For Whom the Belle Tolls - Jaysea Lynn - E-Book

For Whom the Belle Tolls E-Book

Jaysea Lynn

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Beschreibung

Sie sollte in der Hölle schmoren – doch sie fand die Hölle alles andere als quälend!

Die Hölle ist ein Ort voller unglücklicher Seelen, die nur eines im Sinn haben: sich über ihr Dasein lautstark zu beschweren. Zum Glück ist die kürzlich verstorbene Lily zur Stelle: Obwohl sie wenig begeistert von ihrem Tod ist, fasziniert sie die Hölle – der Kaffee ist gut und die Dämonen sind nett, wären nur nicht die vielen unzufriedenen Seelen. Durch jahrelange Erfahrung im Kundendienst gestählt, bietet Lily ihre Hilfe an und errichtet den Hel(l)p-Desk. Und mit der ihr eigenen Geduld knackt sie sogar den introvertierten Dämon Bel, der leider zu heiß ist, um nur ihr Kumpel zu sein …

Der Auftakt der »Hell’s Belles« -Reihe von TikTok-Sensation Jaysea Lynn: mit dem Leben – und dem Tod! – versöhnend und dabei höllisch witzig!
Enthaltene Tropes: Found Family, Friends to Lovers, From two different worlds, Workplace Romance, Cozy Romance
Spice-Level: 3 von 5

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1134

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Die Hölle ist ein Ort voller unglücklicher Seelen, die nur eines im Sinn haben: sich über ihr Dasein lautstark zu beschweren. Zum Glück ist die kürzlich verstorbene Lily zur Stelle: Obwohl sie wenig begeistert von ihrem Tod ist, fasziniert sie die Hölle – der Kaffee ist gut und die Dämonen sind nett, wären nur nicht die vielen unzufriedenen Seelen. Durch jahrelange Erfahrung im Kundendienst gestählt, bietet Lily ihre Hilfe an und errichtet den Hellp-Desk. Und mit der ihr eigenen Geduld knackt sie sogar den introvertierten Dämon Bel, der leider zu heiß ist, um nur ihr Kumpel zu sein …

Die Autorin

Jaysea Lynn ist im Nordwesten der USA aufgewachsen. Nach ihrem Collegeabschluss kaufte sie ein Segelboot, auf dem sie acht Jahre lang lebte. Während dieser Zeit wurde sie mit ihren urkomischen TikTok-Videos »Hell’s Belles« erfolgreich und gewann das Selbstbewusstsein, ihren Traum vom Schreiben zu verfolgen. Sie kann oft beim Lesen, auf Spaziergängen, auf zufälligen Abenteuern oder dabei angetroffen werden, wie sie (mit gemischtem Erfolg) versucht, die perfekte Tasse Kaffee zu kochen.

JAYSEA LYNN

FORWHOMTHE BELLETOLLS

Roman

Deutsch von Michaela Link

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel»For Whom the Belle Tolls«

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

In diesem Buch werden Neopronomen verwendet. Da es zum Zeitpunkt des ersten Erscheinens für die deutsche Sprache noch keine einheitliche Regelung gibt, haben wir uns als Verlag für das Neopronomen dey entschieden.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2024 by Jaysea Lynn Williams

Previously published in 2024 by Jaysea Lynn Williams

All Rights Reserved.

Published by arrangement with the original publisher, Saga Press,an Imprint of Simon & Schuster, LLC

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Penhaligonin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung und -motiv, sowie Gestaltung Vor- und Nachsatz:© Marie Graßhoff unter Verwendung von Bildmaterial von Adobe Stock / Victor, Checha, dhtgstockphoto, irham, ONYXprj, designer_an, nupixel, othersidevision, Otomedream, Christos Georghiou, Sonya illustration, zine, itz, Emma, PNG Lab

Einband: © Story Wrappers

Karten im Innenteil: © Jamie Noble Frier at The Noble Artist

AR · Herstellung: fe

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-34007-0V002

www.penhaligon-verlag.de

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet sich am Ende des Bandes eine Triggerwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.

Jaysea Lynn und der Penhaligon Verlag

Für alle, die sich je wie ein Notbehelf gefühlt haben.

Und für die Nerds.

1

Die Diagnose

Lily

Lily wusste, dass der Krebs sie töten würde, als ihr Auto nicht anspringen wollte.

Die Zündung des zerbeulten, aber für gewöhnlich zuverlässigen alten Corolla hatte den Motor einige Male zum Stottern gebracht, dann war es auch damit vorbei gewesen. Benommen saß sie auf dem Fahrersitz, während ihr das Blut in den Ohren rauschte.

Ihr Herz hatte den ganzen Tag schon gehämmert. Von dem Moment an, als sie aufgewacht war, in besorgtem Schweigen ihren Kaffee getrunken hatte, in die Arztpraxis gefahren war und auf dem Stuhl mit seinem kratzigen blauen Stoff gesessen hatte. Es hatte gehämmert, bis der Arzt sie aufgerufen hatte, Mitgefühl in den Augen und ein Klemmbrett in den Händen. Der antiseptische Praxisgeruch war plötzlich zu stechend gewesen, die kühle Luft zu schneidend, der raue Stoff des Stuhls wie Schmirgelpapier auf ihrer Haut. Der allzu besänftigende Ton und die ruhigen Worte des Arztes hatten irgendwie laut widergehallt, als er ihr alles klar und deutlich dargelegt hatte.

Ihr Herz hatte angefangen zu rasen und Blut und Adrenalin durch ihren Leib gepumpt, um sie für einen Kampf zu rüsten, der nicht mehr kommen würde. Einen, den sie schon jetzt verloren hatte.

Lily saß hilflos und allein da, umklammerte das Lenkrad und starrte auf ihre Hände; das Sleeve-Tattoo, das sich an ihrem linken Arm hinaufzog, verschwamm vor ihren brennenden Augen. Sie hatte sich unzählige Male anhören müssen, dass, wenn man sich tätowieren ließ, man ebenso gut einen Stoßstangenaufkleber auf einen Bentley klatschen könnte, und jedes Mal hatte sie gelacht und gescherzt, dass sie bestenfalls ein Corolla sei. Was für eine selbst erfüllende Prophezeiung das gewesen war! Sie versuchte, die aufsteigenden Tränen wegzublinzeln, und stieß dabei unwillkürlich einen gruseligen, keuchenden Laut aus. Rasch schlug sie sich eine Hand vor den Mund, obwohl niemand in der Nähe war, der sie hörte.

Sie stand unter Schock. Das wusste sie. War sie in Panik? Wahrscheinlich. Warum nicht gleich auch noch hysterisch?

Ein Lachen schäumte in ihr auf, und die Hand vor dem Mund konnte es nicht bremsen. Da gab sie endlich auf und nahm die Hand weg. Sie lachte und lachte, schreckliches, verzweifeltes Gelächter, das ihrer Diagnose galt, ihrem Auto, das nicht anspringen wollte, ihrem ganzen lächerlichen Leben. Ihre Kehle schnürte sich zu, und sie umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad, bis ihre Knöchel weiß wurden und ihr Lachen sich verdächtig nach Schluchzen anhörte und auch so anfühlte.

»Scheiße«, stieß sie mit erstickter Stimme hervor. Ihr freudloser Humor löste sich binnen einer Sekunde auf und wurde ersetzt durch das vertraute Brennen von Zorn. Es machte sie rasend.

»Scheiße, SCHEISSE!« Sie schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad, und der Schmerz von der Wucht des Aufpralls schoss bis in die Arme hinauf. »SCHEISSE!« Sie schrie so laut, dass eine Frau, die vier Parklücken weiter in einen SUV steigen wollte, erschrak und die Wagenschlüssel fallen ließ.

Lily sackte in sich zusammen und presste die Stirn auf das Lenkrad. Ihr langes kastanienbraunes Haar fiel nach vorn und schirmte sie vor der Welt ab, während sie die Hände über ihrem Hinterkopf faltete und die Lunge mit tiefen, bebenden Atemzügen füllte. Ihr Herz pochte so heftig, dass sie es hören konnte, gerade so, als versuche es, sie zu beruhigen und ihr zu sagen, dass sie und ihr Herz noch lebten.

Der Arzt hatte ihr natürlich Behandlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Optionen, um die Sache in die Länge zu ziehen. Es ihr zu erleichtern. Aber Optionen waren etwas für Leute mit Geld.

Leute, deren Autos ansprangen.

Sie richtete sich wieder auf, holte tief Atem und konzentrierte sich auf den süßen Rausch der Luft in ihrer Lunge, leicht parfümiert mit Amber und Sandelholz dank ihres Lufterfrischers. Sie hatte es im Arztzimmer von dem Moment an begriffen, in dem ihr eröffnet worden war, dass sie nicht bloß einen bösartigen Tumor habe, sondern dass es inzwischen nahezu überall in ihrem Körper Metastasen gebe. Sie war jede Option durchgegangen, jede Variable, wieder und wieder, nur für den Fall des Falles, und war jedes Mal zum selben Schluss gelangt.

Sie würde sterben.

Das Wissen lastete auf ihrer Seele wie ein Stein. Sie wäre gern so richtig in Panik geraten, hätte am liebsten vollkommen die Fassung verloren und wollte sich endlich gestatten zusammenzubrechen. Sich gestatten zu weinen, zu schreien, zu betteln und zu toben. In so kleine Splitter zu zerbersten, dass sie sich verlieren könnte. Aber verdammt, dafür war sie einfach nicht gemacht. Sie war nicht dazu geschaffen zu zerbrechen, ganz gleich, wie sehr sie es sich wünschte, und sie verfluchte stumm und halbherzig diesen verdammten Zug von ihr, der es ihr verwehren würde – einfach stur verwehren –, derart verletzbar zu sein, selbst wenn sie allein war.

Lily presste sich die Finger so fest auf die Augen, dass sie Sterne sah. Ohne Behandlung würde sie in weniger als einem Jahr tot sein. Mit aggressiver Chemo konnte sie sich ein wenig mehr Zeit erkaufen … elende, schmerzhafte Zeit. Und Schulden.

Warum lief alles immer auf das verdammte Geld hinaus? Sie verdiente nicht schlecht, und sie bekam jedes Jahr eine Woche bezahlten Urlaub – natürlich, ohne bezahlte freie Zeit von Jahr zu Jahr ansammeln zu dürfen. Aber Sozialleistungen? Zu teuer für eine Firma, die lieber ihren Reingewinn aufpolsterte. Sie hatte in jedem freien Moment bei der Arbeit Stellenanzeigen durchgescrollt, und verdammt, praktisch keine einzige davon bot Sozialleistungen. Die wenigen Jobangebote, bei denen sie mit erwähnt wurden, klangen schrecklich nach Ausbeutung bis aufs Blut, aber sie hatte sich zumindest bei ein paar Firmen beworben, die nicht ganz so übel schienen.

Sie war immer umsichtig mit ihrem Geld umgegangen und hatte versucht, auf der feinen Grenze zwischen finanzieller Verantwortlichkeit und dem Wunsch zu wandeln, das Leben zu genießen, aber ihre Ersparnisse würden nicht einmal für die erste Runde Chemo reichen. Sie konnte sich ein paar Tage in einem einfachen Krankenhaus mit überarbeitetem Personal leisten, aber das würde den Krebs nicht daran hindern, sie umzubringen.

Nichts würde das tun.

Ihr Handy in der Mittelkonsole summte, und sie nahm die Hände von den Augen, hielt sie aber geschlossen. Ihr Herz schmerzte so heftig, dass ihr der Atem stockte. Ohne hinzuschauen, wusste sie, von wem die Nachricht kam, und Entsetzen um ihrer Familie willen schnürte ihr erneut die Kehle zu. Der Krebs würde sie töten, aber ihr Sterben würde vielleicht auch ihre Eltern umbringen. O verdammt, ihre Brüder …

Eine heiße Träne rollte ihr über die Wange.

Ihre Hand zitterte, als sie nach dem Handy griff, und es dauerte doppelt so lange wie sonst, es zu entsperren und die WhatsApp-Nachricht ihrer Mom zu öffnen.

Mutterschiff: Na?

Lily geriet ins Schlingern. »Verdammt.« Sie schluckte und warf den Kopf in den Nacken. Ihr Rucksack stand auf dem Beifahrersitz, gepackt für ein Wochenende im Haus ihrer Eltern. Sie hatte gehofft, dass es bei dem Besuch etwas zu feiern geben würde. Abscheu vor sich selbst und Angst erhoben sich wie eine Flutwelle und drohten, sie zu ertränken. In einem Aufwallen von hilflosem, trotzigem Zorn griff Lily nach dem Schlüssel und drehte ihn ebenso unbarmherzig wie energisch in der Zündung. Mit einem angestrengten Jaulen sprang der Motor an und schnurrte leise. Sie fragte sich flüchtig, ob es ein hoffnungsvolles Omen sei, bevor sie die Idee verwarf und einfach dankbar für die kleine Gnade war.

»Okay«, sagte sie leise. Dann noch einmal, mit mehr Überzeugung: »Okay.«

Sie richtete sich auf, wischte sich über die Augen, füllte die Lunge mit einem tiefen, beruhigenden Atemzug und dann mit dem nächsten. Anschließend betrachtete sie sich selbst im Rückspiegel und hasste die Wahrheit, die sie in ihren haselnussfarbenen Augen sah. Ihr blieben einige Stunden Fahrt, um nachzudenken, und sie würde jede einzelne davon brauchen.

Ihre Antwort an ihre Mom war kurz, aber es war alles, was sie zuwege brachte.

Lily: Ich erzähle dir alles, wenn ich da bin. Bis dann. Hab dich lieb.

2

Hinübergehen

Lily

Am Ende war Sterben ätzend und eine Erleichterung zugleich.

Während die Symptome fortschritten, hatte sie ihren Freunden und Verwandten zu erklären versucht, dass der körperliche Schmerz zwar allgegenwärtig und wirklich schwer zu ertragen sei, dass aber das Wissen, dieser Schmerz würde irgendwann enden, einen gewissen Trost bot. Nur wenige von ihnen waren in der Lage, das zu begreifen.

Für die meisten, wie für ihre Eltern und Brüder, war die Situation zu peinigend, um sich ihre Betrachtungsweise zu eigen machen zu können, und sie hatten ihr nahegelegt, sie solle nicht so negativ denken. Sie hätte am liebsten geschrien.

Sie verlor alles. Schwand Stück für Stück dahin, hatte chronische Schmerzen bis in die Knochen, Schmerzen, die regulär erworbene Medikamente nicht einmal im Ansatz lindern konnten. Sie saß da mit dem Wissen, dass all ihre Träume, ihre Ziele und ihre Hoffnungen längst dahin waren, bevor ihr Körper sterben würde. Auch wenn das Ende ein tröstlicher Gedanke war, bedeutete das nicht, dass sie ihre Eltern und Brüder weniger liebte, dass sie es nicht hasste zu wissen, welchen Schmerz ihr Tod ihnen bereiten würde.

Begriffen sie das nicht? Wussten sie nicht, dass sie geblieben wäre, wenn sie hätte bleiben können?

Die absolute Ungerechtigkeit des Ganzen machte es schwer, sich eine Entgegnung zu verbeißen, aber sie versuchte es. Sie hatte die Gespräche hinter sich gebracht, die unmittelbar auf ihre Diagnose gefolgt waren – einige der schmerzhaftesten ihres Lebens –, da konnte sie auch das schaffen. Sie wusste, dass es ihr eigener Schmerz war, ihre eigene Angst, die dazu führten, dass sie im Stillen jede traurige oder übertrieben positive Bemerkung in Rage brachte, jeder lange Blick, den die Menschen in ihrem Umkreis ihr zuwarfen. Alles, was sie zu tun brauchte, war zu sterben, und der Tod würde das Ende des Schmerzes mit sich bringen – doch ihre Hinterbliebenen würden mit der Erinnerung daran leben müssen. Mit der Erinnerung an sie. Also schluckte sie die Verbitterung und den Zorn hinunter – größtenteils – und bemühte sich, ihnen so viele gute Tage und Erinnerungen zu geben, was sie betraf, wie sie nur konnte.

Sie hatte Briefe für sie geschrieben, vor allem für ihre Brüder, hatte stundenlang mit ihrer Mom zusammengesessen und geredet, hatte mit ihrem Dad einen Fernsehmarathon veranstaltet und sich alle alten Godzilla-Filme mit ihm angesehen. Sie hatte ihre Wohnung ausgeräumt und niemandem erzählt, wie sie durch die Räume gegangen war und sich benommen gefragt hatte, was sie verkaufen sollte, wem sie gewisse Dinge vermachen wollte und was sie am Ende brauchen würde oder haben wollte, bis sie bei den Erinnerungen und Hoffnungen, die mit den verschiedenen Gegenständen verbunden waren, gelacht und geschluchzt hatte. Sie hatte versucht, niemanden zu belasten, soweit sie die Wahl hatte, und war sich schmerzhaft bewusst gewesen, dass sie wieder bei ihren Eltern einziehen musste, um sich auf die unausweichliche und schnell nahende Abwärtsspirale zum Ende hin vorzubereiten.

Sie versuchte, um ihretwillen fröhlich zu sein.

Ihre positive Einstellung hatte jedoch Grenzen, und diese Grenzen machten sich jedes Mal abrupt bemerkbar, wenn jemand aus der Schar ihrer frommen Verwandten oder der wohlmeinenden Kirchgemeindefreunde ihrer Eltern ihr die Vorstellung aufzudrängen versuchten, dass Glaube heilsam sei – oder sie dazu bewegen wollten, vor ihrem Tod wieder in die Kirche einzutreten. In einem besonders draufgängerischen Schritt war ihre ehemalige College-Mitbewohnerin Kaitlyn aus den Tiefen der sozialen Medien aufgetaucht und hatte die Gelegenheit genutzt, die heilenden Kräfte ihrer ätherischen Öle anzupreisen. Sie hatte Lily überglücklich angeboten, ein Fläschchen zu kaufen oder gleich ein ganzes Dutzend, und hatte erklärt, das Öl würde am besten wirken, wenn man es mit einem Gebet kombinierte. Bei der Gelegenheit war Lilys Temperament definitiv mit ihr durchgegangen, und sie hatte den Rest der Woche damit verbracht, zu allen um sie herum so freundlich wie möglich zu sein, um diesen Ausrutscher wieder wettzumachen.

Es schlich sich jedoch an, bis sie nicht mehr stark genug war, es noch länger zu verbergen. Der Schmerz. Die Erschöpfung. Die Tatsache, dass das Atmen immer schwerer wurde. Ihre völlige Appetitlosigkeit und die regelmäßigen Anfälle von Übelkeit schwächten ihren Körper und ließen ihn klapperdürr werden, und jede Bewegung sog das Wenige an Kraft, das sie noch hatte, aus ihr heraus. Sie wollte nicht gehen, aber sie wollte auch nicht länger in dem Gefängnis ihres versagenden Körpers verharren.

Etwas Tiefes, Urtümliches in ihr spürte eines Abends, dass es so weit war. Ihr Herz schlug zum Trotz gegenüber dem Unvermeidlichen etwas kräftiger, jedoch weiterhin stetig. An diesem Abend umarmte sie ihre Eltern ein wenig fester.

Als der Tod sie holen kam, war er bittersüß.

Aber nichts tat mehr weh.

3

Die Himmelspforte

Lily

Ein Weilchen, eine Ewigkeit starrte Lily in die wirbelnde Fläche aus allem und nichts und spürte … nichts.

Seltsam.

Die Gefühle sollten auf sie einstürzen. Schließlich war das früher immer das Problem gewesen. Sie erinnerte sich, dass es ihr schwergefallen war auszudrücken, was sie empfand. Aber unter einem Mangel an Gefühlen hatte sie nie gelitten.

In keinem ihrer Leben.

Oh, sie erinnerte sich vage an diese Leben.

Ein Kind, zusammengekauert in bitterer Kälte, bis diese ihm nicht mehr so bitter und schneidend vorkam – aber es war nun so müde. Eine junge Frau, an deren Rock Flammen emporzüngelten, deren Haut schmolz, während beißende Luft ihr die Lunge versengte. Ein junges Mädchen in Lumpen, hungrig, hungrig, hungrig. Das neueste Gesicht, ihr Gesicht, älter, als sie je gewesen war, aber krank und dünn und bleich.

Was für ein verdammter Mist! Sie hatte es nicht wenigstens ein einziges Mal geschafft, alt zu werden? Inakzeptabel.

Da. Kein Gefühl, aber etwas. Genug, um sie auf eine Tür zugehen zu lassen, die immer und nie dort gewesen war. Die Tür schwang lautlos auf und offenbarte … Lily wusste es nicht, aber sie trat trotzdem ein.

Sie blinzelte. Blinzelte und – o Scheiße, danke – fühlte. Gefühle und Wahrnehmungen überfluteten sie wie ein kühlender Regen, erdeten sie und erinnerten sie daran, dass sie immer noch existierte. Die Apathie des Zwischenzustands war nicht schlimm gewesen, aber auch nicht gut. Dieser Zustand war genau wie sie selbst nichts gewesen.

Lily drückte sich eine Hand auf die Brust und suchte nach dem beruhigenden Puls von Leben, aber er war nirgends zu finden. Stattdessen eine hohle, eisige Stille, ihr Herz blieb regungslos unter ihrer Berührung. Trauer, machtvoll und jäh, raubte ihr die Luft aus der Lunge.

Sie war sich ihres Herzschlags vor ihrer Diagnose nicht bewusster oder weniger bewusst gewesen als irgendjemand sonst, aber seit sie erfahren hatte, dass die ihr verbleibenden Herzschläge schneller aufgebraucht sein würden als gedacht, hatte sie jeden einzelnen ausgekostet. Die Stille unter ihrer Hand war eine weitere Erinnerung an den Kampf, den sie verloren hatte, an ihre Niederlage.

Lily ließ die Hand sinken und kniff die Augen fest zusammen. Einatmen. Anhalten. Ausatmen.

Als sie sich wieder etwas mehr wie sie selbst fühlte, öffnete sie die Augen und betrachtete ihre auf seltsame Weise vertraute Umgebung. Das Ganze erinnerte an eine Kathedrale, allerdings von Ausmaßen, wie menschliche Hände niemals in der Lage wären, sie zu erschaffen. Die Decke ragte so hoch über ihr auf, dass ihre Form und Details hoffnungslos verschwammen. Das fließende goldene Licht, das nebelhaft herabdrang, war hübsch anzusehen und ließ die Ränder der zarten Nebelschwaden erglühen, die hoch über ihr wie Wolken umherwaberten.

Geräusche tröpfelten in ihr Bewusstsein, und sie riss den Blick gerade rechtzeitig von der Decke los, um einen Mann in einem Anzug neben ihr auftauchen zu sehen. Er trat durch eine Tür, die schnell verschwand, blickte sich kurz um, hob die Hand, um seine lose Krawatte zurechtzuzupfen, und schritt mit anmutiger Leichtigkeit davon. Lily sah ihm nach, dann schaute sie sich in dem Raum um. Erlesene Inseln von Sitzmöbeln erstreckten sich bis in die Ferne, Sessel, Bänke, Kissen, Gebetsmatten, Stuhlreihen, einige davon besetzt von Leuten – Seelen, begriff sie –, die aus irgendwelchen Gründen warteten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes konnte sie eine Reihe von Empfangstischen ausmachen, und ihr Instinkt sagte ihr, dass es tatsächlich welche waren.

Lily trat einen Schritt vor und dann noch einen und staunte darüber, wie leicht es ihr wieder fiel, sich zu bewegen. Einmal abgesehen von dem fehlenden Herzschlag fühlte sie sich wie mit Ende zwanzig, als sie auf ihrem sportlichen Höhepunkt gewesen war und Bewegung ihr Spaß gemacht hatte. Verdammt, es war so lange her, seit sie Spaß gehabt hatte.

Einige der sitzenden Seelen, an denen sie vorbeikam, verströmten eine knisternde, zornige Energie. Andere waren so heiter, dass Friede von ihnen abstrahlte wie Licht. Wieder andere waren kribbelig oder benommen oder traurig oder sahen sich neugierig um. Lily blieb nicht stehen, um mit irgendeiner von ihnen zu reden, sondern ging einfach weiter auf diese seltsam wichtigen Empfangstische zu, die tatsächlich gar nicht so weit entfernt waren.

Sie bildeten eine durchgehende Reihe, die von der Wand rechts von ihr bis hin zu mehreren Säulen verlief, welche linker Hand den Eingang zu einer riesigen Halle umrahmten. Umsummt von Stimmen und umwuselt wie ein Bienenstock, standen die Tische dicht an dicht wie in einer Schalterhalle und waren aus glänzendem dunklem Holz gefertigt; zwischen ihnen waren dicke Trennwände aufgestellt, um die Seelen voneinander abzuschirmen. Personen aller Altersklassen, Nationalitäten und – wenn ihre Gewandung ein Hinweis war – zeitlichen Epochen saßen hinter den Empfangstischen und redeten mit den gleichermaßen diversen Seelen, die vor ihnen in luxuriösen, bequem aussehenden Ohrensesseln ausharrten.

Ein rotgesichtiger Mann schlug mit seiner fleischigen Faust auf den Tisch, hinter dem eine Frau in einem viktorianischen Kleid mit einer Teetasse in der Hand saß. Sie zog unbeeindruckt eine Braue hoch und wiederholte ihre Worte in energischem, sachlichem Ton.

Ein Junge, kaum älter als ein Kleinkind, drückte einen Teddybären fest an sich und betrachtete mit großen Augen, aber ohne Angst die androgyne Person, die seine Hand hielt und sanft mit ihm sprach, während sie zusammen auf einen aus Licht bestehenden Aufzug zugingen.

»Es dauert einen Moment, sich daran zu gewöhnen, ich weiß«, erklang eine sanfte, fröhliche Stimme.

Lily wandte den Blick von dem Aufzug ab und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie inzwischen selbst vor einem der Empfangstische stand.

Eine orientalisch anmutende Frau, das Haar unter einem zartrosa Hidschab verborgen, sah lächelnd zu ihr auf und deutete auf den Ohrensessel. »Sie dürfen sich gern setzen, wenn Sie wollen, und so lange innehalten, wie Sie brauchen, um weiterzugehen.«

Lily ließ sich in den Sessel sinken und registrierte vage, dass er einen wunderbaren Ort zum Lesen abgeben würde. »Ich erinnere mich daran, ein wenig.«

Die Frau lächelte. »Es ist nicht so schlimm, wenn man es schon kennt, nicht wahr?«

Lily erwiderte ihr Lächeln. »Überhaupt nicht schlimm. Ich bin Lily.«

»Ich weiß.« Die Frau lachte leise und hielt eine Akte hoch. »Ich bin Siedah.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Siedah.« Der Sessel war wirklich bequem.

»Ich werde Ihnen helfen, Sie durch Ihre Optionen für das Jenseits zu geleiten, wenn Sie so weit sind. Und ich beantworte Ihnen gern alle Fragen, auf die Sie vielleicht eine sofortige Antwort brauchen, damit es ihnen leichter fällt, sich hier einzufügen. Aber wir können auch erst einmal eine Weile einfach so dasitzen.«

Oh, und ob sie Fragen hatte! Während sie darüber nachgrübelte, welche davon sie stellen sollte, stieg eine vage Erinnerung an ihre früheren Tode in ihr auf.

»Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, war das alles hier ziemlich lückenlos organisiert und selbsterklärend. Allerdings«, Lily runzelte die Stirn, verärgert darüber, dass ihre Erinnerungen so nebelhaft waren, »kann ich mich nicht mehr so richtig an die Einzelheiten und den genauen Ablauf entsinnen.«

»Das ist ganz normal«, versicherte Siedah ihr herzlich. »Sie werden merken, dass Eindrücke und Gefühle aus vergangenen Leben viel vorherrschender sind als die sachlichen Details … Es sei denn natürlich, Sie schauen in Ihre Seelenakte. Ihr jüngstes Leben wird für Sie deutlich in Erinnerung bleiben, bis Sie beschließen, wiedergeboren zu werden.«

Lily nickte und senkte den Blick auf die Akte in Siedahs Hand.

Ihre Seelenakte. Eine greifbare, uneingeschränkte Manifestation von allem, was sie je gewesen war.

Nicht gerade eine leichte Lektüre.

»Könnten Sie mir den Prozess bitte noch einmal ins Gedächtnis rufen? Ich bin eher der Typ, der lieber mehr weiß als weniger.«

Siedah lächelte, bevor sie antwortete: »Ihre Möglichkeiten sind so mannigfaltig wie die Glaubensrichtungen der Menschheit. Es gibt einige, man könnte sagen, Leitreligionen – wie das Christentum mit all seinen unterschiedlichen Ausrichtungen und Konfessionen. Zwar liegt kein spezielles Urteilssystem und Jenseits für jede Religion vor, aber eine allgemeine Prozedur, basierend auf dem Kern der Sache, auf essenziellen Wertvorstellungen, umrissen vom Universum und, je nach Glaubensrichtung, Gott. Das verhindert, dass irgendwelche Kulte aufgrund ihrer womöglich verdorbenen Werte und Praktiken als Maß dienen könnten.«

Lily legte den Kopf in den Nacken und nahm in sich auf, was Siedah gerade gesagt hatte. »Also funktioniert das Universum im Falle des, sagen wir, Hinduismus mit den jeweiligen Hindugottheiten, um über die Regeln und den Verlauf der Urteilsfindung zu entscheiden?«

Siedahs Miene hellte sich auf. »Ja, ganz genau.« Sie legte den Kopf leicht schräg. »Auch wenn jede Religion ihre eigenen Regeln hierfür hat, gibt es doch einige universelle Konstanten, wie zum Beispiel die Wertschätzung von Freundlichkeit und die Verdammnis von extremer Grausamkeit. Es existiert daher ein Universelles Urteil, das auf keinerlei spezifischen Glaubensbekenntnissen fußt, das aber letztlich zu den gleichen grundlegenden Ergebnissen führt. Das Reich des Paradieses ist nicht mit irgendeinem speziellen Glauben verbunden, und Seelen, die dort wohnen, haben jede ihr eigenes einzigartiges Paradies.« Siedah hielt inne und lächelte sanft. »Es ist leichter, es zu sehen, als es sich erklären zu lassen, doch ergibt das bisher einen Sinn für Sie?«

»Ja. Also, alle Gottheiten und Religionen in der Geschichte …« Lily brach ab und sah Siedah erwartungsvoll an.

Sie strahlte. »… auf die Sie sich besinnen können, sind hier vertreten, solange sie nicht auf Grausamkeit fußen.«

Der verspannte Griff, mit dem Lily die Armlehnen umklammerte, lockerte sich ein wenig. Die Bestätigung, dass das griechische Pantheon tatsächlich existierte und polynesische Gottheiten ebenfalls, war verdammt cool. Sie hatte sich oft gefragt, ob vielleicht alle Religionen ein klein wenig richtig- und ein klein wenig danebenlagen. »Okay, was passiert also nach dieser Urteilsfindung?«

»Danach gehen diejenigen Seelen, über die ein positives Urteil gefällt wurde, in den Teil des Paradieses ihrer Vorliebe. Nehmen wir das Beispiel des Islam, wären das die verschiedenen Dschanna-Stufen. Für die Christenheit wäre es der Himmel und so weiter. Das heißt, wenn die Seele nicht etwas anderes bevorzugt. Den Seelen steht es frei, sich im Jenseits und seinen vielen Reichen zu bewegen, wie es ihnen gefällt, natürlich innerhalb der Grenzen von Respekt und Höflichkeit. Betrachten Sie es als ein Wohnviertel. Sie haben Ihr eigenes Zuhause, Ihr perfektes Traumhaus, und Sie können jederzeit hinaustreten und einen Freund oder eine andere Wohngegend besuchen. Wenn Sie eine Gegend finden, in der Sie lieber leben möchten, können Sie dorthin ziehen. Solange ein positives Urteil über Sie gefällt wird, gibt es nur sehr wenige Orte, an die Sie nicht gehen können.«

»Wie zum Beispiel?«, hakte Lily nach.

»Nun …«

Ein lautes Krachen unterbrach sie. Zwei Schalter weiter war ein Sessel umgekippt, als eine Frau abrupt aufgesprungen war. Sichtlich erregt presste sie sich beide Hände vors Gesicht. Lily zog die Brauen hoch und wappnete sich gegen einen möglichen Wutanfall.

»Ich kann nicht über irgendetwas entscheiden, ehe ich erfahren habe, was aus meinem Hund wird! Ich habe keinen automatischen Futterspender für ihn, und ich habe allein gelebt, und jetzt ist er ganz auf sich allein gestellt, und ich kann nicht … Ich … Bitte.«

»Oh, das ist ein ziemlich vernünftiger Grund, sich Sorgen zu machen.«

Die Angestellte sagte etwas, das die Frau so weit zu beruhigen schien, dass sie den Sessel hinstellte und wieder Platz nahm.

Siedah räusperte sich. »Geht es Ihnen gut?«

Lily nickte und hoffte, dass der Hund der Frau zurechtkommen würde. »Ja, alles bestens. Also, wohin dürfen Seelen nicht gehen?«

»In die Leere, die eine letzte Option für alle ist, ganz gleich, wie das Urteil über sie gelautet hat.« Ein Hauch von Traurigkeit lag jetzt in Siedahs Stimme. »Die Leere ist der Ort, an den Seelen gehen, um ihre Existenz zu beenden, soweit sie dazu in der Lage sind. Häufig sind jene, die sich für die Leere entscheiden, Seelen, die bereits Hunderte von Leben gelebt haben, oder solche, die viele harte Leben hinter sich haben und auf eine Weise müde sind, wie nur Seelen es sein können. Manchmal sind es Seelen, die ein vollkommen normales Leben geführt haben und sich dafür entscheiden, dorthin zu gehen, weil die Leere für sie Frieden bedeutet. Einige Atheisten entscheiden sich dafür, in die Leere zu gehen, weil es das ist, woran sie geglaubt haben. Wenn ein günstiges Urteil über Sie gefällt wird, können Sie vorübergehend dorthin gehen; einige Seelen finden Trost darin, für kurze Zeit nicht zu sein. Die Leere ist der einzige Ort im Jenseits, an dem Sie niemanden besuchen können. Kontakte zwischen den anderen Universen sind außerordentlich selten, aber auch sie sind tabu, es sei denn, Sie sind Botschafter für eines der Universen.«

Lily beschloss, später nach der Sache mit den »anderen Universen« zu fragen und sich stattdessen auf die vorhandenen Informationen zu konzentrieren. »Also, es ist wirklich alles Entscheidungssache?«

»O ja, das Universum hält ziemlich viel von Entscheidungsfreiheit. Also, Sie können in diesem Moment zwar nicht entscheiden, in eines der Paradiesgebiete zu gehen. Sie können jedoch entscheiden, auf welche Weise Sie beurteilt werden wollen, und wenn Sie dann ins Paradies kommen, können Sie sich für eins der Gebiete entscheiden. Die meisten Seelen bleiben innerhalb ihres Glaubenssystems, aber einige finden Gefallen daran, genau diesen Glauben ein wenig zu erschüttern.«

Lily musterte sie. Das Bild, das Siedah ihr vor Augen geführt hatte, war faszinierend, aber ihre Erklärung hatte erhebliche Lücken, was Lily einen kalten Schauder über den Rücken jagte.

Sie wappnete sich, bevor sie ihre nächste Frage stellte: »Und wenn ich nicht ins Paradies komme?«

Siedahs Lächeln wurde traurig. »Seelen, über die ein ungünstiges Urteil gesprochen wird, haben nur eine begrenzte Auswahlmöglichkeit. Man gewährt ihnen eine Handvoll Optionen sogenannter Strafreiche, unter denen sie wählen dürfen. Wenn sie sich weigern zu wählen, um Konsequenzen zu meiden, werden sie in die Hölle geschickt. Diese ist, wie das Paradies, älter als alle Religionen und Mythen und dient schon lange als glaubensneutrales Reich der Gerechtigkeit.«

Sie legte Lilys Seelenakte auf die Tischplatte und faltete die Hände darüber. »Also, im Prinzip gibt es eine Wahlmöglichkeit, aber es ist unmöglich, den Konsequenzen seines irdischen Daseins zu entgehen. Die volle Wahlfreiheit ist für Seelen reserviert, die diese Macht nicht missbrauchen werden.«

»Gut«, sagte Lily.

Siedah zog die Brauen hoch. In ihren hübschen dunklen Augen stand ein nachdenklicher Ausdruck.

Lily zuckte die Achseln, und einst quälende Erinnerungen schmerzten nur leicht, während sie an ihr vorüberzogen. »Zu viele Menschen missbrauchen die Macht der Wahl. Zu viele Menschen nehmen anderen die Macht der Wahl. Ich mag Gerechtigkeit. Vor allem, wenn man ihr nicht widersprechen kann.«

Siedah musterte sie eine Weile. Lily hielt ihrem Blick stand und konnte nicht ergründen, was die andere Frau sah oder was sie bereits wusste.

Jetzt blickte Siedah auf die Akte auf dem Tisch. »Ich habe sie nicht gelesen, müssen Sie wissen. Ich bekomme nur die erste Seite, die grundlegende Informationen über Sie und außergewöhnliche Anmerkungen enthält. Ich kenne Ihre Geschichte nicht und werde nicht so tun, als würde ich sie kennen.« Siedah schob die Akte behutsam über den Tisch. Die metallisch schimmernden Buchstaben von Lilys Namen funkelten in einem Kaleidoskop von Farben auf dem glatten taubengrauen Papier. Siedah deutete mit dem Kopf auf die Akte. »Ihre Geschichte gehört Ihnen, und Sie dürfen sie behalten. Sie dürfen sie anderen mitteilen.«

»Danke«, sagte Lily.

»Von denen ich gern eine wäre«, fügte Siedah leise hinzu.

Lily betrachtete sie stirnrunzelnd.

»Ich würde mich freuen, Sie kennenzulernen, meine ich.« Die andere Frau neigte leicht den Kopf, und ihr Hidschab raschelte, als er über ihre Bluse strich. »Ich glaube, ich möchte Ihre Geschichte hören. Das hier ist die Ewigkeit, und Sie können nie zu viele Freunde haben.«

Lily bedachte sie mit einem schiefen Grinsen. »Ich könnte ein schrecklicher Mensch sein. Zum Beispiel eine vom Universum zertifizierte schreckliche Person, je nachdem, wie meine Beurteilung läuft. Jedenfalls kann ich Ihnen schon mal sagen, dass ich ziemlich großmäulig sein kann.«

Siedah legte erheitert den Kopf schräg. »Großmäuligkeit macht Sie nicht automatisch zu einem schlechten Menschen. Wenn das so wäre, hätte ich erheblich weniger Kollegen.«

Ein Asiate beugte sich um die Trennwand hinter dem Schalter und grinste koboldhaft. »Wie langweilig wäre das denn? Du würdest uns vermissen.«

»Das stimmt«, pflichtete Siedah ihm bei und scheuchte ihn mit beiden Händen zurück auf seine Seite der Trennwand. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Lily. »Schrecklich bedeutet manchmal nicht die ganze Zeit schrecklich. Ich bin zwar nicht das Universum und auch keine Gottheit, aber selbst ich kann erkennen, dass Sie kein übler Mensch sind.«

Lilys Lächeln wurde aufrichtig, und sie zog ihre Akte näher heran. Das taubengraue Papier fühlte sich warm unter ihren Fingerspitzen an. »Ich weiß das in mich gesetzte Vertrauen zu schätzen.«

»Wir alle brauchen manchmal einen Vertrauensbeweis«, sagte Siedah. »Ich habe jedenfalls einen gebraucht, als ich hier angekommen bin.«

Lily stieß einen Laut der Zustimmung aus und zeichnete mit ihrer linken Hand die Buchstaben ihres Namens nach, eine Hand, die …

Ihr wurde eiskalt. Sie erstarrte und schnappte nach Luft, als sie den Ärmel ihrer Bluse hochschob. Eine neue Welle des Entsetzens überkam sie mit jedem weiteren Zentimeter entblößter Haut.

Nein.

Ihr Tattoo war verschwunden. Sich tätowieren zu lassen, war eins der ersten Dinge in ihrem Leben gewesen, die sie ganz für sich allein beschlossen hatte, und es hatte ihr auf eine Weise Heilung geschenkt, die sie nicht erwartet hätte. Die Motive waren eine Feier ihrer Leidenschaften gewesen, ihrer Interessen, eine Feier ihres Wesens. Sie hatte sie allesamt in Schwarz- und Grautönen stechen lassen und Jahre darauf verwendet, die Tattoos auf ihrem Arm zu einem Sleeve zusammenzuführen.

Ein zartes Filigran, gewoben vom Handgelenk bis zur Schulter, um die einzelnen Motive miteinander zu verbinden. Der Bücherstapel, der von ihren Lieblingsblumen zusammengehalten wurde, auf ihrem Unterarm. Die Illustration eines Drachen und eines Berges aus dem Hobbit, eine runde Tür mit einem kleinen Rucksack daneben. Eine Zeile aus einem ihrer Lieblingssongs in der Nähe ihrer Ellbogenbeuge. Der Abendstern aus dem Herrn der Ringe auf ihrem inneren Bizeps. Ein Zitat aus einem ihrer Lieblingsbücher darüber. Die Schlange, die sich in feinen Bogen um Seerosen schlängelte und sich über die Außenseite ihres Oberarms wand.

Sie brauchte nicht hinzusehen, um sich davon zu überzeugen, dass ihrem Bauch, ihrem Rücken, ihren Hüften und ihrem Oberschenkel all die Tattoos fehlten, die sie so sehr geliebt hatte.

Sie alle – weg.

Eine schlanke braune Hand legte sich auf ihre und riss sie aus ihrer außer Kontrolle geratenen Trauer.

Siedahs Blick war verständnisvoll, aber entschlossen. »Tattoos?«

Lily nickte nur, da sie ihrer Stimme nicht traute.

»Sie können sie zurückbekommen, sobald das Urteil gefällt ist. Dieselben oder andere, Sie können sie nach Belieben verändern. Als Seele ist Ihr Erscheinungsbild nicht so starr, wie es das zu Ihren Lebzeiten war. Aber erst nach dem Fällen des Urteils.«

»Nun, das erleichtert mich.« Lily bemühte sich, ihre Anspannung zu lösen und ein Lächeln aufblitzen zu lassen. »Und es ist ein höllisch guter Anreiz.«

»Ich hatte einmal einen Mann hier, der heftig tätowiert war, und er war eine Stunde lang untröstlich, bis es mir gelungen ist, ihm die Situation zu erklären. Ich habe noch nie jemanden so schnell den Sessel verlassen sehen. Irgendwann später habe ich ihn in der Universellen Halle getroffen, überschwänglich glücklich und wieder bedeckt mit seiner Kunst.« Siedahs Mund verzog sich zu einem Grinsen. »Mein persönlicher Anreiz war, immer und zu jeder Zeit Gewürzkuchen essen zu können.«

Lilys Lächeln war jetzt echt. Wenn das Urteil zu ihren Gunsten ausfiel, was erwartete sie? Wie würde Kaffee im Jenseits schmecken? Oh, die Bücher. Es musste so viele neue Bücher geben!

Sie griff nach ihrer Akte, und ihr Realitätssinn schob sich vor diesen hoffnungsvollen Gedankengang. Sie kannte sich selbst, wusste, wer sie gewesen war, wer sie geworden war. Das Gute, das Schlechte. Alles. Siedah schien darauf zu vertrauen, dass das Urteil über sie günstig ausfallen würde, aber Lily war sich da nicht so sicher.

Sie sog tief Luft ein, die sie nicht länger brauchte, aber die Gewohnheit fühlte sich definitiv gut an.

Scheiß drauf.

»In diesem Fall werde ich zum Universellen Urteil gehen.«

Wieder strahlte Siedah. »Hervorragend! Hätten Sie gern etwas Gesellschaft?«

4

Vor dem Urteil

Lily

Lily wartete bei den Säulen links und rechts der gewaltigen Halle auf Siedah und betrachtete einige der Seelen, die dort ebenfalls warteten. Ein älterer Mann saß still auf einer Parkbank, ein friedliches Lächeln auf dem wettergegerbten Gesicht, die Hände im Schoß gefaltet. Neben ihm lag seine Akte – dicker als Lilys –, aber er beobachtete einfach nur in aller Gemütsruhe die Seelen an der Reihe von Empfangstischen, als seien sie Tauben im Park. Er musste sie dabei erwischt haben, wie sie ihn anstarrte, denn er sah mit einem Lächeln und einem Nicken zu ihr herüber, bevor er sich weiter der Beobachtung der Seelen widmete.

»Er wartet.« Siedah stand auf einmal neben ihr.

Es überraschte Lily nicht, festzustellen, dass sie die andere Frau überragte. Mit ihren eins achtzig und der Vorliebe für High Heels brauchte sie selten zu jemandem aufzuschauen.

»Er ist noch nicht bereit, über sich urteilen zu lassen?«, fragte Lily.

»Ja und nein. Er hat seine Akte empfangen, und er hat seine Methode des Urteils ausgewählt, aber er wartet auf seine Frau.« Siedah lächelte. »Es war ihr drittes gemeinsames Leben. Ihre Geschichten sind wunderschön. Machtvoll. Manchmal herzzerreißend.«

»Drei Leben?« Lilys stumme Brust schmerzte, als habe ihr nutzloses Herz noch immer die Fähigkeit zu brechen.

»Ich weiß. Wir haben ihn alle sehr gern. Er ist so liebenswert. Möchten Sie mit ihm reden?«

Drei Lebenszeiten gemeinsam. Wie eine solche Liebe und Hingabe wohl aussah? Sich anfühlte? Niemand hatte sie je auf diese Weise gewollt, jedenfalls nicht in ihrem letzten Leben. Ihr Liebesleben war eine kurze Abfolge von Affären gewesen, unerwiderten Schwärmereien und höflich abgelehnten Angeboten von Männern, bei denen es einfach nicht klick gemacht hatte. Und davor … Sosehr sie auch überlegte, flammten die Erinnerungen aus alten Lebenszeiten nur schwach auf.

Eine arrangierte Ehe mit einem Mann, den sie nicht geliebt hatte, der aber durchaus anständig gewesen war. Seine Liebe hatte einer anderen gehört. Der Tochter des Schmieds? Aber er war nie fremdgegangen und hatte sie auch nicht geschlagen. Sie glaubte nicht, dass er um sie getrauert hatte, als man sie zu Unrecht als Hexe angeklagt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatte. Hatte er je die Frau geheiratet, die er wirklich gewollt hatte, oder hatte der Umstand, dass seine erste Ehefrau angeblich eine Hexe gewesen war, seine Chancen ruiniert?

In einem anderen Leben, so erinnerte sie sich vage, hatte sie gehungert und sich gefragt, ob sie wirklich etwas für den jungen Mann mit dem Kastanienkarren empfand oder ob sie nur die Kastanien gewollt hatte.

Die Erinnerungen aus ihrem jüngsten Leben loderten heiß und hell in ihr. Besonders stach ein trunkener Moment der Ehrlichkeit hervor, von einem Kommilitonen bei einer Party im College. Du bist was für eine schnelle Nummer, doch die Anstrengung eines Dates nicht wert, weißt du? Du bist heiß, aber kompliziert.

Als die Worte gefallen waren, hatte Lily gleich gewusst, dass sie gequirlte Kacke waren, aber für den Rest ihres Lebens hatte es in ihren schwachen Momenten eine heimtückische kleine Stimme in ihrem Kopf gegeben, die ihr zugeflüstert hatte, dass er womöglich recht gehabt haben könnte. Vielleicht war sie eine Zumutung. Zu kantig, zu sarkastisch, zu unabhängig, nahm Dinge zu ernst, hatte Gefühle, die irgendwie zu groß waren. Sie hatte so verdammt hart daran gearbeitet zu wachsen, ihre Verletzungen zu überwinden, ihre Kanten zu glätten, die Schärfe ihrer Zunge abzumildern. Es hatte jedoch nie das bewirkt, was sie sich davon erhofft hatte.

Drei Leben.

Ihre längste Beziehung – unter dem Motto »Freunde mit Sonderrechten« – war die zu einer Frau aus ihrem Rhetorikkurs gewesen und hatte einen Monat angedauert. Danach waren sie sich nie wieder begegnet.

»Nein«, stieß sie hervor, dann räusperte sie sich. »Nein, danke.«

Siedah deutete ohne einen Anflug von Mitleid oder Verurteilung auf die Halle. Lily ging neben ihr her und passte ihre Schritte an die der kleineren Frau an, als sie den gewaltigen Hauptraum hinter sich ließen. Andere Seelen waren in gleicher Richtung unterwegs zu verschiedenen Türen, Bogen und Toren, die in die Mauern eingelassen waren und sich wie pastellfarbene Wolken unter Glas verlagerten und bewegten. Manche wanderten gegen den Strom und nickten Siedah im Vorbeigehen grüßend zu.

»Kollegen?«, erkundigte sich Lily.

»Einige von ihnen. Ein paar arbeiten andernorts und erledigen hier nur etwas. Alle Seelen passieren die Empfangstische, und wenn es bei einer ein Problem mit der Bürokratie gibt, kümmern wir uns darum.«

»Vielleicht sollte es eher Seelokratie heißen«, überlegte Lily laut und beobachtete eine Seele, wie sie zu einem perlmuttartigen Bogen aufschaute, bevor sie in den goldenen Nebel darin trat.

Siedah lachte. »Ich werde es in der Pause vorschlagen. Die Kollegen werden es mögen.«

Bevor eine von ihnen noch etwas sagen konnte, ertönte ein Ping, und vor ihnen öffneten sich Aufzugtüren. Ein Wesen mit einem Stapel von Papieren im Arm trat heraus und wirkte dabei sehr gehetzt. Es überragte alle anderen in der Halle, Lily eingeschlossen, und schien weiblichen Geschlechts zu sein, mit feinen Gesichtszügen, einer Adlernase und durchtrainiertem Körper. Glatte marineblaue Haut bildete einen Kontrast zu der dunkelgrauen Bluse, dem schwarzen Wams, kunstvoll bestickter enger Hose und makellos geputzten Stiefeletten. Zwei gebogene schwarze Hörner an den Schläfen glänzten in dem wechselnden goldenen Licht, und die Stellen, an denen sie aus dem Kopf herauswuchsen, waren unter glattem blauschwarzem Haar verborgen.

»Moura«, sagte Siedah mit deutlicher Überraschung. »Ist alles in Ordnung?«

Das Wesen – Moura, wie es schien – hielt mitten im Schritt inne und stieß einen genervten Seufzer aus.

»Nein. Verdammte Seelen. Sie sind nach dem System ihrer Wahl verurteilt worden. Von diesem System in die Hölle geschickt worden. Und trotzdem haben sie die sterbliche Kühnheit, sich zu beschweren und uns die Schuld zu geben, obwohl unser einziger Job am Tor darin besteht, sie dorthin zu geleiten, wo sie hinmüssen.« Sie lachte höhnisch. »Heute Morgen hatten wir eine ganze Gruppe von solchen Leuten, die behauptet haben, es sei uns gelungen, sie zu entführen und dort hinunterzuschleppen. Sie zu schleppen! Als würden sie die Treppe nicht selbst hinuntergehen. Je mehr sie sich beklagt haben, desto länger haben sie die ganze Prozedur aufgehalten und umso mehr Arbeit hatten wir – und dann ist das hier passiert.« Moura hob den Armvoll Papiere hoch. »Seelen, die tatsächlich Leitung brauchten, haben sie nicht bekommen, und jetzt müssen wir nach ihnen suchen und herausfinden, wo sie hingehören.«

Mouras langer, spitz zulaufender Schwanz – von derselben Farbe wie ihre Haut – peitschte hin und her und erinnerte Lily an eine gereizte Katze. Sie nickte mitfühlend. Nachdem sie ihr ganzes Arbeitsleben an verschiedenen Positionen im Kundendienst verbracht hatte, konnte sie nur allzu gut die erbärmliche Frustration nachfühlen, mit Leuten fertigwerden zu müssen, die anscheinend wenig gesunden Menschenverstand und umso mehr Frechheit besaßen. Sie hatte nicht erwartet, sich einem Wesen, das sie für einen Dämon hielt, so verbunden zu fühlen, doch das Jenseits schien voller Überraschungen zu sein.

Moura rückte den Stapel Papiere auf ihrem Arm zurecht. »Das sind die Berichte für diejenigen, die ich bisher aufspüren konnte, aber ich weiß einfach, dass irgendeine arme Seele dort unten sitzt – wahrscheinlich auf Ebene neun, so wie ich unser Glück kenne – und die Papiere einer anderen Person wegwirft. Das Universum helfe der betreffenden Person, wenn sie sich tatsächlich auf Ebene neun befindet. Er hasst es, wenn …«

Der Aufzug gab abermals ein Ping von sich, und ein gleichermaßen hochgewachsener, aber eine Spur jünger wirkender Dämon stieg aus, ebenfalls einen Stapel Papiere unterm Arm. Seine kirschrote Haut und seine an einen Bullen erinnernden Hörner passten zur traditionellen Vorstellung von einem Dämon, aber mit dem kurzen weißen Haar und dem grauen T-Shirt, das er unter seinem Wams trug, sah er viel … menschlicher aus. Seine attraktiven Züge waren fast zu scharf geschnitten, doch eine schnelle Grimasse belebte sein ansonsten herrisches Gesicht.

»Noch ein paar mehr, Chefin«, sagte er entschuldigend.

Siedah brummte etwas und schaute zurück zu den Empfangstischen. »Marcus sollte gleich aus der Pause zurückkommen. Er veranstaltet nur zu gern einen Riesenwirbel um solche Probleme. Wenn ich hier fertig bin, helfe ich euch.«

Beide Dämonen richteten ihre Augen, grün bei ihr und golden bei ihm, auf Lily. Instinktiv blitzte Furcht in ihr auf, aber sie verging, als sie sich einen Moment Zeit nahm, die beiden wirklich genau anzusehen. Trotz ihrer Größe, ihrer Hörner und ihrer Reißzähne, die zwischen ihren Lippen hervorblitzten, wenn sie sprachen, waren sie so wie sie. Wie viele Male hatten sie und ihre Kollegen wegen lächerlicher Kunden und noch irrwitzigerer Anfragen und Forderungen geschimpft? Wie viele Male hatte sie bei der Aussicht auf noch mehr Bürokram auf genau die gleiche Weise das Gesicht verzogen? Kundendienst war eine Erfahrung, die zusammenschweißte. Das verstand sie.

Sie winkte den beiden zu und kam sich sofort lächerlich vor, aber das war sie in deren Augen vermutlich ohnehin. Du kannst viel erreichen, wenn du es mit Zuversicht tust.

»Wenn ich die Lösung kennen würde, mit solchen Idioten fertigzuwerden, würde ich sie Ihnen verraten. Bei so was habe ich mir immer bei Freunden Luft gemacht und mich mit Wein oder Schokolade getröstet. Das hat das Problem zwar nicht gelöst, aber danach ging es mir definitiv besser.«

Moura grinste breit. Eine vorbeigehende Seele zuckte zusammen und brachte schnell Abstand zwischen sich und die Gruppe. Lily erwiderte Mouras Grinsen.

Der rote Dämon kicherte. »Es ist schön, sich daran zu erinnern, dass nicht alle Seelen totale Flachwichser sind.«

»Na ja.« Lily hob eine Hand und drehte sie zweifelnd hin und her. »Sie haben mich an einem guten Tag erwischt.«

Die Dämonen lachten unverhohlen, und selbst Siedah stieß ein Kichern aus. Das respektlose Geplänkel und die vage Kameraderie mit anderen Kollegen aus dem Service wirkten so vertraut wie das Atmen.

Als ihr Gelächter verebbte, wurden Mouras Augen sanfter, und sie sah Lily an. »Sind Sie auf dem Weg zum Urteil?«

Mit zugeschnürter Kehle nickte Lily und bemühte sich um ein gleichmütiges Lächeln.

Moura klopfte ihr kräftig auf die Schulter. Die unerwartete Hitze und Vertrautheit ihrer Berührung ließ Lily blinzeln.

»Wenn Sie es auf die anständige Seite schaffen, kommen Sie mal bei uns vorbei und trinken ein Glas Wein mit uns. Dann tauschen wir Erfahrungen aus.« Sie nahm die Hand weg, und ihr Lächeln verschwand. »Und falls Sie doch auf der anderen Seite landen, dann tun Sie uns einen Gefallen und machen Sie keinen Wirbel.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann.« Lily lächelte, obwohl ihre Stimme in ihren eigenen Ohren seltsam klang.

Mit freundlichem Nicken und ebenso freundlichen Abschiedsworten stolzierten die beiden Dämonen davon; ihre Schwänze wedelten entspannt hin und her, während sie miteinander sprachen. Eine männliche Seele, die auf sie zukam, sprang regelrecht zur Seite und drückte sich an die Wand, um bloß nicht ihren Weg zu kreuzen.

Siedahs Lächeln war freundlich, als sie sich zu Lily umdrehte. »Danke, dass Sie so nett zu ihnen waren. Die Dämonen sind bei den Sterblichen nicht gut angesehen, und manchmal können die verständnislosen Seelen, auf die sie treffen, ziemliche …«

»… Vorurteile haben?«, beendete Lily trocken den Satz.

»Ganz recht. Dämonen sind anders, aber es sind ausgesprochen reizende Leute. Normalerweise meiden sie die Eingangshalle, um keine, ähm, Szene zu verursachen.«

Lily blickte in die Richtung, in die sie gegangen waren, und sah ihre Hörner, deren Umrisse in der Ferne verschwanden. Die Seelen teilten sich um sie herum wie ein Schwarm Fische, die einem Hai auswichen.

Wenn ich gewusst hätte, dass Dämonen so aussehen, hätte ich nicht so eine irrationale Angst davor gehabt, auch nur einen Fuß über die Bettkante baumeln zu lassen, damit sie mich nachts nicht holen kommen. Hölle, ich hätte es vielleicht sogar absichtlich getan.

Lily grübelte neugierig über den Gedanken nach. Hoffentlich war ein starker Sexualtrieb kein Nachteil, wenn es um die Vorstellung des Universums von Recht und Unrecht ging, auch wenn sie selbst eigentlich keinen Grund dafür sah.

Na schön, sie hatte einige besonders dreckige Monsterliebesromane gelesen unter dem Deckmäntelchen von … Mist! Ihre Lesegewohnheiten! Oh, verdammt, ihre Vorliebe! Sie hatte die Geistesgegenwart besessen, ihre Sammlung von Vibratoren und Spielzeugen wegzuwerfen, bevor sie richtig krank geworden war, weil sie ihre Familie nicht noch schwerer traumatisieren wollte als sowieso schon. Aber o nein, onein, ihre kleine Bibliothek von Monsterschmonzetten und perversen Liebesromanen … Verdammt, die hatte ihre Mom garantiert gefunden …

Eine sanfte Hand auf ihrem Arm riss ihre Aufmerksamkeit zurück in die Gegenwart.

»Es ist in Ordnung. Wirklich.« Siedahs Gesicht war freundlich. »Die Urteilsfindung ist nicht so schlimm, das Universum hat Sinn für Humor.«

Einen kurzen schrecklichen Moment lang fragte Lily sich, ob Siedah eine Art Gedankenleserin aus dem Jenseits war.

»Selbst wenn ich mich irre und Sie nicht in Ihr Paradies kommen, wenn Sie sich dafür entscheiden, in die Hölle zu gehen, verspreche ich Ihnen, dass die Dämonen gerecht sind. Sie können Furcht einflößend sein, aber sie sind nicht unnötig grausam. Die Hölle ist ein Ort der Gerechtigkeit und für jene, die dazu bereit sind, des Wachstums.«

Anscheinend machte sich jetzt Lilys jahrelange Übung bezahlt, ihren Gesichtsausdruck neutral zu halten, während sie in der Öffentlichkeit schändliche Schundromane las. Siedah hatte den Grund für ihre Nervosität nicht herausgefunden.

Lily senkte zustimmend den Kopf, murmelte ein Dankeschön und folgte Siedah leise, als diese weiterging.

Ein Mann stieg aus einem Aufzug, ein Handy, das Lily vom Typ her nicht einordnen konnte, am Ohr. »… natürlich bin ich interessiert daran, eine neue D&D-Kampagne zu leiten, aber wenn der Affenkönig involviert ist, will ich nichts damit zu tun haben. Loki als Schurke in dieser Kampagne letztens war für eine ganze Ewigkeit genug Erfahrung mit einem Gott der List …«

Lily wirbelte herum und ging einige Schritte zurück, um zu beobachten, wie der Mann auf die Schalter zueilte und dabei immer weiter in sein Handy redete. Es gibt hier Dungeons & Dragons? Fantasy-Rollenspiele?

Sie drehte sich wieder um und beobachtete Seelen, wie sie sich in Reih und Glied aufstellten und durch verschiedene Bogen und Türen gingen, die alle zu unterschiedlichen Arten von waberndem Nebel führten. Einige Seelen saßen mürrisch an den Wänden und ein paar mitten auf dem Boden, wie Kleinkinder, die gegen ihren Mittagsschlaf protestierten.

»Was ist mit ihr?«, fragte sie und deutete mit dem Kopf auf eine besonders verstimmt wirkende Frau.

»Sie sitzt dort, bis die Langeweile groß genug wird, dass sie das Urteil durchläuft. Nicht verurteilte Seelen dürfen natürlich jederzeit in die Leere gehen, aber davon abgesehen, können sie weder den Empfangsbereich noch die Eingangshalle verlassen, bis sie irgendein Prozess der Urteilsfindung durchlaufen haben.«

»Scheint mir eine Verschwendung der Ewigkeit zu sein«, murmelte Lily mehr zu sich selbst, als sie an der Frau vorbeigingen.

Siedah blieb vor einem in die wirbelnde Wand eingelassenen Bogen stehen. Der Stein war glatt und schmucklos, im Gegensatz zu den meisten Portalen, an denen sie vorbeigekommen waren, aber er schillerte in allen Farben des Regenbogens. Durch die Öffnung selbst war nichts anderes zu erkennen als undurchdringlicher grauer Nebel. Der Lärm und Wirrwarr in der Halle gerieten in den Hintergrund, als Lilys Aufmerksamkeit sich auf den Bogen richtete.

Was für ein einfaches Ding! Was für ein einfacher Höhepunkt von Leben und Tod und Erfahrung und Verlust! Jahrzehnte des Seins und die ganzen Leben davor, alles, um dann vor einem mit Grau gefüllten Bogen zu stehen. Die Akte in ihrer Hand erschien ihr plötzlich schwer. Sie wusste, was darin stand, was in ihr selbst war. Die Momente der Freundlichkeit und der Grausamkeit. Die Fehler, die Triumphe, das pure, dumme Glück, ihre Absichten hinter ihrem Tun.

Was ist, wenn …

Sie schnitt den Gedanken brüsk ab, bevor er eine Chance hatte, sich zu formen. Das Universum würde sich nicht darum scheren, dass sie nie so gewollt worden war, nie so geliebt worden war. Romantische Liebe hin oder her, sie machte eine Person in ihrem Kern nicht besser oder schlechter. Sie würde beurteilt werden. Ihr Leben, ihre Taten. Sie war durchaus liebenswert. Sie hatte ihre Familie und ihre Freunde von ganzem Herzen geliebt, und sie alle hatten sie geliebt, jeder auf seine eigene Weise.

Lily wusste, sie hatte Liebe gekannt, und sie hatte sich selbst gekannt.

Sie riss den Blick von dem Torbogen los und sah Siedah an. Ihr Lächeln war sanft, die Augen, die von dem zarten Rosa ihres Hidschabs gerahmt waren, leuchtend und voller Verständnis. Sie hielt Lily ihre schmale Hand hin. Lily ergriff sie, wahrscheinlich zu fest, aber Siedah erwiderte den Druck.

Lily holte tief Luft und starrte in das Grau. Es bewegte sich nicht. Verriet nichts. Es hätte ebenso gut eine feste Mauer sein können.

Aber auf der anderen Seite dieses Graus war etwas. Sie wusste es. Was es war, davon hatte sie nicht den blassesten Schimmer, aber es rief nach ihr. Lockte sie und forderte sie dazu heraus, nachzuschauen, ein Buch ohne Titel und mit einem neutralen Einband zu öffnen und zu sehen, wohin die Geschichte sie führen würde.

Sie löste sich von Siedahs Hand und trat in das Grau.

Sie sah sich selbst, wie sie als Kind durch den Garten lief. Das lange kastanienbraune Haar leuchtete rötlich in der Sonne, und sie umklammerte mit ihrer pummeligen kleinen Hand einen Strauß Gänseblümchen.

Die Küchenlampe wurde eingeschaltet, als ihre Eltern sie dabei erwischten, wie sie mit der Tüte Schokoladenkekse von der Theke kletterte.

Das Mädchen, dem sie böse war, weil es ihr die Buntstifte gestohlen hatte, nannte sie ein »Arschgesicht«, das abscheulichste Wort in ihrem Vokabular, woraufhin ihre Eltern einen Brief erhielten. Und sie eine Tracht Prügel.

Sie rollte sich neben ihrem Dad zusammen, während er ihr zur Schlafenszeit etwas vorlas und seine Stimme senkte, wenn Gandalf sprach.

Sie stahl als Teenager ihren Eltern Wein.

Der Refrain von »Going to Hell« dröhnte endlos in ihrem inneren Ohr, wann immer sie etwas tat, was ihnen der Jugendpastor streng verboten hatte, aber vor allem, wenn sie Haut unterhalb ihrer Schlüsselbeine zeigte, und besonders – ganz besonders –, als sie mit dem süßen Skater hinter dem Schuppen rummachte.

Sie sagte zum ersten Mal »Scheiße«, und es gefiel ihr, wie es sich anfühlte.

Sie brachte ihre Mom während eines Streits zum Weinen.

Sie las den Kindern, auf die sie aufpasste, laut aus einem Buch vor und ahmte die verschiedenen Stimmen übertrieben nach, um ihre kleinen Zuhörer zum Lachen zu bringen.

Sie ritzte ihre Haut mit einer Klinge, als die Schuldgefühle und der Schmerz zu groß geworden waren, um mit ihnen fertigzuwerden.

Sie war die Fluchtfahrerin für eine Freundin, die vor ihrem gewalttätigen Ehemann davonlief.

Sie trug in der Öffentlichkeit zum ersten Mal einen knappen Bikini und hatte solche Angst, auf der Stelle durch eine Falltür in die Hölle zu kullern, dass sie sich daraufhin im Badezimmer übergab.

Ihr erstes Tattoo – sie spürte eine jubilierende Erleichterung, als etwas in ihr an seinen Platz rückte.

Sengende Eifersucht, als das zickige, hyperfromme Mädchen aus ihrer Jugendgruppe noch vor ihr heiratete.

Der erste Flirt mit einer Frau auf einer Party und der Genuss dieses Flirts; dann das schweißgebadete Aufwachen in der Nacht, erfüllt von schrecklicher Angst, sich einen Platz unter den Verdammten gesichert zu haben.

Ohne ein Wort kletterte sie auf den Schoß ihrer Mom – obwohl sie siebenundzwanzig war und fast dreißig Zentimeter größer als ihre Mutter –, als das zickige, hyperfromme Mädchen ihr erstes Baby bekam und sie sich so einsam und hoffnungslos fühlte, dass sie einfach nur eine Umarmung brauchte.

Dann der Hass für den wachsenden Groll, als sie die Hochzeiten, die Babys und die Familiengründungen all ihrer Freunde feierte, ohne jemals selbst diejenige zu sein, die gefeiert wurde. Sie wusste, dass es dumm war, und trotzdem fühlte sie sich innerlich hohl.

Der wilde Jubel der Wortgefechte mit Linda, der Tante ihrer Freundin. Skandalös sein, um etwas zu beweisen und dafür zu sorgen, dass Lindas lesbische Tochter sich eine Spur weniger allein fühlte.

In der Küche mit ihrer Mutter, als sie mit ansah, wie deren Herz brach, als sie ihr ihre Diagnose offenbarte.

Stundenlange Videospiele mit ihren Brüdern, als der Krebs langsam seinen Tribut forderte, während sie sich wünschte, sie könnte die Jungen zu Männern heranwachsen sehen, könnte alt werden und sie piesacken, wie nur Geschwister das untereinander konnten, in dem Wissen, dass sie ihnen mit ihrer Krankheit das Herz herausriss.

Stunden um Stunden, ein Leben lang Arbeit an sich selbst. Der Kampf, eine Bessere zu werden, und wie er ihr manchmal misslang. Wie sie ihre scharfe Zunge nicht hütete, selbst wenn sie wusste, dass es besser wäre, still zu sein.

Der Versuch zu leben. Der Versuch zu sterben, einmal. Das Bemühen, freundlicher zu sein. Schlechter zu sein. Etwas zu bewirken. Der Versuch, nicht alles noch schlimmer zu machen. Zu lieben. Zu heilen.

All die Versuche …

5

Für jeden Dreck zu haben

Lily

Die Düfte nahm sie als Erstes wahr.

Frische Luft, Wildblumen, gemähtes Gras, gutes Essen, Holzrauch, alles getragen von einem warmen Lüftchen, das ihre Haut kitzelte und an ihrem Haar zupfte.

Das Paradies.

Sie hatte es ins Paradies geschafft.

Lily öffnete die Augen und blinzelte, um sich an das helle, fröhliche Sonnenlicht zu gewöhnen. Ein Vogel zwitscherte, als er vorbeischoss, und sein Gefährte tanzte in der Brise hinter ihm. Die beiden flogen davon über sattgrüne, baumbestandene Hügel. Sie sah Dächer von ebenerdigen Cottages, aus deren Schornsteinen sich Rauch kringelte. Einen breiten, klaren Bach, der vergnüglich in der Ferne gurgelte, und einen idyllischen kleinen Dorfanger, der baumbestanden und von Kanälen oder dergleichen durchzogen war. Eine unregelmäßig gezackte Bergkette reckte sich in den Himmel, in unterschiedlichen Schattierungen von Blau, Violett, Grau und Grün, und spiegelte sich im funkelnden Wasser eines Fjords. All das erinnerte sie an zu Hause.

Lily verlagerte ihre Aufmerksamkeit auf die unmittelbare Umgebung und senkte den Blick. Sie stand auf einem leuchtend bunten Fleckchen Gras, mitten in einem Garten voller blühender Pflanzen: verschiedene Gemüsesorten, Obstbäume, Topfpflanzen und Blumenbeete. Bienen summten, während sie von Blüte zu Blüte flogen. Ein Holzzaun mit einem reich ziselierten schmiedeeisernen Tor stand stolz zwischen ihr und einer belebten, gepflasterten Straße.

Ein vertrautes Schnurren und Zirpen, das sie seit mehr als einem Jahrzehnt nicht gehört hatte, ließ sie sich ungläubig umdrehen.

Ihr Kindheitskater Max strich an einem Erdbeerbeet entlang. Sein schwarz-weißes Fell glänzte in der Sonne, und der buschige Schwanz ragte zum Gruß in die Höhe. Er drückte seinen kleinen Kopf an ihr Schienbein, bevor sie reagieren konnte, und rieb seinen ganzen Körper an ihrer Wade, während er laut schnurrte. Mit brennenden Augen hob Lily ihn hoch, vergrub das Gesicht in seinem sonnengewärmten Fell und lachte und weinte gleichzeitig.

»Ich wusste, dass du hier sein würdest«, eröffnete sie ihm und grinste, als er sie liebevoll mit dem Kopf gegen die Wange stupste. Sie war sechs gewesen, als sie ihn als Kätzchen nach Hause mitgenommen hatten, und dreiundzwanzig, als sie ihn hatte einschläfern lassen, um seinen Schmerz zu lindern.

»Mein süßes Kerlchen«, sagte sie zu ihm und kraulte ihn unter dem Kinn, wie er es immer so gern gehabt hatte. »Du warst mein Bester.«

Stunden um Stunden hatte sie mit Hausaufgaben oder quälenden Aufsätzen mit ihm auf dem Schoß oder hinter sich auf dem Stuhl zusammengerollt verbracht, und seine Anwesenheit und Körperwärme hatten ihr das Lernen erleichtert. Sie hatte ihn jeden Tag vermisst und oft mit dem Gedanken gespielt, sich eine andere Katze zuzulegen, aber sie hatte kein Tier ihren häufigen Umzügen aussetzen wollen.

Eine Träne rollte ihr über die Wange und tropfte glänzend auf Max’ Fell, während sie einen Seufzer der Erleichterung ausstieß.

Es ist okay. Es geht mir gut.

Lily drehte sich um, auf der Suche nach dem Haus, das zu dem Garten passen würde, und musste lachen. Gestrichen in ihrer Lieblingsfarbe, einem tiefen Violett, und versehen mit eleganten schmiedeeisernen Beschlägen, lockte sie eine kreisrunde Tür, das halb in einen Hügel hineingebaute Haus zu erkunden. Ein Blauregenbusch rankte um eine Reihe großer Fenster links der Tür, und die Reflexion der fernen Berge in den Scheiben hinderte sie daran hineinzuschauen. Ihre Füße flogen über den glatten Pfad, der zur Tür führte, und sie erwartete halb, dass die ganze Szene jeden Moment verblassen würde wie eine Fata Morgana. Das sonnengewärmte Metall des Türknaufs fühlte sich jedoch solide an. Ein schwaches, angenehmes Kribbeln zog sich ihren Arm hinauf, gefolgt von einer Woge des Friedens. Als sei sie nach einer langen Reise endlich nach Hause gekommen.

Die Tür schwang lautlos auf; dahinter zeigte sich ein Vorraum mit breiten, glatt geschliffenen Dielen. Pergamentfarbene Wände zogen sich hinauf zu einer hohen Kuppeldecke. Linker Hand führte eine breite Bogentür zu etwas, das aussah wie ein Wohnzimmer, und ihr gegenüber befand sich eine Flügeltür. Davor zweigte ein Flur ab. Rechts von ihr führte eine blank polierte, aber leicht abgenutzte Holztür in eine Kammer, daneben bot eine gepolsterte Bank einen bequemen Platz, um Schuhe an- und auszuziehen. Über der Bank hing ein Bild, bei dessen Anblick ihr der Atem stockte. Beinahe hätte sie Max fallen lassen.

Es zeigte einen Moment, von dem es kein echtes Bild gegeben hatte, aber sie erinnerte sich trotzdem an jedes Detail.