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Was hätte Fontane erlebt, wenn er seine legendären »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« heute unternommen hätte? Gabriele Radecke und Robert Rauh wollten es wissen und haben sich auf den Spuren des Dichters ins malerische Havelland begeben.Statt mit Kutsche und Bleistift reisen sie mit Navi und Laptop – im Gepäck nicht nur Fontanes Klassiker, sondern auch dessen unbekannte Skizzen und Notizen. So suchen sie in Marquardt Reste der geheimnisvollen Blauen Grotte, erzählen in Paretz vom Kult um Königin Luise, steigen in Wust in die legendäre Katte-Gruft und besichtigen in Glindow den historischen Ziegeleiofen, den schon Fontane beschrieben hat. Das Ergebnis ist eine Mischung aus spannender Fontane-Rezeption und moderner Reiseliteratur.
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Seitenzahl: 383
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Gabriele Radecke / Robert Rauh
Fontanes Havelland
Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg
BeBra Verlag
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E-Book im BeBra Verlag, 2023
© der Originalausgabe:
be.bra verlag GmbH
Berlin, 2023
Asternplatz 3, 12203 Berlin
Umschlag: hawemannundmosch, Berlin (Titelmotiv: Adobe Stock)
ISBN 978-3-8393-2149-2 (epub)
ISBN 978-3-89809-222-7 (print)
www.bebraverlag.de
VorwortMehr kann man am Ende nicht verlangen
Im Havelbogen
MARQUARDT
UETZ
PARETZ
Bei Potsdam
PFAUENINSEL
Am Schwielowsee
WERDER
BAUMGARTENBRÜCK
PETZOW
GLINDOW
Im Kloster
LEHNIN
CHORIN
Jenseits der Havel
WUST
EpilogFontane war nie in Ribbeck!?
Nachwort von Udo GeiselerHavel ohne Land
Anhang
FONTANES ORTE IM HAVELLAND
ANMERKUNGEN
LITERATURVERZEICHNIS
ABBILDUNGSNACHWEIS
DANKSAGUNG
DIE AUTOREN
Fontane ist im Havelland ein Zauberwort. Erscheint sein Name im Betreff, ist eine Antwort garantiert. Es öffnen sich Tür und Tor – zu alten und neuen Geschichten. Im Havelländischen ist der Dichter besonders populär. Kein Wunder: Seine literarische Erkundung ist die Liebeserklärung an eine historische Kulturlandschaft, die man im Märkischen sonst vergeblich sucht. Seinem dritten Wanderungen-Band, der 1873 erschien, stellt er voran, was er seiner Ruppiner Heimat zeitlebens verwehrte: ein sehnsuchtsvolles Gedicht – eine Ode an das Havelland. Nach langem Säumen zieht es Fontane, der zuvor als Kriegsberichterstatter in Dänemark, Österreich und Frankreich unterwegs war, nicht an Rhin und Dosse zurück. Wieder aufnehmen soll ihn stattdessen: die heimische Havel.
Es ist nicht nur der pointierte und poetische Erzählstil, der den Havelland-Band zum »weitaus besten« (Fontane) seiner vierbändigen Wanderungendurch die Mark Brandenburg gemacht hat. Der Autor bekam an den Ufern und Seen der Havel alles geboten, was er für ein ideales Wanderungen-Menü brauchte: architektonisch gescheiterte Schlösser und lachende Dörfer, malerisch verfallene Klöster und kahle Kirchen, dunkle Grüfte und eine Geister-Grotte, gutmütige Seen und eigentümliche Landschaften, selbst eine Feeninsel. Als Vorspeise serviert Fontane allerhand Geschichte(n) aus der Preußen-Wiege und zum Dessert erzählt er über seine Spurensuche, die im Havelland – mehr als in anderen Bänden – in die Gegenwart reicht und sogar die Kehrseite des industriellen Fortschritts beschreibt. Ihm gelingt, was in der Rezeption häufig übersehen wird: der schwierige Spagat zwischen dichterischer Verklärung und kritischer Distanz.
Mitten im Havelland: Blick vom Petzower Kirchturm
Fontanes Havelland ist geografisch kaum zu fassen. »Seine« Orte und Landschaften liegen, wie die Havel fließt: kreuz und quer in der Mark. Die literarische Vermessung stimmt mit den historischen und gegenwärtigen Grenzen des Havellandes nicht überein. Sie erstreckt sich in Nord-Süd-Richtung vom Kloster Chorin bis zum Schwielowsee und in West-Ost-Richtung von Kattes Wust unweit der Elbe bis nach Charlottenburg in Spree-Athen. Dass Fontane weitaus mehr Orte aufnehmen wollte, geht aus dem Notizbuch von 1869 hervor. Die überlieferte Gliederung enthält auch Orte wie Plaue oder Potsdam, die später unberücksichtigt geblieben sind. Vorgesehen waren insgesamt 28 Kapitel.
Es überrascht daher nicht, dass Fontane für das Havelland zwei Teilbände plante. Weil 1873 zunächst nur der Band Ost-Havelland erschien, wurden Orte wie Trebbin und Friedrichsfelde später in das geografisch näher liegende Spreeland übernommen. Und Orte wie Sacrow und Fahrland, die für den zweiten Teil West-Havelland und Potsdam vorgesehen waren, tauchten erst in der zweiten Auflage von 1880 auf, nun unter dem endgültigen Haupttitel Havelland.
Fontanes Notizbuch Havelland, 1869
Unsere Auswahl der Fontane-Lokalitäten in diesem Buch umfasst sowohl mitten im Havelland liegende Orte wie Werder und Paretz als auch exotische Außenposten wie die Pfaueninsel. Wie Fontane steigen wir auf Kirchtürme hinauf und in Grüfte hinab, wandeln durch alte Herrenhäuser und malerische Klosterruinen, lassen uns mit der Fähre über die Havel chauffieren und durch märkische Obstplantagen führen. Und wir porträtieren Menschen, die heute die Region prägen und sich dem Fontane-Erbe auf kreative Weise verpflichtet fühlen.
Im Gepäck haben wir nicht nur Fontanes Havelland-Band, sondern auch seine weniger bekannten Reisenotizen. Sie offenbaren im Vergleich zum gedruckten Text das unmittelbar vor Ort Erlebte und enthalten bisher unbekannte Skizzen, die dem Wanderer damals als visuelle Gedächtnisstütze dienten und heute zusätzliche Details liefern.
Auf unserer Spurensuche im Havelland schauen wir nicht nur, was heute noch zu entdecken ist, sondern gehen auch neuen Fragen nach. In Paretz möchten wir erfahren, warum Fontane sich dem markwürdigen Kult um Königin Luise entzogen hat. In Wust erzählen wir nicht nur vom letzten Akt der Katte-Tragödie, die in der Familiengruft endet, sondern auch vom Zweifel an der Echtheit der sterblichen Überreste des enthaupteten Jugendfreundes Friedrichs II. In Werder berichten wir, wie der Klimawandel den Obstbauern zu schaffen macht und den Winzern zu neuen Sorten verhilft. In Chorin wollen wir herausfinden, warum Fontane der Klosterruine so vehement das eigentlich Malerische absprach. Im Ziegeleidorf Glindow schildern wir seine temporäre Wandlung vom Dichter zum Journalisten, der uns vor Augen führen wollte, wie Industrialisierung und Proletarisierung den Orten und der Landschaft die Unschuld nahmen, und wir fragen, ob der letzte in Betrieb befindliche Ziegelofen eine Überlebenschance hat. In Marquardt suchen wir nach Resten der geheimnisvollen »Blauen Grotte«, in der einem preußischen König suggeriert wurde, er könne mit verstorbenen Persönlichkeiten sprechen.
Apropos Marquardt: Was die erzählerische Vielfalt in Fontanes Havelland anbelangt, gilt noch immer die Lektüreempfehlung an seinen Verleger Wilhelm Hertz: »Ich würde Ihnen vorschlagen, nur das lange Kapitel ›Marquardt‹ zu lesen, da haben Sie alle Züge des Buches vereinigt: Schloß-, Park- und Landschaftsbeschreibung, Historisches, Anekdotisches, Familienkram und Spukgeschichte. Mehr kann man am Ende nicht verlangen.«
Gabriele Radecke und Robert Rauh
Am Schwielowsee im Winter 2022/23
Ich würde Ihnen vorschlagen,
nur das lange Kapitel »Marquardt« zu lesen,
da haben Sie alle Züge des Buches vereinigt.
Fontane an Wilhelm Hertz, 9. Mai 1872
Als Drehort ist Marquardt heiß begehrt. Nicht nur für Serien wie Babylon Berlin oder für Musikvideos mit Silbermond und Scooter, sondern auch für echte Blockbuster. Steven Spielberg drehte hier mit Tom Hanks Szenen für seinen Agententhriller Bridge of Spies und Hollywood-Star Kristen Stewart wandelte in Spencer als Lady Di durch dunkle Gänge. Wenn die Filmcrews abreisen, fällt das Schloss wieder in seinen Dornröschenschlaf. So läuft es seit vielen Jahren.
Dabei hat Marquardt auch ohne Scheinwerferlicht viel zu bieten: »Schloss-, Park- und Landschaftsbeschreibung, Historisches, Anekdotisches, Familienkram und Spukgeschichte. Mehr«, meinte schon Fontane, »kann man am Ende nicht verlangen.«[1] Allein das Schloss tanzt aus der Reihe märkischer Gutsanlagen. Nicht nur architektonisch. Es war Herrensitz und Hotel, Gehörlosen- und Gartenbauschule. Es beherbergte illustre Besitzer wie den Adligen Hans Rudolf von Bischoffwerder, der den preußischen König im 18. Jahrhundert zur Geisterbeschwörung in eine mit blauer Schlacke ausgestattete Grotte lockte. Oder das Unternehmen Kempinski, welches das Schloss in ein märkisches Luxushotel verwandelte.
Aber nichts davon erfährt man vor Ort. Das Schloss ist an nahezu allen Ecken und Enden sanierungsbedürftig und kann nur betreten werden, wenn man es für ein Event mietet oder einer Hochzeitsgesellschaft angehört. Hinweise zur Geschichte finden sich weder am Gebäude selbst noch in dem weitläufigen Park, der nach Plänen von Peter Joseph Lenné angelegt wurde. Es gibt auch keine Informationen über das, wonach am häufigsten gefragt wird: die Blaue Grotte.
Beliebter Drehort: Schloss Marquardt, 2023
Wir wollen ermitteln, wo sich die Geistergrotte befand und ob noch Reste davon existieren. Wir wollen wissen, wen Fontane damals vor Ort getroffen hat, und sind gespannt, wem wir begegnen werden. Und natürlich wollen wir ins Schloss.
Irgendwo zwischen Schloss und Schlänitzsee, eingelassen in einen Hügel, soll die Blaue Grotte angelegt worden sein. Aber wo genau? Ziemlich ratlos stehen wir auf der kahlen, mit grauen Kieselsteinen bedeckten Schlossterrasse und schauen durch den schattigen Park auf den silberglänzenden See. Die Aussicht ist auf beiden Seiten begrenzt von zugewucherten Erhebungen, unter denen vielleicht Reste der Grotte verborgen sein könnten. Immer wieder wird berichtet, im Park finde man Splitter der blauen Schlackensteine, mit denen die Grotte ausgekleidet war.[2] Wo sie sich allerdings genau befindet, erfährt man auch in den diversen Broschüren über Marquardt nicht.[3] Es herrscht Uneinigkeit, wie wir am besten vorgehen. Während der eine sich am liebsten gleich auf die Suche begeben und ins Gebüsch schlagen würde, möchte die andere zunächst die Quellen sichten. Hierfür kommt vor allem eine infrage: die Wanderungen. Fontane hat die – damals bereits baufällige – Grotte noch gesehen. Er hat sie in seinem Notizbuch gezeichnet und im Havelland-Band beschrieben. Vermutlich war er der letzte Wanderer, der ihr so nahe kam. Weil ein Spaten nicht zu unserer Grundausstattung gehört und weil wir Fontanes Text und seine Notizbuchaufzeichnungen im Gepäck haben, ist die Entscheidung schnell gefallen: lesen statt graben.
Anlegen ließ die Grotte Johann (Hans) Rudolf von Bischoffwerder (1741–1803), der aus einer sächsischen Adelsfamilie stammte und das Gut 1795 erworben hatte. Bischoffwerder war der 16. Besitzer von Marquardt, das bereits 1313 erstmals urkundlich erwähnt wurde.[4] Fontane hob ihn ausdrücklich hervor: Erst mit General von Bischofswerder [Fontanes Schreibung ist nicht korrekt] begann eine neue Zeit. Marquardt trat in die Reihe der historischen Plätze ein. Bischoffwerder war ein königlicher Günstling par excellence. Nachdem er 1778 in preußische Dienste berufen worden war, gelangte er in die Nähe des drei Jahre jüngeren Kronprinzen Friedrich Wilhelm (II.). Bischoffwerder gewann das Vertrauen des labilen Thronfolgers, beriet ihn in politischen Fragen und erkannte dessen Schwächen, die er für sich zu nutzen verstand. Der Kronprinz war – zum Missfallen seines Onkels Friedrichs des Großen – weniger mit Politik als vielmehr mit seinen Mätressen beschäftigt. Mit der berühmtesten, Wilhelmine Enke, zeugte der »dicke Lüderjahn« nicht nur fünf Kinder, sondern erhob sie auch – reich beschenkt mit Gütern – in den Adelsstand.
Was dem Alten Fritz wohl am meisten zu schaffen machte: Friedrich Wilhelm glaubte nicht an die Aufklärung, sondern an Zauberei, und suchte in spiritistischen Sitzungen Kontakt zu Verstorbenen. Damit lag er durchaus im Trend der Zeit. Man traf sich in Geheimlogen und hoffte auf mystische Erfahrungen, indem man Geister beschwor. Auch Bischoffwerder war der Magie und Mystik zugetan. Es gelang ihm sogar, den Kronprinzen 1781 unter dem Namen »Ormerus Magnus« in den von ihm und Johann Christoph Wöllner initiierten Orden der Gold- und Rosenkreuzer[5] aufzunehmen. Die Rosenkreuzer prophezeiten Friedrich Wilhelm, anlässlich seiner Thronbesteigung würden »die Geheimen Oberen aus dem Osten« nach Berlin kommen und ihm als neuem Herrscher magische Kräfte verleihen.[6]
Obwohl nach der Krönung 1786 keine Oberen erschienen, fiel Bischoffwerder nicht in Ungnade. Im Gegenteil: Mit seiner Karriere ging es von nun an bergauf. Über mehrere Stufen erreichte der Günstling 1789 die Ernennung zum Generaladjutanten und zwei Jahre später schließlich zum Generalmajor. Er erhielt weitreichende Vollmachten in der Außen- und Militärpolitik und avancierte zeitweise zum einflussreichsten Akteur am preußischen Hof. Wie hoch er in der Gunst des Königs gestiegen war, zeigte sich in der großzügigen finanziellen Unterstützung durch den Monarchen, als Bischoffwerder Marquardt erwerben wollte.[7]
Mit Bischoffwerder begann in Marquardt tatsächlich eine neue Zeit. Als dessen Sohn am 17. Juli 1795 getauft wurde, erschien der König als Pate persönlich in dem kleinen Havelort.[8]Noch leben Leute im Dorfe,achtzigjährig, berichtet Fontane in den Wanderungen, die sich dieses Tages entsinnen. Zu ihnen gehörte vermutlich der damals 84-jährige Gemeindevorsteher Carl Friedrich Gruhl.[9]Der Taufe folgte die Tafel und im Laufe des Nachmittags ein ländliches Fest. Der König blieb; die schöne Jahreszeit lud dazu ein. […] Ein Erinnerungsbaum wurde gepflanzt, ein Ringelreihen getanzt; der König, in weißer Uniform, leuchtete aus dem Kreise der Tanzenden hervor. Am Abend brannten Lampions in allen Gängen des Parks, und die Lichter, samt den dunklen Schatten der Eichen- und Ahornbäume, spiegelten sich im Schlänitz-See. Sehr spät erst kehrte der König nach Potsdam zurück. Und er kam wieder. Nicht um für Neugeborene Pate zu stehen, sondern um mit Verstorbenen zu kommunizieren.
Fontanes Erzählung über die Marquardter Geisterstunden in den Wanderungen gilt als eine wichtige Quelle für die Forschung zu den mystischen Sitzungen Friedrich Wilhelms II. Allerdings gab Fontane zu bedenken, dass es wohl für alle Zeiten unaufgeklärt bleiben werde, ob der König in den zwei Sommern bis zu seinem Tod 1797 in Marquardt eintraf, lediglich um sich des schönen Landschaftbildes und der loyalen Gastlichkeit des Hauses zu freuen, oder ob er erschien, um »Geisterstimmen« zu hören. Welcher Version Fontane zugeneigt war, gibt er am Ende preis. Er könne denjenigen nicht beistimmen, die den ganzen Schatz Marquardter Volkssagen einfach zur Fabel erklären. Schließlich war Bischoffwerder ein Rosenkreuzer und ließ für Friedrich Wilhelm nicht nur im Belvedère zu Charlottenburg wirklich »Geister« erscheinen. Warum also nicht auch in Marquardt? Fontanes Geschichte ist auch zu schön, um hier nicht zitiert zu werden:
Die Dorftradition sagt, er kam in Begleitung weniger Eingeweihter, meist in der Dämmerstunde […], passierte nie die Dorfstraße, sondern fuhr über den »Königsdamm« direkt in den Park, hielt vor dem Schlosse. Mit Bischoffwerder, der die Sitzungen vorbereitet hatte, begab er sich nach der »Grotte«, einem dunklen Steinbau, der im Parke, nach dem rosenkreuzerischen Ritual, in einem mit Akazien bepflanzten Hügel angelegt worden war. Der Eingang, niedrig und kaum mannsbreit, barg sich hinter Gesträuch. Das Innere der Grotte war mit blauem Lasurstein mosaikartig ausgelegt und von der Decke herab hing ein Kronleuchter. In diese »blaue Grotte«, deren Licht- und Farbeneffekt ein wunderbarer gewesen sein soll, trat man ein; der König nahm Platz. Alsbald wurden Stimmen laut; leiser Gesang, wie von Harfentönen begleitet. Dann stellte der König Fragen und die Geister antworteten. Zu den Gesprächspartnern seiner Majestät gehörten der römische Kaiser Marc Aurel, der Große Kurfürst und der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz.[10]Jedesmal tief ergriffen, kehrte Friedrich Wilhelm ins Schloss und bald darauf nach Potsdam zurück.
So die Tradition. Es wird hinzugesetzt, die Grotte sei doppelwandig gewesen und eine Vertrauensperson des Ordens habe von diesem Versteck aus die »musikalische Aufführung« geleitet und die Antworten erteilt.Dass die Grotte eine doppelte Wandung hatte, ist seitdem und zwar durch den jetzigen Besitzer, der den Bau öffnete, um sich von seiner Konstruktion zu überzeugen, über jeden Zweifel hinaus erwiesen worden. Die Lasursteine existieren noch, ebenso der Akazienhügel.
Waren Bischoffwerder und die Rosenkreuzer also doch nur Betrüger? Fontane ging der Frage in einem anschließenden Wanderungen-Kapitel über die Geheime[n] Gesellschaften des 18. Jahrhunderts nach. Und kam zu einem überraschenden Urteil: Es sei nichts damit getan, den Rosenkreuzern einfach den Zettel »Dunkelmänner« aufzukleben und sie damit, zu beliebiger Verhöhnung, auf den Markt zu stellen. Seinem Kern und Wesen nach war das moderne Rosenkreuzertum nichts als eine Vereinigung von Männern, die, ob katholisierend oder nicht, an den dreieinigen Gott glaubten und diesen Glauben dem Deismus, dem Pantheismus und Atheismus gegenüberstellten. Wenn Fontane dennoch das Auftreten des Rosenkreuzertums beklagte und sein Erlöschen, nach kurzer Allmacht, als ein Glück für das Land bezeichnete, so liegt das in Nebendingen – wie den Geistererscheinungen. Ja: Es war ein Unrecht. Aber betonen wir dieses Unrecht nicht stärker als nötig.
Dem pflichteten nicht alle Zeitgenossen bei. Werner von Meding, Oberpräsident der Provinz Brandenburg, sah in den Rosenkreuzern – er meinte damit vor allem Bischoffwerder – »Heuchler und Karrieremacher« und versuchte, die Veröffentlichung der Fontane-Aufsätze über Marquardt und die Geheimen Gesellschaften zu unterbinden. Fontane ließ sich nicht beirren: »Kann mir bewiesen werden (und ich gehöre nicht zu denen, die sich in vorgefassten Meinungen versteifen), dass er ein Heuchler war, so will ich zerreißen, was ich gesammelt habe. Aber Ew. Exzellenz werden es verzeihlich finden, wenn ich auf diesen Beweis warte.«[11] Den Beweis blieb Meding schuldig.
Fontane wollte die Marquardter Spukgeschichte nicht nur erzählen, sondern auch vom Ort des Geschehens berichten. Bei seinem Besuch im August 1869[12] besichtigte er das Schloss und anschließend den Park, in der sich die Grotte befand. Ob er bei seinem Rundgang vom jetzigen Besitzer begleitet wurde, kann nur vermutet werden. Fontane erwähnt ihn im Schlussteil seines Marquardt-Kapitels: Herr Tholuck, ein Neffe des berühmten Hallenser Theologen. Bei dem berühmten Onkel handelte es sich um August Tholuck (1799–1877), der sich mit seinen Kommentaren zum Römerbrief, zum Johannesevangelium und zur Bergpredigt in der Religionswissenschaft einen Namen gemacht hatte. Über seinen Neffen Paul Theodor Gustav Tholuck ist hingegen wenig Biografisches bekannt. Belegt ist, dass er 1860 Marquardt erworben hatte – als erster bürgerlicher Gutsbesitzer. Beliebt machte er sich im Dorf offenbar nicht. »Durch den P. Tholuck, der nur ein rationeller Landwirt sein wollte und nur Dampfmaschinen und andere Maschinen in das ruhige und stille Marquardt einführt, wurden alle Poesie und Idyll vernichtet«, notierte Pfarrer Carl Müller 1862. »Gleicherweise verschwindet ein Stück Heide nach dem anderen, wodurch Marquardt so ein liebliches Aussehen hatte. Es herrscht nur noch Nützlichkeits-Prinzip und alles kommt auf den Gewinn, auf den Geldbeutel an.«[13] Müller, seit 1843 als Pfarrer in Marquardt tätig, wurde 1867 »wegen Ehebruchs« entlassen. Sein Nachfolger, Friedrich Reifenrath, hatte einen anderen Eindruck. Nach seiner Ankunft in Marquardt schrieb er seiner Frau: »Herr Tholuck ist ein redlicher Mann.« Sein Haus sei »nicht prächtig, aber geräumig«. Ins Schwärmen geriet er angesichts des »herrlichen Parks«.[14]
Auch Fontane wusste nichts Negatives zu berichten. Oder wollte es nicht. Mit Tholuck wäre seit Bischoffwerders Tod 1803 dem devastierten [verwüsteten] Gute endlich wieder ein Wirt gegeben, eine feste und eine geschickte Hand. […] Der Park klärte sich auf, das alte Schloss gewann wieder wohnlichere Gestalt und an der Stelle verfallender oder wirklich schon zerbröckelter Wirtschaftsgebäude erhoben sich wieder Ställe und Scheunen. Marquardt sei wieder ein schöner Besitz geworden. Die unkritische Würdigung kann der Unterstützung Tholucks geschuldet sein. Mehrfach lässt sich belegen, dass der Gutsbesitzer dem Autor bei seiner Arbeit geholfen hat, wie es indirekt aus der Ankündigung eines zweiten Besuchs im Frühjahr 1870 hervorgeht. »In der Pfingstzeit hab’ ich vor, noch einmal einen Tag in Paretz zuzubringen«, schrieb Fontane im Februar 1870 an Tholuck, »wenn Sie mir gestatten, so spreche ich bei dieser Gelegenheit auf eine halbe Stunde bei Ihnen vor und bitte Sie, mich Ihrer Gemahlin vorstellen zu wollen.«[15] Ob es zu dieser Begegnung kam, ist nicht überliefert. Fontane bat den Gutsbesitzer im Februar 1870, den Aufsatz über Marquardt »zur Begutachtung« vorlegen zu dürfen, »damit er möglichst durchgesiebt und von Fehlern befreit, in das Buch übergeht«.[16] Als die Erstausgabe (Ost-Havelland) 1873 erschien, wurde die Unterstützung Tholucks in den Anmerkungen zu Marquardt bei der Aufzählung der verwendeten Literatur explizit erwähnt: »Mündliche und briefliche Mittheilungen des Herrn Tholuck in Marquardt«.[17] Und schließlich sandte Fontane 1874 Tholuck, der das Gut bereits 1870 verkauft hatte, noch ein Belegexemplar mit einer überlieferten Widmung zu:
»Dass dies Buch Sie noch erfreue / Über alles Hoffen gehe / Aber auch die späte Reue / Komme noch immer nicht zu spät.«[18]
Bei seinem Besuch in Marquardt hat Fontane die Grotte tatsächlich gesehen. Das belegt sein Notizbuch, in das er den Grundriss gezeichnet und mit seiner Beschriftung den Zauber entlarvt hat: »In Brusthöhe 2 heimliche Eingangslöcher mit Steinen versetzt.«[19] Ausführlicher beschrieben wird der Zustand der Grotte dann im gedruckten Text, am Schluss des Marquardt-Kapitels: Der Aufgang zu ihr ist mit den blauen Schlacken eingefasst, die einst mosaikartig das ganze Innere des Baues ausfüllten. Jetzt ist dieser, weil er den Einsturz drohte, offengelegt. Durch ein Versehen (der Besitzer war abwesend) wurde bei dieser Gelegenheit die Innenmauer niedergerissen und dadurch der sichtbare Beweis zerstört, dass diese Grotte eine doppelte Wand und zwischen den Wänden einen mannsbreiten Gang hatte. Nur die äußeren Mauern, mit Ausnahme der Frontwand, sind stehengeblieben und schieben sich in den Akazienhügel ein. Strauchwerk zieht sich jetzt darüber hin. Fontane hätte den Spurensuchern einen großen Gefallen erwiesen, wenn er wie andernorts auch in Marquardt einen Lageplan gezeichnet hätte. Schloss, See und dazwischen den Standort der Grotte – es könnte heute so einfach sein.
»Fontane hilft Ihnen da nicht weiter«, sagt auch Wolfgang Grittner und schaut skeptisch auf dessen Notizbuchseiten zu Marquardt, die er längst kennt.[20] Der promovierte Veterinärmediziner ist seit 1988 Ortschronist, hat eine illustrierte Zeittafel publiziert und kennt jeden Winkel seines Hoheitsgebiets. Als er 2001 in den Ruhestand wechselte, fing Grittner noch einmal von vorn an – und studierte zehn Jahre die Geschichte der Frühen Neuzeit mit Schwerpunkt Landesgeschichte an der Universität Potsdam. Auch über Fontane und Marquardt ist Grittner bestens im Bilde. Das entsprechende Kapitel aus den Wanderungen hat er in einer Publikation für das Fontane-Jubiläumsjahr 2019 um viele ortsgeschichtliche Details erweitert und mit selbstgemalten Bildern illustriert.[21] Auf einem Aquarell sind Friedrich Wilhelm II. und Bischoffwerder an der Blauen Grotte zu sehen.[22] In seinem Haus – in Sichtweite von Schloss und Kirche – zeigt er uns stolz das Original.
Offengelegt: Grundriss der Blauen Grotte, Fontanes Skizze von 1869, Notizbuch A15, Bl. 70r
Und nicht nur das. Auf einem kleinen Tisch liegen Bücher und Dokumente bereit, die uns interessieren könnten. Aus dem Kopf skizziert er so begeistert die historischen Linien seines Ortes, als wären wir die Ersten, die ihm zuhören dürfen. Zwischendurch springt der über Achtzigjährige auf und holt neue Archivalien, die scheinbar wahllos in Schachteln, Heftern und Hüllen verstaut sind, und breitet sie neben sich auf dem grünen Loriot-Sofa aus. »Ich bin nicht nur Chronist, sondern auch Archivar«, betont er. Es ist ein Archiv ohne Signaturen. Grittner weiß aus dem Kopf, wo welches Dokument liegt. Wenn er findet, was er sucht, fühlt er sich bestätigt und fragt mit wachen Augen in kerzengerader Haltung: »Was wollen Sie noch wissen?«
Den Standort der Grotte natürlich! Grittner greift in einen der Stapel und fischt die Kopie eines Park-Plans von 1823 heraus.[23] Bei dem Zeichner handelt es sich um keinen Geringeren als Peter Joseph Lenné, der im Auftrag des Gutsbesitzers Wilhelm Hans Rudolf Ferdinand von Bischoffwerder, dem Sohn des alten Bischoffwerder, den Marquardter Gutspark umgestalten sollte. Zwischen Schloss und Schlänitzsee, an zwei verschlungenen Wegen, ist die Grotte eingezeichnet.
Urwald statt Strauchwerk: Standort der ehemaligen Grotte in Marquardt (rechts die Erhebung mit den Büschen), im Hintergrund das Schloss, 2022
Eine Stunde später sind wir mit Grittner im Park unterwegs. Er zeigt uns die Stelle – es ist vom Schloss aus gesehen die erste Erhebung linker Hand. Nach 150 Jahren zieht sich noch immer Strauchwerk […] darüber hin – inzwischen ein kleiner Urwald, scheinbar undurchdringlich. Nicht für Grittner. Er will jedoch nicht selbst graben, sondern mit professioneller Hilfe und wissenschaftlicher Begleitung der Grotte auf den Grund gehen. Im Juni 2021 organisierte er eine erste Ortsbegehung mit Vertretern des Brandenburgischen Landesamts für Denkmalpflege und der Unteren Denkmalschutzbehörde. Weitere sollen folgen. »Bei einer Grabung würde man bestimmt noch Reste finden«, vermutet Grittner. Aber das setzt voraus, man gräbt an der richtigen Stelle. Hierbei käme ein Bodenradar (auch: Georadar) zum Einsatz, der mit elektromagnetischen Wellen eine Untersuchung des Untergrunds ermöglicht. Dafür müsste der Hügel gerodet werden. Es sieht ganz danach aus, als habe Grittner noch einen langen Weg vor sich, um die Grotte – oder was von ihr noch übrig ist – der Öffentlichkeit zu präsentieren.
So bleiben vorerst nur die wenigen Belege: Lennés Plan und die blauen Schlackensteine, die Grittner im Park gefunden hat. Um nicht ganz ohne Ergebnis aus dem Park zu scheiden, fragen wir Grittner später, ob er uns wenigstens einen Stein überlassen würde. Er überlegt kurz und gibt sich dann einen Ruck. Kurz darauf reißt er uns den kleinen Stein wieder aus den Händen. Aber nur, um uns aus seiner Sammlung einen größeren zu überreichen.
Und weil wir schon mal da seien, präsentiert er uns gleich noch eine weitere Entdeckung. Es ist der Fund seines Lebens. Diesmal geht es um die Gruft der Familie Bischoffwerder im Schlosspark. Fontane schreibt in den Wanderungen, dass sich General von Bischoffwerder weder in der Kirche noch auf dem Kirchhof beerdigen lassen wollte, sondern im Park zwischen Schloss und Grotte. In wenig Tagen galt es also ein Erbbegräbnis herzustellen. Eine runde Gruft wurde gegraben, etwa von Tiefe und Durchmesser eines Wohnzimmers, und die Maurer arbeiteten emsig, um dem großen Raum eine massive Wandung zu geben. Am 4. November 1803 erfolgte die Beisetzung und zum ersten Male schloss sich die runde Gartengruft. Nur noch zweimal wurde sie geöffnet. Grittner präzisiert: »Sie wurde laut Kirchenbuch für andere Familienmitglieder noch zwei weitere Male geöffnet.«[24] Auch die Gruft hat Fontane bei seinem Rundgang durch den Park gesehen. Sie sei wie ein großes Gartenbeet, ein mit Efeu und Verbenen überwachsenes Rondell; nur das griechische Kreuz in der Mitte, das die ursprüngliche Urne ablöste, deutet auf die Bestimmung des Platzes.
Grittner ging über fünfzig Jahre lang davon aus, die Gruft hätte sich – wie die Grotte – im Park befunden. Beweisen konnte er es nicht. Denn die im Kirchenbuch von Marquardt auch als Gartengewölbe bezeichnete Begräbnisstätte sei »heute nicht mehr auffindbar, ihr unterirdischer Zugang wurde zugeschüttet«.[25]
Erst bei erneuter Recherche kam ihm der Verdacht, dass sich die Familiengruft an einer anderen Stelle befunden haben könnte. In der Wochenzeitung Der Bär von 1893 las Grittner einen Aufsatz, in dem er einen ersten Hinweis fand. Sie lag »dicht an der Kirchhofsmauer, wohin ein Weg zwischen Lebensbäumen führte, zu einem runden Rosenbeet mit einem Immergrünkranz, und in der Mitte ein eisernes Kreuz und darunter das Gewölbe mit den Särgen […]«.[26] Dass sich die Gruft in der Nähe der Kirche befand, wurde durch eine weitere Quelle bestätigt. In einem Protokoll des Gemeindekirchenrats von 1900 wurde festgehalten, dass die ersten Planungen für den Kirchenneubau unter anderem »wegen des Bischoffwerder’schen […] Erbbegräbnis[ses]« nicht umgesetzt werden konnten.[27] Und schließlich ein dritter Hinweis: An der von Grittner vermuteten Stelle stand seit fünfzig Jahren eine Garage, in der sich in den letzten Jahren Risse im Zementfußboden gebildet hatten. Inzwischen ist die Garage bis auf die Bodenplatte abgerissen. Mittels einer seitlichen Probegrabung durch das Denkmalamt wurde kurz vor unserem Besuch, im Frühjahr 2022, festgestellt, dass sich im Erdreich ein gemauertes Gewölbe befindet – die Gruft. Zum Abschluss unseres Rundgangs führt Grittner uns zu dem Standort, fegt mit einem Besen schwungvoll über den freigelegten Zementboden, um uns die Risse zu zeigen, und formuliert seine Vision für die Gruft: Vielleicht könne das frühere Rondell mit dem namenlosen Kreuz in der Mitte bis zum »großen Jubiläum 200 Jahre Lenné-Park Marquardt« 2023 wiederhergestellt sein. Wenn das einer schafft, dann Wolfgang Grittner.
Bischoffwerder war nicht der einzige schillernde Besitzer von Schloss Marquardt. 1892 erwarb der Berliner Industrielle und Geheime Kommerzienrat Louis August Ravené (1866–1944) das Gut am Schlänitzsee. Wie Fontane stammte er aus einer hugenottischen Familie, die infolge der Aufhebung des Ediktes von Nantes 1685 Frankreich verlassen musste. Im Havelland-Band spielte Ravené keine Rolle mehr. Aber die öffentlichkeitswirksame Trennung seiner Eltern lieferte Fontane den Stoff für seinen ersten Berliner Gesellschaftsroman L’Adultera [Die Ehebrecherin], der 1882 als Buchausgabe erschienen war und noch acht Jahre nach dem Skandal für Aufsehen gesorgt hatte. Ravenés Mutter Therese hatte 1874 ihren Ehemann, den Besitzer der größten Berliner Eisenwarenhandlung, sowie die gemeinsamen drei Kinder verlassen und war mit ihrem Geliebten, dem Hausgast und Bankier Gustav Simon, nach Königsberg geflohen, wo die beiden zwei Jahre später heirateten. Der Skandal war Stadtgespräch. Selbst Bismarck soll sich empört haben: »Das Ereignis Ravené beraubt für mich Berlin einer Dekoration, solche Dinge kamen früher nur in der französischen Gesellschaft vor.«[28]
Louis August Ravené war eines der drei »verlassenen Kinder« der unglücklichen Ehe. Nach einer kaufmännischen Lehre trat er mit 21 Jahren als Mitinhaber in das Familienunternehmen Jacob Ravené & Söhne ein und erbte allein mit der Kunstsammlung seines Vaters ein enormes Vermögen. In Marquardt, wo er sich mit seiner Familie vor allem in den Sommermonaten aufhielt, nahm er eine Reihe von baulichen Veränderungen vor. Zunächst ließ er 1893/94 das Schloss aufstocken und erweitern. Im Westen wurde das Gebäude durch einen Turm ergänzt, an der Nord- und Ostseite entstanden Terrassen. In einer zweiten Phase 1912/13 wurde im Nordwesten ein Flügel mit ovalem Tanzsaal und neobarocker Fassade angebaut. Den Winkel zwischen Saal und Turm füllte eine geräumige Seeterrasse. Neben dem Saal bildete die getäfelte und mit Schnitzwerk verzierte Diele den repräsentativen Mittelpunkt des Hauses.[29] Das von Ravené umgestaltete Schloss ist im Wesentlichen bis heute erhalten geblieben.
Mit der Hochzeit von Ravenés Tochter 1913 wurde der große Tanzsaal mit Seeterrasse eingeweiht. Marquardt erstrahlte in neuem Glanz. Doch die goldenen Jahre waren bald wieder vorbei. Zwar überstand Ravenés Unternehmen den Ersten Weltkrieg und die Inflation, aber der Gutsbetrieb geriet schon vor der Weltwirtschaftskrise in Schwierigkeiten. Ravené entschied sich Ende der 1920er Jahre, Schloss und Gut zu verkaufen. Weil sich für die stolze Summe von 2,5 Millionen Reichsmark kein Käufer fand, verpachtete er das Gut.[30] Im Sommer 1931 war dann endgültig Schluss: Der Gutsbetrieb wurde eingestellt und das Inventar verkauft. Im Dorf wurde die Entscheidung nicht gutgeheißen. »Geheimrat Ravené, der sich so gerne als Pionier von Marquardt bezeichnete«, vermerkte die Schulchronik spitz, »lässt Gemeinde und Arbeiterschaft im Elend sitzen«. Mit dem Tod von Ravenés Frau Martha Anfang 1932, so wird in der Chronik gemutmaßt, »ist vielleicht das letzte Band der Familie Ravené mit der Gemeinde Marquardt zerrissen«.[31]
Aber Ravenés Rückzug zog keinen Verfall des Schlosses nach sich. Weil sich noch immer kein Käufer gefunden hatte, erlebte Schloss Marquardt einen ungewöhnlichen Nutzungswandel. Ravené verpachtete Schloss und Park ab 1932 für zehn Jahre an das Hotelunternehmen Kempinski. Innerhalb kürzester Zeit war Hotel Schloss Marquardt für die Berliner Hautevolee betriebsbereit und warb mit dem Slogan: »Berlins schönstes Ausflugsziel bei jeder Witterung«. Erneut brachen in Marquardt goldene Zeiten an.
Was Kempinski in Marquardt alles auffuhr, hat Ortschronist Wolfgang Grittner in einem liebevoll gestalteten Buch zusammengetragen.[32] Ein Highlight ist die dreiseitige Menükarte von 1932. Die kulinarische Palette kann sich auch heute noch schmecken lassen: von Vorspeisen wie Gänseleber-Pastete oder Russischem Kaviar über Tagesplatten mit Rinderbrust oder Rehkeule bis zu Kompott wie Kalifornische Pfirsiche oder eisgekühlte Melone. Der letzte Schrei scheinen Krebse gewesen zu sein. Die Gliederfüßer rangierten an erster Stelle der Speisekarte und wurden in sechs Variationen angeboten. Gespeist wurde in Ravenés Festsaal, der mit einem in Schlesien gewebten Teppich ausgelegt war. In weiteren holzgetäfelten Gasträumen und auf den zum Teil überdachten Terrassen fanden Hunderte Gäste gleichzeitig Platz. Circa dreißig Köche und Konditoren waren mit der Zubereitung der Speisen beschäftigt.[33] »Der Service war vom feinsten«, berichtete später einer der fünfzig bis achtzig im Hotel beschäftigten Kellner. »Es wurde viel am Tisch gearbeitet und nicht nur Crêpes Suzette, Obstsalate und Bowlen wurden unter den Augen der Gäste zubereitet, sondern auch schwierige Sachen, wie Hummer-Cocktails und vieles andere.«[34] Die Übernachtungskapazität war überschaubar: 14 Doppel- und zehn Einzelzimmer standen den Gästen zur Verfügung. Nicht alle Zimmer waren mit fließendem Wasser ausgestattet. Technischer Fortschritt herrschte dagegen im Küchenbereich. Im Schloss Marquardt werde »elektrisch gekocht, gebraten und gegrillt«, heißt es in einem Prospekt. »Die Küchenhilfsmaschinen, auch die Geschirr-, Wasch- und Spülmaschinen werden elektrisch angetrieben […] Große Mengen kochenden Wassers liefert augenblicklich ein elektrischer Kochend-Wasserspeicher.«[35]
Gänseleber und Rehkeule: Hotel Schloss Marquardt (Südterrasse), Postkarte, um 1935
Den Gästen wurde auch außerhalb des Schlosses einiges geboten. Ein Badestrand am Schlänitzsee, für den mit Lastkähnen Ostseesand angefahren worden war. Eine neuerrichtete »Badeanstalt, Tennisplätze, Garagen und Stallungen, ja auch eine Kegelbahn vervollständigen den Lebenskomfort dieses Havelparadieses«.[36] Das Hotel war der größte Arbeitgeber im Ort: 135 Menschen fanden im Service und bei der Park- und Gartenpflege eine Anstellung.[37] Überliefert ist auch, wer im Schloss Marquardt zu Gast war. Im Gästebuch mit über 120 Autographen finden sich Schauspieler wie Theo Lingen und Hans Albers, Vertreter des Adels wie der Kaiserenkel Eitel Friedrich Prinz von Preußen oder Sportfunktionäre wie der IOC-Präsident Graf Henri de Baillet-Latour, die sich im Schlosshotel zur Vorbereitung der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin trafen.[38]
Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, schienen die Tage des Hotelwesens auf Schloss Marquardt gezählt. »Im Frühjahr 1933 brach für den Betrieb Kempinski eine schlimme Zeit an«, hielt die Schulchronik fest. »Heißsporne der Partei marschierten vors Schloss und verlangten die Schließung des jüdischen Unternehmens.«[39] Nachdem der Landrat des Kreises Osthavelland angekündigt hatte, die Gewerbe-Erlaubnis prüfen zu wollen, wandte sich Ende März 1933 der Marquardter Gemeindevorsteher mit der Bitte an den Landrat, von einer Rücknahme der Gewerbegenehmigung abzusehen, um die Einnahmen für vierzig ortsansässige Familien sowie die Gewerbesteuer für die Gemeinde zu sichern. Die Gewerbe-Erlaubnis wurde zwar nicht widerrufen, aber der Hotelbetrieb 1937 – wie alle Kempinski-Betriebe – von der Aschinger AG unter Beibehaltung des Namens »Kempinski« übernommen. Die »Arisierung« zeigte sich auch im Firmenlogo: Der Stern wurde durch eine Traube ersetzt.[40] Nach Ablauf des zehnjährigen Pachtvertrags verkaufte Ravené Schloss Marquardt für 1,28 Millionen Reichsmark endgültig an die Aschinger AG.[41]
Inzwischen gingen im Schloss Marquardt ranghohe Nationalsozialisten ein und aus. Mit einem Bootskonvoi machte im Juli 1938 auch Propagandaminister Joseph Goebbels Station am Schlänitzsee. Sein Gast war der italienische Filmproduzent Vittorio Mussolini, dem er zuvor, wie aus dem Gästebucheintrag hervorgeht, die Ufa-Stadt Babelsberg gezeigt hatte. Mit an Bord befanden sich die Schauspielerinnen Zarah Leander und Anneliese Uhlig. Zumindest Uhligs Teilnahme war unfreiwillig, nicht nur aus politischen Gründen. »Doch der Produzent kommt ins Atelier und bestimmt, dass ich trotzdem zu diesem Bootsfest hingefahren würde. Auf Wunsch des Herrn Ministers persönlich! Woher kennt mich Goebbels denn? Dass er der ›Bulle von Babelsberg‹ genannt wird, habe ich längst gehört, auch dass er sich nicht ausschließlich mit seiner bekannten Favoritin [der tschechischen Sängerin und Schauspielerin Lida Baarova] beschäftigt. Nun, das geht mich nichts an. Bei einem solchen Staatsempfang wird er sich ja nicht gerade eine Neue aussuchen.«[42]
Ein Jahr später begann der Zweite Weltkrieg. Der Niedergang von Schloss Marquardt vollzog sich schrittweise. Die Wehrmacht beschlagnahmte es 1939, um ein Reservelazarett einzurichten. Der Restaurantbetrieb wurde zwar eingeschränkt fortgeführt, aber die Hotelzimmer beherbergten schon verwundete Soldaten. »So langsam spürten wir aber auch schon das nahende Unheil«, erinnerte sich Kellner Fritz Kohl. »Immer öfter passierte es, dass Leute in Ledermänteln von der Tanzfläche weg Menschen verhafteten. Viele mussten ihre Autos stehen lassen; sie wurden requiriert. Und mein geliebter Direktor Mai trug plötzlich eine gelbe Armbinde, auf der ›Deutsche Wehrmacht‹ stand.«[43] Eines der letzten Fotos aus dieser Zeit zeigt Wehrmachtsoldaten und Frauen auf einer Schlosspark-Terrasse, die um einen Akkordeonspieler tanzen.[44]
Schloss Marquardt ist ein bizarrer Bau. An einem Frühjahrsmorgen laufen wir um den verwinkelten Gebäudekomplex herum und bestaunen ein Sammelsurium verschiedener Stilepochen. Nichts passt zusammen. Allein auf der Südseite erheben sich über einer rechtwinklig angelegten und schmucklos verglasten Veranda sowohl ein rundes Türmchen mit kupfergrüner Haube als auch ein kunstvoll geschnitztes Erkerfenster aus dunklem Holz. Obwohl die Sonne scheint und die noch kahlen Bäume keine Schatten werfen, wirkt das Schloss blass. Der graue, an vielen Stellen bröckelnde Putz der Fassade und die verblichenen Biberschwänze auf dem Dach strahlen eher einen morbiden Charme aus. Die alte Pracht lässt sich nur noch erahnen. Mit Fontanes Beschreibung können wir unsere Beobachtungen nicht abgleichen. Der Wanderer hat bei seinem Besuch vor 150 Jahren noch den Vorgängerbau von Bischoffwerder gesehen und sich auch sonst nur sparsam über die Ansicht geäußert. Das Schloss mache einen viel älteren Eindruck, zum Teil wohl, weil ganze Wandflächen mit Efeu überwachsen sind. Man sollte ernsthaft überlegen, es mit Efeu noch einmal zu versuchen.
Nichts passt zusammen: Südseite von Schloss Marquardt, 2022
Gebeugt über Fontanes Notizen und seinen Wanderungen-Text, vermitteln wir offenbar den Eindruck, wir seien ortskundige Experten. Vor dem Haupteingang auf der nördlichen Seite spricht uns ein älteres Paar an. »Kennen Sie sich hier aus?« Während der eine schnell »Leider nein« antwortet, fragt die andere freundlich zurück: »Was wollen Sie denn wissen?« Die Frau atmet erleichtert auf und erklärt: »Wir wollten sehen, wo genau Lady Di nachts ins Schloss eingestiegen ist.« »Du meinst Kristen Stewart«, korrigiert sie der Mann und beschreibt uns die Filmszene aus dem Hollywood-Streifen Spencer, in dem Schloss Marquardt als Kulisse für Dianas verlassenen Kindheitsort »Park House« dient.
»Das war genau hier!« Wir zeigen auf den Haupteingang, der in der betreffenden Filmszene von künstlichem Nebel eingehüllt ist. Der Blickfang ist die auf Säulen getragene, mit kunstvollem Ravené-Gitter umzäunte Galerie, die den Eingangsbereich überdacht. Andächtig schauen die beiden auf die Schlosstür, als würde gleich Lady Di erscheinen. Der Mann holt sein Smartphone hervor und will Portal und Treppe fotografieren. »Halt!«, ruft die Frau und setzt ihren Rucksack ab. »Mit mir davor!« Als wir uns langsam entfernen wollen, fragt der Mann: »Wissen Sie, ob man das Schloss besichtigen kann?« Unsere Antwort finden die beiden nicht spaßig: »Nur wenn Sie heiraten wollen.« Aber was sollen wir auch sagen? Dass es für uns gleich eine exklusive Führung gibt und sie leider draußen bleiben müssen? Wir kommen nicht dazu, es zu erklären, weil sich ein Mann nähert. Es ist Schlossmanager Mario Steder. Er begrüßt uns und deutet auf den Treppenturm rechter Hand. »Dort geht’s rein.« Das Paar verfolgt die Szene. Plötzlich strahlt die Frau und ruft: »Na dann, herzlichen Glückwunsch!«
Repräsentativer Mittelpunkt aus der Ravené-Zeit: Empfangshalle in Schloss Marquardt, 2020
Der Schlossmanager scheint nicht recht ins Bild zu passen. Steder trägt einen Backenbart und sein Haar über dem an beiden Seiten kahl rasierten Kopf zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mit seiner dunkelblauen Latzhose wirkt er wie der Hausmeister. Das täuscht. Steder ist der Mann für alle Fälle; er restauriert das Schloss, organisiert die Hochzeiten und koordiniert die Dreharbeiten. Passt irgendwie auch nicht zusammen. Nun übernimmt er für uns noch die Rolle des Schlossführers.[45]
Die innere Einrichtung bietet nichts Besonderes, schreibt Fontane in den Wanderungen, hier und dort begegnet man noch einem zurückgebliebenen Stück aus der »historischen Zeit«: Möbel aus den Tagen des ersten Empire. Gemeint ist die Zeit des ersten Napoleonischen Kaiserreichs (1804–1814/15). Aus dieser Epoche ist nichts mehr im Schloss zu sehen. Stattdessen Räume und Stücke aus anderen Zeiten. Zu ihnen gehört die bereits restaurierte Empfangshalle im Erdgeschoss. Die mit dunklem Holz getäfelte Diele aus den Ravené-Jahren bildet noch immer den repräsentativen Mittelpunkt des Hauses. Eine rechtwinklig angelegte Treppe führt auf die Galerie, die der Halle einen sakralen Charakter verleiht. Das Galerie- und Treppengeländer ist mit kunstvollen Schnitzereien gestaltet. Auch der offene Kamin ist mit Figuren und Ornamenten reich verziert. Dass er noch genutzt wird, belegen verkohlte Holzstücke auf dem Rost. Der Raum bietet für »Veranstaltungen im historischen Ambiente« etwa sechzig Personen Platz. Aber möchte man hier feiern? Eine Fotografin wirbt auf ihrer Website mit Bildern, auf denen vor dem Kamin Blumen- und Gräsergestecke drapiert sind, für eine »mystische Hochzeit«.
Alle Einnahmen aus der Vermietung an Hochzeits- und Filmgesellschaften fließen in die Sanierung des Schlosses, das der Penelope Immobilien Verwaltungs GmbH gehört. Sie bezahlt auch Schlossmanager Mario Steder, der zunächst nur für Tischlerarbeiten engagiert wurde. Obwohl Steder der Auffassung war, hier sei »eine Vollsanierung nötig«, nahm er den Job an. Mit der Tür am Haupteingang fing er an und arbeitet sich seitdem Stück für Stück voran. Und verleiht den verschiedenen Stilrichtungen des Schlosses noch eine ganz persönliche Note. Im Grünen Salon malt er gerade Pfauen an die Wand. Sieht gekonnt aus, entspricht aber keiner historischen Vorlage. Das Ende der Restaurierung werde er »nicht erleben«, meint er. Steders Motivation ist eine andere. Er sagt sich: »Du rettest das Schloss für die nächste Generation.«
So ist auch in weite Ferne gerückt, was der Münchener Investor beim Kauf des Schlossareals im Jahr 1998 ankündigte: die Wiedereröffnung eines Hotels. Dabei wollten schon die Marquardter nach 1989 an die glanzvollen Zeiten des Schlosses anknüpfen. Träumten von einem luxuriösen Ausflugsziel, das den Bewohnern wieder Arbeitsplätze und der Gemeinde Steuern beschert hätte. Eine Rückkehr von Kempinski oder einer anderen noblen Hotelkette schien nicht ausgeschlossen. Steder zeigt uns den historischen Küchentrakt, der vom Flur mit einer riesigen Wand aus matten Glasfenstern getrennt ist. Hier ahnt man, welche Summen eine komplette Restaurierung verschlingen würde. Knapp hundert Jahre ist das Schloss nicht grundlegend saniert worden.
Nach der Besetzung durch die Rote Armee Ende April 1945 und der Enteignung der Aschinger AG Anfang 1949 wurden Schloss und Gutshof von der Provinzialverwaltung Brandenburg übernommen und für unterschiedliche Zwecke genutzt. Bereits unmittelbar nach Kriegsende waren ins Schloss Flüchtlinge, ab 1946 für kurze Zeit eine Schule für gehörlose Kinder und von 1947 bis 1949 die Gartenbauschule Oranienburg eingezogen. Nach Gründung der DDR gaben sich verschiedene Obstbau-Institute die Schlossklinke in die Hand; es entstanden Arbeits- und Laborräume und eine Fachbibliothek.[46] Zum Verständnis einer Provinzposse aus dem Jahr 2001 ist es wichtig zu erwähnen, dass die LPG Obstproduktion Marquardt der letzte Rechtsträger von Schloss und Gutshof in der DDR war.
Existiert ein zurückgebliebenes Stück aus vier Jahrzehnten der DDR? Steder überlegt kurz und führt uns in den oval angelegten Festsaal. Zwei repräsentative Fensterfronten lassen am Tage jede Menge Licht in den Raum fluten. Wie zu Kempinskis Zeiten hängt ein golden verzierter Kronleuchter von der Saaldecke. Was dazu gar nicht passt, ist die Wandbeleuchtung. Die zweiarmigen Einheitslampen mit weißen Glasschirmen aus den 1970er Jahren zierten nicht nur DDR-Kulturhäuser, sondern auch – wenn man sie zu kaufen bekam – Privatwohnungen.
Der Raum wird heute vorrangig für Hochzeiten genutzt; im Saal und auf der Seeterrasse können bis zu 110 Gäste feiern. In den 1930er Jahren diente er als Hauptrestaurant für das Hotel Schloss Marquardt. Kurz nach der Wiedervereinigung sah es so aus, als würde der Hotelbetrieb wiederbelebt werden. Die Hotelgruppe Esplanade erwarb 1991 das Schlossareal und kündigte an, mit einer 200-Millionen-Investition ein Fünf-Sterne-Hotel zu errichten.[47] Schon nach zwei Jahren platzte der Traum vom neuen Luxus am Schlänitzsee. Aufgrund zu hoher Auflagen des Umwelt- und Denkmalamtes gab das Unternehmen den Standort Marquardt auf.[48] Die Einwohner seien, berichtete die Märkische Allgemeine 1993, »schockiert und empört, wie offenbar ungerührt kalte Denkmalpflege an den brennenden Problemen der Marquardter vorbeigeht«.[49] An Marquardt vorbei zog auch die Bundesregierung, die Mitte der 1990er Jahre prüfen ließ, ob das Schloss als Gästehaus infrage käme. Bekanntlich entschied man sich für ein anderes Fontane-Schloss: Meseberg.[50]
Erneut musste Schloss Marqardt von der Treuhand zum Verkauf ausgeschrieben werden. Den Zuschlag erhielt 1998 die Münchener Penelope Immobilien Verwaltungs GmbH. Der Investor kündigte an, das Schloss zu einem »Hotel, Residenz- und Geschäftscenter« umzugestalten, am See würden eine Yachtanlage und ein Anlegesteg für Ausflugsdampfer entstehen.[51] Der Marquardter Gemeinderat stimmte dem Konzept in der Hoffnung auf neue Arbeitsplätze zu. Dann meldete sich plötzlich ein weiterer Besitzer. Die Schloss Marquardt Entwicklungsgesellschaft behauptete, sie habe das Anwesen vom LPG-Nachfolger gekauft. Da die LPG Obstproduktion Marquardt der letzte Rechtsträger war, hätte die Treuhand das Schloss gar nicht verkaufen dürfen.[52] Marquardt hatte nun zwei Schlossherren. Die Bewohner des Ortes waren nicht amüsiert. Erst recht nicht, als sie hörten, dass der zweite Eigentümer Verbindungen zum Verein Lichtring unterhielt. Hans-Joachim Czada, der stellvertretende Bürgermeister, informierte sich beim Sektenbeauftragten der Evangelischen Kirche, der Lichtring als »gefährliche Sekte« einstufte. Doch der Anwalt der Entwicklungsgesellschaft bestritt jeden Zusammenhang mit dem Verein. Vielmehr wolle die Stiftung Schlossring einen »Wirtschaftsbetrieb mit Veranstaltungen, Kursen und Konzerten« entwickeln.[53]
Am 6. Mai 2001 eskalierte der Streit. Mitglieder des Lichtring-Vereins besetzten das Schloss, schalteten die Alarmanlage aus und wechselten die Schlösser. Ortschronist Wolfgang Grittner wusste das Ereignis umgehend in den historischen Kontext einzuordnen. Es sei die dritte Besetzung in der langen Geschichte des Schlosses: 1806 hätten bayerische und napoleonische Truppen das Haus besetzt, 1945 seien es russische Einheiten gewesen und nun die Mitglieder von Lichtring.[54] Man kann von Glück sagen, dass der dritten Besetzung kein Krieg vorausging und sie nur zwei Tage dauerte. Auch die »Befreiung« verlief gewaltlos. Das erledigte nicht etwa die Polizei, sondern die Marquardter selbst kümmerten sich darum. Die Bürger hatten sich längst auf die Seite des rechtmäßigen Eigentümers (Penelope) geschlagen. Am 8. Mai machten sich etwa hundert Marquardter – immerhin zehn Prozent der Einwohner – auf zum Schloss.[55] Anschließend berichtete der Vize-Bürgermeister stolz der Presse: »Im Handumdrehen hatten wir das Schloss besetzt und die illegalen Eindringlinge vertrieben.«[56] Fünf Jahre später war die Zahl der Befreier schon angewachsen. »Hunderte Marquardter« hätten das Schloss befreit.[57] Wenn der 8. Mai nicht schon mit einem anderen historisch relevanten Datum belegt wäre, könnte er in Marquardt zum Feiertag ausgerufen werden.
Die Ironie der Geschichte ist jedoch bitter. Die Befreiungsaktion brachte den Marquardtern keine neuen Arbeitsplätze. Das Schloss ist noch immer kein Hotel, sondern nach wie vor ein Sanierungsfall. Weil sich niemand mehr darüber aufzuregen scheint, ist das Haus wieder in einen Dornröschenschlaf gesunken. Und gerät nur in die Schlagzeilen, wenn es als Kulisse für Dreharbeiten gebucht wird. Von Steven Spielbergs Spionagefilm Bridge of Spies über die französische Neuverfilmung von Die Schöne und das Biest, den Kinderfilm Hanni und Nanni und den ZDF-Mehrteiler Unsere Mütter, Unsere Väter bis hin zu Hermine Huntgeburths Verfilmung von Effi Briest. Darüber hinaus wurden hier Werbespots für VW und den neuen Duplo-Riegel sowie Musikvideos für Rammstein, Peter Maffay und Andrea Berg gedreht. Jedes Mal passt der Schlossmanager auf, dass nichts kaputtgeht – oder verweigert unerfüllbare Wünsche. So wollte Sarah Connor für ein Musikvideo den Grünen Salon rosa streichen lassen. Das konnte Mario Steder natürlich nicht zulassen. Seine gemalten Pfauen sind schließlich für die Ewigkeit bestimmt.[58]
Weil diese Verse in den Wanderungen das Uetz-Kapitel einleiten, werden sie oft Fontane zugeschrieben. Das Gedicht stammt aber nicht von ihm. Und dass er anders über Uetz urteilte, wird einfach ignoriert. Außerdem interessierte sich Fontane weniger für das Dorf als vielmehr für die am Ortsrand gelegene Fährstelle. Für die Uetzer ist das zweitrangig. Ihr Ort besitzt ein Privileg, das anderen verwehrt blieb: Das kleine Dorf schaffte es, in die Wanderungen aufgenommen zu werden. Es ist zwar das kürzeste Kapitel im Havelland-Band, aber es war schon in der Erstauflage von 1873 enthalten und überlebte alle Überarbeitungen. Die Aufnahme hat Uetz einem Königspaar und einem Dichterkollegen zu verdanken. Und der Fähre.
Wählte man im 19. Jahrhundert für die Fahrt von Potsdam nach Paretz den kürzesten Weg, musste man die Wublitz in Uetz überqueren. Im Sommer 1869 nahm auch Fontane mindestens zweimal die Uetzer Fähre, um nach Paretz zu gelangen. In seinem Notizbuch skizzierte er einen Lageplan, auf dem das Fährhaus, die Fähre und ein Detail, das wir zunächst nicht entschlüsseln konnten, zu sehen sind. Mit dem mürrischen Fährmann kam Fontane zwar ins Gespräch, aber das Fährhaus,