Flucht nach Patagonien - Jana Revedin - E-Book
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Flucht nach Patagonien E-Book

Jana Revedin

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Beschreibung

„Ich liebe Anfänge. Anfänge erfüllen uns mit Erstaunen.“ Eugenia Errázuriz.

Februar 1937: Eugenia Errázuriz, die einflussreichste Kunstmäzenin der Pariser Moderne, hat die Karrieren von Coco Chanel, Pablo Picasso und Blaise Cendrars gefördert. Jetzt lädt sie den jungen jüdischen Innenarchitekten Jean-Michel Frank auf eine Reise nach Patagonien ein. Sie hat ihr gesamtes Vermögen in den Bau des ersten Grand Hotels der Anden investiert, das ihn weltweit bekannt machen soll. In Wahrheit ist dieses Projekt am südlichsten Ende der Erde aber ihre gemeinsame Flucht aus Europa, das sie von Hitler und dem Nationalsozialismus bedroht sieht. Als die beiden nach Paris zurückkehren, ist die Welt eine andere ...

Jana Revedin erzählt die Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft zwischen Paris, Patagonien und New York.

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Seitenzahl: 466

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Über das Buch

Eugenia Errázuriz, die große Muse der Pariser Moderne, wird von Jana Revedin mit diesem Roman wiederentdeckt.  Für ihr „letztes Talent“, den Innenarchitekten und Designer Jean-Michel Frank, Jude, Homosexueller, Sozialist, erfindet sie 1937, als Europa sich beinahe schon flächendeckend Hitlers nationalistischem Diktat hingibt, eine mögliche Flucht in ihre Heimat Patagonien. Jean-Michel Frank, obschon von Kind an behindert und schwer depressiv, wagt diese abenteuerliche Reise, doch gemeinsam müssen sie vor Ort entdecken, dass Hitlers „Lebensraum für die arische Rasse“ selbst am Südzipfel der Welt schon beklemmende Wirklichkeit ist. Die Flucht nach Patagonien scheint vereitelt, wäre da nicht der junge Schauspieler Thaddäus Lovett, der ihnen schicksalhaft begegnet und der zu Jeans wahrer Liebe wird.

Über Jana Revedin

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Jana Revedin

Flucht nach Patagonien

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Widmung

Zitat

I — Flucht An Bord der Madrid

1 Das Kassenbuch

2 Kindheit

3 Tod überall

4 Schulzeit

5 Eugenia

6 Die Frank’schen Frauen

7 Landausflüge

8 Der Tod der Mutter

9 Capri

10 Das Kutscherhaus

11 Sackleinen

12 Strohlack

13 Nancys Rauchsalon

14 Marie-Laures Filmtheater

15 Adolf Loos zu Besuch

16 Erste Erfolge

17 Die Rue de Verneuil

18 Surrealisten

19 Abschied von René

20 Auf dem Friedhof von Montrouge

21 Eisenglimmer

22 Arrayán-Rot

23 Der letzte Ball

24 Ein Brief von Thomas Mann

25 Die Bestellung Otto Frank

26 Amelia

27 Das Grandhotel

28 Captain’s Dinner

29 Puerto Nuevo

II — Ankunft Von Buenos Aires nach Patagonien

30 An Land

31 Plaza San Martín

32 Corinas Hochhaus

33 Im Palacio Anchorena

34 Victoria

35 Abflug

36 Die Andenseen

37 Zum Roten Land

38 Seagull Seafood

39 Eine Frage der Rasse

40 Bambi

41 Die Isla Victoria

42 Kein Abschied von Amelia

43 Pudú

44 We Tripantu

45 Die Estancia Inalco

46 Huemul

47 Ferrocarril del Sur

48 San Isidro

49 Die Villa Ocampo

50 Mitternacht

51 Der erste Tag im nächsten Leben

52 Geliehene Hausherren

53 Das Dîner

54 Am Tigre

III — Aufbruch Lissabon, Buenos Aires, New York

55 Zurück zum Kassenbuch

56 Weggefährten

57 Der Reiseplaner

58 Adieu, Paris!

59 An der Grenze

60 Auf Lebenszeit

61 Rockefellers Rache

62 Abschied von Lovett

63 Der Brief der kleinen Anne

64 An Bord der Argentina

65 Bei Milly

Epilog

Dank

Quellen

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für Margherita und Caterina Revedin, meine Töchter

»Kunstdinge sind ja immer Ergebnisse des In-Gefahr-gewesen-Seins, des in einer Erfahrung Bis-ans-Ende-gegangen-Seins, bis wo kein Mensch mehr weiter kann.«

Rainer Maria Rilke

I

Flucht An Bord der Madrid

1 Das Kassenbuch

Am achten Tag ihrer Überfahrt holte Jean ein neues rotes Kassenbuch aus seiner Aktentasche und legte es vor sich auf den Tisch. Es war der 23. Februar 1937, sie saßen in der Bordbibliothek der Madrid, des »komfortabelsten Postschiffs der Norddeutschen Werften«, wie Eugenia ihm den frisch überholten Transportfrachter der Lloyd-Linie noch in Paris angepriesen hatte. Dieses Postschiff war spartanisch eingerichtet, kein Vergleich zu den englischen Ozeandampfern, auf denen Jean sich im vorletzten Sommer von Le Havre nach New York eingeschifft hatte, doch immerhin durfte hier bei den Deutschen eine kleine Bibliothek mit langem Schreibtisch nicht fehlen.

Er schraubte seine Füllfeder auf, sog sie mit Tinte aus Eugenias Tintenglas voll und kritzelte ein paar Probekringel auf das hellbeige Seidenpapier, in das das Kassenbuch eingepackt war. Dann enthüllte er es vorsichtig, öffnete den Buchdeckel, schlug die Vorsatzpapiere um, falzte sie mit einem Kniff seiner Linken und setzte diese drei Sätze auf die erste Seite: »Ich heiße Jean-Michel Frank. Das Michel können Sie vergessen, nach dem Erzengel hat mich nie jemand gerufen. Was für eine Idee auch, in einer jüdischen Familie!«

Er betrachtete das Blatt einen langen Moment. Er hatte gar nicht nachgedacht, was er da schrieb, denn er war Schreiben nicht gewohnt, die drei Sätze hatten wohl in der Luft gehangen, und nun standen sie, aufs Papier geworfen, schwarz auf weiß vor ihm. Seine Identität las man im ersten Satz, doch gleich danach stellte er sie infrage.

War er etwa ein Persönlichkeitsgespaltener? Ein Frühdementer, wie die Ärzte neuerdings die nannten, die sich in mehreren Lebenslinien verirrten?

René hatte ihn seit jeher dazu gemacht. »Wer weiß, wer Jean wirklich ist?«, war eine seiner Standardfragen gewesen, oder: »Wo hocken Jeans Schatten?«

Jedenfalls, das stand außer Frage, war er ein perfekter Fall für Professor Binswanger, den großen Freud-Schüler. Und er wusste das seit Jahren. Genauer gesagt seit Renés Tod.

René hatte er zu Binswanger in die Bellevue Klinik hoch über dem Bodensee geschickt, in dieselbe Klinik, in die er auch seine Mutter hatte einliefern müssen. Nur konnte selbst eine Koryphäe nicht alle Patienten retten. Seine Mutter, die an einer vehement fortschreitenden Demenz gelitten hatte, war schließlich im sanften Wahn aus dem Leben gesegelt. René hingegen, dem Binswanger eine bipolare Depression attestiert hatte, saß trotz dessen jahrelanger Mühen eines Tages noch blutjung, aber tot in der Küche einer muffigen Mansarde in der Rue de Beaune.

Wie würde Jean selbst enden?

Eine gute Frage, die er aufschreiben könnte. Er hatte Zeit hier auf dem Schiff. Er hatte nichts zu tun, und es schrieb sich herrlich auf dem samtigen, schlammfarben linierten Canson-Papier unter seinen Händen, das durch drei rote senkrechte Tabellarstriche in vier ungleichmäßige Felder geteilt war. Jean schraubte die Füllfeder zu, legte sie neben das Kassenbuch und strich mit den Fingerspitzen seiner Rechten über die erste Seite. Das Papier erzeugte einen klitzekleinen Widerstand auf der Haut, einen Widerstand, den man als Vibration bis in den Nacken spüren konnte. Sein Blick ruhte auf den drei schwungvoll geschriebenen Sätzen, zu seiner Überraschung sah seine Handschrift ganz passabel aus.

Wann hatte er das letzte Mal mit dieser Füllfeder geschrieben?

So wie er nicht zeichnen konnte, konnte er nämlich auch nicht schreiben. Beziehungsweise, er zog das Lesen dem Schreiben vor, war ja auch seit seiner Kindheit von anerkannten Schriftstellern und fiebernden Jungliteraten umgeben gewesen. Da verging einem das Selbstvertrauen. Zeichnen und Schreiben erledigte in seiner Einrichtungsboutique heute Chanaux, sein Associé, das Rechnen überließen sie dem Komptorverwalter, der die Bücher führte. Jean selbst war für die Entwürfe und die Kundenbetreuung, die Materialauswahl und die Vertragsabschlüsse zuständig. Sein Schreiben beschränkte sich demnach auf Post- und Briefkarten, und auch die schrieb er nur widerwillig. Billetts zu den Blumenarrangements an seine Mutter oder an deren beste Freundin Eugenia, die jetzt hier vor ihm am schmalen Ende des langen Schreibtisches der Bordbibliothek saß. Briefkarten zu den Geburtstagen seiner Nichten, der kleinen Anne oder der schon etwas größeren Margot, der einzigen Familienmitglieder, die sich im weitverzweigten Frank-Clan wie Verwandte anfühlten. Postkarten oder halbseitige Briefe schließlich, aus Capri oder Hammamet oder Venedig an seine zwei Freunde, an Francis Poulenc und an Cole Porter.

Er betrachtete seine Schrift, das schwungvoll ausholende J und M und F seines Namens, Jean-Michel Frank.

Konnte das die Schrift eines Seelenkranken sein?

Zumindest die eines Krüppels, denn in seinem vierten Lebensjahr hatte ihn die Kinderlähmung erwischt. Mit dem Krüppelsein hatte er sich seither gut arrangiert, hatte gelernt, ohne Drama mit zwei halb gelähmten Beinen und einem schief gewachsenen Rücken zu leben. Mit dem Seelenkranksein hingegen kam er bis heute nicht klar.

Lange genug war er aus seiner tristen Familiengeschichte geflohen, in die Reisen mit seiner Mutter und Eugenia erst, später in die Reisen mit René. Mit ihm war Alkohol in Unmaßen dazugekommen, dann auch Opium, Kokain, schließlich Heroin.

Nach dem Tod seiner Mutter hatte er aber Schluss gemacht mit dieser Flucht, mit dieser galoppierenden Sehnsucht nach dem Sich-Auslöschen. Er hatte begonnen, zunächst an minimalen, dann an größeren, inzwischen an sehr verantwortungsvollen Aufträgen zu arbeiten und so seinem Dasein einen Sinn zu geben. Eugenia hatte ein Talent in ihm entdeckt und ihn in ihrer mütterlich-beharrlichen Art in ein Handwerk gezwungen: das Gestalten von Lebensräumen.

Dieses Handwerk begann damit, Menschen zuzuhören, sich ihrer Träume anzunehmen, um ihre Welt dann in eine überraschend frische und ganz und gar ungewohnte Ordnung zu bringen. Allein, zu dieser Ordnung gelangte man nicht leicht. Man brauchte Zeit dazu. Zahllose Gespräche, langwierige Experimente, Fehler und Rückschläge waren notwendig, wenn man an Jeans Ziel gelangen wollte. Und dieses Ziel war, jedem Auftraggeber, der sich ihm anvertraute, eine ungeahnt neue Freude am Alltag zu schenken. Denn schließlich waren es diese kleinen, beinahe unmerklichen Freuden, die das Leben Tag für Tag ausmachten.

Von den Erfolgen seiner ersten schlichten Interieurs, Erfolgen, die wiedergekehrt waren und sich gefestigt hatten, ja beinahe berechenbar geworden waren, konnte er heute zehren. Er war aufgehoben in der Freude, ja Begeisterung seiner Klienten, eingehüllt wie in einen Mantel.

So war die Sehnsucht nach Selbstvernichtung in den letzten neun Jahren seit dem Tod seiner Mutter in immer weitere Ferne gerückt. Nur nachts war sie da und blieb, nachts, wenn die Welt stillstand und man nicht arbeiten und sich sinnvoll in ein Werk einbringen konnte. Wahrscheinlich würde diese abgrundtiefe Sehnsucht für immer bleiben, er müsste ein Leben lang leben mit ihr.

Tagsüber aber gab es Hoffnung. Ein kleines, sachtes Aufatmen, es war wie der haarfeine Riss in dem Porträt, das der Fotograf von Harper’s Bazaar kürzlich in Jeans Boutique mit seiner gertenschlanken Leica geschossen hatte. Auf diesem Porträt sah er, es war nicht zu leugnen, zwar aus wie ein Toter. Doch durch den Riss auf dem elfenbeinfarbenen Fotopapier, den nur er sah und in dem genau dieses lautlose Aufatmen schwang, drang ein Lichtstrahl, der seinen rabenschwarzen Augen einen seidigen Widerschein gab.

Während er wieder nach seiner Füllfeder griff, blickte er auf. Im selben Moment auch Eugenia. Ihr Blick trug den seinen, fraglos wie immer. Jean musste die Augen abwenden, in denen vielleicht Tränen standen, er sah sich im Raum um. In der schmalen Bordbibliothek bestand die Einrichtung aus wenigen Möbelstücken. Als Belohnung für diese Beschränkung auf das Wesentliche gab es an der leicht gekrümmten Bugwand aber drei große, in Messingrahmen gefasste Bullaugen mit einem einmaligen Blick auf das Meer. Wahrscheinlich war dieser Blick allein für Jean unerträglich.

Eugenia hatte sich am Kopfende des langen Tisches ihren Arbeitsplatz eingerichtet, so hatte sie die ganze Tischlänge zum Ausbreiten der Kostenvoranschläge, Bankauszüge und der Korrespondenz mit ihren argentinischen Geschäftspartnern zur Verfügung. Jean hatte keine Unterlagen zu sichten. Es gab keinen zu studierenden Plan, keine Ansicht des Bauwerks, auch keine Fotografien der Landschaft, in der das Grandhotel errichtet wurde. Er konnte hier auf der Madrid nichts, aber auch gar nichts für Eugenias Projekt tun, denn weder die Baupläne noch das Raumbuch mit den Möbel- und Zubehörlisten waren rechtzeitig in Paris angelangt.

»Verlässlich, deine Argentinier!«, hatte Jean gespottet, und seit ihrer Abreise war klar, dass er die lange Reihe von wertvollen Tagen hier auf See mit Nichtstun verbringen würde. Mit der Arbeit, mit der Riesenarbeit an der Gesamteinrichtung des Grandhotels, würde er erst in jenem fremden Land beginnen können, in das Eugenia ihn hier verschleppte. Er konnte es beim Einschlafen und beim Aufwachen, und das geschah in den endlosen Nächten auf See einige Male jede Nacht, immer noch nicht glauben, dass er diesem Wahnsinn zugestimmt hatte.

Eugenia fing ihn mit ihrem Blick, und da war sie, die so vertraute, samtige Tiefe, in der seine Seele sich festmachen konnte. Doch da war auch dieses neue, schelmenhafte Blitzen.

Was hatte sie bloß mit ihm vor?

Sie kicherte in sich hinein und wandte sich wieder ihren Bankauszügen zu. Mit ihrem schlohweißen Haar, diesem Schelmenblick und dem frechen, warmgrau und kreideweiß gestreiften Ringelpullover über den Ton in Ton grauen Hosen war sie für den Hochseedekor, der sie hier umgab, wie maßgemacht. Das Greige, das Grau-Beige-Gemisch, die Nicht-Farbe, die Coco Chanel zu Schwarz und Weiß erfunden und die Jean seither in alle seine Gestaltungen übersetzt hatte, stand ihr fabelhaft. Sie sah frisch und ausgeschlafen aus wie eine Siebzehnjährige!

Jean hingegen, wie immer in seinen flanellgrauen Stadt-Zweireiher gezwängt und mit seinen Schlaflose-Nächte-Ringen unter den Augen, musste, obwohl halb so alt wie sie, aussehen wie hundert. Er versuchte, seine ganze Aufmerksamkeit auf das Studium von Eugenias Silhouette in diesem für sie beide ungewohnt maritimen Interieur zu richten, doch das war beinahe unmöglich, denn im Hintergrund war in den Rahmen der Bullaugen der starke Seegang ablesbar. Und zwar klar ablesbar, auch ein Auge zumachen nutzte nichts. Jean stellte den Blick auf endlose Weite, doch das war ebenso umsonst, die Horizontlinie der Meeresebene vor ihm kippte alle paar Sekunden um gute dreißig Grad nach links, dann um gute dreißig Grad nach rechts. Dazu stellte sich jedes Mal ein Unterdruck im Magen ein, ein beklemmendes Gefühl, und erinnerte ihn an die Last, die ihm beim Erwachen aus seinen Albträumen auf Brust und Magen drückte.

Diese Albträume waren immer gleich und immer gleich schrecklich. Doch wenn man aus ihnen erwachte, war zumindest eines sicher, sie waren vorbei. Nicht aber hier, auf diesem Schiff. Denn in dieser »Bibliothek« genannten, doch in Wahrheit nach Teppichleim stinkenen Kajüte war das Fiasko ja in keiner Weise überwunden, sondern stand erst bevor!

Was, wenn sie bei diesem Seegang, der aller Wahrscheinlichkeit nach einen fatalen Sturm ankündigte, untergingen? Und keiner wüsste, wo sie dann hintrieben?

Wer konnte voraussehen, wie lange Jeans schwache Arme ihn über Wasser halten würden, ganz zu schweigen von seinen halb gelähmten Beinen?

Wer ahnte, ob Eugenia ihm nahe bliebe in der Kälte, der Strömung des Ozeans?

Außer zwei Namen auf einer Passagierliste würde nichts von ihnen übrig bleiben. Zwei typisch deutsch-präzise Einträge: Eugenia Huici Arguedas de Errázuriz, Staatsbürgerschaft: Chile, geboren: 15. September 1860 in Valparaíso, Wohnsitz: 11 Rue Masseran, Paris, Reiseziel: Chalet Errázuriz, Isla Victoria, Patagonien.

Bei Jean stände das gleiche verwegene Reiseziel, dazu seine Daten, Staatsbürgerschaft: Deutschland / Frankreich, geboren: 28. Februar 1895 in Paris, Wohnsitz: ebenda, 7 Rue de Verneuil.

Das wäre es gewesen. Das bliebe von ihnen. So wie von René am Ende nur eine solche Handvoll Daten geblieben war. Dazu: gestorben, Freitod, Paris (Akte XIII / 888 Präfektur Paris), am 18. Juni 1935.

Jean schraubte die Füllfeder wieder auf, er musste weiterschreiben, um sich zu beruhigen, allein auf hoher See mit diesen tausend Ängsten. Seine sicheren Gewohnheiten, jeder feste Boden unter den Füßen waren meilenweit entfernt, er hasste Eugenia dafür. Er starrte sie über den langen Tisch hinweg an, der Blick musste merkbar sein, geradezu wehtun, doch sie rechnete weiter und sah nicht auf. Ihr immer noch sehr dichtes Haar, das sie seit ihrer Abreise aus Paris im Nacken kurz trug, ein Pagenschnitt, der Jean erst entsetzt, doch dann Tag um Tag mehr hingerissen hatte, wippte mit den Zahlen mit, die sie in die Registerzeilen ihrer Buchhaltung eintrug.

Diese größte Mäzenin ihrer Zeit war ein mindestens genauso guter Geschäftsmann wie er. Sie arbeitete unermüdlich, und sie hatte über die Jahre und Jahrzente ihrer Tätigkeit eine Kunst erlernt, die für Jean noch in weiter Ferne lag: Geduld. Sie eilte nie, sie wurde nie ärgerlich und nahm nichts persönlich. Fraglos besaß sie zudem die magische Dimension, die echte Visionäre ausmachte, sie erkannte die Potenziale von Orten und Menschen mit schlafwandlerischer Sicherheit. So wie sie jemanden in Sekundenschnelle verwerfen konnte, wenn er selbstverliebt, gar berechnend war oder auch nur schlicht gewöhnlich, so konnte sie wahre Revolutionäre erahnen und benennen, ohne sich zu irren. In ihr waren eine Weitsicht und Selbstlosigkeit, die Jean nicht gegeben waren. Dafür misstraute er sich viel zu sehr. Doch genau dafür bewunderte er sie.

Das war Unsinn, was er da dachte. Er bewunderte ja nichts Bestimmtes an ihr, keine einzelne ihrer Eigenschaften. Nicht ihre Gelassenheit, nicht ihre Ehrlichkeit, nicht ihre Neugier, nicht ihren frappierenden Humor. Er bewunderte Eugenia tout court.

Was sie für Igor Strawinsky und Blaise Cendrars getan hatte, die bettelarm in Paris gestrandet waren! Und erst für diesen widerlichen Pablito Picasso, der ein Narzisst war, aber, zugegeben, sicher auch ein Genie.

Würde auch nur eines dieser Talente sich erkenntlich zeigen, bräuchte Eugenia eines Tages selbst einmal Unterstützung, gar Hilfe?

2 Kindheit

Jean begann mit einer neuen Seite. Er könnte in dieser langen Zeit auf See seine von Anbeginn an zerrüttete Identität erforschen. Denn wenn er schon nicht wusste, wer er für sich selbst war, wer war er denn für andere gewesen seit seiner Kindheit?

Er dachte nach, um sich an die Stimmen der Klassenkameraden zu erinnern. Und tatsächlich, die Handvoll Jungen, die in all den Jahren überhaupt mit ihm sprachen, hatten ihn nie Jean gerufen, sondern Marcel, weil er, zugegeben, genauso durch und durch jüdisch und genauso durch und durch effeminiert aussah wie sein berühmter Nachbar Marcel Proust. Der war zu Jeans Grund- und Mittelschulzeit ständig in den Feuilletons präsent gewesen, weil er zunächst am ersten, dann am zweiten und am dritten, zu Jeans Lyzeumszeiten schließlich am vierten Teil seines Lebenswerks Auf der Suche nach der verlorenen Zeit geschrieben hatte. Jean musste schmunzeln, während er an Proust dachte. Wie er in den kargen Kriegsjahren weiße Friedensfahnen auf dem Balkon seiner Etage an der Ecke der Avenue Kléber zur Rue de l’Amiral Hamelin gehisst hatte, um ihn zu sich einzuladen, und es gab statt duftigen Madeleines zu indischem Darjeelingtee nichts als heißes Wasser mit einem halben Löffel Malzpulver und einer Träne klebriger Kondensmilch darin, dazu auf dem Gasherd gegrilltes Kommissbrot. Sie hatten untereinander immer Deutsch gesprochen, die Sprache ihrer Mütter, und diese Geheimsprache hatte sie vor dem Chauffeur und der Köchin geschützt wie ein Zaubermantel.

Wie hatte Proust, der sich damals schon gab wie ein alter Herr, obwohl er doch höchstens Mitte vierzig sein konnte, ihn gerufen? Johannes vielleich oder Hans, das Jean übersetzt in ihre deutsche Muttersprache?

Möglich. Jean fiel es schwer, sich zu erinnern, so konzentriert hatte er diesen Nachbarn immer angestarrt, fasziniert von seiner morbiden Aura und vom sanften Klang seiner Stimme. So sehr hatte ihn sein Auftrag begeistert, der über Jahre darin bestanden hatte, ihm an den Nachmittagen nach der Schule die zahlreichen frisch geschriebenen Manuskriptseiten seines zweiten, dann seines dritten Bandes der Verlorenen Zeit vorzulesen, damit Proust ihn unterbrechen könnte, um handschriftliche Korrekturen vorzunehmen. Es hatte immer lange Stunden gedauert, die Seiten glichen am Ende Schlachtfeldern, und Jeans Mutter war gekommen, ihn abzuholen, weil es draußen schon dunkelte.

Proust – und jetzt fiel es ihm ein, er hatte nicht Johannes oder Hans zu ihm gesagt, sondern schlicht und einfach »mein Junge« – hatte Jeans Mutter immer wie nebenbei behandelt, eben so, wie man mit einer nahen Verwandten umgeht, deren Wohlwollen einem sicher ist. Tatsächlich waren die beiden ja über ihre mütterlichen Familien, die Weils und die Loewis, direkt verwandt. Vernarrt aber, ja geradezu verliebt war Proust in »die schöne Eugenia«, deren zauberhafte Frische schon bald nach ihrer Ankunft aus dem fernen Chile in Paris als legendär galt und der auch der berühmte Porträtist John Singer Sargent nicht hatte widerstehen können. In den Salons des Großbürgertums wurde seine unglückliche Vernarrtheit in diese Unerreichbare seit Jahren belächelt, hatte sich Eugenia doch schon vor dem Krieg aus dem schrillen Pariser Gesellschaftsleben zurückgezogen.

Apropos, wie hatte seine Mutter ihn genannt? Natürlich nicht Marcel wie die Schulkameraden und auch nicht »mein Junge« wie Proust, sondern?

Jean musste nachdenken, um sich ihre Stimme in Erinnerung zu rufen, ja, natürlich: »Mein kleiner Jean Cheri«. Nie ohne das »Mein kleiner« zu Beginn und das »Cheri« zum Schluss. Diese kurze Namensmelodie war stes von einem Lächeln durchsonnt gewesen, es schwang mit den Worten mit, immer gleich warm, ob die Mutter nun beschäftigt war oder wie so oft in Gedanken versunken, weil von ihrem Mann gekränkt.

»Mein kleiner Jean Cheri«, diese vier Wörter schienen sie jedes Mal aufgerichtet, ja mit tiefer Freude erfüllt zu haben, und im endlosen Vertrauen, das hinter ihnen stand, war er aufgewachsen. Es war dieses Vertrauen, das ihn durchs Leben trug.

»Schaue nie, wer vor dir steht«, hatte sie ihm immer gesagt, »wisse, wer hinter dir steht.« Eine Löwin, bereit zum Sprung, um ihren verkrüppelten Jüngsten zu verteidigen.

Seine großen Brüder?

Er hatte doch Brüder gehabt, stattliche, gut ausgebildete, viel gefragte Brüder. Wie hatten die ihn gerufen?

»Hänschen«. Für Oscar und George war er das Muttersöhnchen gewesen, das verfehlte Mädchen, behindert und nicht herzeigbar, ein peinlicher Ausrutscher. Ihn »Hänschen« zu rufen, mit herbem deutschem Akzent, war für zwei gleich zu Kriegsbeginn eingezogene französische Unteroffiziere die größte Beleidigung, derer sie fähig waren.

Nie zeigten sie sich mit der Mutter auf der Straße, wenn sie mit dem kleinen Jean und der Zofe die Einkäufe erledigte oder zum Spazieren in den Trocadéro-Park ging. Jean war nach seiner Kinderlähmung im Wachstum derart zurückgeblieben, dass er sich schief hielt und merklich humpelte, sommers wie winters war er totenblass. Mit so etwas ging man nicht aus.

Und dabei hatte er doch schon in der Mittelschule die Idee mit dem Regenschirm gehabt! Statt an seinem Behindertenstock war er mit dem Regenschirm seiner Mutter auf die Straße gegangen, der passte in der Größe perfekt.

Sein Vater schließlich? Hatte der ihn je beim Namen genannt, gar gerufen? So wie er Oscar und George rief, samstagmorgens zur Jagd und sonntags zur Kirche?

Jean konnte sich an keine einzige Gelegenheit erinnern. Der Vater war ihm in allem fremd geblieben. Seine harschen Bewegungen, sein strenger Geruch, sein drohender Ton hatten Jean seit jeher abgeschreckt, es hatte nie, über all die Jahre, einen Moment gegeben, in dem die beiden sich direkt gegenübergestanden hätten. Kein einziger direkter Blick zwischen ihnen, kein Lachen, kein Zunicken, nicht einmal ein Verbot, eine Rüge, eine Korrektur. Jean war für ihn unsichtbar geblieben.

Wie hatte sich dieses phantomhafte Nebeneinanderleben eingestellt? Ein früher Selbstschutz, ein angeborenes Verbündetsein mit der Mutter? Oder hatte der Vater gelernt, diesen dritten Sohn, der sich als Frühgeburt eingestellt hatte, zu einem kränklichen Kleinkind herangewachsen war und schließlich von unheilbarer Lähmung befallen wurde, zu übersehen?

3 Tod überall

Jean konnte niemanden mehr fragen. Der Vater war tot. Seine Brüder waren tot. Seine Mutter war tot.

Wie viele Erinnerungen ihn hier, auf diesem Schiff nach Übersee, heimsuchten, sie wogen schwer wie Blei. Und wie gut ein neues Kassenbuch und die Möglichkeit zu schreiben da taten, eine als Bordbibliothek ausstaffierte Kajüte, ein Tisch, ein Sessel, eine Leselampe, die vermeintliche Stabilität, vermeintliche Sicherheit gaben, auch wenn die Wahrheit war, dass Jean Angst hatte. Wo kein Horizont mehr war, war kein Halt. Sie hatten die Küste Afrikas heute früh hinter sich gelassen, und bis Brasilien war es eine Ewigkeit. Dazwischen kam der Äquator.

Es war der 23. Februar, in fünf Tagen würde er zweiundvierzig. Doch vielleicht erlebte er diesen Geburtstag ja nicht mehr?

Jean erhob sich so unvermittelt, dass es ihn selbst erschreckte. Eugenia zog die Augenbrauen hoch, sah aber nicht auf. Während er sein Gleichgewicht wiederfand, besänftigte er sie über den Tisch hinweg mit beiden Händen, fischte seinen Regenschirm von der Sesselkante, schritt aufgrund des Seegangs etwas torkelnd an der Wand entlang und öffnete die Pendeltür der Bordbibliothek. Er fand sich dem Barmann gegenüber, der zu dieser Vormittagsstunde nach dem Abräumen der Frühstückstische im Bordrestaurant die elf tagtäglich zweimal gebrauchten Champagnerkelche nachspülte und trocken polierte, um sie auf dem Tresen für den Aperitif vor dem Mittagessen in einer präzise kalkulierten Pyramide aufzubauen. Elf Mitreisende waren sie über den Äquator bis nach Rio de Janeiro und Buenos Aires, das ergab allabendlich beim Dîner mit dem Ersten oder Zweiten Offizier von Captain Cohn ein perfektes letztes Abendmahl.

Jean stieß die Außentür zum Deck nach Steuerbord mit für ihn ungewöhnlichem Schwung auf.

Was hatte ihn so plötzlich hierher nach draußen getrieben? Die Vorstellung eines nahen Todes? Oder eher die Erinnerung an seine Brüder und an seinen Vater?

Auf dem Gästedeck angelangt, konnte er mit Erleichterung feststellen, dass der Seegang nachgelassen hatte. Oder kam es ihm nur so vor?

Hier fehlten die Maßeinheiten der Bullaugenfenster, man konnte die Schräglage des Horizonts an keinem Achsenkreuz festmachen, und für einen Moment fühlte er sich beinahe in Sicherheit. Auch war es an diesem Morgen weit vor der Küste Afrikas erstmals frühlingshaft warm, die Temperatur, die er gut aushielt, oder besser, die sein schief gewachsener Rücken gut aushielt. Dass er kaum schlief und schlecht aß, hatte ja nichts mit dem Klima zu tun.

Sie fuhren mit der Postlinie, demnach hatten sie nur so wenige Passagiere, das Gästedeck war den ganzen Tag bis zum Sonnenuntergang, den sich kaum einer entgehen ließ, leer. Die neun anderen, die man bei den Mahlzeiten im Bordrestaurant und vorher wie nachher an der Bar beobachten konnte – der italienische Tenor mit seiner jungen Frau, die zwei dänischen Forscher, die drei Önologen aus Burgund und das Pärchen englischer Schriftstellerinnen –, hatte er die Küste Frankreichs entlang studiert. Vor der Küste Spaniens war er damit fertig gewesen, und die Tage und Abende vergingen nicht mehr. Gestern dann, vor der Küste Westafrikas, war ihm die Idee gekommen, zu schreiben. Solange Eugenia mit ihrer Buchhaltung beschäftigt wäre, und die zöge sich wahrscheinlich über alle kommenden Vormittage und Nachmittage bis zu ihrer Ankunft in Buenos Aires hin, sie bereitete ein epochales Projekt vor und investierte große Summen, hätte er also zu tun. Ab jetzt war er nicht mehr arbeitslos.

Als Kind hatte sein Leben um seine großen Brüder gekreist, um die ihn jeder beneidete und die doch ihn, den Kleinsten, vollkommen übersahen. Dann, als sein Gesundheitszustand etwas stabiler geworden war und er endlich die Schule besuchen konnte, waren seine ihn hänselnden Schulkameraden zu seinem Lebensinhalt geworden. Schließlich, an den Morgen und Abenden zu Hause in der Avenue Kléber, hatte sein Leben sich um seinen Vater gedreht, dem er zwar niemals genügen konnte, dem er aber doch gefallen wollte. Jean hatte es mit Gut-in-der-Schule-Sein versucht. Doch auch das war, wie alles an ihm, unbeachtet geblieben.

Seine beiden Brüder, diese herrlich wohlgeratenen Brüder, waren als blutjunge Offiziere gleich im ersten Kriegssommer des Jahres 1915 gefallen. Noch nicht Mitte zwanzig, starben sie im Kugelhagel an der deutsch-französischen Front. Daraufhin hatte sich sein Vater, der Bankier, der seine ganze Existenz auf diese zwei vielversprechenden Nachfolger gesetzt hatte, das Leben genommen.

All das war innerhalb von nur fünf Monaten geschehen, am Morgen des 11. November 1915 waren Nanette Frank und ihr kleinster Sohn allein in ihrem Palais in der Avenue Kléber zurückgeblieben. Der Vater lag tot auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Eingang des Hotel Baltimore, an der Ecke zur Rue Léo Delibes. Nannchen, die Zofe, hatte mit dem Besen versucht, ihn vom Sprung vom Balkon des vierten Stocks, aus den Mansardenfenstern seiner toten Söhne, abzuhalten. Vergebens. Die Mutter wurde krank darüber, sie sehnte sich hinweg aus dieser Welt.

Das Schiff änderte den Kurs, man konnte jeden Grad der Drehung spüren, dem neuen Lichteinfall nach steuerte es direkt nach Süden. Jean lief ein paar Schritte an der langen Bullaugenfront des Bordrestaurants entlang, das zum Bug hin in eine kleine, offene Tagesbar überging. In der Ferne waren schon die Kapverdischen Inseln am Horizont auszumachen.

Als er jetzt nur einen Schritt aus dem Schutz der Deckwand zur Bugspitze trat, traf ihn der Südwind mit solcher Wucht, dass sein rechtes Bein nachgab und er hinterrücks stolperte, bereit, der Länge nach zu stürzen und auf dem Teakboden entlang bis zur Reling zu rutschen. Kein Mensch wäre da, ihm aufzuhelfen, und so wäre sein Ende ausgemacht.

Warum musste er auch eine so riskante Reise wagen? Hatte er zu Hause nicht Arbeit genug?

Allein, hierzu würde es nicht kommen, denn statt auf den Teakboden zu stürzen und weiter an die Reling zu rutschen, fiel er der Länge nach auf eine Gruppe von Deckchairs. Es tat gar nicht weh.

Er blieb eine Weile liegen und schloss die Augen. Die Morgensonne wärmte seine Lider, und er begann, ohne es zu wollen, laut gegen den Südwind anzulachen.

4 Schulzeit

Jean öffnete und schloss die Pendeltür der Bordbibliothek beinahe lautlos und setzte sich wieder an sein Kassenbuch. Eugenia tat so, als hätte sie seine Ankunft nur flüchtig bemerkt, sie schüttelte den Kopf über einer Summenkolonne, die nicht aufzugehen schien. Dabei machte sie sich kerzengerade und fasste sich mit der Rechten, mit dieser schönen, langgliedrigen Rechten, an die Schläfe.

Er sah die Momente auf Deck mit dem Beinahe-Sturz und dem Beinahe-verschollen-Gehen nochmals an sich vorbeiziehen. Und bei diesen Bildern kam in ihm eine Frage auf, die er sich noch nie gestellt hatte.

Warum war ausgerechnet er noch hier? Ausgerechnet er, der einzige Frank, dem man keine Zukunft zugestanden hatte, der keine Zukunft verdient hatte?

Er schrieb diese Frage auf.

Als Schulkind oft krank zu Hause und demnach bei allen intimen Gesprächen im Salon präsent, wie ein Möbelstück, dem man keine Beachtung mehr schenkte, hatte er jahrelang versucht, zwischen seinem Vater, dessen Manieren Damen gegenüber viel zu wünschen übrig ließen, und seiner freigeistigen Mutter, die ihm oft nicht ganz von dieser Welt erschienen war, zu vermitteln. Und hatte doch versagt. Die ständige Demütigung, das ständige Nicht-geachtet-Werden hatte die Mutter schließlich erduldet, genauso wie Jean.

Wie hätte er sich der Gewalt dieses Mannes auch widersetzen können? Schon allein körperlich?

Jean wusste um seine Grenzen, und er wusste um die Grenzen seiner Mutter. Von ihr erinnerte er sich in all den Jahren an kein einziges lautes Wort, ganz einfach weil sie jede Art von Gewalt verabscheute, da sie Recht-haben-Wollen schlicht für Dummheit hielt.

Statt eine aktive Revolution hatte Jean also eine passive begonnen, sozusagen eine Revolte im Geiste. Er hatte den Vater beobachtet, geduldig, penibel, ja beinahe obsessiv, und hatte seine Reaktionen so voraussehbar werden lassen. Als er begriff, wie seine Verhaltensmuster abliefen, hatte er begonnen, ihn zu verachten. Und dann war die Überraschung eingetreten, das Erstaunen. Als Jeans Verachtung nämlich langsam abnahm, weil er für das ewig gleiche Verhalten des Vaters das Interesse verlor, hatte sich ein Neuanfang eingestellt. Jean hatte begonnen, ihn zu übersehen.

Jean musste wieder den Horizont betrachten, wie er sich in den messinggerahmten Bullaugen präzise messbar hin- und herwiegte, dabei machte sich in seinem Magen der inzwischen gewohnte Unterdruck breit.

Léon Frank hatte seiner Frau, wenn sie kurz vor dem Ausgehen stritten, gern mit den Handschuhen oder der Melone in der Hand über den Nacken gestrichen, kein wirklicher Schlag, doch eine strafende, eine verachtende Geste. Daraufhin hatte er jedes Mal, und diese Reaktion war so voraussehbar wie erbärmlich gewesen, mit viel Lärm das Haus verlassen. Monat um Monat, Jahr um Jahr in diesen Käfig der Missachtung eingesperrt, hatte die Mutter schließlich jede Diskussion, ja sogar jedes Gespräch gemieden. Sie hatte sich hinweggestohlen in eine andere, in eine ihr angemessenere Welt, weg aus einem Eheleben, das doch so glanzvoll und so vielversprechend begonnen hatte.

Als junge Eheleute – der Frank- und der Loewi-Clan hatten Cousins ersten Grades, also beinahe Geschwister, verheiratet, die beiden waren unverschämt nahe verwandt – kamen sie als das jüdische Traumpaar des Fin de Siècle in Paris an. Nanette Loewi und Léon Frank waren mit dem bemerkenswerten Vermögen ihrer New Yorker und Frankfurter Bankhäuser ausgestattet und für die französische, von wirtschaftlichen Umstürzen zerrüttete Jahrhundertwende, die ganze Dynastien an den Rand des Bankrotts getrieben hatte, beinahe unermesslich reich. Sie eroberten dank Nanettes weltoffener New Yorker Erziehung eine Stadt, die den aufstrebenden Geldadel mit der unangefochtenen Eleganz der alteingesessenen Aristokratie zu vereinen verstand. Die junge Nanette liebte Paris als das, was es war: eine pulsierende Weltmetropole und zugleich ein beschauliches Dorf. Rund um den Trocadéro-Platz im XVI. Arrondissement, wo seit Jahrhunderten der hugenottisch-protestantische Adel zu Hause war, grüßte sich noch jeder wie bei ihr zu Hause in Manhattans Upper Eastside auf der Straße.

Hier hatten die Loewis für das junge Paar ein Haussmann’sches Prachtpalais auf der Avenue Kléber erstanden. Es war das sonnige Eckhaus zur Rue Léo Delibes und trug die Nummer 88. Bald kannte die ganze Avenue Kléber die junge, deutschstämmige New Yorkerin, die, wie in Amerika üblich, jeden grüßend und sich jedem vorstellend, zu Fuß und nur in Begleitung ihrer Zofe den Einkauf am Samstagsmarkt an der Rue Boissière tätigte. Die Nachbarn konnten den beiden Frauen zusehen, wie sie die nach und nach geborenen drei Frank-Söhne ohne die Hilfe des Kutschers oder des Hausdieners im Trocadéro-Park im Leiterwägelchen ausfuhren. Auch kutschierte Nanette ihren leichten Einspänner eigenhändig durch die ganze westliche Vorstadt bis in den Bois de Boulogne und nahm, außer ihren Söhnen, alle Nachbarskinder mit, die sich solch einen waghalsigen Ausflug zutrauten.

Ihren Kleinsten riefen die Nachbarn seit jeher bei dem Kosenamen, den Nanette ihm gegeben hatte. Für das ganze Viertel war er »der kleine Jean Cheri«, und wenn er, was oft geschah, auf dem Heimweg von der Schule auf seinen gelähmten Beinen schwach wurde und sich auf dem Rondeau unter den mächtigen Platanen der Rue Boissière ausruhen musste, sammelte ihn die Comtesse de la Fressault von der Hausnummer 80 oder Monsieur d’Annunzio von der Hausnummer 44 oder Reverend Paul von der Prälatur, die schräg gegenüber seinem Elternhaus am Eck der Rue Boissière lag, in der Calèche auf. Manchmal brachten ihn aber auch die bretonischen Krabbenfischer oder die Auvergnebauern auf dem Rückweg von ihrem Marktstand nach Hause.

Im Lyzeum war dann René in sein Leben getreten. Er war der einzige seiner Mitschüler, der ihn nicht verhöhnte, und für diese Gnade hatte Jean sich zu allem bereit erklärt. René besetzte sein Leben und belagerte jeden einzelnen seiner Tage mit dem ihm eigenen, perfiden System. Er trennte ihn von allem, was ihn bisher umgeben hatte, von der Literatur, für die er lebte, von der Musik, die ihn am Leben hielt, und machte ihn hörig. Alles, was heimatlos und leer war in ihm, füllte René aus.

Nach dem Lyzeum hatte Jean sich in Jura inskribiert, aufgrund von Renés ständigen Nörgeleien aber nach dem Vorstudium abgebrochen. In der Folge hatte er im Bankhaus seines Vaters und im Börsenhandel seiner Vettern Spitzer eine Lehre gemacht und Vertragsrecht und Buchhaltung gelernt, was ihm heute tatsächlich sehr nützlich war. Doch weder sollte ihm das Bankwesen noch der Börsenhandel zur Berufung werden, besser gesagt, man hatte ihn weder hier noch dort aufgefordert, zu bleiben. Eugenia, die beste Freundin seiner Mutter, musste eingreifen. Sie war es, die endlich eine Arbeit fand, die ihn erfüllen sollte.

Er sah auf die kleine Pendeluhr aus Messing, die auf dem Abschlussbrett des Bücherbords zwischen Heine und Hölderlin stand, der Innenausstatter dieser Lloyd-Linie musste eine gewisse Bildung haben. Es war elf Uhr. Erst elf Uhr!

Wer verlangsamte die Vormittage hier auf See?

Eugenia sah auf, sie schmunzelte.

»Elf Uhr, denke ich? Darf ich, wenn noch ein Fläschchen aufzutreiben ist, mein Glas Sprudelwasser bekommen?«

»Ich bin auf dem Weg.«

»Was schreibt mein Miguel Ángel denn so konzentriert?«

Es war immer wieder rührend zu erleben, wie sie sich mit ihm, wenn nicht auf Deutsch oder Englisch, ihren Kindheitssprachen aus der Schulzeit, übergangslos auf Spanisch, ihrer Muttersprache, unterhielt. Französisch hatte Eugenia zwar passabel sprechen, aber nie gut schreiben gelernt, demnach hatte sie sich in Paris wenige Freunde gemacht, die nicht, so wie sie, von weit her kamen und über Grenzen hinweg denken konnten.

»Dein Miguel Ángel vertreibt die Zeit.«

»Die Zeit … ist uns doch geschenkt, Jean? Warum sie vertreiben?«

»Du hast keine horrenden Ängste.«

»Nur horrende Kosten.«

Er schwieg ertappt. Eugenia konnte all sein existenzielles Drama mit solch simplen drei Wörtern zunichtemachen.

»Horrende Kosten, die du selbst gewollt hast«, gab er trotzig zurück.

»Für dich gewollt, ja! Und du wirst sie wert sein.«

»Ich gehe schon.«

Als er mit zwei randvoll gefüllten Champagnerkelchen aus einer eigens geöffneten Flasche Pol Roger – der Barmann hatte offensichtlich eine Schwäche für ihn – in die Bibliothek zurückkam, war der lange Schreibtisch leer. Die Pendeltür pendelte sich lautlos in ihren Rahmen zurück.

Hatte Eugenia einen weiteren Rechenknoten zu lösen und lief dafür auf dem Gästedeck auf und ab, bei diesem Seegang?

Jean nahm sein rotes Kassenbuch wieder vor, dies wäre ein möglicher letzter Absatz vor ihrem voraussehbaren Tod durch Ertrinken.

Mit Renés Tod vor eineinhalb Jahren war er für Eugenia vom geschenkten Sohn zum Sorgenkind geworden, deshalb hatte sie sich ein neues Projekt für ihn ausgedacht und es sorgsam vorbereitet. Für sie war dieser lange Weg nach Patagonien, ans südlichste Ende der Welt, dahin, wo sie vor einem Dreivierteljahrhundert aufgewachsen war, ein gewaltiges Risiko, denn Rückwege konnten eine herbe Enttäuschung sein. Für Jean war die Aufgabe, die sie da für ihn erfunden hatte, die waghalsigste Herausforderung seiner bisherigen Laufbahn, der Sprung in die »große Dimension«. Er hätte Tag und Nacht zu arbeiten.

Eugenia baute das erste Grandhotel der Anden, die verrückteste Idee, von der man je gehört hatte.

5 Eugenia

Es war früher Nachmittag, und entgegen Jeans düsteren Vorahnungen war die Madrid nirgendwo auf Grund gelaufen oder gar gekentert. Im Gegenteil, die kleine, bunt durcheinandergewürfelte Passagierschar hatte zu Mittag im Bordrestaurant bemerkenswert zarte Seezungen serviert bekommen, der Pianospieler hatte die Gassenhauer aus Cole Porters Musical Anything Goes, das am Broadway Erfolge feierte, angestimmt, und sie hatten nach dem Hauptgang und einem typisch deutschen Fruchtsalat vom Barwägelchen einen Korn, einen Wermut oder einen Cognac gereicht bekommen. Dann hatte der Barmann Eugenia und ihn mit zwei Silberkännchen duftenden Bohnenkaffees zurück auf ihre Plätze in der Bordbibliothek begleitet.

Der Seegang war weiterhin stark, wenn nicht sogar stärker als heute Vormittag, doch irgendwie hatte Jean sich inzwischen an diese Hin-und-her-Bewegung gewöhnt.

Waren es die Erinnerungen an seine Jugendjahre und die Betrachtung des seither zurückgelegten Weges, die begannen, ihn innerlich auszugleichen?

Bei Tisch hatte Eugenia erstmals von ihrer Rückkehr nach Patagonien gesprochen, ein Thema, das sie bisher immer ausgeklammert hatte. Es war in ihren Unterhaltungen stets nur um »das Projekt« oder »das Grandhotel« gegangen, und allein wenn sie sich ganz besonders hatte hinreißen lassen, um den »See meiner Kindheit« oder »mein Andenreich«. Heute, zu diesem beschwingten Mittagsmahl, Jean aß sein Seezungenfilet zu ihrer Verwunderung beinahe ganz auf, hatte sie erstmals von Rückkehr gesprochen. Und gleich darauf von Anfängen.

»Du weißt, Jean, ich liebe Anfänge«, hatte sie aufs Meer hinaus gesagt, »Anfänge erfüllen uns mit Erstaunen.«

»Anfänge machen uns Angst«, hatte er trocken zurückgegeben.

»Ach was! Anfänge machen die Fortsetzung.«

»Tatsächlich?«

»Du siehst es ja selbst, hast du nicht angefangen, deine Anfänge aufzuschreiben?«

Es lohnte sich nicht, ihr etwas vorzumachen, sie kannte Jean auswendig, also gab er mit einem leichten Nicken zu, dass er seit dem Vormittag schreibend über sein Leben nachdachte.

»Und sie machen dir Angst?«

»Nicht so sehr, wie ich dachte.«

»Sieh an. Und … wo bist du? Noch in der Schulzeit? Oder schon bei René?«

»In meinen Jahren an der Börse.«

»Hetze nicht«, hatte sie mit beiden Händen eine Horizontlinie über die Tischkante gezeichnet, »man kann ein Leben nur in wachsenden Kreisen erzählen. So wie die Bäume Jahr um Jahr einen Ring zulegen, um in den Himmel zu wachsen, so wachsen wir in den Grund unserer Seele.«

»Ich fürchte, ich wiederhole mich.«

»Das ist ganz normal, ein Leben wiederholt sich ständig, geradezu täglich. Und nur aus der Wiederholung lernt man.«

»Ich komme immer wieder zurück auf …«

»Deine Mutter.«

»Wie weißt du?«

»Hat sie das nicht verdient?«

Ein Moment der Stille trat ein.

»Du hast den ganzen Nachmittag zu rechnen?«, fragte Jean dann.

»Ja, aber heute Abend bin ich fertig damit.«

»Ganz fertig?«

»Ganz fertig.«

»Da muss ich mich ranhalten. Mein Leben vom Börsenhandel Spitzer bis heute zu rekapitulieren, an einem einzigen Nachmittag, bedeutet harte Arbeit. Aber hart arbeiten habe ich ja von dir gelernt.«

Mit »Wetten, ab heute Abend sind wir beide frei?« hatte sie beim Barmann lachend Kaffee für sie beide bestellt, den sie in die Bibliothek zu servieren bat, und sich dann mit einem verschworenen »Komm, Jean, wir haben zu tun« vom Tisch erhoben, viel früher als alle anderen Passagiere.

Jetzt saßen sie wieder am langen Tisch der Bordbibliothek, es würden spannende Stunden werden. Eugenia nahm sich ihre Investitionskolonne mit neuem Schwung vor und raunte: »Morgen kreuzen wir den Äquator, da sollten wir doch den ganzen Tag auf Deck verbringen?«

Ihr Raunen ging nahtlos in das ihr eigene Summen über, ein Summen, das Jean immer wieder frappierend an seine Mutter erinnerte.

Seine ganze Kindheit über hatte Nanette Frank eigentlich ständig gesummt. Jean konnte sie sich nicht ohne eine klassiche Melodie vorstellen, die sie mit sich durchs Haus trug. Das Summen war das Summum ihrer intimen Abwehrstrategie, der immer gleichen, routinierten Gesten, die sie sich schon in Zeiten angeeignet haben musste, als Jean noch ein Wickelkind war und Oscar und George in die Mittelschule kamen. Ihre charakteristischen Gesten – sich gerade richten, den Kopf in den Nacken biegen und konzentriert in den Himmel, auf die Fassaden des Faubourgs, auf das Deckengemälde und den Lüster der Opéra Garnier blicken – endeten stets in einem selbstvergessenen, kaum hörbaren Summen. Bei allen Gelegenheiten, in denen der Vater anwesend war, bei Tisch, im Salon, bei den Ausfahrten in der Calèche oder den Abenden in der Oper, hatte sie gelernt, seine unverhofft eintretenden Demütigungen rasch zu kaschieren. Sie konnte sich gedankenverloren stellen oder belustigt oder taub, wenn »die Franks«, wie sie ihren Mann und ihre älteren Söhne nannte, in der Nähe waren. Sie konnte selig lächelnd in ihrer Loge sitzen, Verdi oder Chopin oder die Ballets Russes genießen und übersehen, wie »die Franks« geräuschvoll aus der Logentür polterten, um sich hinter die Kulissen zu den Aktricen zu stehlen. Sie summte dann mit der Musik mit. Und diese Melodien kamen wieder, sie behielt sie bei sich, tagelang, wochenlang.

Genauso summte jetzt Eugenia. Es war Chopin, das Adagio aus dem ersten Klavierkonzert in e-Moll, das Artur Rubinstein vor Jahren in ihrem Salon gespielt und mit dem sie ihn in ganz Paris bekannt gemacht hatte.

Jean öffnete sein Kassenbuch und schraubte die Füllfeder auf.

»Du weißt, Jean, ich liebe Anfänge«, hatte Eugenia gerade eben beim Mittagessen gesagt, »Anfänge erfüllen uns mit Erstaunen.«

Hatte er heute Vormittag nicht etwas Ähnliches, sogar beinahe Identisches in dieses neue Kassenbuch geschrieben?

Als er sich an seinen Vater erinnerte?

Er blätterte zurück. Ja, vier Seiten zuvor stand: »Und dann war die Überraschung eingetreten, das Erstaunen. Als meine Verachtung nämlich langsam abnahm, weil ich für das ewig gleiche Verhalten des Vaters das Interesse verlor, hatte sich ein Neuanfang eingestellt.«

Eugenia hatte recht mit ihrer Liebe zu Anfängen!

Denn auch mit dieser ihrer gemeinsamen Reise nach Patagonien wagte sie ja nichts anderes als einen Neubeginn. Sie kehrte in ihre Heimat zurück, sähe die Anden-Bergwelt ihrer Jugend erstmals wieder, seit sie mit zwanzig frisch verheiratet nach Paris gezogen war und dort die Salons verzaubert hatte. Die großen Porträtisten der Zeit, neben John Singer Sargent auch Paul Helleu, Giovanni Boldini und Jacques-Émile Blanche, hatten sie nicht nur einmal, sondern mehrfach gemalt. Als sie sich dann nach zwei Jahrzehnten Pariser Lebens, des hohlen Gesellschaftszirkus müde, von ihrem anhaltend nichtsnutzigen Mann trennte und ihn samt seinem Geliebten aus dem Haus warf, hatte ihr glühender Verehrer Proust sie im ersten Band seines Auf der Suche nach der verlorenen Zeit verewigt. Während sich sein Alter Ego, der Kunstsammler Swann, in ermüdenden Gesellschaftsspielen verzettelte, entfloh hier eine »selbst ernannte Nonne« aus dem frivolen Reigen der Pariser Salons, so elegant und gekonnt, wie sie ihn Jahre zuvor erobert hatte.

Eugenia zog sich in ihre eigene Welt zurück und erfand sich von Grund auf neu. Zur Überraschung aller hatte sie sich den gesamten Winter des Vorkriegsjahres 1913 in ihrer Beletage an der Avenue Montaigne, dem prestigieusen Eckpalais zum Rond-Point des Champs-Élysées, eingeschlossen und dort ein neues Leben entworfen. Im darauffolgenden Frühjahr, zum Geburtstag von Jeans Mutter am 8. April, hatte sie für ihre engsten Freunde ein Dîner gegeben und erklärt, sie werde ab jetzt den Traum leben, für den sie ursprünglich nach Paris gekommen war. Es gehe ihr nur noch darum, eine neue, emanzipierte Kunst entstehen zu sehen.

Dank des beachtlichen Vermögens ihrer Familie, väterlicherseits warf das immense Weingut La Calera nahe Valparaíso eine großzügige Apanage für sie ab, mütterlicherseits hatte sie Schürfrechte an den letzten Silberminen der südlichen Anden, werde sie sich einer neuen, einer vielversprechenden, einer durch und durch wilden Generation widmen und sich fortan nicht mehr selbst in Szene setzen, sondern Talente schmieden, deren Werke sie fördern könnte.

Proust, dem sie sich seit jenem Winter als Begleitung entzogen hatte, konterte beleidigt, aber messerscharf, dass »diese Entscheidung wohl einem Eintritt ins Kloster gleichkam«. Tatsächlich nannte man Eugenia, deren neues Motto »Eleganz heißt Weglassen« an jenem Abend die Menükarten schmückte und sich schon in derselben Nacht durch alle Pariser Salons und Künstlercafés tuschelte, seither nicht mehr »die schöne Chilenin«, sondern schlicht und einfach »die Äbtissin«.

Diese Äbtissin hatte den jungen Picasso, der während der Kriegsjahre mit dem Kubismus experimentierte, mit seiner frisch verheirateten russischen Ballerina Olga zu Flitterwochen auf ihr Landgut nach Biarritz eingeladen und ihn dort ihren Freunden, den Galeristen Paul Rosenberg und Georges Wildenstein, vorgestellt, die ihn auf ihr Drängen hin vorbehaltlich für ein Jahr unter Vertrag genommen hatten. Seither unterstützte Eugenia das junge Paar mit einer beachtlichen monatlichen Zuwendung, und sie konnten so aus Picassos feuchtem Atelier im Pariser Vorort Montrouge ins noble Hotel Lutetia am Boulevard Raspail ziehen. Der Aufenthalt in Biarritz und die angenehmen neuen Lebensumstände hatten Picasso zu Papiercollagen und dekonstruktiven Akten inspiriert, er malte und schnipselte seither wie besessen, so dass Rosenberg und Wildenstein seine Werke anboten, kaum waren Farbe und Leim getrocknet.

Proust sollte im selben Herbst die Courage haben, sich mit diesem neuen Maler-Star, der mit Eugenia ausschließlich spanisch sprach, anzulegen, denn natürlich mutmaßten sämtliche Salons und Galerien, dass der umschwärmte junge Katalane neben seiner frisch angetrauten Ehefrau zahlreiche Affären unterhielt.

Aber nicht nur mit den Sängerinnen und Tänzerinnen der Bars rund um Montparnasse, sondern sogar mit seiner neuen, betagten Mäzenin!

Proust deponierte in ganz Paris seine Warnung an Picasso, es ja nicht zu wagen, die von ihm angebetete Eugenia in dessen frisch entdecktem Stil, nämlich »deformiert«, zu malen.

Hände weg von seiner Äbtissin, kannte bald jeder seinen Slogan: »Sie ist schlicht und einfach undeformierbar!«

Ähnlichen Schwung hatte seit den Kriegsjahren die Arbeit von Eugenias Hutmacherin, Gabrielle Chanel, die alle Coco nannten, aufgenommen. Eugenia hatte ihr nicht nur die ersten Stoffkollektionen ihrer neuen Couture-Linie vorfinanziert, sie hatte auch den Mut gehabt, Cocos Kostümentwürfe mit waghalsig wadenkurzen Röcken zu sehr maskulin geschnittenen Jäger-Jacketts aus schlichtem Wollfilz in die Pariser Salons und die Cafés der Rive Gauche auszuführen.

So war Picasso in nur wenigen Monaten zu »ihrem Maler« geworden, Coco zu »ihrer Couturière«. Es fehlten nur noch »ihr Musiker« und »ihr Dichter«, um das Quartett zu vervollständigen. Ihren Musiker fand sie bald darauf im Revolutionsflüchtling Igor Strawinsky, ihren Dichter im Reisejournalisten Blaise Cendrars. Über die Nachkriegssommer versammelte sie diese neue Wahlfamilie in ihrem Landhaus, La Mimoseraie in Biarritz, und die sonnigen Monate, die sie in deren weitläufigen Mimosenhainen verbringen durften, gingen wohl für alle viel zu schnell vorbei.

6 Die Frank’schen Frauen

Jean musste beim Schreiben innehalten, denn ihm fiel auf, dass er einen ebensolchen Weg gegangen war, dass er wie Eugenia andere Richtungen eingeschlagen hatte als die in »guten Familien« üblichen, was zunächst unendlich einsam machte. Erst wenn das Wagnis des Andersseins Alltag geworden war, die Einsamkeit vom Feind zum Freund, konnte sie einen stützen wie eine Rüstung.

In Eugenias Familien Errázuriz und Huici hineingeboren, wurde man als Mädchen Ehefrau und Mutter. Und wenn das nicht gelang, zumindest Nonne. In Jeans Familien Frank und Loewi hineingeboren, wurde man als Junge Bankier oder Jurist. Und wenn das nicht gelang, zumindest Kaufmann, was nicht viel mehr bedeutete als Vertreter.

Jeans Vater Léon Frank hatte an der Pariser Börse einen Ableger der Frankfurter Familienbank etabliert, eine kluge Entscheidung in den 1880er Jahren, in denen in Frankreich in der Folge des Bankrotts der »Union Générale« der internationale Finanzmarkt öffnete und er mit den Rothschilds, den Camondos und den Spitzers in Nordafrika und Südamerika glänzende Devisengeschäfte machen konnte. Um das viele frisch verdiente Geld in der Familie zu behalten, hatte man ihn mit Nanette, der ältesten Tochter seiner in New York lebenden Tante, verheiratet, einer selbstbewussten jungen Frau, die ein paar Jahre älter war als er. Sie wusste, dass sie nicht geliebt wurde. Sie war ein strategisches Werkzeug der Familieninteressen und hatte ihm dennoch drei Söhne geschenkt.

Nie hatte Léon Frank Augen für sie gehabt, und dabei war Nanette Loewi eine Erscheinung!

Sie war von schlanker Statur und hatte langes, welliges Haar, eine ungewöhnlich gerade Nase und eine sehr helle, beinahe pfirsichfarbene Haut. Dabei aber diese tief liegenden Augen unter kurvig geschwungenen, dunklen Augenbrauen, die die jüdischen Frauen so geheimnisvoll machten. Sie hatte das elitärste New Yorker Mädchencollege besucht und sprach die vier Weltsprachen fließend, konnte sogar Hindi lesen, da sie sich in der buddhistischen Philosophie von Kind an zu Hause gefühlt hatte. Seit Jean geboren worden war, wohl der allerletzte Versuch, einer auf einem Familiengeschäft basierenden Beziehung eine bleibende Tiefe zu geben, hatte sie sich zunehmend emanzipiert. Sie ließ die Demütigungen ihres Mannes nicht mehr an sich herankommen. Wenn er, statt es selbst zu tun, den Hausdiener anwies, ihr in die Calèche oder aus dem Mantel zu helfen, nicht aufstand, wenn sie in den Raum trat, sie in der Unterhaltung mit seinen Geschäftspartnern totschwieg oder das Haus verließ ohne Gruß, hatte sie ihre innere Abwehr parat.

Jean sah noch heute vor sich, wie ihre Schultern, die sie sonst immer gestrafft trug, in solchen Momenten für einen minimalen Augenblick nach vorne sackten. Sie schien ihm dann plötzlich verletzlich, ja leidend. Es dauerte aber nur einen weiteren kurzen Augenblick, dann raffte sie sich wieder auf.

»Mit mir war meine Mutter anders als mit allen anderen«, begann er einen neuen Absatz, und in diesem Moment wurde ihm klar, dass er diese Erinnerungen heute Nachmittag in ein Kassenbuch schrieb, weil er sie sonst eines Tages mit Sicherheit vergessen hätte. Oder auch, sein Blick wanderte auf die Bullaugen in der Bordwand vor sich, weil er gar nicht mehr auf dieser Welt wäre, um sie aufschreiben zu können.

Mit ihm war seine Mutter nie gedankenverloren oder taub gewesen wie mit seinem Vater.

Nein, mit ihm lachte sie, denn sie konnte lachen! Sie konnte knurren! Sie konnte sich die Haare raufen!

Wenn die Mutter Jean erwähnte, war er »die Elfen«, immer im Plural. Sie konnte morgens fragen: »Sind die Franks aus dem Haus?«, gefolgt von: »Und was machen die Elfen schon in der Küche?«

In der Frühstücksküche, ihrem ostseitig gelegenen, morgendurchsonnten Reich im zweiten Geschoss des Palais in der Avenue Kléber, verbrachten sie ganze Tage. Hier regierte die Mutter allein, und hier war Jean die Hauptperson, nicht Oscar oder George.

Sie liebte diese Küche, so sehr wie die Natur, die frische Luft und alles, was wuchs. Eine außergewöhnliche Frau für diese Stadt und diese Zeit, die im Haushalt Hand anlegte, allein aus der Stadt fuhr und Jean, wenn er krank war und ans Haus gefesselt, ohne Hauslehrer selbst unterrichtete. Wahrscheinlich hatte sie deshalb außer ihren Freundinnen Eugenia Errázuriz und Natalie Barney und der Zofe, und keine von den dreien kam aus Paris, kaum Kontakte in der Stadt.

Ihr einsamer Alltag schien ihr aber überhaupt nichts auszumachen. Sie lebte, wie sie lebte, genau wie sie an der wilden Atlantikküste ihrer Kindheit gelebt hatte, mit ihren Büchern und ihrer Musik, ohne Heimweh, aber auch ohne jegliche Anpassungswut an die hiesige Gesellschaft, die sich doch mit Freuden einem dekadenten Rennen um bürgerliche Statussymbole hingab. Jegliches Hervorkehren von Reichtum oder Macht lag Nanette Frank aber fern.

Sie kochte ausschließlich vom Saisongemüse, das sie freitags von ihrem Gemüsebauern außerhalb der Stadt nahe Chartres holten. Das war eine Ausfahrt von einem halben Tag, und sie chauffierte zunächst die Calèche, dann ihr in Stuttgart geordertes Automobil, das erste Automobil, das die Avenue Kléber zu Gesicht bekam, selbst. Außer Eugenia durfte nur Nannchen, die Zofe, mitfahren. Und Jean natürlich. Sie waren auf den staubig holprigen Straßen, die nach dem Bois de Boulogne begannen, mit ihrem nagelneuen Mercedes Landaulet, dem ersten »Damenwagen« seiner Zeit, eine pure Sensation.

Jetzt, wo Jean sich an diese Ausfahrten erinnerte, fiel ihm auf, dass die Farben jenes Automobils zu den Standardfarben seiner Interieurs werden sollten: elfenbeinweiß die Karosserie, schlammfarben das Stoffverdeck, tabakbraun die Ledersitze. Professor Freud aus Wien hätte von »Prägung« gesprochen, und Jean glaubte an Prägungen. Er sah sich als Zehnjährigen, von Nannchen Ton in Ton mit dem Automobil in einen tabakbraunen Kleiner-Lord-Fauntleroy-Anzug gekleidet, mit schlammfarbenen Wildledergamaschen und elfenbeinweißem Rüschenhemd. Wenn er müde wurde, konnte er sich, klein, wie er noch war, auf der Sitzbank im Fond des Wagens auf Nannchens Schoß zum Schlafen ausstrecken. Seine Mutter chauffierte und kontrollierte die Tankfüllung, die Drehzahl des Motors und die Temperatur des Kühlwassers auf den vor der Windschutzscheibe angebrachten Messuhren. Nannchen assistierte vom Fond aus und beruhigte den kleinen Jean Cheri gekonnt, wenn er Angst vor der Geschwindigkeit bekam. Sie erklärte ihm dann mit der immer gleichen Begeisterung, wie die vier in Reihe geschalteten Zylinder des Motors, der Fünf-Liter-Hubraum, die Lederkonuskupplung und das Vierganggetriebe funktionierten, um dreißig Pferdestärken zu entwickeln, die sie im besten Fall mit fünfundsiebzig Kilometern in der Stunde aus Paris heraus brächten. Das lenkte ihn ab.

Viel später erst erfuhr er, dass diese immer noch jugendliche Frau, die aber älter sein musste als seine Mutter, in der Stuttgarter Familie der Automobilbauer Daimler großgezogen worden war: Nathania Schilling, genannt Nannchen, ein jüdisches Waisenkind mit Hang zur Technik.

Eine tolle Person!

Zu den Loewis nach New York war Nannchen mit sechzehn gekommen und hatte dort seiner Mutter, die nur kleinere Geschwister hatte, die große Schwester ersetzt. Sie sollte das ein Leben lang tun.

Nannchen hatte seine Mutter überlebt, und wahrscheinlich überlebte sie auch ihn.

7 Landausflüge

Der Weinbauer, zu dem die Mutter alle drei, vier Monate mit Eugenia und Nannchen fuhr, war viel weiter entfernt als der Gemüsebauer in Chartres. Man brauchte eineinhalb Tage von Paris bis dorthin. Mit der Calèche hatten sie im Loiretal, Jeanne d’Arcs Garten von Frankreich, in Orléans oder Sully Station machen müssen. Mit dem Automobil fuhr man, abgesehen von zweimal nachtanken, einfach bis zum Ziel durch.

Die Weinberge lagen in Sancerre, einem verschlafenen Dorf am steilen Nordhang der Loire. Wenn sie für ein, zwei Tage dort blieben, übernachteten sie im Gästehaus des Winzers, denn Fernand Roger legte Wert darauf, mit seinen Kunden aus den Faubourgs von Paris ein persönliches Verhältnis zu pflegen.

Jeans Mutter stimmte sich bei diesen Ausflügen gern mit ihrer Freundin Natalie ab, die genau wie sie aus New York nach Paris gekommen war und jetzt in der Rue Jacob einen Literatensalon unterhielt. Sie war die beste Kundin von Fernand Roger und zitierte meistens eine Handvoll weiterer Freundinnen dorthin, die dann bei Paul, Rogers Bruder, übernachten konnten.

Wenn Natalies Meute mitkam, lief alles im Dorf zusammen, was nicht gerade im Weinkeller oder am Weinberg arbeitete, die Kinder, die Alten, die Marktleute, die Gastwirte. Denn Natalie, um einige Jahre jünger als Jeans Mutter und Eugenia, war eine provokante Erscheinung.

Ihr langes, blond gekraustes Haar trug sie offen, dazu kleidete sie sich in seidene Jagdhosen mit, je nach Jahreszeit, samtenen oder leinenen Gehröcken. Ihren Hals sah man nie, da er stets bis hoch unters Kinn von einem blendend weißen Chiffon-Plastron umwickelt war, über das ihre Blondmähne quoll. Ihr Zylinder war dunkellila, was Nannchen jedes Mal mit einem Augenrollen quittierte, wohl hatte diese Farbe eine symbolische Bedeutung, die Jean damals noch entging.