrachtung. Dies ist nicht verwerflich, beinhaltet das christliche Liebesgebot doch implizit auch die Eigenliebe: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Aber bei der Eigenliebe darf es nicht bleiben, sonst artet sie in Egoismus aus, der hier auf eine Familie bezogen die Form des Gruppenegoismus hätte. 12

Wie sieht es denn aus, wenn die Eltern auch an diejenigen denken, die im Falle ihrer Flucht zurückbleiben, ihre Verwandten, Freunde und Glaubensgenossen? Je stärker die soziale Rolle der flüchtenden Familie in der Vergangenheit war umso mehr werden die Zurückbleibenden durch die Flucht geschwächt: Hilfeleistungen und Trost in einer für alle schwierigen Lage werden vermindert. Auch die Stadt in ihrer Gesamtheit hat eine Familie weniger, die für Recht und Stabilität eintreten könnte. Die Güterversorgung in dem Stadtteil wird um das Angebot vermindert, das durch das Geschäft der Familie sicher gestellt war. Kehren wir kurz zum Beispiel der DDR zurück: Wie haben sich die Bürger gefühlt, wenn an einem Montagmorgen die lokale Bäckerei plötzlich geschlossen blieb, weil die Familie geflohen war? Wie haben sich die Patienten gefühlt, wenn eine Arztpraxis überraschend aus den gleichen Gründen geschlossen wurde? Wie haben sich die Mitarbeiter in einem Betrieb gefühlt, wenn plötzlich ein Vorgesetzter nach Westdeutschland entwichen war, der jahrelang ihre Interessen gegenüber den SED-Bonzen erfolgreich vertreten hatte?

Wer Verantwortung für sein soziales Umfeld über die eigene Familie hinaus empfindet, wird solche Überlegungen berücksichtigen, wenn er über Flucht nachdenkt. Es macht die Entscheidung nicht einfacher, wenn jemand nicht nur an sich und seine Familie denkt, sondern sein soziales Umfeld einbezieht. Wir haben es mit einer abgestuften Form der Nächstenliebe zu tun, die sich bis zur Vaterlandsliebe hin entfalten kann. Wem dieser Begriff zu emotional ist, dem sei als nüchterne Umschreibung angeboten: Die Berücksichtigung gesamtgesellschaftlicher Interessen bei persönlichen Entscheidungen. Wie viele Bürger der DDR, wie viele des nationalsozialistischen Deutschland, wie viele der ca. 200 Millionen verfolgten Christen weltweit, wie viele Dissidenten in totalitären Systemen sind mit dieser Gesinnung im Lande geblieben? Für die DDR und das NS-Deutschland werden wir diese Frage wohl nicht mehr wissenschaftlich beantworten können. Für die weltweit verfolgten Christen oder Anhänger anderer Überzeugungen wäre eine solche Untersuchung in gewissem Umfang möglich. (Vgl. Fragen 1 und 2). 13

Im Falle unserer syrischen Familie bietet sich auch eine Zwischenlösung an: Der Vater und/oder die Mutter bringen die Kinder in Sicherheit, sofern ein solches Refugium bei Verwandten in einer anderen, weniger gefährdeten Stadt besteht. Der Vater kehrt zurück oder bleibt gleich da, um sich an der Verteidigung der Stadt zu beteiligen. Sollte er sein Christentum so auslegen, dass er zu einer pazifistischen Gesinnung gelangt, so gibt es im Kampf gegen den IS genügend Tätigkeitsfelder, bei denen man keine Waffe in die Hand nehmen muss: Nachschub, Lazarettarbeit, Überzeugungsarbeit usw. Im günstigsten Fall wird es so sein, dass die Stadt verteidigt werden kann. Im ungünstigsten Fall verliert der Vater sein Leben, die Mutter ihren Mann und die Kinder ihren Vater. Das sind schlimme mögliche Folgen dieser Entscheidung. Doch was wäre die Alternative? Ein französischer oder amerikanischer Soldat verliert sein Leben, seine Frau verliert ihren Mann, seine Kinder ihren Vater. Irgendjemand muss Opfer bringen, wenn der IS aufgehalten bzw. ausgerottet werden soll. Wenn sich ihm niemand entgegenstellt, so wird er ein Land nach dem anderen aufrollen. Dabei werden Hunderttausende Menschen zu Tode kommen und Menschenrechte flächendeckend für Jahrzehnte mit Füßen getreten werden. Besteht nicht bei aller Interventionspolitik der UNO, der USA, Russlands, Frankreichs und anderer Staaten nicht letztlich doch ein gewisser globaler Konsens dahingehend, dass die Bürger jedes Landes die größte Kompetenz und die Hauptverantwortung für die Lösung seiner Probleme tragen, seien sie politischer oder wirtschaftlicher Natur? Dieser Konsens würde im Falle von Syrien bedeuten, dass zuerst alle Syrer aufgerufen sind, sich dem Chaos zu stellen. Als Einheimische sind sie besser dazu qualifiziert als jeder ausländische Soldat oder Entwicklungshelfer. Ausländische Hilfe in den verschiedensten Formen und auf höchstem Niveau ist damit natürlich in keiner Weise ausgeschlossen.

Im konkreten Einzelfall kann es Faktoren geben, die trotz der Berücksichtigung gesellschaftlicher Aspekte eine Flucht als bestmögliche Lösung erscheinen lassen. Kehren wir noch einmal zurück zu unserer christlich geprägten syrischen Familie. Wenn sie für die Kinder kein inländisches Rückzugsgebiet hat, dann spitzt sich die Entscheidung zu. Gemeinsame Flucht könnte unabwendbar sein, zumal es für die christlichen Eltern schwierig wäre, in dem inländischen Konflikt als weitgehend isolierte christliche Minderheit Partei zu ergreifen. Sie würden möglicherweise von keiner Bürgerkriegspartei akzeptiert. Ein bewusst in Kauf genommener Märtyrertod hätte möglicherweise kaum eine soziale Wirkung, z. B. weil der IS Andersgläubige gleich massenweise umbringt und die Medien bestenfalls die Zahl der Toten vage berichten. Hier könnten die christlich gesinnten Eltern in Abwägung von Eigen- und abgestufter Nächstenliebe bis hin zu gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen zu dem Schluss kommen, dass Flucht der beste Weg in die Zukunft ist. Wenn sie ein starkes Verantwortungsgefühl für ihr Land haben, werden sie die Rückkehr unter besseren Bedingungen von vorherein im Blick behalten.

Ich habe bewusst als Beispiel eine christliche Familie in Syrien als Fall ausgewählt, weil deren Lage als religiöse Minderheit in den Bürgerkriegswirren mitunter noch prekärer sein könnte als die einer muslimischen Familie, die zwar auch evtl. Bombenangriffen, Verfolgung, Folter usw. ausgesetzt ist, aber am Wohnort und auf der Flucht doch meist in der stärkeren Position ist. Außerdem kann ich die Ethik einer christlichen Familie besser nachempfinden, weil ich die Bibel besser kenne als den Koran. Wir haben in der Bibel sehr radikale Aussagen, die von Jesus überliefert sind und die einen gläubigen Christen sehr wohl veranlassen können, Verfolgung zu ertragen und sein Leben für seinen Glauben und seine Mitmenschen vor Ort einzusetzen und auf Flucht zu verzichten. Auch der Islam kennt den Einsatz des eigenen Lebens für den Glauben, wie wir an den Selbstmordattentätern sehen können. Allerdings wird das Martyrium für die eigene Überzeugung ohne Angriff auf andere, wie es z. B. Sokrates, Jesus, Stephanus, Mahatma Gandhi, Edith Stein, Dietrich Bonhoeffer und viele andere in der gesamten Menschheitsgeschichte auf sich genommen haben, im Islam – soweit mir bekannt – nicht als die höchste Form persönlicher Ethik gelehrt.

Offene Fragen:

Wie viele der ca. 200 Mio. weltweit verfolgten Christen verzichten bewusst auf Flucht, weil sie ihre Lebensaufgabe an ihrem Wohnort sehen?

Wie viele der in Syrien verfolgten Christen haben aus dem gleichen Grund Flucht abgewählt oder aufgeschoben?

1.1.5. Beschränkte Rationalität

Die Entscheidung zwischen Flüchten oder Bleiben unterliegt häufig nur beschränkter Rationalität, zumal sie in vielen Fällen unter Zeitdruck und trotz hoher Ungewissheit über wichtige Faktoren getroffen werden muss.

Ich hatte schon mehrfach angedeutet, dass die Fluchtentscheidung unter den Bedingungen von Ungewissheit erfolgt. Sie unterscheidet sich dadurch nicht prinzipiell von anderen langfristig bedeutsamen Entscheidungen wie Berufs-und Partnerwahl, Wohnsitzwechsel, Unternehmensgründung, Investition usw.14 Allerdings ist die Ungewissheit im vorliegenden Fall extrem: Wie geht es im eigenen Land weiter? Wann und in welchem Umfang haben die Stabilisierungsbemühungen der internationalen Gemeinschaft Erfolg? Welche Lebensbedingungen darf man in einem zukünftigen politischen Gebilde im eigenen Land erwarten? Wird die Familie die Flucht durchstehen? Wird man in einem anderen Land Asyl erhalten und wenn ja zu welchen Bedingungen? Wird man in der Fremde heimisch werden? Werden die Kinder dort in Frieden aufwachsen können?

Die Ungewissheit ist nicht nur besonders hoch, sie ist auch nahezu symmetrisch, d. h. sie betrifft beide Alternativen fast gleichermaßen: Bleiben oder flüchten, Beibehaltung des Status Quo oder radikale Veränderung Es ist nicht die klassische „Spatz-in-der-Hand-Taube-auf-dem-Dach“ Situation, bei der man den Spatz einigermaßen sicher hat und nur die Taube da oben wegfliegen könnte.15 Der Spatz in der Hand ist krank und könnte sterben. Es ist nicht das Eintauschen einer relativ sicheren Position gegen eine riskante, sondern es geht um die Wahl zwischen verschiedenen Risiken, vor die der potentielle Flüchtling durch die Verhältnisse gestellt wird. Wesentlich anders ist die Situation in den meisten Fällen bei Auswanderung. Wenn beispielsweise ein Bürger eines europäischen Landes in die USA auswandern will, so verlässt er ein stabiles Land, dessen Zukunft einigermaßen prognostizierbar ist. Er weiß, worauf er verzichtet, wenn er dieses Land verlässt. Auch über das Zielland USA lassen sich heutzutage viele Informationen über das Internet, über Freunde, eigene Reisen usw. beschaffen, aber die Ungewissheit über das ganze für den Rest des Lebens angelegte Projekt ist doch sehr viel höher als beim Verbleiben in der Heimat. Man kann das Projekt Auswanderung mit einer sehr langfristig angelegten Investition vergleichen: Hoher Aufwand am Anfang, unsicherer Ertrag im Zeitverlauf. Aber man hat die Beibehaltung des relativ sicheren Status Quo als Alternative. Auch Flucht hat Ähnlichkeit mit einer Investition, aber ohne den sicheren Status Quo als Alternative und mit extremer Ungewissheit über Weg und Ziel der Flucht. Unter diesem Gesichtspunkt kann man sehr gut nachvollziehen, dass Flüchtlinge aus dem Nahen Osten in der Krise 2015/16 nach Europa strebten: Wenn schon der Weg lang war, so erschien wenigstens das Ziel verheißungsvoll.16 Vielleicht liegt hier eine der Erklärungen dafür, dass in der besagten Krise überdurchschnittlich viele junge Menschen die Flucht in das ferne Europa ergriffen haben: Ihr jugendlicher Elan ließ den weiten Weg als machbar und als Abenteuer erscheinen. Gleichzeitig waren wegen ihrer Jugend die Bindungen an die heimische Kultur geringer. Die Bereitschaft, das ganz Neue zu wagen war größer, die Abneigung, Risiken einzugehen geringer. (Vgl. Frage 1).

Ein schon erwähnter wichtiger Faktor, der Flucht und Auswanderung unterscheidet, ist die Größe des Zeitdrucks. Dieser kann allerdings auch im Falle der Fluchtentscheidung durchaus unterschiedlich sein. Manche Flucht aus der DDR wurde über Jahre erwogen, geplant und vorbereitet. Da sich der Bürgerkrieg in Syrien über mehrere Jahre erstreckt, ist es auch hier vorstellbar, dass sich unsere christliche Familie monatelang mit der Problematik beschäftigt, bevor es zur Entscheidung kommt. Es kann aber alles auch sehr schnell gehen und die Entscheidung erfolgt dann mehr oder weniger spontan. Vom sorgfältigen Abwägen verschiedener Werte, wie sie oben skizziert wurden, kann dann keine Rede mehr sein. Allerdings offenbaren sich auch in einer spontanen, intuitiven oder instinktiven Entscheidung die Überzeugungen, Neigungen und Charaktereigenschaften, die sich der Entscheidende im Laufe seines bisherigen Lebens angeeignet hat bzw. die ihm anerzogen oder genetisch mitgegeben sind. Auch akute Emotionen wie Angst, Wut, Enttäuschung und Hoffnung fließen ein. All diese Faktoren werden in komprimierter Form mit einer aktuellen Lage und bestimmten Handlungsalternativen konfrontiert, über die mehr oder weniger lückenhafte und subjektive Informationen vom Entscheidenden bewusst und/oder unbewusst in der Entscheidung verarbeitet werden. Im Verhältnis zu anderen langfristig bedeutsamen Entscheidungen dürfte bei Fluchtentscheidungen der Anteil der „Aus dem Bauch heraus-Entscheidungen“ besonders hoch sein. Sagt das etwas über ihre Qualität? (Vgl. Frage 2).

Zusammenfassend sei die Frage aufgeworfen, in welchem Maße eine Fluchtentscheidung überhaupt rational erfolgen kann. Ein starker Zeitdruck und unvollkommene Information über die Entwicklung des Status Quo und der Handlungsalternativen sprechen eher dafür, hier im günstigsten Fall von beschränkter Rationalität zu sprechen. Dieses in der Ökonomie von Herbert A. Simon wohl erstmals in den 50er Jahren präsentierte Konzept wurde in den folgenden Jahrzehnten reichlich diskutiert und modifiziert.17 Im Falle der Fluchtentscheidung scheint es in besonderem Maße zuzutreffen. Damit steht auch die Frage im Raum, in welchem Umfang der Flüchtling verantwortungsvoll handelt bzw. handeln kann. Er ist wohl in vielen Fällen nicht nur wie oben dargestellt ein Geschlagener sondern auch ein Getriebener. Hätte er noch länger gezögert, so wäre er – wie im Falle unserer syrischen Familie.-.von den Truppen des IS vertrieben oder zu Tode gebracht worden.

Offene Fragen

Wie hoch ist der Anteil von Menschen unter 30 Jahren an den Flüchtlingen weltweit und wie ist dieser Anteil zu begründen?

Sind spontane Entscheidungen prinzipiell schlechter oder besser als rationale Entscheidungen i. w. S.?

1.1.6. Die Dietrich-Bonhoeffer-Entscheidung

Ethisch herausragend ist die Entscheidung von Menschen, die bewusst und unter Einsatz ihres Lebens in einer heimatlichen Notlage ausharren bzw. wie Dietrich Bonhoeffer dorthin zurückkehren, weil sie glauben, vor Ort der Gesellschaft besser dienen zu können.

Kehren wir kurz zu unserer christlich-syrischen Familie zurück. Je stärker ihre Integration in ihr Umfeld ausgeprägt ist umso schwerer wird es ihr fallen, dieses Umfeld zu verlassen. Andererseits ist auch die Lücke umso größer, die die Flucht der Familie reißt. Das Umfeld wird geschwächt Es gibt Berichte von christlichen Gemeinden in Syrien, wo das Ausharren vieler Gemeindemitglieder einerseits bewundert und die Flucht anderer besonders schmerzlich als Schwächung empfunden wird.

Im Falle der Flucht von bedeutenden Persönlichkeiten wird evtl. das ganze Land geschwächt. Wie steht es in diesem Zusammenhang mit dem ethischen Wert der Heimat- und Vaterlandsliebe? Wollen wir ihn als gebrannte Deutsche überhaupt noch gelten lassen? Gibt es so etwas wie die ethische Verpflichtung eines Menschen, auch das Wohl seines heimatlichen Umfeldes bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen?

Dazu ein Beispiel aus der deutschen Geschichte.18 Der evangelische Theologe und Pfarrer Dietrich Bonhoeffer hatte sich als bekennender Christ nach Hitlers Machtergreifung exponiert und war zunehmend gefährdet und isoliert. Um Abstand zu gewinnen und vielleicht auch um etwas mehr Sicherheit zu haben, nahm er in London eine Pfarrerstelle an Sein Freund, der bekannte Theologe Karl Barth, schrieb ihm die folgenden Zeilen nach London: „Sie müssten jetzt alle noch so interessanten denkerischen Schnörkel und Sondererwägungen fallen lassen und nur das eine bedenken, dass Sie ein Deutscher sind, dass das Haus Ihrer Kirche brennt, dass Sie genug wissen und, was Sie wissen, gut genug zu sagen wissen, um zur Hilfe befähigt zu sein, und dass Sie im Grunde mit dem nächsten Schiff auf Ihren Posten zurückkehren müssten!“19 Solche Zeilen kann natürlich nur ein sehr guter Freund schreiben, der weltanschaulich auf der gleichen Wellenlänge tickt. Für den Schweizer Karl Barth waren offensichtlich Vaterlandsliebe und Solidarität unter Christen Werte, denen er das Leben seines Freundes nachordnete, wohl wissend, dass ein möglicher Märtyrertod ein Akt in der Nachfolge Christi wäre: „Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn so wurden schon vor euch die Propheten verfolgt (Matthäus 5:11). Bei Johannes lesen wir: „Es gibt keine größere Liebe als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“ (Johannes 15.13). Dietrich Bonhoeffer ist dem Rat seines Freundes gefolgt und nach Deutschland zurückgekehrt. Am 9. April 1945 wurde er hingerichtet. London hat ihm zusammen mit neun anderen Märtyrern des 20.Jahrhunderts an der Westminster Abbey ein Denkmal gesetzt. Carl Barth wiederum hat sich Vorwürfe gemacht, dass sein radikaler Rat mit zu dem Tod seines Freundes beigetragen haben könnte.

Was wäre für Bonhoeffer die Alternative gewesen? Er hätte in London bleiben können. Er wäre seiner Familie und seinen Freunden vielleicht noch Jahrzehnte erhalten geblieben .Er hätte von England aus versuchen können, auf das deutsche Geschehen einzuwirken. Er hätte den Krieg in England verbracht und sehr wahrscheinlich überlebt. Bei seiner Verbundenheit mit Deutschland wäre er nach dem Krieg möglicherweise zurückgekehrt und hätte beim materiellen und geistigen Aufbau des niedergeworfenen Landes mithelfen können. Er wäre vielleicht noch für viele tausende Menschen ein Seelsorger geworden. Das alles wäre doch sehr wertvoll gewesen, musste aber durch seinen Märtyrertod unterbleiben. Was war wertvoller: Das machtvolle bis in die Gegenwart hineinreichende Zeugnis, das er durch seinen Märtyrertod gegeben hat, oder die vielen tausend Dienste, die er als Lebender noch hätte leisten können?

Eine theologische Analyse dieses hypothetischen ethischen Problems ist hier nicht am Platze. Nicht von jedem wird das Gleiche verlangt, nicht in jeder Situation ist ein bestimmtes Verhalten angebracht. Wir erkennen, dass es sehr viele Abstufungen ethisch wertvollen Verhaltens gibt. Auch die Flucht kann dazu gehören. Da wir uns oben auf Jesus berufen haben, ist dies auch hier angebracht: Jesus und Maria sind mit dem Kind vor Herodes nach Ägypten geflüchtet. Auch der erwachsene Jesus ist nach den Berichten mehrfach seinen Häschern ausgewichen, bis er sich ihnen ganz bewusst im Garten Gethsemane gestellt hat. Wir müssen auch die Fluchtentscheidung eines Menschen als potentiell ethisch wertvoll respektieren, zumal wir nicht in seinen Mokassins stecken. Aber wer ethisch verantwortungsvoll handeln möchte, der muss die Alternative des Ausharrens in seiner geplagten Heimat bzw. die Rückkehr dorthin ernsthaft erwägen.

Die Situation in Syrien 2015 ist eine andere als es die in Deutschland 1935 gewesen war. Aber auch für die syrische Familie steht die Option im Raum, auszuharren im Land, die christliche Gemeinde zu stärken und in der Stadt einen stabilisierenden Beitrag zu leisten, diese notfalls mit der Waffe in der Hand gegen den IS zu verteidigen. Es gibt ethische Argumente dafür, dass sich der Bürger eines Landes für dessen Wohl in guten wie in schlechten Zeiten einsetzen sollte. Gerade in schlechten Zeiten sind solche Akte der staatsbürgerlichen Gesinnung bzw. der Heimatverbundenheit und Vaterlandsliebe von besonderer Bedeutung wie das Beispiel Bonhoeffer zeigt.

Eine Variante zu der Bonhoeffer’schen Gesinnung hat uns Edith Stein vorgelebt. Sie war als Jüdin zum katholischen Glauben konvertiert und in einen Orden eingetreten. Trotz ihrer Abkehr vom jüdischen Glauben wurde sie von den Nationalsozialisten verfolgt. Eine Flucht in die Schweiz wurde ihr von Freunden nahegelegt, wäre aber ein Privileg gegenüber anderen Bedrohten gewesen und wurde von ihr abgelehnt. Als sie 1942 zusammen mit ihrer Schwester von der Gestapo abgeholt wurde, soll sie zu ihr die Worte gesprochen haben: „Komm, wir gehen für unser Volk“.20 Sie meinte das jüdische Volk, von dessen Glauben sie sich abgewandt hatte, für das sie aber doch bereit war, ein solidarisches Opfer zu bringen. Das war der Inbegriff der Verbundenheit zum eigenen Volk. Vaterlandsliebe kann man das in diesem besonderen Fall nicht nennen, denn dieses Volk hatte zu dieser Zeit kein Land.

1.2. Einladen oder abschrecken? Eine Gratwanderung

1.2.1 Einladende Signale

Explizit einladende Signale an potentielle Flüchtlinge aus Zwischenlagern und Herkunftsländern sind auch dann als verantwortungsvolles Handeln kaum zu rechtfertigen, wenn sie aus Empathie für Flüchtlinge in Not erfolgen.

Wir haben uns im vorigen Abschnitt eine zumindest grobe Vorstellung von der Entscheidungssituation eines potentiellen Flüchtlings verschafft. Er muss je nach persönlicher Einstellung mehr oder weniger schwere Interessenkonflikte bewältigen, die ihn hin- und herreißen. Es sollte deutlich geworden sein, dass es sich bestenfalls um eine beschränkt rationale, evtl. sogar um eine spontane Entscheidung handelt, die unter teilweise extremem Zeitdruck, starker emotionaler Belastung und hoher symmetrischer Ungewissheit steht. Als symmetrisch hatten wir die Ungewissheit deshalb dargestellt, weil nicht nur die Änderungen des gegenwärtigen Wohnsitzes sondern auch dessen Beibehaltung mitunter auf ungewöhnliche Weise durch Ungewissheit über die Folgen gekennzeichnet sind. Dadurch wird der Entscheidungsdruck verstärkt. Man kann sich nicht im Status Quo ausruhen. Es sollte auch sehr deutlich geworden sein, dass die individuelle Entscheidung zur Flucht außerordentlich gravierende, überwiegend negative Folgen für die weitere Entwicklung des Herkunftslandes hat. Dies ist besonders dann der Fall, wenn Flucht als Massenphänomen auftritt und wenn bei dem Land starke Entwicklungsdefizite bzw. ein Ringen um innere Stabilität zu diagnostizieren sind. In dieser Hinsicht ist es ein großer Unterschied, ob eine kleine Zahl von Menschen aus der Volksrepublik China flieht oder ob ein Massenexodus aus Syrien oder Afghanistan stattfindet.

Wir springen jetzt von der Situation eines potentiellen Flüchtlings in einem unsicheren und entwicklungsbedürftigen Land hin zum Verhalten von Individuen und Gruppen in einem potentiellen Empfänger- bzw. Transitland. Diesen zumindest teilweise in Sicherheit und Wohlstand lebenden Bürgern und Bürgerinitiativen bietet sich ein Spektrum von Handlungsalternativen, das vom Einladen bzw. Anlocken von potentiellen Flüchtlingen bis zu deren völligem Ignorieren und Entmutigen reicht. Für beide Extreme gibt es in der europäischen Flüchtlingssituation 2015/2016 eindrucksvolle Beispiele. Erwähnen möchte ich noch einmal, dass wir in diesem ersten Kapitel vorrangig individualethische Fragen aufwerfen. Nicht immer ist es leicht, diese von den sozialethischen zu trennen. Besonders schwierig wird es, wenn wir Träger politischer Macht als Einzelpersonen unter die Lupe nehmen, wie dies im Folgenden mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel geschieht.

Auch wenn viele Flüchtlinge in Armut leben, so gehört doch das Smartphone und damit Facebook & Co. zu den Dingen, die wohl auch in diesen Kreisen recht verbreitet sind. Sie stellen teilweise die einzige Möglichkeit dar, um über Verwandte, Freunde und das Internet Informationen über potentielle Zielländer der Flucht einzuholen. Insbesondere dürften Informationen gefragt sein, die per Smartphone von Bekannten übermittelt werden, die das gewünschte Zielland schon erreicht haben und von dort berichten können. Gerade in Anbetracht des großen Mangels an sicheren Informationen, erlangen solche Berichte einen besonders hohen Stellenwert. Man kann sich in diesem Zusammenhang vorstellen, dass die Handy-Fotos, die syrische Flüchtlinge in Deutschland mit einer mütterlich-freundlichen Bundeskanzlerin zeigten und deren Einladung nach Deutschland übermittelten, wie eine informationelle Bombe bei manchen Menschen eingeschlagen haben, die sich mit Fluchtgedanken beschäftigten.21 Hier tat sich plötzlich ein sicherer Hort in all der überwiegend feindlichen Umwelt möglicher Zielländer auf. Wir wissen nicht, wie viele Fluchtentscheidungen, die vorher auf der Kippe standen, durch dieses Willkommenssignal gefallen sind.22 Es können tausende oder auch hunderttausende gewesen sein. In all den Fällen, wo die Abwägung der Vor- und Nachteile bei potentiellen Flüchtlingen zu einem knappen Ergebnis gekommen ist, könnte das Signal aus Deutschland den Ausschlag gegeben haben. Insoweit dieser Einfluss eine Fluchtentscheidung unangemessen verzerrt hat, ist langfristiger Schaden bei Menschen und Familien – Flüchtlingen und Zurückgebliebenen – entstanden. Hunderttausende von Biographien werden in einer Weise verändert, die die Betreffenden irgendwann einmal bereuen. Mögen die Einzelschicksale sehr differenziert zu betrachten sein, dem gesamten Land Syrien ist damit auf Jahrzehnte hinaus gemäß unseren obigen Ausführungen schwerer Schaden zugefügt worden. Es muss in seiner weiteren Entwicklung auf die Beiträge hunderttausender wichtiger Bürger verzichten, die im fernen Ausland umso weniger an eine Rückkehr denken je mehr sie sich erfolgreich integrieren konnten.

Wir verstehen das persönliche Dilemma, in dem sich die Bundeskanzlerin befand und vielleicht noch befindet: Einerseits möchte sie auch als Bundeskanzlerin mal Mensch sein und ihrem Mitgefühl Ausdruck verleihen. Wer wäre nicht gerührt in Anbetracht des leidvollen Zustands von Kindern, Frauen und Männern, die ca. 4000 km Flucht auf der Balkanroute hinter sich haben? Dieses Mitleid ist umso verständlicher, wenn man diese geplagten Menschen live erlebt. Es ist ein sehr viel stärkerer Eindruck, als wenn man von menschlicher Not am Bildschirm zwischen vielen verschiedenen Nachrichten erfährt oder Beschreibungen und Statistiken darüber liest. Ethisch gesehen, ist es aber noch kein Wert an sich, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen und scheinen sie noch so edel und nachvollziehbar. Dies kann evtl. nur eine Form der Kultivierung des eigenen Egos sein. Verantwortung für das Wohl anderer Menschen hat man damit noch nicht übernommen. Eine solche Verantwortung verlangt in vielen Fällen nicht nur Weitsicht, sondern auch Disziplin im Umgang mit den eigenen Emotionen.

Verständnis für das Dilemma von Frau Merkel haben wir bekundet, aber wir müssen konstatieren, dass ihr hier eine gravierende Verwechslung bzw. eine fatale Vermengung zwischen den Aktivitäten einer privaten Person und denen des Trägers eines hohen öffentlichen Amtes unterlaufen ist. In letzterer Eigenschaft hat sie diese Flüchtlinge besucht. Auf die Kritik an ihrem Verhalten hat sie so reagiert, als ob sie nichts weiter als das Recht auf private Gefühlsäußerung wahrgenommen habe: Sie meinte, wenn so etwas in Deutschland nicht möglich sei, so wäre das nicht ihr Land. Etwas überspitzt formuliert kann man sagen: Die Bundeskanzlerin, die die Flüchtlinge nach Deutschland eingeladen hat, droht mit ihrer eigenen Flucht aus diesem Land. Auf das Gleichnis von Herrn Schäuble, der die Flüchtlingsströme mit einer Lawine verglich, die leichtfertig losgetreten wurde, war ihre Antwort, dass sie nicht in solchen Kategorien denke, sondern den einzelnen Menschen vor Augen habe. Tut sie das wirklich, wenn sie bei anderen Gelegenheiten Soldaten auf lebensgefährliche Missionen schickt, zuletzt gegen den IS nach Syrien? Tut sie das wirklich, wenn sie den Schuldnerländern Sparprogramme diktiert, die in erster Linie die Armen treffen? In diesen und vielleicht allen bisherigen Situationen ist Frau Merkel ganz Politikerin und ganz Herr bzw. Frau ihrer Emotionen, weshalb ihr Platz in der europäischen Geschichte und ihre Kandidatur für den Friedensnobelpreis jetzt schon gesichert sind. In der Flüchtlingskrise steckt sie jedoch in einem dramatischen persönlichen Dilemma, das oben beschrieben wurde. Nahezu jeder wäre bereit, Frau Merkel ihren einmaligen Ausflug in die Emotionen einer Privatperson zu verzeihen, wenn sie diesen als schlichten Fauxpas zugegeben hätte. Aber sie besteht auf der Richtigkeit ihres Verhaltens und erhebt ihren Fauxpas sogar noch zum Prinzip. Damit verwechselt sie die individualethische mit der politischen Betrachtungs- und Handlungsebene.23 Das Ergebnis ist ein noch nicht in vollem Umfang absehbarer Schaden, den sie Hunderttausenden tatsächlichen und potentiellen Flüchtlingen und deren Ursprungsländern zufügt. Die Wirkungen eines solchen verantwortungslosen Lockverhaltens gegenüber potentiellen Flüchtlingen auf die Zielländer der Flucht sind ebenfalls erheblich und Gegenstand einer späteren Betrachtung.

Ein ganz anders motiviertes Lockverhalten in Richtung Ausland geht z. B. von der deutschen Wirtschaft aus, die händeringend nach Fachkräften sucht. Insbesondere in den handwerklichen Berufen ist der Mangel daran gravierend. Unser Sozialprodukt könnte stärker steigen, wenn dieser Mangel mit ausländischen Arbeitskräften behoben werden könnte. Unter voll entwickelten Volkswirtschaften ist ein solcher Wettbewerb um Arbeitskräfte unproblematisch und nur Ausdruck eines international funktionierenden Arbeitsmarktes. Aber schon innerhalb der EU haben wir ein erhebliches Wohlstandsgefälle von Staat zu Staat. Auch innerhalb einzelner Staaten wie Italien und Deutschland finden wir ein Nord-Süd- bzw. West-Ost-Gefälle. Ein aggressives Abwerbeverhalten wirtschaftlich starker Regionen kann die Entwicklungschancen schwacher Gebiete nachhaltig beeinträchtigen. Wieviel stärker fällt dieser Gesichtspunkt ins Gewicht, wenn es um qualifizierte Arbeitskräfte aus Entwicklungsländern geht! Solange unsere Wirtschaft floriert, könnten sie sehr schnell integriert werden.

Ein Beispiel dafür waren die Gastarbeiter, die ab den 60er Jahren aus der Türkei, Italien und anderen Ländern nach Deutschland kamen. Sie wurden förmlich von dem Wirtschaftswunderland aufgesaugt mit dem Ergebnis, dass in 2006 z. B. ca. 1,7 Mio. Personen mit türkischem Pass in Deutschland lebten. Nicht eingerechnet ist die Zahl der türkischstämmigen Personen mit deutscher oder doppelter Staatsbürgerschaft. Nicht wenige leben bereits in der 4. Generation in Deutschland. Sie leisten als Unternehmer und Arbeitnehmer einen beachtlichen Beitrag zu Sozialprodukt und Steueraufkommen. Sie stellen Künstler, Minister und mindestens einen beliebten Profifußballer. Die deutschen Arbeitgeber verdienen mit ihnen Geld. Deutsche Staatsbürger genießen z. B. die Qualität der medizinischen Dienstleistungen, die ohne ausländisches Personal vermutlich erheblich niedriger wäre. Sie genießen auch die Vielfalt und das Serviceniveau des kulinarischen Angebots, die man ohne ausländische Anbieter möglicherweise halbieren müsste. Wir sehen, dass sowohl einzelne Produzenten als auch Konsumenten profitieren

Meine – leider wissenschaftlich nur schwer zu beantwortende - Frage lautet: Wie wäre die sehr wechselhafte, wirtschaftliche und politische Entwicklung der Türkei verlaufen, wenn fast alle diese Personen nach einigen Jahren Deutschlandaufenthalt wieder in die Türkei zurückgekehrt wären und ihren Beitrag zur politischen Stabilität und wirtschaftlichen Entwicklung dort geleistet hätten? Vielleicht wäre die Demokratie in der Türkei in einem erheblich besseren Zustand. Dabei ist die Türkei eines der stabilsten und demokratischsten Länder des Nahen Ostens. Wieviel gravierender wirkt sich ein ähnlicher Aderlass für Länder wie Syrien, Irak und Afghanistan aus? An dieser Stelle kommt es mir darauf an: Die Willkommenskultur vor Ort in den Kommunen des Empfängerlandes sollte der Tatsache Rechnung tragen, dass die Rückkehrwilligkeit der Flüchtlinge unterstützt und nicht untergraben und dass kein Anlass zu verführerischen Signalen in die Herkunftsländer gegeben wird.

Nur eine sehr ausgeprägte und langfristig konzipierte Verantwortungsethik kann hier das richtige Maß bewirken. Wir finden etwas Ähnliches in der Fair-Trade-Bewegung und bei Boykottmaßnahmen gegenüber Produzenten, die zu Dumpinglöhnen im Ausland produzieren lassen. In unserem Fall geht es um einen komplizierteren und vielleicht auch umstritteneren Sachverhalt: Im Interesse der Herkunftsländer sollen Flüchtlinge bei uns nicht heimisch werden, sondern humanitär versorgt und auf eine erfolgreiche Rückkehr in ihre Heimat vorbereitet werden. Solange eine solche Zielsetzung nicht Inhalt der nationalen Flüchtlingspolitik ist, werden sich Arbeitgeber, Bürgermeister, Landräte, Organisationen, helfende Bürger kaum in diesem Sinn verhalten. Dem steht das egozentrische Gewinnmaximierungsziel ebenso entgegen wie eine Gesinnung, die altruistische Gefühle überbewertet. Trotzdem tragen beide – die Egoisten wie die Altruisten - Verantwortung für ihr Handeln vor Ort, für die evtl. lockenden Signale an die Zurückgebliebenen in den Flüchtlingslagern bzw. Herkunftsländern und für die Begrenzung des Aderlasses in unterentwickelten und durch Bürgerkrieg zerrissenen Ländern.

1.2.2. Das Dilemma der Willkommenskultur

Durch eine hohe Willkommenskultur erzeugte Lockrufe unterliegen dem Dilemma zwischen der humanitären Betreuung Angekommener und der Sorge um das Herkunfts- und das Empfängerland.

Die einladenden Signale von Frau Merkel in der Anfangsphase der Flüchtlingskrise mögen nach wenigen Wochen in ihrer Wirkung stark nachgelassen haben und sollen deshalb in ihrer Gesamtwirkung auch nicht überbewertet werden. Wesentlich nachhaltiger sind die Smartphone-Berichte, die die angekommenen Flüchtlinge über die tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland in ihre Heimatländer senden. Dabei mag auch von rechten Übergriffen, von schlechtem Essen, von engen Quartieren und langen Wartezeiten erzählt werden. Manche Flüchtlinge kehren dem Land vielleicht wieder den Rücken oder ziehen in ein anderes weiter. Aber insoweit die Quintessenz der Berichte an Familie, Freunde und Bekannte im Heimatland lautet „Kommt her!“, hat dies einen hohen informationellen Stellenwert für das Entscheidungskalkül der Zurückgebliebenen. Während wir oben von einem persönlichen Dilemma von Frau Merkel sprachen, müssen wir hier von einem Dilemma sprechen, in dem sich jede Person und Initiative im Empfängerland befindet, die das Los der Flüchtlinge von Patenschaften bis hin zu Wohnung, Arbeitsplatz und medizinischer Versorgung nach hiesigen Standards verbessern möchte. Humanität, Nächstenliebe, Gerechtigkeitsempfinden gebieten ein solches Verhalten. Aber je mehr es praktiziert wird umso eindrucksvoller sind die verlockenden Signale per Smartphone an die Zurückgebliebenen in den Herkunftsländern. Dies erscheint als ein nahezu unvermeidbares Dilemma, aber wir wollen doch vorsichtig die Frage stellen, ob in sozialethischer Hinsicht die maximale Hilfeleistung auch die optimale im Hinblick auf die Heimatsignale und die Rückkehrwilligkeit des Flüchtlings ist. Wie in einem späteren Kapitel gezeigt wird, schließt dies überhaupt nicht aus, dass sich besonders motivierte Helfer bis an ihre Grenzen und darüber hinaus belasten. Das Argument legt nur nahe, die Hilfe in Bezug auf einen einzelnen Flüchtling zu koordinieren und richtig zu dosieren.