Flunder-Verschwörung - Patricia Brandt - E-Book

Flunder-Verschwörung E-Book

Patricia Brandt

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Notfall in der Familie Oltmanns: Ausgerechnet in seinen Ferien muss der wortkarge Küstenpolizist Oke Oltmanns auf dem Kutter eines Verwandten aushelfen. Der Fischer, »der schöne Hauke«, wird seit Tagen vermisst. Kurz darauf findet eine Gruppe von Walschützern einen abgetrennten Fuß, eingewickelt in ein Fischernetz. Oke ermittelt wider Willen und stößt bald auf ein Geflecht aus Lügen - und eine Leiche im Kettenkasten seines Kahns. Das ruft zu seinem Verdruss jede Menge Schaulustige, Reporter und Hellseherin Ortrud auf den Plan.

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Patricia Brandt

Flunder-Verschwörung

Küsten-Krimi

Zum Buch

Ach du heilige Makrele Bei ihrem Einsatz auf hoher See gehen einige Meeresschützer aus einem Zeltlager in Hohwacht nicht zimperlich vor. Sie verdächtigen Fischer Hauke Büsing, kaputte Netze illegal im Meer zu entsorgen, und setzen ihn unter Druck. Kurz darauf verschwindet der Küstenbewohner. Als einer der Walschützer bei der Bergung eines herumtreibenden Geisternetzes einen abgetrennten Fuß findet, kann sich das verschlafene Fischerdorf nicht mehr vor neugierigen Schaulustigen und Journalisten retten. Hellseherin Ortrud bietet an, Kontakt zu den Toten aufzunehmen, und Küstenkommissar Oke Oltmanns sieht seinen Urlaub zu Recht in Gefahr, als er eine Leiche im Kettenkasten seines Kahns findet. Dann taucht eine weitere Leiche in einem Räucherofen auf und das Ermittlerteam gerät in Gefahr. Oke Oltmanns geht aufs Ganze, um das Leben seines Kollegen zu retten. Codewort: Holsteiner Stuten.

Die Journalistin und Krimiautorin Patricia Brandt stammt gebürtig aus Neustadt am Rübenberge. Nach ihrem Deutsch- und Politik-Studium hat sie bei der Nordsee-Zeitung volontiert und seitdem für verschiedene Medien (darunter Focus, dpa, NDR Fernsehen und Burda) gearbeitet. Mehr als 20 Jahre war die Redakteurin für den Bremer Weser-Kurier tätig. Heute arbeitet sie als Sprecherin der Bremer Bildungsbehörde. In ihrer Freizeit schreibt sie Bücher: Beim Morden an der Ostsee kann sie wunderbar entspannen. Patricia Brandt lebt mit Mann, zwei Kindern und einem Hund einen Steinwurf von Bremen entfernt.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © haiderose / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7816-1

Widmung

Für Sandra

Vorwort Axel Petermann, Profiler und Krimiautor

Mutilation Wer verstümmelt einen Toten?

Ein Fuß, abgetrennt und eingewickelt in einem Fischernetz, sorgt für helle Aufregung in dem beschaulichen Örtchen Hohwacht an der Ostsee. Als dann noch die verstümmelte Leiche des Opfers gefunden wird, nährt das die Spekulationen über die Motivation des Täters: Ist es der Beginn einer unheilvollen Mordserie, bei der der Täter bizarre Fantasien auslebt, oder gibt es gar Parallelen zu den mysteriösen Funden von Füßen im fernen Kanada?

Diesem und weiteren Rätseln nähert sich Dorfpolizist Oke Oltmanns in dem Cosy-Krimi »Flunder-Verschwörung« von Patricia Brandt auf unterhaltsame Weise und mit unkonventionellen Ermittlungsmethoden. Als zum Ende auch noch die sprichwörtlichen Handschellen klicken, hat der Kommissar seine kriminalistische Herausforderung erfüllt und sogar eine Antwort auf die Frage gefunden, weshalb der Mörder nicht nur tötete, sondern sein Opfer zudem noch verstümmelte.

Auch mich hat diese Frage bei meiner Arbeit immer wieder beschäftigt. Und so kann ich mich noch gut an meinen ersten Fall als junger Ermittler erinnern, bei dem Schuljungen den in blauen Plastiksäcken eingehüllten nackten Torso einer Frau gefunden hatten. Obwohl ich am Tatort gespannt auf den Anblick der Toten war und alle Details sehen wollte, musste ich an das Leid des Opfers denken und mich überwinden, genauer hinzusehen. Es drängten sich mir sofort die Fragen auf: »Wer tut so etwas?« und »Warum muss der Täter die Ermordete auch noch so zurichten?«

Heute würde ich eine solche Nähe nicht mehr zulassen, nach über 40 Jahren als Mordkommissionsleiter und Fallanalytiker kann ich inzwischen vieles ausblenden und mich auf die Fakten konzentrieren. Und so weiß ich, dass die Gründe, einen Menschen zu verstümmeln, sehr unterschiedlich sind und bestimmte Formen der Mutilation, so der Fachausdruck für Verstümmelungen, mit bestimmten Tätertypen korrelieren. Entsprechend lassen sich aus dem Zustand der Leiche Rückschlüsse auf das Profil des Täters ziehen.

Als erwiesen gilt: Es ist immer der Täter selbst, der die Leiche verstümmelt. Die Verstümmelung an sich sagt nichts über das Alter, den Bildungsgrad oder die soziale Herkunft des Täters aus. Täter sind meistens Männer, die Opfer häufig Frauen. In vielen Fällen kannten sich Täter und Opfer.

Oft werden Opfer nach ihrem Tode aus pragmatischen Gründen (defensive Mutilation) zum Zwecke des Transports verstümmelt. Die Leiche kann am Tatort nicht liegenbleiben, denn würde sie dort gefunden, ließe dies Rückschlüsse auf den Täter zu.

Manchmal geschieht die Verstümmelung aber auch aus emotionalen Gründen (aggressive Mutilation). Nämlich dann, wenn Wut, Hass oder Demütigung die Handlungen des Täters bestimmen und die Gewalt über den Tod des Opfers hinausgeht. Als letzte Form ist die offensive Mutilation zu nennen. Hier dient die Verstümmelung des Opfers der sexuellen Befriedigung eines sogenannten »Lustmörders« oder Sadisten.

Gleichgültig, um welche Art der Mutilation es sich handelt, ein solches Täterverhalten kommt – wie Studien zeigen – nur sehr selten, in etwa zwei Prozent der Tötungsdelikte, vor.

Aber nun genug der Theorie! Damit auch Sie das Motiv des Mörders in der »Flunder-Verschwörung« entlarven können, möchte ich Sie herzlich einladen, meinem Kollegen Oke Oltmanns bei seinen Recherchen zu folgen. Ich bin mir sicher, dass Sie beim Lesen immer wieder ein wohliges Schauern begleiten wird.

Spannende Unterhaltung wünscht mit einem kriminalistischen Augenzwinkern

Axel Petermann

Okes Welt

Oke Oltmanns: schrulliger Dorfpolizist mit Herz für Hohwacht. Er liebt die Ruhe. Darauf nehmen Urlauber, Verbrecher und seine Frau Inse und Polizeichef Jens Hallbohm aber mal wieder keine Rücksicht.

Vincent Gott: Okes ziemlich neuer Kollege aus Köln. Auf der Suche nach dem Glück hat der junge Hipster den Dom gegen die Flundergetauscht.

Carmen Bachmann: Die Mutter des neunjährigen Cedrik soll die Klasse beim Strand-Clean-up beaufsichtigen. Doch dann kommt ein Mord dazwischen …

Hilla Bär: Die verliebte Suppenköchin aus dem Schullandheim muss lernen, mit den Enttäuschungen des Lebens umzugehen.

Erdmute Becker: auch brennende Schürze genannt. Sie raucht mehr, als dass sie putzt. Dafür merkt sie sofort, wenn etwas nicht mit rechten Dingen zugeht.

Hauke Büsing: Der Fischer aus Hohwacht wird vermisst – nicht nur von Ehefrau Darja.

Heiner Dubbels: Aushilfspolizist mit Senk- und Spreizfuß aus Lütjenburg, der gefährliche Verbrecherobservation nicht scheut.

Edeltraut (sie möchte ihren Nachnamen nicht nennen): Die Bäckereifachverkäuferin versucht sich im Dichten. Wie eigentlich alle …

Wencke Husmann: Fischbudenbesitzerin. Sie schlägt mit veganen Algen-Smoothies Freund und Feind – und Ehemann Jan – in die Flucht.

Stefan Kusnezow: aufsteigender Kleinkrimineller aus Kiel-Gaarden und kreativer Geist in einem.

Meyersche, die: Hohwachts Dorfälteste bekommt auf ihren Ausflügen mit dem Rollator mehr mit, als mancher denkt …

Mika (Mütze) Menke: Sein Leben an Bord der »Loreley« gerät aus den Fugen, als der Fischer Hauke Büsing plötzlich verschwindet.

Zoe Petridis: »Make love, not war« lautet das Credo der Hamburger Hippie-Frau. Aber wie harmlos ist die Lehrerin wirklich?

Malgorzata Rieken: geschäftstüchtige Inhaberin der Pension an der Strandpromenade.

Felix Sonntag: Berufstaucher, der seine Urlaube damit verbringt, Schweinswale zu retten. Ein lebensgefährlicher Job …

Igor Tolstoi: Dieser Tolstoi nutzt seinen Aufenthalt in Hohwacht nicht zum Schreiben.

Ragnar Torgersen: Der Norweger will in Hohwacht Großwild erlegen. Und wen trifft er?

Otto Willenbrock: Wenn der Seebestatter nicht gerade Asche in der Ostsee verstreut, übt er sich im Schießen. Fast wie im Wilden Westen.

Horst Wieczorek: Der neugierige Ex-Postler gehört zu Hohwachts treuesten Feriengästen. Sie finden ihn aber auch auf Instagram.

Rahel Zimmermann: Etwas wirft die leichenblasse Religionslehrerin aus der Bahn. Aber muss man sie deshalb gleich wegsperren?

*

Ne Muschel lag am weißen Strand,

wo einst ein Badegast sie fand.

Er hat sie ganz rasch eingesteckt

In eine dunkle Tasche.

Erst da hat sie den Raub gecheckt,

des Diebes finstre Masche.

»Mein Gott«, es traf sie voller Qual,

der Erleuchtung heller Strahl:

»Ich werd entführt an fernen Ort,

das wird ein Fall von Muschelmord.«

Der Möwen Schrei hört sie nicht mehr.

Das Ostseerauschen fehlt ihr sehr,

still und stumm und gar nicht wild,

klebt heut’ sie auf ’nem Muschelbild.

Maria Bachmann, Rentnerin, Beitrag zum Hohwachter Gedichtwettbewerb 2024 

Prolog

Ein Abend an der Ostseeküste. Schwarz türmen sich die Wolken am Horizont, erste Blitze zucken über den Himmel. Donner grollt. Drei Frauen stehen auf einer Seebrücke im Meer hinter den Dünen.

Fragt die Erste, eine zierliche Brünette, deren bodenlanger, geblümter Rock sich in einer Windböe bauscht: »Warum treffen wir uns bei Blitz, Donner und Regen?«

Sagt die Zweite, mit langem Zopf und fülliger Mitte: »Des Fischers Treiben muss beendet werden, wir müssen den Pakt besiegeln.«

Ergänzt die Dritte, eine hagere Gestalt, auf deren Brust ein goldenes Kreuz leuchtet: »Gut ist böse und böse ist gut.«

Sagt die Erste: »Was soll das jetzt schon wieder heißen? Sind wir hier bei Macbeth, oder was?«

Beim nächsten Donnerschlag verschluckt die Dunkelheit die drei Schicksalsschwestern.

*

Die Türen weit geöffnet,

liegst du im ewigen Meer,

den Wellen zum Verhängnis,

schwimmst du längst nicht

mehr.

Versunken im tiefsten

Frieden,

doch so lang her,

verlässt die Estonia langsam

unser Herz.

Marten Erasmi, Schüler aus Niedersachsen

Sonntag

Stefan

Er bedauerte, dass er bisher keinerlei Erfahrung als Auftragskiller hatte sammeln können. Aber wo denn auch? Betriebspraktika gab es in der Branche nicht. Jedenfalls hatte Stefan nie davon gehört. Dabei wären handfeste Tipps zur Beschattung, Waffenwahl und Leichenbeseitigung für Quereinsteiger wie ihn durchaus hilfreich.

»Kurwa!« Er sprach kein Polnisch, nicht mal das konnte er, aber der Fluch war einer der geläufigeren in den Blöcken von Kiel-Gaarden und passte in diesem Moment gut, um seiner Stimmung Ausdruck zu verleihen: Wieder hatte sich die scharfe Spitze des Messers beim Laufen unbeabsichtigt in seine Haut gebohrt.

Lektion 1, soufflierte er sich selbst: Nie mit einer 17,5-Zentimeter-Klinge im Schuh sprinten. Es sei denn, man stand darauf, sich die Hacke zu filetieren.

Lektion 2 seiner eigenen Lehrstunde im Freien: Wenn du dich schon in Scheiben zerlegst, lass wenigstens das Mordopfer nicht entkommen. Stefan zog das Messer aus der Tennissocke und rannte weiter.

Diebstahl, Automatenaufbrüche, Schutzgelderpressung im kleinen Stil – er war ins Kieler Kleinkriminellen-Milieu hineingewachsen, hatte sich das meiste selbst beigebracht, um sich über Wasser zu halten. Jetzt könnte seine Karriere steil nach oben gehen. Wenn er den Auftrag nicht versiebte – wonach es derzeit aussah. Um das zu erkennen, brauchte er kein Abitur.

Gerade eben noch hatte sich dieser Typ schemenhaft im Mondlicht abgezeichnet, jetzt schien er sich in Luft aufgelöst zu haben: Im Hafen Lippe herrschte Totentanz.

Stefan stoppte und sah sich um. Um diese Zeit wirkte das Hafengelände gespenstisch. Die langen Schatten der Blechhütte des Hafenmeisters reichten bis zum Hafenbecken. Das dunkle Wasser schwappte träge gegen die Holzpoller, als wartete es darauf, dass jemand hineinfiel, den es schlürfend verschlingen konnte.

Wo war der Kerl bloß hin? Was, wenn er den Spieß umdrehte? An die kalte Wand der Blechhütte gedrückt, wartete Stefan und lauschte in die Stille, den Schaft des geschwärzten Messers fest umschlossen. Seine eigenen Atemgeräusche kamen ihm dabei unnatürlich laut vor. Die rechte Hacke brannte. Behutsam betastete er die stechende Stelle, während er weiter Ausschau nach seinem Opfer hielt. Es fühlte sich feucht an da unten. Wahrscheinlich blutete er wie Sau. So eine Kacke.

Da! Beim Fischrestaurant schräg gegenüber hatte sich etwas bewegt. Jetzt oder nie! Stefan rannte wie Usain Bolt über die offene Rasenfläche, trat in eine Hasenkuhle und strauchelte. Ein neuer, grellerer Schmerz durchzuckte sein Bein. Cholera Jasna, verfluchte Scheiße!

Nur humpelnd kam er jetzt noch vorwärts. Dass er nicht aufgab, hatte mit der Wut zu tun, die ihn antrieb. Wut auf sich selbst und noch mehr auf diesen Macker, der die Frechheit besaß abzuhauen, statt sich brav umbringen zu lassen. Mit zusammengebissenen Zähnen rannte er der Cordjacke nach. Er würde sein Opfer nicht entkommen lassen. Er war ja nicht blöd – ohne Opfer kein Geld.

Stefan rannte, keuchte und fluchte weiter, dass es in seinen Ohren nur so pfiff. Als er den Mann endlich am groben Stoff der dunklen Jacke zu fassen bekam, schaffte er es nicht mal, zum Schlag auszuholen. Er sah nur die Faust seines Gegners auf sein Gesicht zufliegen. Schon hörte er es in seinem Kiefer knacken. Stefan schmeckte Blut. Taumelnd registrierte er, dass sein Gegenüber erneut flüchtete. Stefan fuhr kurz mit der Zunge über den Eckzahn. Er hatte das Gefühl, dass dieser sich stark gelockert hatte.

Schwindel und Schmerzen ignorierend, nahm er wieder die Verfolgung auf. Er brauchte das Geld. Die Abrechnung für den Winter war gekommen und er wusste nicht, wovon er die Heizkosten sonst hätte zahlen sollen. Sie brauchten die Scheißheizung. Seine alte Mutter fror selbst im Hochsommer. Was daran lag, dass ihre Zwei-Zimmer-Bude auf der Nordseite des Gammel-Blocks lag und Feuchtigkeit durchs undichte Gemäuer eindrang. Überall blühte der Schimmel. Aber die Hausverwaltung interessierte das nicht.

Er hatte sich auf drei Meter genähert. Mit der Kraft des Verzweifelten schleuderte Stefan das Messer und traf! Der Mann hatte keine Zeit, Alarm zu schlagen. Schon war Stefan über ihm, drückte ihn ins überfrorene Gras und fixierte mit seinen Knien die Hände des wimmernden Fremden auf dessen Rücken.

»Aufhören!«, keuchte sein Opfer mit gepresster Stimme. »Ich geb Ihnen alles …«

»Klappe«, unterbrach Stefan den anderen, weil ihn das Gejammer beim Morden störte. Als der Mann unter ihm nicht mehr zuckte, wischte er sein Messer an der Jacke des Toten ab. Er unterdrückte den Drang, seine Erleichterung laut in die nächtliche Kälte hinauszubrüllen. Das wäre nicht professionell. Stattdessen drehte er den Toten um und durchwühlte die Taschen. Dann stand er über dem Leichnam und überlegte, was noch zu tun war.

Lektion 3: Wenn du dir einen Namen machen willst, brauchst du eine eigene Handschrift. Gut, dass er sich für ein Marken-Schneidegerät entschieden hatte.

Auf dem Rückweg zu dem verbeulten Toyota, den er sich von einem Kumpel aus dem Boxstall geliehen und hinter einer Böschung versteckt hatte, konnte er kaum auftreten. Wahrscheinlich hatte er sich das Bein zu allem Überfluss noch verstaucht. Aber das würde wieder. Schritt für Schritt kämpfte er sich zum Parkplatz vor. Sein Blick fiel auf ein Plakat des Hohwachter Tourismusvereins an einem Baum. Die Wolken gaben den Vollmond frei, sodass er die Schrift deutlich lesen konnte: »Ostsee-Poesie! Wir suchen die besten Wellen-Dichter. Mach mit bei unserem Wettbewerb und gewinne mit deinem schönsten, lustigsten oder originellsten Gedicht eine Übernachtung mit Frühstück.«

Stefan grinste, denn ihm fiel auf Anhieb etwas dazu ein: »Hier habe ich einen Fuß, den schick ich dir als Gruß.«

*

Die Ostsee, die ich nie versteh –

Ist sie kaum zwölfmal so tief an

Der tiefsten Stelle, wie sie mit

Etwa 50 Meter nur im Mittel

Entfernung von Oberfläche bis

Zum Grunde misst; so hat sie

Inseln und einen Übergang zum Atlantik – aber gefühlt wollen alle

An die Sonne – wenn es um das

Angeln geht – so mancher aus dem Binnenland die

Kurve kratzt

Und wenig – von Stuhr oder

Bremen angereist – später im

Wasser steht, die selbst gebauten

Fliegen samt Schnur im Winde

Weht. Tolle Städte liegen am

Wasser – die man mit dem Flieger

Erreichen kann – doch auch die

Schiffe und Fähren queren das

Baltische Meer – und da ist auch

Der Punkt, wo ich hängen bleibe

Und sich die Gedanken mir mit

Und in der Zeit vertreibe – ab wann

Ist es See und ab wann Meer?

Ab wann eine Grenze und ab wann

Wieder eine Chance – zu fliehen

Und im Nachbarland Frieden zu

Finden? Die Flüsse machen es

Einem vor – durchfließen

Regionen und Länder – münden

Schließlich in ihr – the baltic sea.

Holger Nöhrnberg, Landwirt aus Stuhr

Montag

Oke

Drinnen war es an diesem frühen Morgen eindeutig gemütlicher als draußen: Durch die schmutzigen Scheiben des Fensters sah er ein paar Schneeflocken zu Boden rieseln. Schnee im April! »Are You Lonesome Tonight?«, schmachtete Elvis dazu aus dem CD-Player. Oke liebte die Einsamkeit des Schuppens hinter seinem Haus am Möwenweg. Der gusseiserne Holzofen bullerte mühsam gegen die Kälte an. Genüsslich nahm er einen Schluck heißen Kaffees.

Koffitiet: Der Kaffee wärmte ihn von innen. Oke atmete durch und schaute noch eine Weile zum kleinen Holzfenster hinaus. Eine dünne weiße Schicht überzog den Rasen und bedeckte die knorrigen Ranken des alten Blauregens, der seine Finger gierig in Richtung der Scheibe streckte. Als wollte die Pflanze in seine urige, kommodige Welt eindringen.

»Do you miss me tonight?« Oke ließ sich wieder von der Musik und dem warmen Luftstrom einlullen, er liebte Evergreens, weil sie ihm das Gefühl gaben, die Zeit stände still. Seine Frau Inse schlief noch, und nichts würde ihn davon abhalten, sich gleich an seinem ersten Ferientag der kleinen Frieda zu widmen. Völlig ruhig lag sie auf seiner Werkbank, was ein wenig befremdlich war. Was hatte die Kleine sonst immer für einen Heidenlärm veranstaltet, wenn sich Fremde näherten? Nun aber war sie bereit für den nächsten Schritt. Er würde ihr langes Haarkleid entwirren. Edith Wolf von nebenan hatte immer Mühe gehabt, Friedas verfilzten Strähnen beizukommen, wenn die beiden von draußen hereinkamen. Nun würde Edith nie wieder zur Unterfellbürste greifen müssen.

Als Postbote Holger Holtermann die Nachricht von Friedas Ableben überbracht hatte – zusammen mit zwei Rechnungen –, wusste Oke sofort, wie und mit wem er den Urlaub verbringen wollte. Als Kommissar von Hohwacht hatte er selten Gelegenheit, seinem Hobby nachzugehen: der Tierpräparation. Ständig kam jemand vorbei, um zu klönen! Besonders seit Vincent Gott die Polizeistation am Berliner Platz verstärkte, hatte das Geplauder zugenommen. Der Kollege stammte aus Köln, das sagte wohl alles!

Oke war da anders, doch die wenigsten machten noch den Fehler, sich von seiner bollerigen Art täuschen zu lassen. Aber kaum jemand aus dem Kollegen- und Freundeskreis würde auf die Idee kommen, ihn, den Polizisten und gebürtigen Ostfriesen, als philosophischen Geist zu beschreiben. Zumindest war er aber Vertreter einer von ihm erfundenen Schuppen-Philosophie. Deren Kernthese lautete: Die Welt wäre ein besserer und friedlicherer Ort, wenn jeder Mensch einen Schuppen hätte, in dem er ungestört sein konnte. Und im Idealfall seinem Hobby nachging.

Oke blickte aufs Regal. Die Tiere, die ihn von dort aus zu beobachten schienen, hatte er in der Vergangenheit präpariert. Aus verschiedenen Gründen hatte er keine Abnehmer für sie gefunden. Die meisten nahm in der Regel die Landesjägerschaft für ihren Lehrstand. Doch ein Waschbär, ein Eichhörnchen und einige weitere Exemplare waren geblieben und jetzt seine stillen Begleiter in ebenso stillen Stunden. Die Pekinesenhündin Frieda würde sich nicht dazugesellen. »Frieda kommt auf die Couch, das war ihr Lieblingsplatz«, hatte Edith ihn schon ins Bild gesetzt. »Da sehen wir sie dann auch gut vom Esstisch aus.«

Oke trank den letzten Schluck Kaffee und wollte sich gerade daran machen, den Draht aus der Schublade zu nehmen, um einen sitzenden Pekinesen zu formen, als er draußen hinter einem Busch einen roten Zipfel in der weißen Außenwelt bemerkte. Der Zipfel gehörte nicht zu einem verspäteten Weihnachtsmann, sondern zu Inses Frotteemantel. Vielleicht brachte sie Kaffeenachschub, hoffte er. Aber eigentlich war ihm zu dem Zeitpunkt bereits klar, dass seine Frau nicht um kurz nach sechs durch den winterlichen Garten rennen würde, um ihm eine Thermoskanne zu bringen.

»Wir haben einen Notfall«, japste seine Angetraute noch in der offenen Tür. Sie brachte einen Schwall eiskalte Luft in sein privates Rückzugsgebiet mit – das sie neuerdings auch als Lagerraum für ihr Imkerhobby nutzte. Sehr zu seinem Verdruss.

»Was für einen Notfall?« Ob der Kaffee vielleicht alle war? Aber selbst das wäre keine echte Malaise, seit Jensen die Smart Box am Krähenholt aufgestellt hatte. Bei all dem unnützen Kram heutzutage war das mal eine brauchbare Neuerung: Da konnte man rund um die Uhr Nachschub besorgen – auch Schinkenmett und Dosenfisch gab es dort!

»Hauke ist nicht nach Hause gekommen!«, sprudelte Inse los. »Darja weiß nicht, wo er ist! Mach doch mal die Musik leiser!« Sie fummelte bereits an seinem CD-Player herum, um Elvis den Ton abzudrehen. Inse war multitaskingfähig. Während sie sich an seinem CD-Player zu schaffen machte, scannten ihre himmelblauen Augen die Umgebung: »Dor liggt de Kamm bi de Botter«, kommentierte sie seine angebliche Unordnung.

Tatsächlich bewahrte er weder Kämme noch Butter in seiner Werkstatt auf. Es lagen lediglich ein paar Montageklammern für Rehgeweihe neben einem fast fertigen Purpurreiher und – zugegeben – ein paar schmutzige Kaffeetassen hatte er auf ihren Honigeimern abgestellt. Wortlos schob Oke die Klammern zu einem Haufen zusammen, um Inses Ordnungssinn halbwegs Rechnung zu tragen. Er stellte auch noch die Flasche Wasserstoffperoxid dazu, sodass aus den Präparationsutensilien eine Art Stillleben entstand, das in seinen Augen durchaus ästhetisch wirkte, und wandte anschließend seine gesamte Aufmerksamkeit wieder seiner Frau zu. Friseurmeister Bruno Buckmann in Lütjenburg hatte sie kürzlich zu einer Art Topfschnitt überredet. In dem überlangen Pony hatten sich winzige Schneeflöckchen niedergelassen, die in der Wärme des Schuppens schnell schmolzen. Ihre Apfelwangen waren gerötet, aber dieser Umstand rührte offensichtlich nicht vom Ofen her. Dabei war es, soweit er sich erinnerte, früher schon vorgekommen, dass Inses Cousin nicht in sein eigenes Bett gefunden hatte. Hauke Büsing sah ein bisschen aus wie Elvis, vielleicht deshalb. Wie der frühe Elvis, nicht der späte. Kein Grund zur Panik also.

»Es ist ein Grund zur Panik«, schimpfte Inse, die Gedanken lesen konnte. Dessen war er sich nach diversen Ehejahren sicher. »Mütze braucht jemanden, der mit ihm rausfährt! Jetzt!« Mütze war Haukes Mitarbeiter auf dem Fischkutter und hieß eigentlich Mika.

Oke brummte widerwillig, denn er sah seinen geruhsamen Tag im Schuppen in Gefahr.

Seine Angetraute blieb hart wie ihr selbst gebackenes Chia-Samen-Brot. »Kumm mol ut’n Knick! Das ist ein Notfall in der Familie! Du musst für Hauke einspringen. Allein wird Mütze auf dem Schiff nicht fertig.« Inse zog ihren Bademantelgürtel fest um die Taille und begann, die leeren Kaffeebecher einzusammeln. Dabei machte sie ihm klar, dass Haukes Ehefrau Darja den Fang benötigte. »Die brauchen das Geld!«

»Und ich brauche Zeit für Frieda!« Er hasste es, wenn Inse so viel Wind in seiner Hütte machte.

»Ob du nun Schollen oder einen Pekinesen ausnimmst, ist wohl egal«, konterte Inse. Aus ihren runden Augen sprach Entrüstung.

»Aber Frieda stopfe ich anschließend aus!« Inse musste doch erkennen, dass es einen Unterschied machte, ob man jemandem zu ewigem Leben verhalf oder ihn einfach aufaß.

»Aber du magst doch Fisch!«, hielt sie dagegen.

Man konnte mit dieser Frau nicht argumentieren. Seufzend nickte er. Er mochte Fisch.

Inse trat schnell neben ihn, beugte sich herab und verpasste ihm einen schiefen Kuss auf die Bartstoppeln: »Ich wusste, auf dich ist Verlass. Du könntest dich übrigens mal rasieren …«

Es hatte aufgehört zu schneien. Oke blickte in die Wolken: Nirgends war der Himmel so schön grau wie in Norddeutschland. Eine Möwe und ein einsamer Umweltschützer beobachteten sein Ankommen am Hafen Lippe, einem der ursprünglichsten Häfen der Kieler Bucht, am Rande des Großen Binnensees. Die Möwe hockte auf einem Poller im Wasser, der Mann hatte sich auf dem Rasen vor dem Steg und damit vor Haukes Fischkutter »Loreley« aufgebaut. Er hatte die Arme verschränkt und stand stumm da, neben einem Aufsteller. »Nur Mörder gehen fischen«, war darauf in blutroter Schrift zu lesen. Davor prasselte ein wärmendes Feuer in einem Metallkorb. In Hohwacht hatten Walschützer der Organisation »Protect Our Planet«, kurz POPL, ihr Camp aufgeschlagen, augenscheinlich hatten sie eine Mahnwache am Hafen postiert. Als Oke den Protestler passierte, erwiderte der seinen Gruß. »Moinsen«, meinte der Walschützer. Okes Blut geriet in Wallung. Das hieß Moin – nicht Moinsen!

»Soll ich losmachen?« Mika Menke, den alle wegen seiner marineblauen Kopfbedeckung Mütze nannten, stand in einer orangefarbenen Wathose an Bord und grinste jungenhaft. Er schien sich über Okes Ankunft zu freuen. Unter dem Oberlippenbärtchen, eher ein dunkler Flaum, wurden schiefe Zähne sichtbar.

»Nicht, wenn ich mitkommen soll«, grummelte Oke und kletterte umständlich an Bord. Den Protestler an Land beachteten sie nicht. Mochte er auch den Grund für dessen Kritik insgeheim teilen, Oke hatte wenig für Theatralik übrig.

Haukes schmächtiger Mitarbeiter sprang trotz der locker sitzenden Kunststoffhose und den Gummistiefeln behände von Bord und tüdelte das Seilende los. Er wusste offenbar, was er tat. Mütze war auf einem Fischerboot groß geworden. Doch das Geschäft seines Vaters lief schlecht, und der alte Menke hatte schließlich wie andere Fischer vor ihm aufgegeben. Seither half Mütze auf Haukes »Loreley« aus.

Als sie ausliefen, flog die Möwe von ihrem Sitzplatz auf. Ihre spitzen, fordernden Schreie übertönten das leise Tuckern des Motors. Als würde sie ihr Anrecht auf den nächsten Fang kundtun. Oke zwängte sich neben Mütze ins Ruderhaus, das für seine Körpergröße viel zu eng war. Eingeklemmt zwischen Steuerrad und Kabinenwand beobachtete er mürrisch, wie der Schiffsbug das matt schimmernde Wasser durchpflügte. Es hatte zu dieser frühen Stunde eine Farbe, die irgendwo zwischen der Helligkeit des Tages und der Dunkelheit der Nacht lag.

Unter sich spürte er den Motor vibrieren. Mit einem unguten Gefühl nahm er ein leichtes Schaukeln wahr: Der Seegang würde auf dem offenen Meer vermutlich zunehmen. Hinter der Scheibe graupelte es. Hauptsache, es zog kein Unwetter auf. Oke versuchte, einen weitaus unangenehmeren Gedanken zu ignorieren: dass der kleine Kutter in dem Fall wie eine Nussschale über die Wellen hüpfen würde.

»Hoffentlich gehen diesmal nicht nur Plattfische im Netz«, meinte Mütze redselig, während er das Steuerrad drehte. »Ein bisschen Dorsch wäre mal lecker.« Die Küstenländer hatten sich darauf geeinigt, Dorsch in der westlichen Ostsee nur noch als Beifang zuzulassen, weshalb der Speisefisch zu einem Streitthema unter Fischern, Politikern und Umweltschützern geworden war.

Oke wischte den Gedanken an Dorsch im Eimantel mit würzigen Bratkartoffeln und Speckstücken beiseite. Er musste dringend abspecken. Auch wenn er mithilfe seines Dienstrads schon ein paar Pfund verloren hatte. »Hhm«, erwiderte er nur.

»Falls wir nicht zurückkönnen, wir haben 250 Liter Trinkwasser an Bord«, erklärte Mütze ihm jetzt. Der Hauptkommissar war schon an Land nicht sonderlich gesprächig, da würde er es auf der Ostsee garantiert nicht werden. Zumal es nun unter seinen Füßen stärker als bisher ruckelte. Der Motor schien kaum gegen die Strömung anzukommen. Die »Loreley« war ein betagtes Schiff aus Eichenholz, 13 Meter lang, 22 Tonnen schwer. 300 Liter Diesel passten in den Bauch des Zweimasters. Das alles setzte ihm Mütze ebenfalls auseinander.

Technisch allerdings war der Kutter offenbar auf dem neuesten Stand. »Hier haben wir GPS, Radar, Echolot.« Mütze hatte es sich offenbar in den Kopf gesetzt, ihn an einem Tag zum Seemann auszubilden. Womit er Okes Hoffnung endgültig zerstörte, auf dem Meer seine Ruhe zu finden.

Die Ostsee wirkte so weit vom Land entfernt dunkler und mächtiger als in Hafennähe. Von dem bleifarbenen Wasser ging eine abweisende Kälte aus, gegen die kein Ofen der Welt ankam. Im Frühling konnte es noch mal unwirtlich werden in der Hohwachter Bucht, das bewies dieser Vormittag. Alles schien inzwischen zu schwanken. Oke wurde kodderig zumute.

Unter seiner Nase tauchte ein krummer Zeigefinger mit schwarzem Halbmond unter dem Nagel auf. Oke zuckte verdattert zurück.

»Da vorn ist der Fangplatz.« Mütze zeigte auf eine Stelle im Meer, die für Oke nicht anders aussah als der düstere Rest drum herum. Die Welt hinter dem Fensterglas schien nur noch aus verschiedenen Grautönen zu bestehen, durchzogen von Bindfäden aus Regenwasser. Aus den Augenwinkeln registrierte er, wie der 18-Jährige einen Knopf drückte und das Stellnetz vom Band laufen ließ.

Auch wenn seine Beine eigentlich nicht wollten, weil sie aus Gummi zu bestehen schienen: Oke wankte pflichtschuldig hinter Mütze her, raus an Deck, was ihm einen Schwall eisiges Wasser ins Gesicht einbrachte. Die Wellen, die sich am Bug der »Loreley« brachen, kamen ihm mindestens drei Meter hoch vor. Der Wind riss übermütig an seinen Ohren und seiner Hose, als wollte er ihn über Bord wehen. Oke stemmte die Beine auf den Metallboden und zog zum Schutz vor der nasskalten Außenwelt den Reißverschluss seines Norwegerpullis hoch. Immerhin vertrieb der Wind um seine Nase die schlimmste Übelkeit.

Das Netz glitt geschwind ins dunkle Wasser. »Das ist die Bleileine, die fällt auf den Grund und dient der Beschwerung; das andere ist die Korkleine mit eingeflochtenen Schwimmern. Die hält das Netz oben«, rief Mütze laut gegen den Wind an. »Die Fische schwimmen dann rein. Die kleinen flitschen durch die Maschen im Netz wieder ins Freie, aber die großen bleiben drin.« Der Motor untermalte den Vortrag mit seiner eintönigen Musik.

Haukes Mitarbeiter hörte gar nicht auf zu plappern. Der trank morgens offenbar noch mehr Sabbelwasser als Okes Kollege. Bei dem Kölner erschien ihm das nicht verwunderlich. Aber was mit dem Jungen hier nicht stimmte, wusste er nicht. Mütze stammte doch aus der Gegend, aus Haßberg. Und so wild, wie der aufs Fischen war, gewann Oke langsam den Eindruck, dass Inse ihn nur aus dem Haus hatte haben wollen. Von wegen, Mika schaffe es nicht ohne ihn. Haukes Mitarbeiter bewegte sich wieselflink übers Deck, als wäre er Long John Silver persönlich.

Es dauerte nicht lang, und der Junge hatte das Stellnetz ausgebracht. Mütze setzte mit roten Fähnchen eine Markierung. »Das doppelte Fähnchen heißt, hier ist Schluss. Fesselt dich nicht wirklich, oder?«

Oke gab es zögernd mit einem Nicken zu. Er traute sich kaum, den Mund aufzumachen.

»Tief einatmen, dann wird es besser«, riet Mütze mitfühlend.

Oke atmete. Dabei interessierte ihn eigentlich nur eine Sache: Wo steckte Hauke? Nicht dass er noch einmal einen Fuß an Bord setzen musste. Inses saumseliger Cousin sollte hier die Arbeit machen! »Weißt du wirklich nicht, wo sich Hauke rumtreibt?«, fragte er, als sie wieder geschützt in der Enge des Ruderhauses standen.

Mütze wrang seine Mütze aus, sodass die Wassertropfen auf dem Metallboden eine kleine Pfütze bildeten. Ohne die Mütze wirkte Mikas Kopf seltsam nackt. Er rubbelte sich mit einem Lappen die dunkelblonden Haare trocken, wobei er darauf achten musste, Oke nicht mit dem Ellbogen zu treffen. Er sah ihn jetzt groß an. »Ich? Ne, woher denn? Außerdem hätte ich das Frau Büsing doch schon gesagt.« Er meinte Haukes Frau Darja. Mütze hängte das feuchte Tuch und seine Kopfbedeckung über einen Haken. »Der erzählt mir nichts, der ist fast immer nur am Handy.« Der junge Fischer setzte ein verschwörerisches Grinsen auf und bot Oke einmal mehr einen Blick auf seine Kauleiste. Mützes Zähne sahen aus, als hätte sie jemand ausgeschlagen und zu hastig wieder eingesetzt. Oke nahm einen Hauch Restalkohol wahr. »Der hat ständig WhatsApp-Nachrichten verschickt. Meistens Herzchen. Und Auberginen.«

Oke dachte, dass Mütze das Wort »Herzchen« merkwürdig betonte. »Hatte Hauke eine heimliche Freundin?« Das würde das Verschwinden jedenfalls erklären und Okes Vermutung bestärken. »Und wieso Auberginen?«

»Ach, nur so.« Mütze zuckte grinsend die Achseln. »Keine Ahnung, ob er eine Freundin hatte.« Er wirkte ehrlich ratlos.

Sonst hatte er nichts gegen Regen, dann war der Strand wenigstens schön leer. Aber jetzt kam das Wasser nicht mehr von oben, sondern trommelte seitlich so laut gegen die Scheiben der Kajüte, dass Oke fürchtete, das Glas könnte springen und er von einer der mächtigen Wellen erfasst werden. Mütze schien der Weltuntergang nicht zu beeindrucken, er setzte die Unterhaltung über seinen Chef fort: »Der Hauke ist eher so’n ruhiger Typ – redet nie viel, wie Sie. Nur über diese Umweltschützer konnte er sich ewig und drei Tage aufregen.«

»POPL?«

Mütze senkte das Kinn zur Brust: »Joa. Einer von denen, ich glaube, das war der, der vorhin mit seinem komischen Schild am Hafen stand, hat Hauke vorgeworfen, die kaputten Netze heimlich im Wasser zu entsorgen. War aber mehr so’n Schuss ins Blaue …« Mütze nahm einen Schluck aus einer zerbeulten Wasserflasche. »Willst du auch was trinken?« Mika pendelte fröhlich zwischen Du und Sie.

Oke hatte sich vorhin noch nach einem zweiten Becher dampfenden Kaffees in seinem Schuppen gesehnt. Aber bei diesem Geschaukel? Er konnte sich im Moment nicht vorstellen, irgendetwas zu sich zu nehmen. »Ne!«

»Hauke hat sich mächtig aufgeregt. Er meinte, als er Kind war, gab es so’ne Tiere nicht, wie die sie jetzt schützen. ›Erst holen sie die Robben aus der Nordsee her und jetzt sollen wir Rücksicht nehmen.‹ Das waren seine Worte«, fuhr Mütze fort.

Hauke und POPL – das passte so wenig zusammen wie Grünkohl und Schokoladensoße. Der Kommissar gab bei diesem Gedanken einen lang gezogenen Ton von sich, der dem Motorengeräusch der »Loreley« nicht unähnlich war.

»Alles okay?«, erkundigte sich Mika besorgt. »Du bist ganz grün im Gesicht.«