Forever's Gonna Start Tonight - Clara Blais - E-Book
SONDERANGEBOT

Forever's Gonna Start Tonight E-Book

Clara Blais

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Es kommt mir vor, als könnte ich ihre Tränen hören. Als wäre ich dazu in der Lage, den Klang auszumachen, wie sie über ihr Kinn auf ihre Brust tropfen. »Du hältst so sehr an mir fest. Aber von dem Mädchen, das du mal kanntest, ist kaum etwas übriggeblieben.« Wenn die Vergangenheit so schwer auf deiner Seele lastet, dass ein Neuanfang unmöglich scheint … Nelly kennt Zack seit zwei Jahren und ist genauso lang in ihn verliebt. Ihre Gefühle hat sie ihm aber nie gestanden – bis eine Party alles ändert. Es hätte die schönste Nacht ihres Lebens sein sollen, stattdessen stürzte sie Nelly in ein Leben voller Dunkelheit und Trauer. Fünf Jahre später ist Nelly zurück in Irland. Ihre Leidenschaft für Musik hat sie – zusammen mit ihrer Vergangenheit – scheinbar erfolgreich verdrängt, bis plötzlich Zack wieder vor ihr steht. Die Konfrontation mit allem, was sie verloren hat, macht ihr schwer zu schaffen. Zu schlimm sind die Erinnerungen an jenen Tag vor fünf Jahren. Auch Zacks Situation ist alles andere als perfekt. Auf sich allein gestellt und pleite, muss er über die Runden kommen, während er seinem Traum nachjagt. Dann schlägt Nellys Erscheinen in sein Leben ein wie ein Komet. Mit ihr kehrt die Erinnerung an Liebe zurück. Vor fünf Jahren war Zack machtlos und unfähig, Nelly zu helfen, doch er ist fest entschlossen, diesmal nicht zu versagen! Doch wie kann Zack ihr zeigen, dass ein Leben voller Musik, Licht und Freude existiert, wenn Nelly sich weigert, die Dunkelheit hinter sich zu lassen?   LYX-Autorin Mounia Javawanth:"Nelly und Zack haben mich von der ersten Seite an verzaubert. Ich hatte so viel Herzklopfen und Bauchkribbeln, habe mitgelitten und mitgefiebert. Eine wunderschöne Geschichte über die Liebe, Hoffnung, Verluste und zweite Chancen." Eine tiefgründige und bewegende New Adult Geschichte über Liebe, Trauer und Vergangenheitsbewältigung von Newcomerin Clara Blais.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Forever’s gonna start tonight

CLARA BLAIS

Playlist

(What A) Wonderful World – Sam Cooke

Home – Edith Whiskers

Soul Mate – flora cash

Vienna – Billy Joel

Into Your Arms – Giant Rooks

One – U2

In the Wind – Lord Huron

Without Your Love – The Paper Kites, Julia Stone

Total Eclipse of the Heart – Sleeping At Last

It’s Ok – Tom Rosenthal

Atlantis – Seafret

Go Solo – Tom Rosenthal

When We Were Young – Adele

Better Days – Dermot Kennedy

Hugging You (Acoustic) – Tom Rosenthal, Billie Marten

Liability – Lorde

Dancing With Your Ghost – Sasha Alex Sloan

Talk – Kodaline

All I Want – Kodaline

Fairytale of New York – Vance Joy, Atlantic Holiday

The Book Of Love – Peter Gabriel

TeilEins

I really need you tonight

Forever's gonna start tonight

Forever's gonna start tonight

Bonnie Tyler – Total Eclipse of the Heart

1

NELLY

Konzerthäuser haben eine Seele. Das wusste ich bereits, als ich im Alter von fünf Jahren das erste Mal die Carnegie Hall in New York besuchte, um eine von Moms Schülerinnen bei ihrem Debütkonzert zu bejubeln. Sie war Pianistin, ein geborenes Wunderkind. Ihre Finger flogen wie im Wahn über die Tasten, und ihre geschlossenen Augen spiegelten die Emotionen wider, die ihre Tonfolgen verkörperten.

Im Gegensatz zur Carnegie Hall ist der Musiksaal des Burley-Hotelsfast winzig, nicht für mehr als fünfzig Besucher angedacht. Das veraltete Burggemäuer in Verbindung mit dem modernen Anbau lässt das Hotel an Greglons felsenbesetztem Hang wie aus dem Märchen entsprungen erscheinen. Schon als wir vor zwei Jahren für unsere Hausbesichtigung in die irische Kleinstadt hineinfuhren und ich das Anwesen aus der Ferne entdeckte, konnte ich meinen Augen kaum trauen.

Es vermittelt weniger den Eindruck eines angesehenen Hotels heutiger Zeit, sondern wirkt eher, als würden auch hunderte von Jahren nach dem Ableben des Adels königliche Bälle unter dem Dach stattfinden.

Als ich dann durch die Front gehen durfte, verstand ich, warum das Burley zu den am meisten gebuchten Hotels des Landes zählt, obwohl es einige Kilometer von den belebten Städten Irlands entfernt liegt. Doch waren es nicht der Wellnessbereich oder der große Festsaal mit den Kronleuchtern, die mich anzogen. Das ist es auch bis heute nicht.

Wie bei den vielen vergangenen Besuchen in diesem Hotel stehe ich inmitten des Musiksaals und lege den Kopf in den Nacken, um dessen majestätische Präsenz in vollem Umfang wahrzunehmen. Die Decke ist eine ovale Kuppel und von gemalten Pflanzenranken geziert. Die kleine, aber umwerfende Bühne, auf der einst Musiker aus aller Welt standen und den Raum mit Sinfonien und Liebe erfüllten, ist heute leer geräumt. Die Wände schmücken gerahmte Schwarz-Weiß-Aufnahmen, Eindrücke vergangener Abende. Auf manchen spielen Jazzbands, andere zeigen kleine Streicher-Ensembles. Jedes Mal, wenn ich meinen Blick über die Fotos gleiten lasse, erklingen Melodien in meinen Ohren.

Denn ja, dieser Raum hat eine Seele. Eine alte, die darum bittet, ihn wieder mit Klängen zu erfüllen. Das jedoch ist nicht geschehen, seit Lewis Burley das Gemäuer an seinen Sohn William überschrieben hat. Dads Geschäftspartner und damit der Grund, warum wir aus New York fortzogen, um uns in diesem beschaulichen Städtchen niederzulassen.

Der einzige Hinweis auf die Musikkompositionen, die einst unter dieser Kuppel erklungen sind, ist der prachtvolle, schwarz glänzende Flügel, den ich meist aus der Ferne bewundere. Die Vorstellung, mich an ihn zu setzen und die Akustik des Raumes zu erforschen, ist verlockend. Nicht, dass ich je gewagt hätte, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen.

Heute gehe ich jedoch auf ihn zu, hebe den Klaviaturdeckel hoch und führe meinen Zeigefinger so sanft über die weißen Tasten, dass sie keinen Laut von sich geben.

Eine Tür knarzt. Mit einem Luftschnappen weiche ich von dem teuren Instrument zurück und drehe mich um.

Zack Burley steht im Eingang des Saales. Sein dunkles Hemd bildet einen Kontrast zu der ausgewaschenen Jeans und den Sneakern, deren Sohlen vom Matsch des Skateparks umrandet werden. Er vergräbt die Hände in den Taschen und lächelt verlegen.

»Deine … deine Mom hat dich gesucht.«

Die Wände des Saals schenken seiner warmen Stimme einen Hall, der mir eine Gänsehaut bereitet. Zack räuspert sich.

»Ich hatte so eine Ahnung, dass du hier bist.«

Mit langsamen Schritten durchquere ich den Raum. Mir poltert das Herz gegen den Brustkorb, so kostbar sind diese Momente, in denen Zack und ich uns begegnen ohne unsere Eltern an der Seite.

»Dieser Saal ist … einzigartig. Ich habe das Gefühl, dass die Musik in den Wänden steckt«, sage ich.

Mittlerweile bin ich Zack so nahe, dass ich das Funkeln in seinen grünen Augen und das Grübchen in seinem Kinn betrachten kann.

»Grandpa Lewis hat den Musiksaal geliebt. Meine Großmutter war Geigerin und soll hier gespielt haben, als er sie das erste Mal gesehen hat.«

»Wow«, hauche ich, während die Bilder eines Streichkonzertes in meiner Vorstellung erscheinen. Wie ein Hotelbesitzer sich restlos in die Frau mit der Geige verliebte. In ihre Melodien, die Träume, die sie durch ihr Instrument zum Leben erweckte.

Als ich den Blick hebe, ergründen Zacks Augen meine Miene. Sie streicheln meine Schläfen, meine Wange und bleiben dann an meinen Lippen hängen. Röte schießt mir unter die Haut, und ich zupfe an dem Saum meines Kleides, um meine Nervosität in den Griff zu bekommen.

Immer, wenn das Leben uns diese Momente schenkt, weiß keiner von uns, welche Worte ihrer würdig sind. Ich möchte sie nicht mit Small Talk verschwenden, für alles Weitere ist mein Kopf jedoch bei einem Blick in diese Augen zu leergefegt. An seinem krampfhaften Schlucken bemerke ich, dass es ihm ähnlich geht. Dass er um Worte ringt, die nicht belanglos, nicht unpassend sind. Doch als er den Mund öffnet, poltern Schritte auf den Fliesen des Korridors.

»Schau in die Kamera, Sammy«, ruft die hohe Stimme meiner kleinen Schwester. Unser Havaneser-Welpe kläfft zustimmend, und wir wenden unsere Köpfe, um die beiden zu sehen.

»Phoebe!«, rufe ich ihr zu. »Das Hotel ist nicht für Haustiere geeignet. Wir können froh sein, dass William und Caroline erlaubt haben, dass er bleibt.«

Phoebe beugt sich zu dem kleinen Zottel hinunter und hebt ihn auf den Arm. Zacks Kamera hält sie mit drei Fingern in ihrer anderen Hand. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Anblick bei ihm Schweißausbrüche auslöst. Die Kamera ist sein Ein und Alles. Schon so oft habe ich ihn auf dem Schulweg beobachtet, wenn er auf seinem Skateboard die Straße überquerte, seine Kamera in den Händen. Konzentriert darauf, die Balance zu halten, um so gleichzeitig die Schönheit seiner Umgebung einfangen zu können.

»Ich wollte Sammy nur das Burley zeigen«, rechtfertigt sich Phoebe und kichert, als Sammys Zunge ihre Nase streift.

»Gefällt es ihm?«, fragt Zack schmunzelnd. Jedes seiner Worte bewirkt, dass mein Herz aus seinem Rhythmus geschleudert wird.

»Es ist okay, sagt er. Zu wenig Spielgefährten.« Phoebe zuckt die Schultern und setzt Sammy auf dem Boden ab. Er kommt auf Zack zu und platziert seine Vorderpfoten auf dessen Sneaker.

Mit einem Lächeln beugt Zack sich hinunter und krault unseren Welpen hinter den Ohren. »Vielleicht kann er William ja überzeugen, Haustieren im Hotel eine Chance zu geben. Ein bisschen Leben im Haus kann nicht schaden.«

Ich gebe mir einen Ruck und bücke mich ebenfalls zu Sammy hinunter. Während ich meine Fingerspitzen in seinem Fell kreisen lasse, nähert sich mein kleiner Finger Zacks. Ein paar winzige Momente streichelt er nicht Sammy, sondern meinen Fingerrücken, ehe er seine Hand zurückzieht und verlegen hüstelt.

»Sind William und Lincoln fertig mit ihrer Besprechung?«

Phoebe nickt eilig, den Blick auf den Bildschirm von Zacks Kamera gerichtet. »Ich glaube, wir werden gleich essen. Caroline hatte bereits ein Glas Wein in der Hand.«

Zack stößt einen belustigten Laut aus und wirft mir einen Seitenblick zu. Dennoch lässt er Phoebe in ihrem Glauben. »Stimmt, das ist ein Anzeichen. Lassen wir sie nicht auf uns warten.«

Als wir gemeinsam zum Speisesaal aufbrechen, laufen Zack und ich so nahe nebeneinander, dass es nur eine Prise Mut benötigen würde, um seine Hand zu ergreifen.

Doch die Zweifel lassen nicht lange auf sich warten.

Nicht der Sohn von Dads Geschäftspartner.

Nicht der baldige Erbe der Burley-Linie.

Nicht du, die schüchterne Pianistin, die nicht ein vernünftiges Wort in seiner Nähe zustande bringt.

Statt seine Hand zu ergreifen, lege ich die Arme um meinen Bauch. Dann begleite ich meine Schwester und den Jungen, den ich seit zwei Jahren anhimmele, in den belebten Teil des Hotels.

2

ZACK

Während Kiana, eine Servicekraft für die Termine meines Vaters, die Tür des privaten Speisesaals zuschiebt, lassen wir uns an der gedeckten Tafel nieder. Mom quatscht Nellys Mutter Stella bereits mit irgendeinem belanglosen Kram über das Essen voll, William und Lincoln sind noch immer tief versunken in die Planung für den Burley-Neubau in Washington. Während ich nicke und vorgebe, ihre Themen zu verfolgen, schaue ich zu Nelly, die Phoebes Fotos auf meiner Kamera durchgeht. Verstohlen lasse ich den Blick über ihr Gesicht schweifen. Wie an jedem Tag, wenn ich ihr in den Schulfluren über den Weg laufe, sind ihre dunklen Haare zu einem dichten Zopf geflochten, aus dem sich einige Strähnen gelöst haben und ihr vor die Augen fallen.

»Das ist gut geworden«, höre ich Phoebe aufgeregt rufen. Sie tippt mit dem Zeigefinger auf das Display, und ich muss die Zähne zusammenbeißen, um sie nicht zu ermahnen. Ich störe mich nicht an Kratzern, wenn es um Autos, Uhren oder andere Luxusaccessoires geht. Aber meine Kamera ist ein wunder Punkt. Vielleicht weil ich die letzten Sommerferien heimlich in der Bäckerei der Familie meines besten Freundes ausgeholfen habe, um sie mir unabhängig von Williams Vermögen leisten zu können? Weil sie nicht das Eigentum des Burleys ist, sondern ganz allein mir gehört?

»Das sieht wieder wunderbar aus«, lobt Stella unsere Hausköchin, als sie die Teller vor uns platziert. Fiona lächelt dankbar und streicht Stella liebevoll über die Schulter. Dass meine Eltern die Harlows in der Burley-Familie willkommen geheißen haben, bedeutete, Licht ins Dunkel zu lassen. Den Eisberg der Burleys, hart und beinahe unzerstörbar, durch die Sonnenstrahlen nun an einigen Ecken zum Schmelzen zu bringen. Doch das Eis ist schon zu lange Bestandteil des Hotels. Den Klumpen bekommt nicht einmal die Herzenswärme der Harlows gänzlich zum Auftauen.

In den fünf Jahren, die Fiona bereits für uns arbeitet, habe ich meine Mutter noch nie so dankbar mit ihr sprechen hören.

»Danke, Fiona«, sage daher auch ich und lasse mir von ihr durch die Haare wuscheln.

Gleich bemerke ich, wie meine Mutter die Lippen zusammenpresst, um sich ihren spitzen Kommentar gegenüber ihrer Angestellten zu verkneifen. Natürlich nur, damit die Harlows weiterhin in dem Glauben schweben, meine Eltern besäßen ein ebenso reines Herz, wie sie es tun. Dabei gleicht für die beiden jede gefühlvolle Geste in diesem Gemäuer einer Straftat.

»Du wirst viel zu schnell erwachsen, habe ich dir das schon mal gesagt?«, murmelt Fiona, während sie mein Glas mit Wasser auffüllt.

»Nur ungefähr jeden zweiten Tag«, erwidere ich grinsend.

»Apropos erwachsen, hast du schon etwas von einer Universität gehört?«, fragt Lincoln forschend. Er meint seine Worte nicht böse, nicht stichelnd. Und doch sind sie die Kohle, die das Feuer aus Scham und Ekel in mir zum Leben erweckt. William hebt neugierig das Kinn.

Ich räuspere die Unsicherheit aus meiner Stimme und setze zu Worten an: »Ich habe ein Angebot vom Trinity College und von Oxford.«

»England«, stellt Stella überrascht fest und nickt anerkennend. Der amerikanische Akzent in ihrer Stimme erinnert mich augenblicklich an Nellys Art und Weise, Worte zu betonen. Die Ähnlichkeit lässt mich trotz des unangenehmen Themas kurz lächeln. Auch wenn Nelly in der Schule zu einer Clique beliebter Mädchen zählt, wird sie häufig mit ihrem Akzent aufgezogen. Nicht, dass sie mir je davon berichtet hätte. Ich habe einige Mädchen aus ihrem Jahrgang in den Schulfluren über sie lachen hören. Dabei bin ich mir sicher, dass sie vor Neid glühen, wenn sie über die Amerikanerin aus der Großstadt lästern. Sie wünschen sich, auch nur einen Tag New York erleben zu dürfen, während Nelly Manhattan vom Sonnenaufgang bis zum nächsten Morgengrauen kennt.

»Ja, aber ich bin mir noch nicht sicher.« Ich zucke die Schultern und vermeide, zu William zu schauen. Er wird bemerkt haben, dass es meiner Stimme an Begeisterung gefehlt hat. Mit Sicherheit sind seine Augenbrauen vor Ärger zusammengezogen. Ich kenne jede Variante von Wut in seinem Gesicht. Die Furche zwischen den Augenbrauen gehört zu jeder von ihnen. Und auch, wenn die Gewissheit über seinen Unmut ein Gefühl von Angst in mir auslöst, darf ich dies um keinen Preis nach außen zeigen. Schließlich muss der Schein gewahrt werden.

»Welches Fach möchtest du studieren?«, fragt Stella interessiert.

»Business Management«, erwidere ich monoton und spare mir den Kommentar, dass meine Wahl nichts mit Wollen zu tun hat. Jetzt schaue ich doch zu William, und wie erwartet ist sein faltiges Gesicht von einem stolzen Lächeln geschmückt. Eines, das nur zum Vorschein kommt, wenn ich von meiner Zukunft in diesem Hotel spreche. Eine Zukunft, die für mich einem Albtraum gleicht.

»Ganz der Vater«, sagt Lincoln und nimmt den ersten Bissen seines Steaks.

Bei Gott, ich hoffe nicht.

Um diesen grauenhaften Gedanken loszuwerden, schaue ich erneut in Nellys Richtung. Sie hat ihren Stuhl etwas zurückgeschoben und ist leicht unter den Tisch gerutscht. Erst als sie sich mit vor Unsicherheit verzogenen Lippen ihrem Teller zuwendet, bemerke ich, dass auch ihr Steak serviert wurde. Dabei weiß Mom ganz genau, dass Nelly Vegetarierin ist. Offenbar hat sie noch immer nicht daran gedacht, es unserer Küchenleitung mitzuteilen. Oder sie schwebt in dem Glauben, Nelly umstimmen zu können. Schließlich besteht die Familie Burley aus Herzblutjägern, die mit fleischloser Ernährung wenig anfangen können.

Nelly spießt einen Happen des Fleischstücks auf ihre Gabel, doch anstatt es sich in den Mund zu schieben, wirft sie einen raschen Blick zu meinen Eltern, ehe sie es zwischen Daumen und Zeigefinger nimmt und unter den Tisch hält. Die überlappende Seite der Tischdecke bewegt sich, als Sammy sich nach dem Bissen streckt.

Nur einen Moment später blickt sie auf. Röte legt sich auf ihre Wangen, auch wenn niemand etwas sagt oder sie auch nur ansieht – außer mir. Ich bin mir sicher, dass sie gerade deswegen nicht in meine Richtung schaut. Ihr muss bewusst sein, dass unsere Blicke sich treffen würden. So wie sie es immer tun, wenn sie sich mir zuwendet.

»Eleanor, hast du schon eine Ahnung, an welche Universität du nach der Schule möchtest?«, fragt meine Mutter und beugt sich erwartungsvoll zu Nelly hinüber.

»Nicht wirklich«, gesteht sie und umfasst ihr Wasserglas. Eine für mich bereits so vertraute Geste, wenn ihr Fragen gestellt werden, die sie nicht beantworten möchte.

»Ach, du hast ja auch noch alle Zeit der Welt«, beteuert mein Vater von der Seite.

Ich verkneife mir ein Schnauben. Alle Zeit der Welt … Wo war diese Zeit, als er mir in der siebten Klasse einredete, dass mein Leben in keine andere Richtung als die Hotelbranche verlaufen dürfe?

»Aber eine Richtung hast du sicherlich schon, oder etwa nicht?«, fragt mein Vater.

Nellys Griff verstärkt sich. »Schon, aber …«

»Aber?«, hakt Mom forsch nach.

Nelly fährt sich mit der Zunge über die Unterlippe und blickt auf ihren Teller. Ich kann förmlich hören, wie es in ihrem Kopf rattert, damit sie bloß nichts Falsches von sich gibt. Die Antworten für meine Mutter müssen immer perfekt durchdacht werden.

»Ich würde gern unterrichten. Klavier, meine ich.«

Zu gern würde ich ihr sagen, wie beeindruckend ich ihre Zukunftspläne finde. Doch Mom schreitet ein, bevor ich zu Worten ansetzen kann. »Unterrichten? Wieso denn, wenn dir mit deinem Talent so viele Türen offen stehen?«

Nelly holt Luft, doch ehe sie antworten kann, redet Mom weiter. »Ich meine, die Juilliard wäre doch die beste Option für junge Konzertpianistinnen wie dich. Und einen Versuch wäre es wert. Du bist mit New York ja bestens vertraut. Meine Cousine Caitlin –«

»Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt«, unterbricht Nelly meine Mutter. »Deswegen möchte ich unterrichten. Wenn ich vor anderen spielen muss, wird mir übel.«

»Das hat sie von mir«, erklärt Stella mit einem Lächeln und streicht ihrer Tochter über den Unterarm.

Stella Harlow war selbst Klavierlehrerin an einer der bekanntesten Musikschulen in Manhattan. Nelly soll das Talent von ihr geerbt haben und eine großartige Pianistin abgeben. Nur kann ich das leider nicht beurteilen, da sie nie vor anderen spielt. Auch nach Moms fünfzigster Aufforderung nicht. Ich mag es, dass sie zu ihren Prinzipien steht. Selbst wenn meine Mutter jedes Mal für Nelly unmerklich den Kopf schüttelt und mir irgendetwas von verschwendetem Potenzial zuflüstert.

Genau das tut sie auch jetzt wieder, nur dass ich zum ersten Mal etwas erwidere. »Das geht dich doch gar nichts an.«

Meine Stimme ist ein zynisches Zischen. Ich bin es leid, dass sie alles verurteilt, was nicht ihren Vorstellungen entspricht. Das tun sie beide.

Ich vermeide es, sie anzuschauen, und mustere stattdessen Nellys Finger, die sich vor Nervosität kneten. Wahrscheinlich sind die Pupillen meiner Mutter gerade nichts weiter als zwei kalte Eisbrocken. Aber das ist mir egal, denn Nellys braune Augen geben mir die Wärme, die ich in diesem regnerischen Herbst vermisse.

3

ZACK

»Hast du das?«, fragt Steven und hebt sein Skateboard auf, um es sich unter die Achsel zu klemmen. Mit einer gekonnten Bewegung springt er von der Rampe und kommt auf mich zugelaufen. Ich öffne die Galerie meiner Videokamera und betrachte den letzten Clip. Steven macht einen Hardflip. Eine nicht besonders einfache Kombination eines Frontside Pop Shove-It und eines Kickflips. Während seine Füße sich in die Luft erheben, dreht sich das mit blauem Graffiti bedeckte Skateboard unter seinen Vans hinweg. Trotz der Geschwindigkeit gelingt es ihm, wieder auf dem Board zu landen. Seit Wochen trainiert er diesen Trick, damit ich sein Talent in meinem Film verwerten kann. Ich hebe den Daumen und grinse so breit, dass es fast wehtut. »Ja, ist drauf. Dein Training hat sich ausgezahlt. Das sieht krass aus.« 

Ein zufriedenes Lächeln zeichnet sich auf Stevens Gesicht ab. »Passt das noch ins Video?«

»Es wird sich gut am Ende machen. Mir fehlen sowieso noch fünfzehn Sekunden.« Ich klappe das Display meiner Kamera ein und streiche mit dem Ärmel die frischen Regentropfen von dem Gerät. »Morgen Mittag ist Einsendeschluss. Warum muss ausgerechnet heute Abend diese Feier für die Neueröffnung in DC stattfinden?« Ich seufze ergeben und schiebe die Kamera in meinen Rucksack, wo sie wohl bleiben wird, bis ich morgen in aller Frühe an den letzten Feinzügen des Skate-Clips arbeiten werde. Die Veranstaltungen des Familienunternehmens haben die Eigenschaft, mich von dem abzuhalten, wofür mein Herz schlägt. Manchmal kommt es mir so vor, als würde William die Termine des Hotels absichtlich so legen, dass sie mich von Fortschritten in meiner Filmkarriere abhalten. Auch wenn er nicht die leiseste Ahnung hat, dass ich meinen Clip beim Kurzfilmfestival in Dublin einreichen werde.

Steven schiebt die Unterlippe vor und nickt anerkennend. »Ein weiteres Hotel in DC? Nobel, nobel.«

Er hat keinen Schimmer, wie so ein Abend abläuft und dass ›nobel‹ nicht gleich ›unterhaltsam‹ bedeutet. Klar, die Reichsten der Reichen erscheinen im Burley, schütteln meinem Dad und auch mir – dem baldigen Geschäftsführer der Hotellinie– die Hände. Vielleicht würden andere behaupten, dass es sich um eine schicke Feier handle. Ich hingegen sehe in alldem nur eine Welt voller falscher Freundlichkeit, Neid und Missgunst. Dass ich in wenigen Jahren Teil davon sein soll, jagt mir schon jetzt ein scharfes Ziehen in den Magen. 

»Wie man es nimmt«, presse ich hervor und vergrabe die Hände in meinen Jackentaschen. Der Stoff ist bereits vom Regen durchnässt und klebt auf meiner Haut. Aber das hat uns nicht vom Skaten abgehalten. Hat es noch nie.

Dicke Tropfen prasseln in den Leybon-River, der den kleinen Park umgibt. Ärgerlicherweise dauert es vom Skatepark knapp einen Kilometer, bis die ersten Einfamilienhäuser auftauchen. Bis wir zu Hause ankommen, werde ich bis auf die Socken mit Regenwasser getränkt sein. Wie gut, dass meine Kamera wasserdicht ist.

»Es ist das zweite Hotel in den USA. Langsam wird er größenwahnsinnig.« Es gelingt mir nicht, mein verachtendes Lachen zu unterdrücken. Schnell presse ich die Lippen zu einer Linie, bevor Steven meinen Frust zu spüren bekommt.

»Solang er sich nicht verschätzt und dir nichts weiter als einen großen Haufen Schulden vererbt …«, erwidert Steven grinsend.

»Wird er nicht. Dafür hat er Lincoln.«

»Nellys Vater?«

»Genau.«

Ich bemerke Stevens schelmische Miene und stoße ihm gegen die Brust. »Spar’s dir, Kumpel.«

»Was soll ich mir sparen? Zu fragen, ob du sie endlich mal auf ein Date eingeladen hast? Die Antwort kenne ich schon. Schließlich ist sie immer die gleiche.« Stevens Erwiderung wird von einem belustigten Unterton begleitet. Als hinter uns eine Mischung aus Satzfetzen und Gekicher erklingt, landet seine Faust in meiner Seite. »Aber hey, vielleicht ist jetzt deine Chance.«

Bevor ich kapiere, von welcher Chance er spricht, hebt mein bester Freund lässig seinen Arm und ruft: »Hey Holly!«

Das Lachen der Mädchen verstummt. Vielleicht blendet mein Gehirn aber auch nur jeden Laut aus bei dem Gedanken, dass Holly, Aideen und Nelly auf Stevens Rufen anspringen und sich uns nähern könnten.

Zaghaft drehe ich mich um und entdecke die drei. Doch meine gesamte Aufmerksamkeit gilt augenblicklich nur dem Mädchen, das ihren Hund an der Leine hält. Sammys Fell ist vom Matsch gefleckt, und auch Nellys Stiefelsohlen werden von braunen Klumpen umrandet. Ihr Haar ist zu einem dichten Zopf geflochten, dessen gelöste Strähnen ihr durch die Nässe auf den Wangen kleben. Ich atme die Aufregung durch die Nase aus und vergrabe die bibbernden Finger in den Innentaschen meiner Jacke. Meine Mundwinkel heben sich vorsichtig, als ich glaube, dass auch sie mich aus der Ferne entdeckt. Ein stummes Hallo, das sie nicht lauter erwidert. Warum genügt allein die Gewissheit, dass sie in der Nähe ist, um meine Knie weich werden zu lassen?

»Hey Steven«, ruft Holly, Nellys beste Freundin, und winkt ihm schüchtern. »Oh und hey Zack.«

Aideen, die Dritte im Bunde, kichert und stößt Nelly ihren Ellbogen in die Seite. Holly geht ihren Freundinnen voraus und wirft uns – oder besser gesagt Steven – ein strahlendes Lächeln zu.

»Was geht?«, fragt Steven übertrieben leger und verschränkt die Arme vor der Brust.

Ich verkneife mir ein Grinsen. Sollte er mir noch einmal vorhalten, wie hypnotisiert ich mich in Nellys Gegenwart gebe, werde ich ihn an diese Situation erinnern. Daddy cool.

»Nicht viel und bei euch?«

»Ach, nichts Besonderes. Nur ein bisschen trainieren.«

Holly richtet die mit Fell besetzte Kapuze, die ihr blondes Haar vor dem Regen schützt, und lächelt verzückt. »Cool, du musst mir demnächst mal ein paar Tricks zeigen.« 

»Mache ich«, erwidert Steven in seiner Flirtstimme.

»Sammy, warte«, sagt Nelly, als dieser sein Tempo beschleunigt und uns begrüßen möchte. Er hechelt angestrengt, als er sich auf die Hinterbeine stellt und mein Bein hochspringt.

Ich begegne ihm mit Streicheleinheiten und einem »Hey Kleiner«. 

»Tut mir leid.« Nelly wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. Ihre Stimme zittert ein wenig, und der Wind lässt den offenen Regenmantel um ihren Körper flattern. »Er soll das eigentlich nicht. Besonders nicht bei diesem Wetter, damit ruiniert er jedem die Kleidung.«

»Schon gut, ich habe genug Hosen«, erwidere ich und frage mich gleich darauf, ob meine Antwort eingebildet klingt. Ich habe genug Hosen. Reicher Schnösel. 

»Was macht ihr bei dem Wetter draußen?«, fragt Steven, dessen blondes Haar ihm nass an der Stirn klebt. 

»Wir haben einen Horrorfilm-Marathon geplant, aber Nelly wollte lieber mit dem Hund raus«, erklärt Aideen, die sich einen rot gepunkteten Regenschirm über den Kopf hält. »Ehrlich gesagt glaube ich, dass Nelly nur eine Ausrede brauchte, weil sie Angst hat.« Aideen gackert über ihre eigenen Worte und schaut sich Zuspruch suchend in unserer Runde um.

Ich danke dem Universum dafür, dass sie keinen erhält. Weder von Holly und Steven noch von Nelly selbst und erst recht nicht von mir. Einen kurzen Augenblick keimt der Instinkt in mir auf, Nelly zu verteidigen, doch ich weiß, dass mir das nicht zusteht. Ich bin nicht ihr Freund, nicht ihr Held, der sie vor dieser doofen Zicke beschützt. Ich bin nur der Kerl, bei dem sie einmal im Monat zu Abend isst und der sie vergöttert, ohne je dazu in der Lage gewesen zu sein, es ihr zu sagen. Also balle ich meine Hände in den Jackentaschen zu Fäusten und schlucke meinen Kommentar herunter.

Möglichst unauffällig blicke ich zu Nelly. Wie sie dasteht, die Lippen aufeinandergepresst, kann ich nicht einordnen, ob Aideens Kommentar sie gekränkt hat oder sie nur wegmöchte. Dann sieht sie auf. Und genau in dem Moment, als sich unsere Blicke treffen, kann ich die Antwort meiner unausgesprochenen Frage anhand ihrer Augen ablesen. Aideens Kommentar ist nicht spurlos an ihr vorübergegangen, daher wundere ich mich nicht, als sie ihren Freundinnen erklärt: »Ich muss gleich nach Hause. Die Party heute Abend, ihr wisst schon.«

»Zack weiß mit Sicherheit, wovon du redest«, schiebt Aideen ein und zwinkert Nelly zu. Anders als sonst zeichnet sich jetzt der Ärger in deren Gesicht ab. Ihre Stupsnase zieht sich kraus, und ich kann die ungesagten Worte laut in ihrem Kopf toben hören.

»Aideen!«, zischt Holly. Wenigstens eine, die Nelly verteidigt.

Ich gebe vor, Aideens Tonfall überhört zu haben, und sage: »Stimmt. Bis heute Abend dann.« 

»Bis heute Abend.« Nellys Mundwinkel heben sich zögernd. Meine Mundwinkel heben sich zögernd.

Als sie den Skateplatz verlassen, starre ich ihr hinterher wie ein Trottel und bin mir dessen vollkommen bewusst. Eine weitere Reaktion, die zur Normalität geworden ist.

»Zwei Jahre, Zack, und du verwandelst dich in ihrer Gegenwart noch immer in einen Fünfzehnjährigen.«

»Was?«, frage ich getroffen und schnaube. Mit dem Fuß kicke ich mein Skateboard hoch und fange es auf. Natürlich bin ich mir bewusst, dass er das Kind nur beim Namen genannt hat, aber den Beifall werde ich ihm nicht geben.

»Du kannst ja nicht einmal mit ihr reden.«

»Wir haben geredet.« Nur nicht mit Worten. Mit Blicken, wie eine stumme Geheimsprache.

»Ach ja?« Steven hebt die Augenbrauen. »Zack, in einem halben Jahr sind wir weg von hier, verstehst du? Es ist offensichtlich, dass sie dich genauso gern mag wie du sie. Warum nutzt ihr nicht die Chance, bevor du von hier verschwindest?«

Ich setze mich in Bewegung, meine Schuhe werden durch die Pfützen, die ich achtlos durchquere, durchnässt. »Das ist alles nicht so einfach, wie du vielleicht denkst.«

»Wegen deines Dads?«

»Wegen William, ja.« Dad. Für diese Bezeichnung reichen seine Qualifikationen bei Weitem nicht aus.

»Das war eine unüberlegte Drohung damals. Da hat dein Vater dich offensichtlich noch für einen rücksichtslosen Herzensbrecher gehalten. Du hast dich in den letzten Jahren als Gentleman erwiesen. Das ist Schnee von gestern.«

»Du kennst William nicht.« Nicht so, wie ich es tue. Seine Worte, als er mir klarmachte, dass ich die Tochter seines Partners nicht ansehen sollte, wie ich es von Tag eins an tat, waren kalt und hart wie Stahlbeton. ›Du musst lernen, Privates von Geschäftlichem zu trennen. Alles, was die Familie Harlow betrifft, ist von heute an Teil des Burleys, mehr nicht.‹

Steven seufzt erschöpft. »Such nicht immer irgendwelche Ausreden, um nicht über deinen Schatten springen zu müssen. Das alles ist nicht so schwer, wie du es dir einredest.«

Ich schnaube genervt und umklammere mein Skateboard fester. Wie soll ich von Steven erwarten, dass er meine Misere nachvollziehen kann? Niemand, der von außen auf unsere Familie schaut, könnte auch nur erahnen, wie wackelig dieses Konstrukt ist.

»Für dich nicht, weil du mit normalen Eltern aufgewachsen bist, die dich seit dem Kindergarten unterstützen. Selbst als du beschlossen hast, eine Schneckenfarm zu gründen und euer gesamter Vorgarten von Schleimspuren übersät war.« Ich hingegen hänge in der Excel-Tabelle fest, die mein Vater schon nach dem ersten Ultraschallbild angefertigt hat. Keine Spalte für Film, Regie, für meine Träume. Keine Spalte für Nelly.

Steven neigt den Kopf zur Seite, als schwelgte er in den Tiefen seiner Erinnerung. »Das war ziemlich cool.«

Ein belustigter Laut ist meine Antwort.

»Hör zu. Heute Abend steigt im Strangers eine Party, mein Bruder ist Türsteher und lässt einige aus der Schule durch. Ich werde dort sein und Savannah –«

»Was wird das?«, unterbreche ich Steven. Am liebsten würde ich mein Skateboard zurück auf den nassen Beton fallen lassen, aufspringen und losfahren.

»Ich lasse nicht zu, dass mein bester Freund als Jungfrau an die Uni geht. Und da du es mit Nelly nicht auf die Kette bekommst, wäre Savannah doch –«

Meine Faust prallt in Stevens Magengrube, fester als geplant, wie sein Stöhnen beweist.

»Sorry«, schiebe ich hinterher und verziehe entschuldigend die Lippen.

»Verdammt, ich will doch nur das Beste für dich. Savannah ist total scharf auf dich. Sie schreibt mir schon seit Tagen, ob du auch kommen wirst.«

»Dann sag ihr Nein«, erwidere ich tonlos. »Heute Abend ist die Hotelfeier und …«

»Und du stehst nicht auf Savannah, sondern auf Eleanor Harlow. Ich hab’s kapiert.«

Ich nicke zustimmend, auch wenn es eine Zeit gab, in der ich mir eingeredet habe, Savannah auf die gleiche Weise mögen zu können wie sie mich. Vor fünf Monaten auf Stevens Geburtstagsparty. Es war nur ein Kuss, gut, vielleicht auch etwas mehr. Einer Menge Alkohol und schlechten Entscheidungen geschuldet. So bescheuert es klingen mag, bei den darauffolgenden Geschäftsessen mit den Harlows konnte ich Nelly nicht einmal mehr in die Augen schauen. Das ist der Nachteil des Kleinstadtlebens: Es lebt vom Buschfunk. Sie wird es wenige Stunden nach der Party von Holly oder Aideen erfahren haben.

Erleichtert atme ich auf, als wir uns der Kreuzung nähern, die unsere Wege voneinander trennt.

»Viel Spaß heute Abend.« Er hebt die Hand, legt sein Skateboard ab und fährt los. 

»Danke«, rufe ich ihm freudlos hinterher.

Mit einem Seufzen setze ich mich in Bewegung, das Skateboard unter dem Arm. Ich könnte fahren, aber dafür schwirrt mir zu sehr der Kopf. Er ist nur bei ihr. Nichts Ungewöhnliches, aber heute ist das Chaos intensiver. In manchen Teilen hat Steven recht. In einem halben Jahr werde ich von hier verschwinden, was gut ist. Aus diesem goldenen Käfig auszubrechen, erleichtert mir den Gedanken, genau das zu studieren, was ich seit meiner Kindheit verabscheue. Aber sie wird bleiben, mindestens ein weiteres Jahr. Dann wird es auch sie in die Welt hinaustreiben. Im Grunde genommen verliere ich Nelly schon jetzt, ehe ihr je näher gewesen zu sein als jeder andere auch. Und das nur durch meine Feigheit.

Meine Finger fahren in meine Jackentasche und ziehen mein Handy hervor. Ich suche Nellys Nummer. Seit knapp zwei Jahren befindet sie sich nun in meinen Kontakten, doch seither ist die einzige Nachricht, die mir entgegenleuchtet, ein einfacher Glückwunsch zu ihrem Geburtstag.

Was habe ich zu verlieren? Die Anerkennung meines Vaters? Als hätte die mir je gegolten. Der Gedanke daran, dass Williams gelallte Drohungen mich bis zum heutigen Tag davon abgehalten haben, mich Nelly anzunähern, bewirkt, dass ich die Zähne aufeinanderpresse. Das hat heute ein Ende. Ich lasse mir von ihm nicht länger verbieten, um das zu kämpfen, was ich liebe. Das Filmen und Nelly.

Ich atme einmal zittrig Luft aus und Mut ein. Meine Finger sind eisgefroren, als ich tippe:

Der einzige Grund, warum ich mich auf heute Abend freue, bist du.

Mein Daumen drückt auf das Senden-Symbol, und eine Sekunde später bestätigen zwei Häkchen, dass die Nachricht auf ihrem Handy eingegangen ist. 

Verdammte Scheiße. 

Ich starre auf die Buchstaben, als könnte ich sie damit zurückholen. Verfluche mich innerlich für diese Kurzschlussreaktion, ohne die ich diesen Satz niemals auch nur getippt hätte. Mein Herz drückt gegen meinen Brustkorb, viel zu schnell, zu unrhythmisch. Mir wird schwummrig bei dem Gedanken, dass sie meinen Text liest und mit einem Lachen ihren Freundinnen unter die Nase hält. Zack Burley, dieser blauäugige Idiot.

Aber das will ich nicht glauben. Nicht bei Eleanor Harlow. Es dauert zwei Minuten voller Panik – Panik und Hoffnung. Doch dann gibt mein Handy einen Ton von sich. Die fünf Buchstaben ihres Spitznamens erscheinen auf meinem Bildschirm. Vor Aufregung verschwimmen sie vor meinen Augen, als würden sie mit den Regentropfen verschmelzen, die auf dem Display landen. Doch ihre Bedeutung entziffere ich ganz genau. Ich lese sie wieder und wieder und wieder. Und bin mir sicher, mich ein weiteres Mal in Eleanor Harlow zu verlieben.

Denn ihre Nachricht lautet:

Du bist auch mein Grund.

4

NELLY

Mein Herz ist aus dem Takt geraten, dessen bin ich mir sicher. Anders kann ich mir das Zittern in meinen Gliedern nicht erklären.

Ich bin sein Grund. Sein einziger Grund. 

Ich umfasse das Handy, klammere mich förmlich an diese Nachricht, bevor ich die Haustür aufschließe und Sammy in den Flur hineintapsen lasse. 

»Stopp, Sammy, ich muss dich noch abtrocknen«, murmele ich und ignoriere, dass er weder auf mich hören noch mir eine Antwort schenken wird. Fröhlich tapst unser Familienhund in den Eingangsbereich und hinterlässt dunkle, nasse Spuren auf den weißen Fliesen. 

Ich kichere, auch wenn ich weiß, dass Mom erst heute Morgen den Boden gewischt hat. Dann streife ich Mantel und Stiefel vom Körper und greife nach einem Handtuch über der Garderobe, um Sammys Pfoten abzutrocknen. Kein versauter Fußboden der Welt kann mir diesen Abend zerstören. Das denke ich, bis ich Phoebe am Küchentisch entdecke. Allein. Verweint. Die Hände auf die Ohren gepresst. 

»Phoebe«, stoße ich aus und renne auf meine zehnjährige Schwester zu. Sie scheint mich erst zu registrieren, als ich ihren Stuhl zurückziehe, um mich vor sie zu hocken. »Was ist denn los, meine Süße?«

Sie reißt die Augen auf, ein feuchter Schimmer mischt sich unter das dunkle Braun. Einige Perlen glitzern in ihren geschwungenen Wimpern.

»Mom und Dad lieben sich nicht mehr«, schluchzt sie in solch einer kindlichen Verletzlichkeit, dass es in meiner Brust zieht.

Ich umfasse ihr Gesicht und streiche mit den Daumen die Tränen von ihren Wangen. »Aber nein, wie kommst du denn darauf?« 

»Sie haben geschrien. Ganz laut. Als du weg warst. Erst jetzt haben sie aufgehört.« Eine weitere Träne löst sich aus Phoebes Augenwinkeln.

Etwas überfordert öffne ich den Mund, nur um ihn gleich wieder zu schließen. Was soll ich ihr sagen? Dass es normal ist, wenn Eltern sich streiten? Im Regelfall entspricht das der Wahrheit. Nur bei unseren Eltern nicht. Zumindest nicht in einer Lautstärke, durch die wir davon mitbekommen hätten. Das wussten sie stets zu verhindern. Seit der Scheidung der Eltern ihrer besten Freundin Juliet wird meine kleine Schwester von Verlustängsten geplagt, die bereits für einige schlaflose Nächte gesorgt haben.

»Das heißt doch nicht, dass sie sich nicht mehr lieben, Phoebe.« 

Genau in diesem Moment bringt der Knall einer Tür die Wände zum Wackeln. Als hätten meine Eltern ein Startsignal gebraucht, um meine Worte zu widerlegen. Und als würde all unser Familienglück mit den Wänden einstürzen, uns verschütten.

»Das denkst du wirklich? Nach fünfzehn Jahren Ehe?«, kreischt meine Mutter. Ihre Stimme enthält geballte Wut, Fassungslosigkeit. Dass sie uns in diesem Lautstärkepegel erreicht, obwohl sie sich allem Anschein nach im ersten Obergeschoss aufhalten, lässt mich erschaudern. 

»Siehst du!«, ruft Phoebe panisch und schlägt erneut die Hände auf die Ohren. Ein weiterer Schwall Tränen schießt ihr aus den Augen. 

Mit zitternden Armen greife ich unter Phoebes Achseln, hebe sie hoch. »Pass auf, ich hab eine ganz tolle Idee.« 

Ich trage sie ins Wohnzimmer, den Raum, der am weitesten vom Schlafzimmer meiner Eltern entfernt ist, und lasse sie auf dem Sofa runter. »Bin sofort wieder da.« 

Phoebe nickt schnell, ohne die Hände von den Ohren zu nehmen. 

Schon als ich an der Treppe ankomme, die zu unseren Schlafräumen führt, höre ich das Schreien meiner Eltern durch das Treppenhaus hallen. 

»Wie kannst du mir so etwas antun? Ihr habt mich belogen!«, brüllt mein Vater. 

»Warum bin ich diejenige, die du verurteilst? Ich habe dir erklärt, wie es war!« 

Unter die Worte meiner Mutter hat sich ein tiefes Schluchzen gemischt, und mich überfällt der unbändige Drang, in ihr Zimmer zu stürmen und sie in den Arm zu nehmen. Aber ich ahne nicht einmal, was der Auslöser dieses Streits gewesen sein könnte. Heute Mittag saßen wir noch gemeinsam am Tisch. Dad hatte ein so breites Grinsen im Gesicht, als Mom die Witze auf der Kinderseite der Tageszeitung vorlas, dass ich ihm an den Augen ablesen konnte, wie sehr er seine Frau liebt. All das soll jetzt vorüber sein?

Ich sprinte die Stufen hinauf, stürme in mein Zimmer und krame nach den Kopfhörern, die mir Dad zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hat. Betend, dass ich nicht mehr von ihren Vorwürfen aufschnappen muss, gehe ich an ihrem Zimmer vorbei. Und auch wenn die Worte meines Vaters nicht mehr gebrüllt werden – nein, sie sind eher ein erschöpftes Seufzen –, höre ich sie so deutlich, dass sie mir durch Mark und Bein schießen. 

»Vielleicht hat das keinen Sinn mehr, Stella. So nicht.« 

Ich schnappe nach Luft, taumele weg von der Tür, die mir nichts weiter als die Abgründe vor Augen führt, vor denen meine Eltern stehen. Nein, sie stehen nicht nur vor ihnen, sie machen sich bereit für den Absprung. Ohne einander. Ohne uns. 

Die Hand um das Geländer geklammert, zwinge ich mich die Stufen runter und bis ins Wohnzimmer.

»Schau mal.« Ich hebe die roten Kopfhörer hoch und vernehme ein kurzes Zucken in Phoebes Mundwinkeln. Den Anschluss stecke ich in den Verstärker meines E-Pianos.

»Vienna, bitte«, flüstert Phoebe mit bereits geschlossenen Augen.

»Das weiß ich doch«, murmele ich mit einem sanften Lächeln und lege meine linke Hand, bereit für den ersten Akkord, auf die schwarzen und weißen Tasten. Mit der rechten spiele ich die Melodie von Billy Joels Vienna an. Phoebes Song zum Einschlafen, wenn sie krank ist oder wenn Kinder in der Schule fies zu ihr waren. Es ist ungewohnt, nicht zu hören, was ich spiele, aber die Töne sind in meinen Fingern abgespeichert, sodass ich mich nicht einmal sorge, die falschen Tasten zu erwischen. Phoebe summt die Melodie mit. Auch wenn sie keinen Klavierunterricht nehmen möchte, ist sie im tiefen Inneren doch eine Pianistin. Sie ist eben eine Harlow.

Ich beobachte meine Schwester, stelle mir vor, Billy Joels Melodie gemeinsam mit ihr zu hören. Die Musik ersetzt das Geschrei meiner Eltern über unseren Köpfen.

»Nelly?«, flüstert Phoebe irgendwann, als ich den Refrain ein letztes Mal gespielt habe. »Wir bleiben immer zusammen, oder?«

Meine Mundwinkel heben sich. Dabei weiß ich genau, dass ihre Angst vor dem Verlust unseres Familienzusammenhalts wahnsinnig stark ist. Auch wenn es bis heute nie einen Grund für diese Annahme gab.

Vielleicht hat das keinen Sinn mehr, Stella. So nicht.

Mit einem Mal wirkt dieser sonst so abwegige Gedanke erschreckend real. So real, dass ich meine Schwester zu mir in den Arm ziehe und mein Gesicht in ihren Haaren vergrabe, nur um den Geruch von Vanille aufzusaugen, der sie stets umgibt. »Wir bleiben immer zusammen, Phoebe. Wir alle.«

5

ZACK

Ich stehe auf der Empore des ersten Obergeschosses, von der man einen Blick auf den Eingangsbereich hat, in dem das Hotelpersonal hektisch die letzten Handgriffe erledigt. Dieser Abend soll perfekt werden. Das sind die Worte meines Vaters vor jedem Event, bei dem es um das Wachstum seines Unternehmens und seines Vermögens geht. Jetzt steht er neben mir und beobachtet mit schmalen Augen seine Angestellten, nur um einschreiten zu können, sobald jemand einen falschen Schritt wagt.

Ich seufze und schaue mich in unserem Altbau, dem schönen Teil des Hotels, um. Der Kern des Burley-Hotels ist geprägt von den Burgmauern, deren Anblick mir jedes Mal den Atem raubte, wenn ich als Kind auf das Anwesen zulief. Grandpa hat so viel Liebe in sein Familienerbe gesteckt, dass sie noch heute die Wände zum Leuchten bringt. Das Burley war immer eine willkommene Bleibe für Familien, die eine Weile ihrem Alltag entschwinden wollten. An den Feiertagen tanzten die Gäste zur Live-Musik im Innenhof, Kindergeschrei hallte durch die Korridore, und das fest eingeschworene Personal servierte Gerichte, die mit besonderer Hingabe zubereitet waren.

Wenn ich heute den Berg zum Burley ansteuere und den modernen Anbau neben dem burgähnlichen Grundgerüst sehe, strahlt es solch eine Kälte aus, dass sich ab und an eine Gänsehaut auf meinen Armen ausbreitet. Heute ist das Innere nicht mehr von Kinderlachen geprägt. Nein, es würde die reiche Zielgruppe der Burley-Linienur verärgern. Die Gesichter des Personals kann ich mir nicht einmal mehr merken, so oft fliegen die Kündigungen auf dem Tisch meines Vaters ein. Und statt Live-Musik erklingen Melodien à la Mozart im Speisesaal. Vom Band, natürlich.

Alles, was mein Großvater liebte, vernichtete William, sobald sein Name neben dem Titel der Geschäftsführung stand. Als ich jung war, habe ich mich immer gefragt, warum Grandpa sich vom Hotel fernhielt, wo es doch so lange sein Ein und Alles gewesen war. Heute weiß ich es genau: Er konnte nicht mit ansehen, wie der Drang meines Vaters nach Geld und Prestige das heimische Burley in einen Nullachtfünfzehn-Luxusbunker verwandelte.

Glaub mir, Grandpa, hätte ich die Wahl, würde auch ich die Augen verschließen.

Meine Mutter, in einem lachsfarbenen Cocktailkleid, kommt die Treppe herauf und mustert meine Aufmachung bereits aus der Ferne. »Zack, habe ich dir nicht das weiße Hemd herausgelegt?«, fragt sie aufgebracht und zieht die Augenbrauen zusammen. »Das ist angemessener für solch einen wichtigen Anlass. Schwarze Kleidung sieht aus, als würdest du zu einer Beerdigung gehen.«

Richtig. Doch sie verbirgt die Schweißflecke, die sich dank Nellys baldiger Anwesenheit schon jetzt auf dem Stoff gebildet haben.

»Eigentlich müsstest du längst wissen, wie du dich zu kleiden hast.« Bevor ich vor ihr zurückweichen kann, geht sie mit den Händen durch meine Locken. »Ich hätte Miss Ó Cinnéide noch herbitten sollen, damit sie dir die Strähnen kürzt. Deine Haare sind ein einziges Durcheinander. Hast du sie etwa nicht gewaschen, nachdem du den ganzen Tag durch den Regen gelaufen bist?«

»Ist gut, Mom, ich weiß es fürs nächste Mal«, erwidere ich gepresst und entziehe mich ihrer Berührung, indem ich zurückweiche.

»Nächstes Mal«, ruft sie empört aus und schüttelt hektisch den Kopf.

Ich spare mir mein genervtes Seufzen, wohl wissend, dass sich meine Mutter vor jeder Veranstaltung dieser Art verrückt macht. Schließlich muss der Schein perfekt sein. Der baldige Geschäftsführer darf es sich nicht erlauben, Schwarz statt Weiß zu tragen und die Haare auch nur einen Millimeter zu lang zu haben.

Sie verschwindet, um den Waschraum im Obergeschoss zu kontrollieren, und lässt mich mit William zurück.

»Die Pläne für Washington liegen auf meinem Tisch, falls du Interesse hast, sie anzuschauen.« Die Worte meines Vaters könnten ein freundliches Angebot sein, mich in seine Anliegen einzubinden. Aber nein, sie sind spitz, fast klagend, dass ich nicht eigenständig eingefordert habe, sein neustes Projekt zu verfolgen.

Die Filiale, deren Baugenehmigung heute gefeiert wird.

Ich schlucke, nicke teilnahmslos.

Das Gesicht meines Vaters gewinnt an Härte, das Glas Bourbon in seiner Hand hält dem verkrampften Griff seiner Finger stand. Dabei müsste es in Scherben zerspringen, so sehr bringt mein Desinteresse meinen Vater zum Kochen. Ich kann den Vulkan ausbrechen hören.

Bevor er mir seine Vorwürfe vor den Kopf donnern kann, erhellen Stimmen den Eingangsbereich des Burleys.

»Siehst du, wie mein Kleid schwingt, wenn ich mich drehe, Nelly?«, höre ich die hohe Stimme von Phoebe Harlow fragen. Ihr Kichern lässt die Angestellten an ihre Plätze verschwinden. Ich habe förmlich vor Augen, wie sie und ihre Schwester sich wiegen, um ihre Kleider zum Tanzen zu bekommen. Allein die Vorstellung bewirkt, dass mir heiß wird. Wie soll ich ihr gegenübertreten nach dem Geständnis an diesem Nachmittag? Vor ihren Eltern? Vor William? Ich schlucke trocken und spüre, wie die Nervosität meine Beine wackelig werden lässt.

Du bist auch mein Grund.

Entschlossen balle ich die Hände zu Fäusten und überrede mich innerlich dazu, ins Erdgeschoss zu gehen und sie zu begrüßen. Vielleicht könnte ich später, wenn unsere Eltern abgelenkt und die Gäste vom Champagner berauscht sind, mit ihr sprechen. Über all das, was mich gerade in Aufruhr versetzt. Vielleicht könnten wir rausgehen, die Kälte des Dezembers ignorieren und nachholen, was wir die letzten Jahre verpasst haben.

Doch bevor ich mir all das auch nur zu Ende ausmalen kann, zischt William: »Gib dir Mühe, Junge. Wenn schon nicht die letzten achtzehn Jahre, dann heute.«

Meine Zähne müssen knirschen, so fest presse ich sie aufeinander. William wendet sich zum Gehen, bevor ich die Chance bekomme, ihm den dämlichen Whiskey aus der Hand zu pfeffern. Er ist auch nüchtern ein Arsch, aber der Alkohol bringt ihn dazu, seinen miesen Gedanken Worte zu verleihen.

»Guten Abend, wen haben wir denn da?«, ruft mein Vater erfreut, während er die Treppe hinunterschreitet, als wäre er der Adel, der einst auf diesem Anwesen lebte. Diese Rolle spielt er perfekt, das hat er schon immer getan.

Die Harlows treten in mein Sichtfeld, und auch wenn Nellys Anblick mich sonst jede Sorge der Welt vergessen lassen kann, echoen gerade nur Williams Worte in meinem Kopf. Wenn schon nicht die letzten achtzehn Jahre, dann heute. Sie übertönen sogar Nellys Du bist auch mein Grund.

»Das werde ich, William, keine Sorge«, zische ich und beuge mich zu meinem Rucksack hinunter, in dem ich mein Equipment lagere. Während die Stimmen sich im Eingangsbereich vermehren, streife ich durch den Korridor des ersten Obergeschosses und visiere die Türen des Außenbereiches an. Draußen stehen Feuerstellen, an denen die noblen Geschäftsfreunde meines Vaters sich später die vom Champagner kalt gewordenen Hände wärmen werden. Ich trete hinaus und lasse meinen Rucksack auf den Boden sinken. Der breite Balkon schwebt über dem Innenhof des Hotels, der heute glücklicherweise nicht zur Partylocation gehört. Die nächsten Minuten dürfte also niemand mitbekommen, wo ich mich aufhalte.

Ich sinke an der Mauer herab und spüre die eisige Kälte des Dezembers unter meinem Hintern. Die dünnen Ärmel meines Hemdes schützen mich nur mäßig vor den Windböen, und mit Sicherheit wird meine Stoffhose gleich feucht sein, doch für den Moment ist mir das egal. Meinen Laptop positioniere ich auf meinen Oberschenkeln, während mein Schnittprogramm im Hotel-WLAN lädt.

Keine Sorge, William, ich werde mir Mühe geben. In allem, fernab deiner Vorstellungen.

Nach einer Weile brennen meine Augen vom hellen Licht des Bildschirms. Steven hat mir bereits gestern ein paar Nachrichten gesendet, in denen er mich auf Schnittfehler oder unsaubere Übergänge aufmerksam gemacht hat. Die letzte Stunde habe ich damit verbracht, den größten Teil davon zu beheben und auch die einzelnen Sequenzen, die glanzlos ineinander übergehen, weiter zu verfeinern. Zufrieden grinsend schaue ich mir den Clip ein fünfzigstes Mal an und suche mit schmalen Augen nach Stellen, die noch Verbesserungsbedarf aufweisen.

Als ich mich recke und gähne, bemerke ich eine dunkle Gestalt im Augenwinkel. Erst denke ich, es mir eingebildet zu haben, doch dann tritt ein kleines Wesen näher an mich heran und ruft: »Hab dich!«

Auch wenn Phoebe alles andere als furchteinflößend ist, erwache ich erschrocken aus meiner Trance.

»Ich wusste nicht, dass wir Verstecken spielen«, erwidere ich neckend.

Phoebe wiegt sich auf den Fersen ihrer schicken Schuhe. »Tun wir auch nicht. Aber die Leute da drinnen haben dich gesucht.«

»Mich gesucht?«

Sie nickt eifrig.

»Aber warum?«

»Dein Dad hat eine Rede gehalten und dich zu sich gerufen. Aber du warst nirgendwo.« Phoebe erzählt diesen Fakt mit einer Belanglosigkeit, die ich mir für diese Situation wünschen würde. Mir jagt die Erkenntnis jedoch ein ängstliches Herzklopfen in die Brust.

»Scheiße.« Ich erinnere mich daran, dass ich mit einer Zehnjährigen spreche, und presse die Lippen zu einem Strich aufeinander.

»Ist doch nicht schlimm. Hätte ich deine Kamera gehabt, hätte ich seine Rede für dich aufgenommen.«

»Du möchtest sie haben, richtig?« Ich hebe amüsiert die Augenbrauen und hole meinen Rucksack zu mir.

Ein verlegenes Lächeln ist ihre Antwort.

»Na gut.« Ich krame nach meinem Heiligtum und ziehe aus der Seitentasche die Speicherkarte hervor, die ich für Phoebes Clips und Fotografien verwende. So gern ich Nellys Schwester habe, hunderte verwackelte Fotos auf meiner Kamera machen mir mehr Arbeit als Phoebe Freude. Als das Gerät bereit ist, winke ich Phoebe zu mir heran und hänge ihr das Band um den Hals. »Du weißt ja, wie sie funktioniert. Bring sie mir einfach zurück, wenn du keine Lust mehr hast.«

»Das heißt, ich darf sie mit nach Hause nehmen?«, fragt Phoebe mit großen Augen. Ihr Lachen beweist, dass sie bloß spaßt, und bevor ich etwas anderes erwidern kann, läuft sie zurück ins Hotelinnere.

Seufzend streiche ich mir über die vor Müdigkeit geschwollenen Lider. Hier einfach sitzen zu bleiben, bis die Gäste auf ihre Zimmer verschwinden, ist wahnsinnig verlockend. Aber ich weiß, dass es keinen Weg um mein Erbe herum gibt und ich alles dafür tun werde, mindestens Grandpa Lewis stolz zu stimmen. Dazu gehört leider, alten weißen Männern die Hände zu schütteln und ihnen von den neuen Burley-Filialen zu erzählen, als würde mich das wahrlich interessieren. Dabei ist alles, woran ich gerade denke, der Filmwettbewerb in Dublin, bei dem ich meinen Clip morgen einreichen werde, und … Nelly.

Sie ist irgendwo da unten. Vielleicht hat sie mitbekommen, dass ich nicht aufgetaucht bin, als Dad meinen Namen erwähnt hat. Vielleicht fragt sie sich, ob ich verschwunden bin, bevor ich ihr persönlich sagen konnte, dass sie der einzige Grund ist, mich diesem Grauen zu stellen. Da sie da ist, gibt es wenigstens eine einzige Motivation, um mich in das Getümmel zu stürzen.

Als ich mich dem Kernstück des Hotels nähere, richte ich den Kragen meines Hemdes. Das Stimmenwirrwarr vermischt sich mit aneinanderstoßenden Gläsern und Gelächter. Als ich die Treppe hinabsteige, halte ich den Blick gesenkt. Das ist der Nachteil dieser Empore: Einfach jeder starrt mich an, als wäre ich die Ballkönigin des Prom in irgendeinem amerikanischen Musicalfilm. Innerlich gehe ich unter ihrem Tuscheln ein. Manchmal frage ich mich, wie ich das Kind meiner Eltern sein kann.

Unten angekommen schaue ich mich scheu nach einem bestimmten Paar brauner Augen um.

Heute ist der Tag, an dem ich über meinen Schatten springen werde. Nicht nur mit dieser einen Nachricht. Das reicht nicht aus. Schon gar nicht seit ihrer Antwort.

Ich entdecke sie in einem dunkelgrünen Kleid an der Fensterfront des Festsaals. Die Scheibe spiegelt ihr höfliches Lächeln, mit dem sie den Worten meiner Mutter begegnet. Auch wenn sie heute so viel erwachsener erscheint, ist der Flechtzopf das Gewohnte in dem Neuen. Wer hätte gedacht, dass ein so winziges Detail ein vertrautes Ziehen in meiner Magengrube hervorruft?

Ich schlucke trocken und schiebe innerlich jedes Fünkchen Mut und Selbstbewusstsein zusammen. Steven hat mir so viele Tipps gegeben, um Mädchen anzusprechen, dass ich daraus einen Ratgeber zusammenbasteln könnte. Nur bin ich nicht Steven, der mit seiner Sicherheit, seinen Muskeln und seinem Humor bei jedem Menschen punkten kann. Ich bin Zack Burley, ein verdammtes Weichei, das sich nicht einmal traut, das Mädchen seiner Träume zu begrüßen.

Entschlossen balle ich die Hände zu Fäusten und will gerade auf sie zugehen, als sich etwas auf meine Schulter legt.

»Da bist du.« Die Kälte seiner Stimme bewirkt, dass ich mich in mein Schneckenhaus zurückziehe und aufblicke. Stotternd suche ich nach einer Ausrede, doch da hat mein Vater sich schon in Bewegung gesetzt und schiebt mich mit sich aus dem Territorium der Reichen und Schönen hinaus.

»Was ist los?«, frage ich verunsichert.

Seine Schritte sind energisch, und ich kann mir kaum ausmalen, welcher Sturm in ihm toben muss. Wenn er will, dass wir uns fernab der Menge unterhalten, kann ich nur erahnen, wie schlimm seine Standpauke diesmal ausfallen wird. Innerlich wappne ich mich schon für die verbale Flut an Enttäuschung, Unverständnis und Verbitterung. Doch als er mich in den Musiksaal schiebt, die Tür hinter uns zupfeffert und der Knall verklingt, ist es still. Sein Schweigen soll vielleicht bewirken, dass ich mich auf Knien bei ihm entschuldige und schwöre, es nächstes Mal besser zu machen. Doch ich stehe nur vor ihm wie ein überforderter kleiner Junge, der nichts zu sagen und nichts zu tun weiß.

Dann, nach einer mir endlos erscheinenden Stille, zischt er: »Nie wieder wirst du mich so blamieren, hörst du?«

Der Ton seiner Stimme ist voller so vieler Eiskristalle, dass meine Arme eine Gänsehaut überzieht. Augenblicklich wünsche ich mir sein Schweigen zurück.

Der Raum ist nicht beleuchtet, sodass das Licht vom Außenbereich, das durch die Rundglasfenster strömt, nur einen Vorgeschmack auf den Zorn in seinen Augen bietet.

»Ich habe an einem wichtigen Projekt gearbeitet und die Zeit vergessen.« Meine Stimme klingt, als hätte ich zwei Nächte lang durchgefeiert. Sosehr ich darum kämpfe, ihr die Stärke zu verleihen, die ich gegen William benötige, es gelingt mir nicht.

»Ein wichtiges Projekt? Gibt es etwas Wichtigeres als diesen Abend? Als zukünftiger Geschäftsführer ist es deine Pflicht, das Gewerbe schon jetzt zu deiner höchsten Priorität zu erklären!« Seine Stimme überschlägt sich und wird von wirren Handbewegungen unterstrichen, die dafür sorgen, dass ich einen Schritt zurückweiche. William hat mich noch nie geschlagen, aber seine Wut war auch selten so übermäßig, dass er mit dieser Stimme gesprochen hat.

»Ja. Ja, es gibt etwas Wichtigeres, kannst du dir das vorstellen? So ziemlich alles in meinem Leben ist wichtiger als das Hotel.«

Etwas überrascht hänge ich meinen Worten nach. So ehrlich war ich bisher nie. Nicht zu mir selbst und erst recht nicht zu William. Anscheinend bleibt es heute nicht nur bei meinem Vorsatz, Nelly offen und aufrichtig zu zeigen, was ich ihr gegenüber fühle. Nie hätte ich erwartet, dass ein kleiner Entschluss wie dieser einen Hurrikan an Entscheidungen mit sich bringen kann. Nein, ich werde kein Leben führen, das von Bedauern und Unzufriedenheit beherrscht wird. Nein, ich werde mich nicht länger von dir verbiegen lassen.

Die Empörung übernimmt seine Mimik. Ich könnte schwören, dass sie gleich dafür sorgt, dass er den Raum in Schutt und Asche legt. Doch stattdessen kommt er auf mich zu. Die Schritte langsam und konträr zu dem wütenden Atem, der sich durch seine Lippen presst. »Du hältst dich vielleicht für intelligent, aber ohne deinen Nachnamen bist du nichts. Nicht für das Trinity, nicht für Oxford. Alle sehen nur das Burley in deinem Lebenslauf. Ohne das bist du ein Niemand.«

Meine Schultern fallen hinab, gleichzeitig vermengen sich die Gefühle von Hass und Schmerz in mir, sodass ich ihm starr in die Augen blicke und zische: »Du bist mein Vater. Welcher Vater sagt so etwas Abscheuliches zu seinem Kind?«

Die Antwort ist offensichtlich, denn William tritt zurück und verlässt schweigend den Raum.

6

ZACK

Seit einer geschlagenen halben Stunde bohren sich die unebenen Steine der Mauer, die den Musiksaal umgibt, in meinen Rücken. Mein Hinterkopf donnert zum hundertsten Mal gegen deren Kälte, als sich Dads Worte in meinen Gedanken wiederholen wie von einem implantierten Tonband abgespielt.

Alle sehen nur das Burley in deinem Lebenslauf. Ohne das bist du ein Niemand.

Ich schlucke gegen die aufsteigende Panik an.

Vielleicht hat er recht. Vielleicht wirst du nie mehr als der Sohn des erfolgreichsten Hoteldirektors Europas sein.

Ein Teil von mir weigert sich, diesen erniedrigenden Fakt zu akzeptieren, ein anderer weiß genau, dass ich ohne meine Eltern nichts wäre. Nicht der Jahrgangsbeste, keiner der Sportler. Im Grunde bin ich nichts weiter als der Junge mit der Kamera, dem Skateboard und den Träumen. Den Träumen von einer Zukunft in der Filmbranche, weit weg von Greglon.

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche dieser viel zu engen Stoffhose und tippe auf meinen Chatverlauf mit Steven.

Steven: Wie sieht es aus? Bist du dabei?

Vor einer Stunde habe ich seine Nachricht gekonnt ignoriert, wohl wissend, dass ich mir eine Flucht aus diesem Abend nicht erlauben darf. Jetzt übermannt mich das Gefühl, dass die Wände des Hotels mir immer näher rücken. Sie umzingeln mich mit ihrem Gestein und wollen mich für den Rest meines Lebens gefangen halten. Das darf nicht passieren.

Zack: Ich hole dich ab.

Seine Antwort sind vier Party-Emojis und eine Sprachnachricht, in der man sein angetrunkenes Jubeln hört. Vermutlich hat er schon so einige Bierflaschen mit Darren in seinem Keller geleert.

Mit rollenden Augen stecke ich mein Handy weg und fahre mir ein letztes Mal über mein mit Schweiß überzogenes Gesicht, als sich die Tür des Saals öffnet.