FM4 Wortlaut. Aussicht - Rosemarie Eichinger - E-Book

FM4 Wortlaut. Aussicht E-Book

Rosemarie Eichinger

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Beschreibung

Seit vielen Jahren bietet der Radiosender FM4 Nachwuchsautor*innen und allen, die Freude am Geschichtenschreiben haben, die Chance, sich in kurzer Form literarisch auszudrücken. "Aussicht" war das Thema im Jahr 2021. Die hochkarätige Jury (Bernhard Eichner, Nava Ebrahimi, Franzobel, Marjana Gaponenko und Matthias Gruber) wählte (mit Hilfe einer redaktionellen Vorjury) aus den rund 1000 Einsendungen die zehn besten Texte für die Anthologie FM4 Wortlaut 21. Aussicht. Wir gratulieren allen 10 Gewinner*innen, insbesonders Luca Manuel Kieser (Platz 1), Sarah Rinderer (Platz 2) und Christian Hödl (Platz 3). Man wird zweifellos noch mehr von ihnen hören und vor allem lesen.

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Seitenzahl: 127

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WORTLAUT 21. AUSSICHT

Der FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb. Die besten Texte.

Herausgegeben vonZita Bereuter & Claudia Czesch

© Luftschacht Verlag – Wien 2021

luftschacht.com

Einzelrechte © jeweils bei den Autor*innen

Herausgegeben von Zita Bereuter und Claudia Czesch

Die Wahl der angewendeten Rechtschreibung obliegtdem/der jeweiligen Autor*in. Layout- und Formatvorgabender einzelnen Texte wurden in der Regel beibehalten.

Covergestaltung: Pascale Osterwalder – elaxa.ch

Satz: Luftschacht, gesetzt aus der Metric und der Noe

Druck und Herstellung: druck.at

Papier: maxipreprint v 1,5 100 g/m2, maxisatin 350 g/m2

Gefördert von der Stadt Wien Kultur.

ISBN: 978-3-903081-92-5

ISBN E-Book: 978-3-903081-93-2

Inhalt

VORWORT HERAUSGEBERINNEN

Zita Bereuter, Claudia Czesch

Gute Aussicht

VORWORT JURY

Franzobel

Alle Texte gut

PLATZ 1

Luca Manuel Kieser

Chemie

PLATZ 2

Sarah Rinderer

Ein Zimmer

PLATZ 3

Christian Hödl

Kilian fucking Berger

PLATZ 4 (in alphabetischer Reihenfolge)

Rosemarie Eichinger

Almas Tod

Simoné Goldschmidt-Lechner

With all my love, Roni

Roman Kaiser-Mühlecker

Sommer

Jürgen Leidinger

Langer Marsch 5B

Leon Laza Lembert

Papier über blauen Flüssen

Stephanie Lindner

Landschaftspheromone

Katharina Sachs

Die Wahrheit in ihr Gesicht

DIE HERAUSGEBERINNEN

Zita Bereuter, Claudia Czesch

Gute Aussicht

Es war einmal ein junger Mann. Der wollte schreiben. Also zog er nach Wien, um genau das dort zu lernen. Um sich sein Studium zu finanzieren, putzte er im Fluc (Anm.: ein Club in Wien). Während des Putzens hörte er stets Radio. Genauer – FM4. Dort erfuhr er vom Kurzgeschichtenwettbewerb Wortlaut. Fortan träumte er davon, diesen Wettbewerb irgendwann mal zu gewinnen. 2021 schaffte er es.

Klingt wie ein Märchen, hat sich aber genau so zugetragen. So hat uns das Luca Manuel Kieser erzählt, als wir ihm telefonisch zu seinem Gewinn gratuliert haben. Insofern hat es uns (und ihn) umso mehr gefreut, als er seine ausgezeichnete Kurzgeschichte Chemie auch im Fluc eingelesen hat – nachzusehen auf fm4.orf.at/wortlaut*.

„Aussicht“ war das Thema von Wortlaut, dem FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb. Der Duden definiert „Aussicht“ mit einer „für die Zukunft sich ergebende, zeigende Möglichkeit“. Für Luca Manuel Kieser war Wortlaut also eben das. Es ist bei weitem nicht die einzige erfreuliche Aussicht in diesem Sammelband!

Aber der Reihe nach: Im April haben wir das Thema „Aussicht“ auf FM4 bekannt gegeben. Bis Juni konnten uns die Hörerinnen und Hörer ihre Texte schicken. Rund 700 Einsendungen waren das heuer. Herzlichen Dank an dieser Stelle allen teilnehmenden Autorinnen und Autoren!

Die redaktionelle Vorjury (die FM4 RedakteurInnen Zita Bereuter, Claudia Czesch, Ali Cem Deniz, Diana Köhler, Barbara Köppel, Conny Lee, Sophie Liebhart, Maria Motter, David Pfister, Lisa Schneider, Simon Welebil und Jürgen Lagger vom Luftschacht Verlag) hatte einen ebenso aussichtsreichen wie intensiven Lesesommer.

Die beschriebenen Aussichten waren äußerst unterschiedlich und reichten von Bergen über Türme – zu Klippen und banalen Fenstern. Sie richteten sich von einer biederen Zukunftsvorstellung zum rebellischen Aufbruch. Im Mittelpunkt standen Familienmitglieder ebenso wie der Jugendcrush, Nachbarinnen genauso wie interessante Unbekannte. Von Eichhörnchen zu Außerirdischen zu philosophierenden Tintenfischen. Vom langsamen Erblinden zum unerwarteten Sehen. „Aussicht“ wurde auf zig Arten ausgelegt.

Einfach war es nicht, aus all diesen Texten zwanzig auszuwählen, die dann anonymisiert an die Jury weitergereicht wurden.

Eine ebenso fantastische wie kompetente Jury (die teilweise zeitgleich in Bestsellerlisten zu finden war) hat die Wortlauttexte genau gelesen – und zwar ohne Honorar! Großen Dank für ihr Engagement und ihre Zeit geht daher an Bernhard Aichner (Schriftsteller und Fotograf), Nava Ebrahimi (Schriftstellerin), Franzobel (Schriftsteller), Marjana Gaponenko (Schriftstellerin) und Matthias Gruber (Wortlautgewinner 2020). Hatten wir mit Wettbewerbsbeginn mit Franzobel einen Bachmannpreisträger in der Jury, waren es nach Einsendeschluss zwei: Nava Ebrahimi hat 2021 den Bachmannpreis gewonnen.

Auch dazu gratulieren wir herzlich!

Die Jury war vom hohen Niveau und der Bandbreite der Kurzgeschichten überrascht und beeindruckt. „Das hätte ich selbst auch gern geschrieben“ gehört wohl zum größten Lob überhaupt.

Kurz und bündig war die Jurysitzung allerdings nicht. Es wurde lange diskutiert, kritisiert und gelobt. Und bei manchen Entscheidungen schließlich schweren Herzens abgestimmt, bis die hier vorliegenden zehn Kurzgeschichten ausgewählt waren.

Gratulation jedenfalls an die ausgezeichneten fünf Autorinnen und fünf Autoren!

Denen und den Leser*innen wünschen wir hiermit eine gute Aussicht!

Zita Bereuter und Claudia Czesch

*Luca Manuel Kieser hat „Chemie“, Sarah Rinderer „Ein Zimmer“ und Christian Hödl „Kilian fucking Berger“ eingelesen. Ihre Portraits und die Videos der Lesungen finden sich auf fm4.orf.at/wortlaut

Alle Texte gut

Wie stellen Sie sich eine Jurysitzung vor? Mit viel Alkohol, Drogen und animierendem Getanze? Oder im verspinnwebten Hinterzimmer einer Bibliothek, überrollt von gelehrig-gallertigen Referaten über die Hinterhältigkeit der Katachrese oder die Vordergründigkeit des Oxymorons? In Wirklichkeit haben wir die Texte zu Papierfliegern gefaltet und die am besten fliegenden prämiert. Nein? Das glauben Sie nicht?

Wie sollte man sonst vorgehen? Gibt es den perfekten, bis ins Kleinste durchdachten, alle zufriedenstellenden Text? Natürlich nicht. Dementsprechend sind Meinungen über Literatur immer divergierend. Was den Einen erfreulich irritiert, ist dem Nächsten so unverständlich wie Altbabylonisch, und der Dritten Zeichen einer problematischen sozialen Herkunft mit Migrationshintergrund und erziehungsberechtigtem Alkoholismus.

Es gibt zu Texten so viele Zugänge, dass nicht einmal Juror*innen alle Wege kennen, über die sie latschen. Mal packt die Geschichte, dann wieder ist es die Metaphorik, oder der Plot ist ganz geschickt gestrickt. Der eine Text ist literarischer, während der nächste durch Direktheit angenehm verstört … dann kommt wieder etwas Hochpoetisches … aber letzten Endes entscheidet doch die Sympathie. Wie will man da beurteilen, was besser ist?

Also ist die Papierfliegermethode doch die beste. Aber nein, Sie haben recht, so einfach durften wir es uns nicht machen – da wachte schon das gestrenge FM4-Gremium. Wir Juror*innen haben also leidenschaftlich gestritten, heftig diskutiert, uns auf Kompromisse geeinigt, abgestimmt, wieder von vorne angefangen und es am Ende in eine Reihenfolge gebracht, die sich hier nun präsentiert.

Von Kritiker*innen wünsche ich mir, dass sie einem Text a) wohlwollend gegenübertreten, b) versuchen zu verstehen, was er will, der Text, und ihn c) dann danach messen und bewerten. So ähnlich geht es auch als Juror*in. Vielleicht.

Das Lesen der Texte war mir eine Freude. Da war viel Inspirierendes dabei, viel mehr als nur Talent. Mögen die geneigten Leser*innen sich nun darauf stürzen und genießen.

Franzobel

* 1967 in Vöcklabruck in Oberösterreich, lebt und arbeitet in Wien. Er schreibt Theaterstücke, Prosatexte und Lyrik. Bis 1991 war er bildender Künstler. Mehrfach ausgezeichnet u.a. Ingeborg-Bachmann-Preis (1995), Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (1998), Arthur-Schnitzler-Preis (2002) oder Nicolas-Born-Preis (2017). Für seinen Krimi „Rechtswalzer“ (2019) wurde er mit dem Fine-Crime-Award ausgezeichnet. Mit seinem historischen Roman „Das Floß der Medusa“ (2017) war er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis und wurde mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet. Mit dem ebenfalls historischen Roman „Die Eroberung Amerikas“ (2021) war er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

Chemie

Luca Manuel Kieser

Foto: Nikolaus Stein

kam 2014 nach Wien, um Sprachkunst zu studieren. Inzwischen studiert er Ethik, unterrichtet an der Kunst-VHS und engagiert sich an der PROSA-Schule. Vor allem aber schreibt er: Für sein Romanprojekt über einen Riesen-Tintenfisch erhielt er dieses Jahr ein Startstipendium des BMKÖS. Auch die Wortlaut-Geschichte gehört irgendwie zu diesem tentakeligen Text. Mehr Infos gibt’s auf lucakieser.de.

(1)

So nämlich jagen Wale: Mit offen stehendem Maul und sich um die Längsachse drehend schrauben sie sich in die Tiefe. Und wenn ein Tintenfisch, der regungslos im Wasser steht, auch unsichtbar sein mag, dem Echolot eines Wals entgeht er nicht. Anfangs sind es so leise Töne, dass nur er selbst sie hört. Eine heimlich gesummte Melodie. Doch sobald er nah genug ist, schlägt er mit einer Geräuschsalve zu.

Während du dann wieder zu dir kommst, wirst du in die Höhe geschleift. Bald seid ihr so hoch, dass dünnes Licht ins Wasser dringt, doch alles, was du sehen kannst, ist der endlose Körper. Du erkennst etwas an seinem Rücken und versuchst es zu erreichen, doch deine Arme rutschen ab. Der Druck des Kiefers, das immer wärmer werdende Wasser, es schnürt dir die Kiemen zu. Dein linker Tentakel findet eine Stelle, an der er sich festkrallen kann, und reißt mit letzter Kraft. Schwarze Hautfetzen und weißes, fasriges Gewebe wirbeln um dich. Dann klappt die Welt zusammen, die kühle Wal-Zunge, ein unendlicher Gaumen, ein Muskel, ein Sog.

Nicht alles von dir zersetzt sich. Dein Schnabel ist unverdaubar; und so stichst du in den Pylorus, kämpfst dich in den Darm, bohrst dich dort in die Flora und gerade, als du an Rache zu glauben beginnst, bildet sich um dich eine Substanz, die dich einbalsamiert. Alles klebt an dir. Du verklumpst.

Tage, Wochen, Monate verstreichen, während denen du zu einem immer größeren Brocken anwächst, dann würgt der Wal dich hervor; und es folgt eine zweite Ewigkeit, die du in einem Film aus Erbrochenem an der Wasseroberfläche durch die Weltmeere treibst; und es lässt sich gut vorstellen, what an unsavery odor such a mass must exhale; worse than an Assyrian city in the plague, when the living are incompetent to bury the departed.

Apropos Moby Dick: An dem Wal hast du Spuren hinterlassen. Rings ums Maul. Abdrücke deiner Saugnäpfe. Sie werden vernarben und nur die werden sie zu Gesicht bekommen, die Wale trotz der Verbote jagen und harpunieren, mit dem Kopf achtern und auf den Rücken drehen, aufschlitzen und abflensen, köpfen und abschöpfen. Geschichten werden sie sich ausdenken von einem Seeungeheuer. Die werden sich eine Weile halten und du wirst dabei immer böser werden – Seeungeheuer wachsen beim Erzählen – doch schließlich werden sie nichts mehr mit dir zu tun haben. Und dann, spätestens dann, wirst du nur noch in jenem Erbrochenen sein, was mit der Zeit auslüften, im Salzwasser hart, im Sonnenlicht hell und schließlich an Land gespült werden wird.

(2)

Geschnüffel. Knurren. Gekläff. Und dann begeistertes Bellen, das den Herrn, einen Menschen-Mann in giftgrünen Bermudas und La-Coste-T-Shirt mit gelbem Krokodil auf schwarzem Grund, herholen soll. Dieser will eigentlich weiterspazieren; er hält dich für einen Baumstumpf. Doch sein Tier gibt einfach keine Ruhe; also watschelt er doch zu dir: Aus der Nähe betrachtet siehst du aus wie ein Elefantenfuß.

Du spürst, wie ratlos er zu dir hinunterguckt; ein Baumstumpf bist du jedenfalls nicht.

Er kniet sich zu dir in den Sand; du bist kein Holz.

Er drückt auf dir herum; aber du bist auch kein Stein. Er zupft etwas von dir ab; du bist eine gräuliche, mit gelben Punkten und Streifen durchsetzte, zähe Masse. Außen spröde, innen ölig und weich. Was er abgezupft hat, zerreibt er und ein bouquethafter Geruch steigt ihm in die Nase. Vor seinem geistigen Auge flammt das Bild von schwarzen Locken auf, doch bevor er hineingreifen könnte, reißt ihn eifersüchtiges Gebell zurück. Er ermahnt sein Tier, zückt das Smartphone, schießt von dir ein Foto und jagt es durch Google googles.

Der erste Artikel, den er liest, läuft darauf hinaus, dass eine Mutter (38) eine Nadel in eine angeschwemmte Weltkriegsgranate steckt und explodiert. Alle anderen Artikel enden damit, dass irgendein bitterarmer uralter Fischer über Nacht zum reichsten Mann im Dorf wird. Zumindest sofern er nicht in den USA oder in Australien lebt. Denn dort stehen Wale unter so strengem Schutz, dass es sich mit ihnen ähnlich verhält wie mit Elefanten oder Krokodilen: Der Besitz ihres Fleisches, ihrer Stoßzähne, ihrer Knochen, ihres Leders oder ihres Haars ist verboten. Ganz zu schweigen vom Handel damit. Glück für den Kroko-Mann: In der EU giltst du gemeinsam mit Urin und Kot als auf natürliche Weise ausgeschieden. Und so wirst du, während dieser seinem Tier ein mit Diamanten besetztes La-Coste-Halsband bestellt, in eine Kiste gepackt, quer durch den Kontinent geschickt und dann in zwei Hälften geteilt:

(3.1)

Bereits Sindbad hat dich gekannt. Nachdem er auf seiner sechsten Reise Schiffbruch erleidet – der Kapitän verliert den Kurs, reißt sich den Turban vom Kopf, ein Sturm kommt auf und das Schiff zerschellt – strandet er auf einer Insel, von der man, wie sich später herausstellt, nur in einem unterirdischen Fluss und wundersamer Weise dadurch, dass man schläft, nach Sri Lanka entkommt. Doch bevor der Kaufmann von seinen Abenteuern erzählen kann, macht ihn jenes insulare Negativ halb wahnsinnig:

Überall Rubine und Perlen und allerlei Juwelen. Selbst der Sand glitzert und funkelt. Schönstes Aloenholz, sowohl chinesisches wie komoriner; und schließlich entspringt dort auch ein Quell an rohem Deinigen, das wie Wachs über die Bachufer fließt, so groß ist die Hitze der Sonne; und du strömst nieder zur Meeresküste, wohin die Ungeheuer aus der Tiefe kommen und dich verschlucken und damit zurückkehren in das Meer. Da du ihnen in den Eingeweiden brennst, speien sie dich wieder aus, und du erstarrst auf der Oberfläche des Wassers, sodass du dich in Farbe und Menge wandelst; und schließlich werfen die Wellen dich ans Land, und die, die dich kennen, sammeln und verkaufen dich. Das rohe Deinige aber, das noch nicht verschluckt ist, fließt über das Bett und erstarrt auf den Ufern; und wenn die Sonne darauf scheint, so schmilzt du und erfüllst das ganze Tal mit deinem Duft; und wenn die Sonne verschwindet, so erstarrst du von Neuem. Niemand aber kann dorthin gelangen, denn die Berge, die die Insel auf allen Seiten umschließen, kann keines Menschen Fuß erklimmen – masn ghabt, dass Österreich ein Land voller Berge ist, dessen Töchter und Söhne von klein auf lernen, am Gipfel keine Milch zu trinken, oder, wenn sie am Gipfel Milch trinken, zumindest so langsam abzusteigen, dass die Magensäure die Milch nicht stocken lässt. Niemand, der hier aufgewachsen ist, kommt im Tal mit einem Kilo Butter im Bauch an, geschweige denn reagiert wie dein Wal einst. When biotechnologists follow their noses lautet deshalb die stolze Schlagzeile des Austrian Centre of Biotechnology, dem es gemeinsam mit der Universität Graz gelungen ist, Ambrein auf einem zur Gänze natürlichen Biosynthese-Weg zu entwickeln. Aus Germ. Hefe, Khamira, Levure.

Und das bereits 2019.

Unverständlich also, weshalb Thomas Fontaine, ausgebildet am Institut supérieur international du parfum, de la cosmétique et de l’aromatique alimentaire, dennoch Folgendes komponiert: Kopfnote Rosa Pfeffer, Mandarine und Bergamotte. Herznote Rose, Zimt, Weihrauch und Orangenblüte. Basisnote Vanille, Benzoe, Sandelholz und eben:

Du

In geheimem Verhältnis werdet ihr in ein Flakon gefüllt und habt zu warten – deine dritte Ewigkeit – bis es euch hinaufsaugt und durch den Zerstäuber hinaus in die Welt spritzt, auf dass du jenen Nebel, den ihr dort bildet, zusammenhältst und an seinen Bestimmungsort führst: Menschenhaut. Frauen-Menschenhaut. Haut zweier Handgelenke. Haut einer Kehle. Von unsichtbarem Flaum bedeckt, von so feinen Poren durchsetzt, dass die winzigen Tröpfchen, die ihr hier bildet, geradlinig darauf abrollen. Und so dünn, dass du ihren Herzschlag spürst. Dann bebt sie, die Welt, und erhitzt sich. Weil sie sich euch aufgelegt hat? Sinbad von Lubin Paris. Jedenfalls dringst du mit der Hitze in sie ein. Du verbindest dich mit ihr, beziehst dich auf ihre Vergangenheit und gibst ihr damit eine Zukunft: Alexa. In wenigen Jahren wird sie Drohnenpilotin bei der US Air Force werden.

(3.2)

Deine andere Hälfte nimmt den Weg, der für deinesgleichen bestimmt ist, seit dich Johannes Hartlieb, Schwabe, Antisemit, Magier und Schoßhund des ersten aller ersten Humanisten Nikolaus von Kues, in seinem Kräuterbuch

die hochst erznei zu dem herzen

nannte. Also verbrannte man dich. Gemeinsam mit Weihrauch. Oder als kostbare Kerze. Lutschte dich als Pastille. Oder kippte dich in den Clairet, um sich geil zu machen.