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Luisa hat sich aus dem Leben zurückgezogen – sie leidet unter ihrer unerträglichen Chefin, hat ihren Traumjob als Landschaftsarchitektin abgeschrieben und trauert immer noch um ihren Mann, den sie vor vielen Jahren verloren hat. Eines Tages erhält sie ein Angebot, das sie aus ihrem grauen Alltag befreit: In Collaton, einem Küstenort im Nordwesten Englands, soll sie auf einem verwilderten Stück Land einen Gemeinschaftsgarten anlegen, wie sie es sich immer gewünscht hat. Schnell wird Luisa klar, dass sie eine Menge Arbeit erwartet. Nicht nur muss sie das karge Grundstück in einen Garten verwandeln, sondern auch die Anwohner von ihrem Vorhaben überzeugen. Aber Cas und Harper, ein örtlicher Lehrer und sein Schützling, sind ihr eine große Hilfe. Und als die ersten Pflanzen aus dem Boden sprießen, kommen immer mehr Helfer, die Zuflucht im Gemeinschaftsgarten finden. Doch nicht alle Dorfbewohner können sich für das Projekt erwärmen, und auch Luisa zweifelt, ob dieser Neuanfang eine gute Idee war. Sie muss sich entscheiden. Wie will sie ihre Zukunft verbringen – und vor allem: mit wem?
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Seitenzahl: 553
Veröffentlichungsjahr: 2024
Luisa hat sich aus dem Leben zurückgezogen – sie leidet unter ihrer unerträglichen Chefin, hat ihren Traumjob als Landschaftsarchitektin abgeschrieben und trauert immer noch um ihren Mann, den sie vor vielen Jahren verloren hat. Eines Tages erhält sie ein Angebot, das sie aus ihrem grauen Alltag befreit: In Collaton, einem Küstenort im Nordwesten Englands, soll sie auf einem verwilderten Stück Land einen Gemeinschaftsgarten anlegen, wie sie es sich immer gewünscht hat.
Schnell wird Luisa klar, dass sie eine Menge Arbeit erwartet. Nicht nur muss sie das karge Grundstück in einen Garten verwandeln, sondern auch die Anwohner von ihrem Vorhaben überzeugen. Aber Cas und Harper, ein örtlicher Lehrer und sein Schützling, sind ihr eine große Hilfe. Und als die ersten Pflanzen aus dem Boden sprießen, kommen immer mehr Helfer, die Zuflucht im Gemeinschaftsgarten finden. Doch nicht alle Dorfbewohner können sich für das Projekt erwärmen, und auch Luisa zweifelt, ob dieser Neuanfang eine gute Idee war. Sie muss sich entscheiden. Wie will sie ihre Zukunft verbringen – und vor allem: mit wem?
© Phil Rigby
Sharon Gosling ist eine britische Journalistin und Autorin. ›Forgotten Garden‹ ist nach ›Fishergirl’s Luck‹ (2022) und ›Lighthouse Bookshop‹ (2023) ihr dritter Roman bei DuMont. Sie lebt mit ihrer Familie im Norden von England, ihr Mann besitzt einen Buchladen.
Sibylle Schmidt hat in Berlin Theaterwissenschaften und Amerikanistik studiert. Sie übersetzt aus dem Englischen, u.a. JP Delaney, Ciara Geraghty und David James Poissant.
Sharon Gosling
FORGOTTENGARDEN
Roman
Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt
Von Sharon Gosling sind bei DuMont außerdem erschienen:
Fishergirl’s Luck
Lighthouse Bookshop
E-Book 2024
DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
© Sharon Gosling, 2023
Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel ›The Forgotten Garden‹ bei Simon & Schuster UK Ltd, London
© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Übersetzung: Sibylle Schmidt
Lektorat: Robin Hermenau
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: © Gisela Goppel
Satz: Angelika Kudella, Köln
E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-7558-1021-6
www.dumont-buchverlag.de
Für alle, von denen ich gelernt habe,
1
Das prachtvolle Herrenhaus aus gelbem Sandstein ragte imposant unter dem düsteren, wolkigen Februarhimmel auf. Wie in einem Buch von Jane Austen, dachte Luisa. Von hier aus waren keinerlei Anzeichen von modernem Leben zu erkennen, und sie konnte sich leicht vorstellen, auf magische Weise in der Vergangenheit gelandet zu sein. Vielleicht würde gleich eine der Romanfiguren aus dem neunzehnten Jahrhundert um die Ecke biegen.
Luisa hatte sich im Hintergrund aufgehalten und Aufzeichnungen gemacht, während ihre Chefin, Marianne Boswell, und die Herrin des Anwesens, Lady Caroline, das Gelände besichtigten. Aber als Marianne begann, wortreich mit ihren Leistungen anzugeben, um den Auftrag an Land zu ziehen, verdrückte Luisa sich unauffällig, um die Gärten in Ruhe zu inspizieren.
Sie kam selten genug aus ihrem Büro heraus, und Feldspar Hall war auf jeden Fall das beeindruckendste Anwesen, das sie beruflich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Dass es sich noch immer in Privathand befand, war erstaunlich, aber den Percivants war es auf wundersame Weise gelungen, den Familiensitz von Generation zu Generation weiterzuvererben. Lady Caroline, eine temperamentvolle Frau Anfang Dreißig mit glänzendem schwarzem Pferdeschwanz, hatte nun beschlossen, dass mit den Gärten »irgendetwas passieren« sollte. Sie waren schön, müssten aber unbedingt modernisiert werden, fand sie. Während der Besichtigung hatte Luisa den Eindruck gewonnen, dass Lady Caroline vor allem daran gelegen war, eigene Spuren zu hinterlassen. Luisa konnte das gut verstehen. Wenn man hier lebte, kam man sich angesichts von so viel Historie vielleicht bedeutungslos vor.
Die Gelegenheit, die Gärten eines so hochherrschaftlichen Anwesens wie Feldspar Hall umzugestalten, war eine Chance, die sie bestimmt nur einmal im Leben bekommen würde, sagte sich Luisa. In all den Jahren, in denen sie als Assistentin von Marianne Boswell arbeitete, war so etwas noch nie vorgekommen. Deshalb hatte sich Marianne, sobald die Ausschreibung bekannt geworden war, mächtig ins Zeug gelegt, um die Konkurrenzfirmen aus dem Feld zu schlagen. Luisa hatte monatelang sorgfältig recherchiert und jede Menge Material vorbereitet. Nach der Begehung von Feldspar Hall hegte sie allerdings Zweifel, ob Marianne die Unterlagen überhaupt angeschaut hatte, da sie keinerlei Fragen dazu gestellt hatte. Aber sie war ohnehin der Meinung, dass ihr in Sachen Gartenarchitektur niemand das Wasser reichen konnte. Die Materialmappe war wie Luisas Begleitung nur als Showeffekt gedacht.
Luisa jedoch hatte sich durch die Recherchen mit den Gärten so vertraut gemacht, dass dabei etwas fast Vergessenes in ihr wieder zum Leben erwacht war. Seit vielen Jahren hatte sie keinen Garten mehr selbst entworfen, doch die großen Dimensionen hatten ihre Kreativität angeregt. Wie konnte man einen modernen Garten gestalten, der eine harmonische Einheit mit einem solchen historischen Gebäude bilden würde? Das war eine echte Herausforderung.
Luisa lehnte sich an die Steinbalustrade, holte das iPad heraus und öffnete ihre Entwürfe. Als sie einen davon mit der Gartenlandschaft verglich, stellte sie begeistert fest, dass er gut gelungen war. Während der Begehung hatte sie weitere Ideen gehabt, und jetzt zückte sie ihren Eingabestift und ergänzte die Skizze. Lady Caroline hatte erwähnt, dass sie eine leidenschaftliche Leserin war – da würde sich doch ein geschütztes Leseplätzchen im Freien geradezu anbieten. Weil Naturschutz ihr auch sehr am Herzen lag, könnte man Lebensräume für Wildtiere in den Gärten einrichten. Und auch die drei Kinder der Percivants in unterschiedlichem Alter sollten bei der Umgestaltung bedacht werden.
Luisa war so in ihre Skizzen vertieft, dass sie die beiden Frauen erst bemerkte, als Marianne sich räusperte. Luisa drehte sich rasch um und wurde von ihrer Chefin mit einem finsteren Blick bedacht, während Lady Caroline erfreut lächelte.
»Sind das Skizzen?«, fragte sie interessiert. »Entschuldigen Sie bitte, ich wusste nicht, dass Sie die Gestaltung übernehmen. Darf ich mal sehen?«
Noch bevor Luisa antworten konnte, wurde ihr das iPad von Marianne aus der Hand gerissen.
»Luisa ist meine Sekretärin«, sagte sie knapp. »Diese Entwürfe sind auf Basis meiner frühen Ideen und Recherchen entstanden. Ich hatte Ihnen ja bereits gesagt, dass in meiner Firma auf präzise Vorbereitung von Projekten ebenso viel Wert gelegt wird wie auf die Umsetzung. Es handelt sich hier nur um erste Skizzen, aber natürlich, verschaffen Sie sich gerne einen Eindruck.«
Die Hausherrin warf Luisa einen Blick zu, und sie nickte lächelnd. Es war nichts Neues für sie, in Mariannes Schatten zu stehen, und sie war nun mal wirklich ihre Sekretärin.
»Aber … das sieht ja wunderschön aus«, bemerkte Lady Caroline staunend. »Wunderbare Farbgestaltung – woher kannten Sie denn meine Lieblingsfarben? Und diese Laube hier ist ja entzückend!«
Auf dem Weg zum Ausgang quasselte Marianne irgendwelchen Blödsinn über »Intuition« und ihr großes Talent, »eine ideale Harmonie zwischen Kunde und Projekt herzustellen«, um Lady Caroline von Luisa abzulenken. Weil es nichts mehr festzuhalten gab, schaltete sie den Rekorder aus, wobei eine Stimme in ihr raunte, es könne vielleicht nicht schaden, die Lügen ihrer Chefin einmal auf Band zu haben … Aber nein, das war einfach nicht ihr Stil.
Auf der breiten Freitreppe zum Eingangsportal des Herrenhauses gab Lady Caroline Marianne das iPad zurück.
»Herzlichen Dank Ihnen beiden fürs Herkommen«, sagte die Herrin von Feldspar Hall. »Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen, es ist ja eine weite Fahrt hierher.«
»Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte Marianne. »Und ich hoffe wirklich sehr, dass Sie dieses großartige Projekt in meine Hände legen werden, Lady Caroline. Ich denke, meine Pläne würden die Schönheit Ihres prachtvollen Anwesens hervorragend zur Geltung bringen. Sagen Sie mir Bescheid, ja? Man müsste die Pflanzsaison in Betracht ziehen, und die Zeit vergeht rasch. Der Frühling kommt immer schneller, als man denkt.«
»Selbstverständlich.« Lady Caroline lächelte. »Ich möchte noch Gespräche mit einigen anderen Firmen führen, aber ich muss sagen, die Entwürfe, die ich gerade gesehen habe, waren sehr überzeugend.«
»Schön«, sagte Marianne. »Ich freue mich, bald von Ihnen zu hören.«
»Und ich habe mich gefreut, Sie kennenzulernen. Und Sie, Luisa«, sagte sie so betont, dass Luisas Lächeln diesmal strahlender ausfiel.
»Was führst du im Schilde?«, zischte Marianne, nachdem sie sich verabschiedet hatten.
»Ich habe nur ein bisschen gekritzelt«, sagte Luisa.
»Nun, ich darf dich daran erinnern, dass das iPad, auf dem du diese Kritzeleien gemacht hast, Firmeneigentum ist. Und damit gehören diese Entwürfe dem Unternehmen Boswell Gardens, damit das klar ist.« Marianne schnalzte verärgert mit der Zunge, als ihr Blick auf das Auto fiel, mit dem Luisa hergekommen war. »Und mit so einer Kutsche hier aufzukreuzen. Ich bezahle dir offenbar zu viel. Du bist nur Sekretärin, um Himmels willen, wie kannst du dir einen nagelneuen BMW leisten?«
Luisa warf einen Blick auf das schimmernde schwarze Auto. »Gar nicht«, antwortete sie. »Das ist der Firmenwagen meiner Schwester. Der alte Land Rover von meinem Vater musste in die Werkstatt, deshalb …«
»Ich muss los«, unterbrach Marianne sie schroff. »Wir sehen uns Montag.«
»Aber ich dachte, da hätte ich frei? Weil ich doch heute gearbeitet habe?«
Marianne setzte sich in ihren Wagen. »Okay. Aber das hättest du früher mit mir absprechen sollen.«
»Danke«, sagte Luisa, obwohl ihre Chefin bereits die Fahrertür ihres kleinen Cabrios zugeknallt hatte. »Nett von dir.«
Marianne startete den Motor, und erst als sie losfuhr, fiel Luisa auf, dass sie das iPad nicht zurückbekommen hatte. Mit einem Seufzer stieg sie in den BMW. Sie musste es sich eben nächste Woche zurückholen. Dann würden die Entwürfe für Feldspar Hall zwar garantiert verschwunden sein, aber daran war nun mal nichts zu ändern.
2
Es war noch nicht einmal vier Uhr nachmittags, aber während der Rückfahrt nach Carlisle ging die Sonne schon unter. Luisa verabscheute die kurzen Tage im Februar, der Winter zog sich immer endlos lange hin. Sie warf einen skeptischen Blick auf die bleigrauen Wolken, die nach drohendem Schauer aussahen, und trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad, weil ihre Hände eiskalt waren. Die stundenlange Autofahrt wäre Luisa weniger lästig gewesen, wäre sie nicht von ihrer Chefin wie eine Handlangerin behandelt worden. Die Aufzeichnungen in Feldspar Hall hätte Marianne nämlich problemlos selbst machen können. Andererseits, sagte sich Luisa, hätte sie dann dieses fantastische Anwesen nicht erlebt.
Ihr Handy klingelte, und Luisa warf einen Blick aufs Display. Der Name, der dort erschien, ließ sie einen Moment lang stutzen. Sie schaltete ihr Bluetooth-Headset ein und sagte etwas zögernd: »Owen. Wie schön, wir haben uns ja ewig nicht mehr gehört. Wie geht es dir?«
»Gleich besser, wenn ich deine Stimme höre, meine Liebe«, ertönte die kraftvolle Baritonstimme von Owen Lawrence. »Und wie geht es dir, liebe Luisa?«
»Ach, weißt du«, sagte sie leichthin, während sie überlegte, warum der Patenonkel ihres verstorbenen Mannes sie anrief. »Alles in Ordnung soweit, danke.«
»Gut, gut.« Owen war grundsätzlich in Eile. »Hör mal, ich komme gleich zur Sache. Ich habe gestern etwas erfahren, das ich dir mitteilen möchte. Ein Projekt, bei dem ich sofort an dich gedacht habe.«
»Ach ja?«, sagte Luisa überrascht. Owen war einer der größten Grundstücksentwickler im Norden von England. Er arbeitete seit Jahren mit dem gleichen Team, zu dem auch eine ihm treu ergebene Sekretärin gehörte. Luisa konnte sich nicht vorstellen, was er ihr anbieten wollte.
»Ich habe im Zuge eines Ankaufs ein Stück Land erworben«, verkündete Owen jetzt. »Genauer gesagt: Ich habe ein Immobilienunternehmen aufgekauft, zu dessen Beständen dieses Grundstück gehört, für das ich keinerlei Verwendung habe. Es lässt sich nicht verkaufen, weil es für eine Bebauung vollkommen ungeeignet ist. Einer meiner gewieften Berater hat mir deshalb geraten, es einem Wohltätigkeitsprojekt zu spenden, um es steuerlich absetzen zu können.«
»Aha«, sagte Luisa, der noch immer keine einleuchtende Erklärung einfallen wollte, was das mit ihr zu tun hatte.
»Anfänglich hatte ich, ehrlich gesagt, keine Idee, was man mit so einem Grundstück anfangen könnte«, fügte Owen hinzu. »Aber dann fiel mir plötzlich der Gemeinschaftsgarten wieder ein, den ihr damals gründen wolltet, Reuben und du.«
Reuben. Luisa sog scharf die Luft ein und umklammerte das Lenkrad fester. Sie wollte sich von seinem Namen nicht mehr so verstören lassen, brachte aber dennoch kein Wort hervor.
»Luisa? Bist du noch dran?«
Sie schluckte zweimal. »Ja, Owen. Bin ich.«
»Tut mir leid, dass ich euch damals nicht bei diesem Vorhaben unterstützen konnte«, sagte Owen jetzt. »Ich weiß, wie viel dem Jungen daran gelegen hätte.«
»Es ist lange her«, erwiderte Luisa leise, während sie mit ihrer verblüffend heftigen körperlichen Reaktion rang. Das ist nur, weil ich nicht darauf vorbereitet war, versuchte sie sich einzureden. Weiter nichts. Es geht dir gut. Alles ist gut.
»Ja.« Owens Stimme hörte sich jetzt weicher an. »Hör mal, Luisa … Es tut mir leid, wenn das jetzt zu viel aufwühlt. Sag ruhig, wenn es nicht infrage kommt für dich, dann erwähne ich das Grundstück nie wieder. Aber andererseits … Falls du das Projekt noch verwirklichen willst, warum dann nicht mit diesem Stück Land? Du könntest damit beweisen, dass eure Idee funktioniert. Und ich würde dich bei der Suche nach weiteren Geldgebern gern unterstützen.«
»Das ist lieb von dir, Owen«, erwiderte Luisa, während sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »Aber es ist leider wirklich ausgeschlossen. Ich wüsste nicht mal mehr, wie ich so etwas anfangen soll.«
»Und das ist ein weiterer Grund, warum ich es für eine tolle Chance halte«, entgegnete Owen. »Du bist so eine talentierte Gartenarchitektin, Luisa, das hat sogar ein alter Banause wie ich erkannt. Deine Ideen waren immer großartig. Mir ist klar, dass sich nach dem Unfall dein Leben komplett verändert hat, und ich verstehe, dass du nicht mehr an der Vergangenheit rühren willst. Aber es stimmt mich traurig, dass du deinen Beruf aufgegeben hast. Willst du dir das nicht noch mal überlegen? Ich würde dir mit allem, was mir möglich ist, zur Seite stehen. Und … es wäre auch ein wundervolles Gedenken an Reuben, meinst du nicht?«
Luisas Augen brannten, und sie spürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Sie blieb stumm, während sich plötzlich eine Szene aus der Vergangenheit vor ihren Augen abspielte. Reubens strahlendes Gesicht an dem Tag, als sie beide ihren Bachelor geschafft hatten. Er hatte sie hochgehoben und herumgewirbelt, jubelnd und glücklich. Sie hatten nicht ahnen können, was kurz darauf geschehen würde. Die Trauer traf Luisa mit solcher Wucht, als hätte sie Reuben erst gestern und nicht vor vielen Jahren verloren.
»Tut mir leid«, sagte Owen in die Stille hinein. »Ich wollte dich zu nichts drängen. Du weißt selbst am besten, was gut für dich ist. War nur so eine Idee.«
»Danke«, krächzte Luisa. Ihr Hals fühlte sich schrecklich trocken an. »Wirklich, Owen, ich danke dir. Das ist ein sehr großzügiges Angebot, aber ich kann es nicht annehmen.«
»Das verstehe ich«, erwiderte Owen. »Aber ich schicke dir für alle Fälle trotzdem eine E-Mail mit den Details. Wenn dir danach ist, schau sie dir an. Und übrigens würden Emilia und ich uns freuen, wenn du uns mal besuchen kommst, du bist jederzeit zum Essen eingeladen. Ruf einfach an, wenn es passt.«
»Danke«, sagte Luisa mechanisch. Das Gespräch hatte sie so angestrengt, dass sie zu mehr Worten nicht mehr imstande war.
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, versuchte Luisa die Schatten aus ihrem Kopf zu vertreiben, die den Winternachmittag noch trister erscheinen ließen. Reuben und sie hatten sich während des Studiums kennengelernt. Sie hatten beide Gartenbau studiert, aber mit unterschiedlichen Spezialgebieten. Luisa fühlte sich zum Design hingezogen, wohingegen Reuben während seines Studiums eine Faszination für Pilze entwickelte, die in ein Forschungsprojekt mündete. Beide waren davon überzeugt, dass man mit Pflanzen die Welt verändern konnte, und als die beiden ein Paar wurden, geschah sowohl beruflich als auch privat etwas Magisches. Sie heirateten (zu jung, hätte man vielleicht denken können, aber das sahen sie anders) und waren unendlich glücklich, blickten freudig in die gemeinsame Zukunft, bis …
Nein, daran durfte sie nicht denken, und schon gar nicht beim Autofahren. Zu allem Überfluss kam zu dem trüben Zwielicht jetzt auch noch starker Schneeregen, der die Sicht behinderte.
Luisa holte tief Luft und versuchte sich zu konzentrieren. Als sie endlich Carlisle erreichte, hatten die Schauer nachgelassen, und sie fühlte sich wieder stabiler. In den Fenstern des Reihenhauses, das sie mit ihrer jüngeren Schwester bewohnte, leuchtete warmes gelbes Licht, und Luisa fragte sich, ob Joannas Verlobter Neil da war. Einen Moment lang hoffte sie, es sei nicht so, und fühlte sich deshalb prompt schlecht. Sie konnte sich gar keinen passenderen Partner für ihre temperamentvolle Schwester vorstellen und betrachtete ihn nicht nur als künftigen Schwager, sondern auch als Freund. Heute stand ihr nach dem anstrengenden Tag zwar nicht der Sinn danach, den Abend mit den beiden Turteltauben zu verbringen, aber das Haus gehörte eben auch Jo. Nach der Hochzeit Ende August wollte sie mit Neil dort leben, und Luisa würde ihren Anteil ausgezahlt bekommen und sich eine neue Bleibe suchen.
Es wurde höchste Zeit für eine Veränderung, darüber war Luisa sich im Klaren. Sie war sechsunddreißig, lebte mit ihrer Schwester zusammen und schleppte sich durch die Tage, gebunden an einen Job, der sie im Herzen völlig kaltließ. Sie musste sich eine Wohnung suchen, ein neues Leben beginnen, allein …
Vielleicht sollte ich mir einen Hund zulegen, dachte Luisa, während sie den BMW auf der Zufahrt parkte. Aber sogar die Vorstellung, sich um ein Haustier kümmern zu müssen, war ihr zurzeit zu anstrengend. Meistens aß sie nicht einmal zu Abend, wenn Jo sie nicht daran erinnerte. Beim Aussteigen stellte Luisa bedauernd fest, dass ihr getreuer alter Land Rover Defender immer noch nicht aus der Reparatur zurück war.
Als Luisa das Haus betrat, hörte sie aus der Küche am anderen Ende des Flurs einen heiteren Popsong. Sie zog ihren Mantel aus und blickte in den Spiegel der alten Kommode, die sie von ihrem Vater geerbt hatten. Sie war viel zu wuchtig für den schmalen Flur und zu altmodisch für Joannas modernen und Luisas minimalistischen Einrichtungsstil. Aber die Schwestern hatten sich nicht davon trennen können, auch wenn das Ungetüm nun hauptsächlich Stolperfalle und Ablage für allerlei Plunder war.
Luisa strich sich das kastanienbraune Haar aus der Stirn, das dringend einen Schnitt benötigte. Ihr Bob war so weit herausgewachsen, dass ihr die Haare bis weit über die Schultern reichten. Sie stellte ihre Stiefel zu dem ungeordneten Haufen vor dem vollgestopften Schuhregal. Aus der Küche waren schnelle Schneidegeräusche zu vernehmen, aber keine Stimmen.
»Hallo?«, rief Luisa.
»Hey!«, rief Jo zurück, ohne das Schneiden zu unterbrechen. »Ich dachte schon, du bist mit dem Zirkus durchgebrannt.«
Als Luisa die Küche betrat, war ihre Schwester gerade mit dem Zerteilen einer Zwiebel beschäftigt. Die Arbeitsflächen sahen aus, als hätte Jo den gesamten Inhalt des Kühlschranks und des Gewürzbords darauf verstreut. Das Tohuwabohu wurde ergänzt durch ein aufgeklapptes Kochbuch, eine Flasche Rotwein und ein halb volles Glas. Luisa fand es immer wieder erstaunlich, dass ihre kluge Schwester, die mit dreißig als Anwältin schon große Erfolge vorweisen konnte, zu Hause so extrem unordentlich war.
»Danke fürs Auto.« Luisa hängte die Schlüssel an den Haken neben dem Wasserkocher. »Hatte einen kleinen Blechschaden, aber keine Sorge, ich hab alles mit Paketstift übermalt, kein Mensch wird was merken.«
Jo gab ein künstliches Wiehern von sich, schien diese Bemerkung also gar nicht witzig zu finden. »Und, wie war dein Ausflug?«
Luisa verzog das Gesicht und deutete auf die Weinflasche. »Für mich bitte auch eine.«
»So lustig, wie?«
»Na ja, zumindest war ich mal einen Tag nicht im Büro.«
Jo seufzte. »Ich wünschte, du würdest diese Stelle endlich kündigen. Ich finde es unerträglich, wie diese Frau dich behandelt.«
Luisa nahm ein Weinglas aus dem Schrank und schenkte sich ein. »Schon okay. Ist nur ein Job. Könnte schlimmer sein.«
Jo schüttelte den Kopf und hackte wortlos weiter. Zum Glück wollte sie heute offenbar nicht darüber debattieren, dass Luisa etwas Besseres mit ihrem Leben anfangen sollte.
Sie warf einen Blick auf das Kochbuch. Indisches Streetfood. Das klang verlockend. »Wo steckt Neil?«
»Ist mit Freunden unterwegs.« Jo grinste Luisa vergnügt an und sah einen Moment lang wieder wie die übermütige Fünfjährige aus, die ihre große Schwester gerne piesackte. »Nur wir zwei heute, Schwesterchen. Ich dachte, ich koche mal was Feines für dich.«
Luisa trank rasch einen Schluck Wein, um sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Ach ja? Wieso glaubt die Zynikerin in mir, dass es für diese Nettigkeit ein niedriges Motiv gibt?«
Jo gab ein gequältes Stöhnen von sich. »Ich muss bis zum Lunch morgen die gesamte Tischwäsche und die Hussen ausgesucht haben. Und wenn du mir nicht dabei hilfst, sterbe ich entweder vor Langeweile oder sage die Hochzeit komplett ab.«
»Hussen?«, wiederholte Luisa verständnislos.
Ihre Schwester drehte sich um und holte mit dem Messer gefährlich weit aus, um einen Halbkreis in der Luft zu beschreiben. »Na, diese Überzüge. Für die Stühle im Festzelt.«
»Ach so. Verstehe.«
Jos Haltung zu ihrem »großen Tag« war bislang erstaunlich lustlos, und Luisa fragte sich immer wieder, ob das etwas mit ihr zu tun hatte. Wollte Jo vielleicht die Vorfreude vor ihrer Schwester verbergen, weil deren Ehe so tragisch geendet hatte? Dieser Gedanke erinnerte Luisa wieder an den überraschenden Anruf von Owen.
»Was ist?«, fragte Jo, während sie die geschnittene Zwiebel in eine Pfanne mit heißem Öl warf, aus der es bereits köstlich nach Gewürzen duftete: Kumin und Fenchel, Senfsamen und Schwarzkümmel. »Dich beschäftigt doch irgendwas, das spüre ich.«
Luisa lehnte sich an die Arbeitsfläche. »Ich habe auf der Rückfahrt einen ziemlich seltsamen Anruf von Owen bekommen.«
»Von Reubens Owen?«, fragte Jo überrascht. »Owen Lawrence?«
»Ja.« Luisa schilderte das Gespräch so knapp wie möglich und war stolz, dass es ihr gelang, Reubens Namen ohne Zögern auszusprechen.
Jo hörte aufmerksam zu, runzelte dabei leicht die Stirn. »Das ist ein interessantes Angebot, oder nicht?«, sagte sie dann.
Luisa trank einen Schluck Wein. »Na ja, ich habe es natürlich abgelehnt.«
»Wirklich? Einfach so?«
»Ja. Das ist für mich Vergangenheit.«
Jo legte den Kochlöffel beiseite, griff nach ihrem Glas und beäugte ihre Schwester nachdenklich.
»Was?«, fragte Luisa.
Jo öffnete gerade den Mund, um zu antworten, als Luisas Handy klingelte. Sie zog es aus der Tasche, und beide sahen Mariannes Namen auf dem Display.
»Geh nicht ran«, befahl Jo. »Es ist Samstagabend. Sie hat dir schon das halbe Wochenende gestohlen.«
Luisa ignorierte ihre Schwester. »Marianne?«
»Ich brauche deine Notizen von heute per Mail, bis Montagfrüh«, verkündete ihre Chefin ohne Grußformel oder Entschuldigung.
»Aber …«
»Und lass mich nicht darauf warten«, sagte Marianne brüsk. »Ich habe gleich morgens ein Treffen mit Duke.«
Sie beendete das Gespräch abrupt. Luisa schaute auf die Uhr. Es war schon nach acht.
»Mach das nicht«, sagte Jo. »Wenn sie dich feuert, kannst du sie verklagen. Grässliche Hexe.«
Luisa steckte ihr Handy ein und studierte das Kochrezept. »Na klar«, sagte sie und begann die geschälten Kartoffeln zu würfeln. »Und währenddessen lasse ich dich kurz vor deiner Hochzeit mit den Hypothekenzahlungen hängen, oder wie?«
Eine Weile arbeiteten sie schweigend Seite an Seite, während die Playlist auf Spotify weiterlief. Luisa sah vor ihrem inneren Auge, wie junge Frauen irgendwo vergnügt durchs Zimmer tanzten und ihre Outfits für den Samstagabend planten. Plötzlich fühlte sie sich sehr alt. Und ein Teil von ihr raunte, dass sie vielleicht etwas dagegen unternehmen sollte.
3
Später saßen die Schwestern im Wohnzimmer vor Jos Laptop, der auf dem Couchtisch stand, und suchten Deko für die Hochzeitsfeier aus. Inzwischen waren die beiden bei der zweiten Flasche Wein angelangt, und im Hintergrund lief ein Film. Eine romantische Komödie wäre passender gewesen, aber sie hatten sich für einen Actionthriller mit Liam Neeson entschieden.
»Wo ist das denn überhaupt?«, fragte Jo, als ihr Interesse für Tischwäsche und Liam Neeson aufgebraucht war.
Luisa runzelte die Stirn. »Was meinst du?«
»Dieses Grundstück, das Owen dir überlassen will.«
»Weiß ich nicht. Irgendwo bei ihm in Durham wahrscheinlich.«
»Hat er nichts Genaueres gesagt?«
»Ich habe nicht gefragt. Er meinte, er würde mir eine Mail mit Details schicken, aber ich habe nicht nachgeschaut.«
Jo beäugte sie von der Seite. »Warum nicht?«
»Wozu denn? Ich habe doch ohnehin abgelehnt«, antwortete Luisa schulterzuckend.
Ihre Schwester schnaubte frustriert. »Na und? Ich bin trotzdem neugierig – lass uns mal nachgucken!«
Luisa wies auf Laptop und Fernseher, aber Jo ließ sich nicht ablenken. Mit einem ergebenen Seufzer zog Luisa ihr Handy heraus, rief die Mail auf und überflog sie. »Es ist ein altes Fabrikgelände. In Collaton, also doch nicht in Durham. Er schreibt, das Gebäude existiere schon lange nicht mehr, das Gelände sei verwildert.«
»Collaton?«, wiederholte Jo. »Wo wir früher oft am Strand waren? In West Cumbria?«
»Glaube schon.«
Jo zog den Laptop zu sich heran und gab ein paar Wörter ein. »Collaton«, las sie dann vor. »Eine kleine Ortschaft an der Küste, entstanden während der industriellen Blütezeit der Region, als dort Eisenerz verhüttet und Kohle verschifft wurde.« Sie hielt einen Moment inne, fügte dann langsam hinzu: »Luisa … bist du sicher, dass du dir das nicht zumindest mal überlegen möchtest? Es ist nicht weit weg, oder? Das könnte doch was für dich sein.«
»Was? Was redest du da?«
Jo schob den Laptop weg, griff nach ihrem Weinglas und lehnte sich zurück. »Ich meine, wäre das nicht eine großartige Gelegenheit, endlich wieder das zu machen, was du liebst – und was du tatsächlich tun solltest, anstatt für dieses Ungeheuer zu arbeiten?«
Luisa schüttelte den Kopf. »Aber das wäre kein Job, Jo. Das ist nur ein Stück Brachland in einem gottverlassenen Kaff.«
Jo blickte auf ihre Hände, strich mit dem perfekt lackierten Daumennagel am Glas entlang.
»Na, komm schon«, sagte Luisa. »Raus mit der Sprache.«
Ihre Schwester warf einen Blick auf den Fernseher und schaltete ihn aus. »Na ja«, sagte sie, »da ist ja immer auch noch das Geld von der Lebensversicherung, das nur herumliegt.«
Luisa sog scharf die Luft ein. »Jo. Bitte nicht.«
»Ich weiß, dass du nicht darüber reden willst. Und ich weiß auch, dass du das Gefühl hast, es war nicht richtig, es überhaupt anzunehmen …«
»Jo …«
»Luisa, bitte hör mir jetzt zu. Nur kurz. Du würdest es ja nicht für dich selbst ausgeben, sondern für einen guten Zweck. Etwas, das Reuben selbst ins Leben gerufen hätte. Wäre das nicht die ideale Möglichkeit dafür?«
»Wenn Marianne den Auftrag für Feldspar Hall bekommt, was denkst du, wie viel Zeit ich dann noch habe? Die Pflanzsaison steht vor der Tür«, wandte Luisa ein. »Es ist erst Februar, und ich habe jedes Wochenende gearbeitet. Selbst wenn ich mich so einem Projekt widmen wollte, hätte ich gar keine Zeit dafür.«
»Dann kündige«, sagte ihre Schwester unverblümt. »Tritt dieser abscheulichen Marianne Boswell in den Arsch, und lass sie sitzen. Die hat es nicht anders verdient.« Bevor Luisa protestieren konnte, ergriff Jo ihre Hand. »Das Geld liegt seit Jahren nur herum.«
Luisa stellte ihr Glas ab und befreite sich von Jos Hand. »Du hast zu viel getrunken«, sagte sie in schärferem Tonfall als beabsichtigt. »Du redest Unsinn. Ich gehe jetzt ins Bett.«
»Luisa …«
»Nein, Jo. Es reicht.«
»Das war immer dein Lebenstraum, Lu. Gärten zu gestalten. Den du jetzt verwirklichen könntest, wenn du …«
»Reuben war mein Traum«, erwiderte Luisa schroff. Ihre Gefühle drohten, sie zu überwältigen, und das wollte sie auf keinen Fall zulassen.
Das brachte ihre Schwester zum Schweigen, was Luisas Absicht gewesen war. Doch dann fügte Jo mit mitfühlendem und zugleich eindringlichem Blick hinzu: »Reuben war ein Teil davon. Nicht alles.«
»Ich gehe schlafen«, sagte Luisa und stand auf. Dieses Gespräch war viel zu aufwühlend. »Danke fürs Kochen.«
»Luisa!«, rief Jo ihrer Schwester nach. Als sie sich halb umdrehte, sagte Jo seufzend: »Tut mir leid. Ich mach mir einfach nur Sorgen um dich.«
Trotz ihres Ärgers lächelte Luisa. »Das weiß ich. Aber das musst du nicht.« Sie wies mit dem Kopf auf den Laptop. »Kümmer du dich lieber um deine Hussen. Gute Nacht.«
Übertrieben kläglich, um Luisa zum Lachen zu bringen, rief Jo ihr hinterher: »Und wenn ich gar keine Hussen will?«
Es war schon spät, aber Luisa wusste, dass sie noch nicht schlafen konnte. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch am Fenster und holte den Rekorder heraus. Wenn sie die Aufzeichnungen von Feldspar Hall jetzt schon abtippte, würde sie zumindest ihren Sonntag mit etwas Angenehmerem verbringen können.
Luisa begann die Aufnahme abzuhören, konnte sich aber kaum konzentrieren, weil sie immer wieder Reuben vor sich sah – sein Gesicht, seine Augen, sein Lachen. Seufzend hörte sie schließlich auf zu schreiben und rieb sich die Augen. Dann öffnete sie die oberste Schublade des Schreibtischs und kramte darin herum, bis sie gefunden hatte, was sie suchte – ein altes verblasstes Foto in einem Silberrahmen. Jahrelang hatte sie es in ihrer Brieftasche herumgetragen, aber vor einem Jahr herausgenommen, was sie als Fortschritt empfunden hatte.
Das Foto von ihr und Reuben war an einem dieser bezaubernd sorglosen Nachmittage gemacht, die sie während ihrer Studienzeit auf dem Fluss in Durham verbracht hatten. Luisa ruderte – oder versuchte es zumindest, denn sie schüttete sich gerade aus vor Lachen, weil Reuben sie von hinten umschlungen und gekitzelt hatte. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser und den Sonnenbrillen, alles schien von einem wundervollen Strahlen erhellt, das Luisa als glückselige Freude in Erinnerung hatte. Nachdem Reuben ihre Welt verlassen hatte, war dieses Licht erloschen, und die Helligkeit im Leben schien für immer verschwunden zu sein.
Luisa blinzelte und wischte die Tränen weg, die ihr über die Wangen rannen. Es war sinnlos, einer Vergangenheit nachzuhängen, die es nicht mehr gab.
Der Streit mit ihrer Schwester ging Luisa jetzt ebenso durch den Kopf wie weitere Erinnerungen. Es war ein regelrechter Schock gewesen, als sie von der Lebensversicherung erfahren hatte. Reuben stammte aus einer wohlhabenden Familie, bei der gesellschaftliches Ansehen eine große Rolle spielte. In dieser Welt hatte Luisa sich nie richtig wohlgefühlt, aber das Geld gehörte jetzt ihr, ob sie wollte oder nicht.
Jo hatte ihre Schwester dazu überredet, die Lebensversicherung nicht sofort für wohltätige Zwecke zu spenden, und das Geld angelegt. Luisa selbst hatte nicht daran denken wollen und es im Lauf der Zeit tatsächlich fast vergessen. Deshalb wusste sie auch gar nicht, wie hoch die Summe inzwischen war. Manchmal hatte sie überlegt, den gesamten Betrag Reubens Nichten zu vermachen, die ihren Onkel nie kennengelernt hatten. Denn die Vorstellung, in irgendeiner Weise von Reubens Tod zu profitieren, war absolut unerträglich.
Luisa schaute noch einmal auf das Foto und stellte es auf ihren Schreibtisch, anstatt es in die Schublade zurückzulegen. Was hätte Reuben wohl zu dem Angebot gesagt? Er war ein enorm lebhafter Mann mit mitreißender Energie gewesen und hatte Menschen dazu inspiriert, etwas zu verbessern, sich selbst zu verbessern. Dabei hatte er ihnen gleichzeitig das Gefühl vollständiger Akzeptanz vermittelt. Je länger Luisa darüber nachdachte, desto deutlicher spürte sie, dass Reuben auf jeden Fall zugesagt hätte, so widrig die Umstände auch sein mochten.
Ein Stück Land, das wir gestalten können, wie wir wollen!, hörte Luisa ihn förmlich ausrufen, mit diesem hinreißenden Grinsen, das sie so sehr geliebt hatte. Was für ein wundervolles Geschenk des Lebens!
Als Luisa sich schließlich schlafen legte, träumte sie von Reuben. Er kniete in einem üppigen Garten, die Hände in dunkler fruchtbarer Erde, und schaute strahlend auf: glücklich und frei. Im Einklang mit sich und der Welt.
4
Als Luisa am nächsten Morgen in die Küche kam, hatte Jo schon Kaffee gemacht. Sie trug ihre Joggingsachen und schien gerade vom Laufen gekommen zu sein. Wegen der unruhigen Nacht hatte Luisa verschlafen, es war schon nach zehn.
»Entschuldige«, sagte sie, als Jo ihr einen dampfenden Becher Kaffee reichte. »Für gestern Abend, meine ich. Ich hätte nicht so schroff sein sollen. Aber Owens Anruf kam so unerwartet – ich glaube, es war alles ein bisschen viel.«
Jo umarmte ihre Schwester. »Das verstehe ich. Mir tut es auch leid, dass ich dich gedrängt habe.«
»Alles gut, macht nichts«, sagte Luisa ernsthaft, als sie sich voneinander lösten. »Und … ich habe inzwischen ein bisschen nachgedacht.«
»Ach ja?« Jo wandte sich dem Teller mit Toast auf dem Küchentresen zu.
»Könnte ich mir heute noch mal deinen Wagen leihen? Ich wollte eine Tour an der Küste machen.«
Jo sah sie mit großen Augen an und sagte mit vollem Mund: »Du nimmst Owens Angebot an?«
Luisa schüttelte den Kopf. »Nichts überstürzen. Aber … es ist wirklich großzügig. Die Höflichkeit gebietet es, dass ich mir das Gelände zumindest mal anschaue, oder?«
Ihre Schwester lächelte. »Soll ich mitkommen?«
»Bist du nicht mit deinen künftigen Schwiegereltern zum Mittagessen verabredet?«
»Doch«, gab Jo zu. »Aber sie haben bestimmt Verständnis, wenn ich das verschiebe.«
»Nicht nötig«, sagte Luisa. »Ich will es mir ja nur mal anschauen.«
Als Carlisle, die letzte Stadt vor der schottischen Grenze, in Luisas Rückspiegel verschwand, wurde das Wetter schlechter. Die matte Wintersonne verschwand hinter tiefhängenden düsteren Wolken, Schneeregen klatschte auf die Windschutzscheibe. Während sie am Meeresarm Solway Firth entlangfuhr, sah sie in der Ferne die grüne Küste von Dumfries and Galloway. Weiße Windräder ragten über dem Moorland zwischen den Bergrücken und dem Meer auf. Sie kam durch riesige Industriegebiete mit gigantischen Fabrikhallen, in denen alles von Papier bis Sportkleidung hergestellt wurde. Dazwischen lagen kleinere Ortschaften; Silloth mit seiner vom Wind gepeitschten Strandpromenade, Maryport mit dem malerischen Hafen.
Hinter Whitehaven ging der Firth in die Irische See über, und die schmalen gewundenen Straßen wurden aufgrund des trüben Wetters und der nahenden Dämmerung zusehends unübersichtlicher. Im nächsten Ort, Sellafield, erinnerte sich Luisa an die Familienausflüge zu dem einsamen Strand dort, an dem Jo und sie zusammen Sandburgen gebaut hatten, die dem nahe gelegenen Atomkraftwerk ähnelten. Bald darauf starb ihre Mutter, was das erste einschneidende Verlusterlebnis in Luisas Leben gewesen war. Darum kreisten noch ihre Gedanken, als sie kurz darauf Collaton erreichte, verhangen von düsteren Regenwolken.
Sie fuhr langsamer. Entlang der Küste, wo andere Städte eine Strandpromenade angelegt hätten, verlief die Eisenbahnstrecke, dahinter befand sich ein Gewerbegebiet. Trotz der Nähe zum Lake District – bei klarerem Wetter hätte man den grünen Gipfel des Red Pike in der Ferne erkennen können – war Collaton noch nie ein Ort für Tourismus gewesen. Seine Hochzeit während der Industrialisierung im viktorianischen Zeitalter lag lange zurück. Heutzutage war Collaton nur noch eine Durchgangsstadt, für Touristen gänzlich unattraktiv.
Als Luisa ins Zentrum einbog, sah sie schmale, von der Meeresluft verwitterte Reihenhäuser in Pastellfarben. Die meisten hatten nur einen Vorplatz, keinen Garten, waren kostengünstige und simpel angelegte Wohnstätten für die Arbeiter, die früher in den Werften und Ölraffinerien geschuftet hatten. Fast alle Häuser wirkten verlassen, die Fenster waren dunkel, die Eingänge von Unkraut überwuchert.
Luisa folgte dem blauen Punkt von Google Maps durch das Gewirr der Straßen, vorbei an einem Schrottplatz, auf dem sich Autowracks türmten. Als sie an einer Kreuzung abbog, hörte sie ein knirschendes Geräusch vom linken Hinterrad. Sie fluchte, sah aber im Rückspiegel keine Gegenstände auf der Straße – hoffentlich war es nur eine Plastikpackung gewesen. Der teure BMW, den Jo ihr so großzügig überlassen hatte, durfte auf keinen Fall Schaden nehmen.
Eine weitere Häuserreihe endete an einem verlassenen Gelände, auf dem sich früher offenbar ein Gebäude aus rotem Sandstein befunden hatte. Davon stand jedoch nur noch eine verfallende Giebelwand am Rande des Grundstücks, das mit Geröll, Schutt und Brombeerranken bedeckt war. Aus aufgeplatztem Asphalt wucherten Brennnesseln. Was Luisa hier gerade vor sich sah, war das Stück Land, das Owen ihr angeboten hatte.
Sie parkte und spähte aus dem Fenster. Rund um das Gelände befanden sich einige Wohnhäuser und leer stehende Gewerbegebäude. Drei ehemalige Geschäfte waren mit Brettern vernagelt. An einer Ecke verwies ein verwittertes Holzschild, schwankend im Wind, auf einen Pub, der vermutlich schon im letzten Jahrhundert geschlossen worden war. Das einzige Gebäude, das bewohnt aussah, befand sich auf der gegenüberliegenden Seite. Aus einer offen stehenden Doppeltür drang gelbes Licht.
Inzwischen war es so finster geworden, dass Luisa die Taschenlampe aus dem Handschuhfach mitnehmen musste. Als die Autotür zufiel, hörte sich der Knall in der bedrückenden Stille wie ein Schuss an. Sie inspizierte die Reifen, die unversehrt zu sein schienen. Ein eisiger Wind vom Ufer fegte durch den Ort, und Luisa ärgerte sich, dass sie vor der Fahrt die Wettervorhersage nicht angeschaut hatte. Sie trug hellblaue Jeans und ihre treue Steppweste über einem blauen Wollpulli, keinen Mantel, und fröstelte jetzt heftig. Im Land Rover hätte sie ihre alte Barbour-Jacke gehabt, aber der luxuriöse Firmenwagen enthielt nur das Nötigste.
Macht nichts, sagte sich Luisa. Ich bleibe ja nicht lang.
Als Erstes umrundete sie das Grundstück, das etwa die Größe eines Fußballfelds hatte und von einem Maschendrahtzaun mit einem verschlossenen Tor und einem Gehweg umgeben war. Dann betrat sie das Gelände durch eine der Lücken in dem löchrigen Zaun.
Eine Asphaltfläche nahm die eine Hälfte ein, der andere Teil war verwildert. Die Überreste der Fabrikruine lagen offenbar noch genau dort, wo sie ursprünglich hingefallen waren. Luisa fragte sich, wie lange das Grundstück wohl schon verlassen war. Sie bemühte sich, Reubens Sichtweise nachzuvollziehen, der immer in allem das Beste erkennen konnte. Aber selbst er hätte wohl angesichts dieses Verfalls seine Mühe gehabt.
Luisa wurde klar, dass sie von Anfang an recht gehabt hatte – sie wusste gar nicht, wie sie so etwas anfangen sollte. Diese riesige Fläche konnte unmöglich von ihr allein bearbeitet werden, das wäre ein vollkommen aussichtsloses Unterfangen. Du hast es dir angeschaut, jetzt fahr wieder nach Hause, sagte sie sich. Marianne braucht morgen deine Notizen.
Luisa kehrte zu dem Loch im Zaun zurück und zwängte sich hindurch. Sie fühlte sich seltsam niedergeschlagen. Aber was hatte sie denn erwartet? Ihr war doch von Anfang an klar gewesen, dass sie sich nicht auf dieses verrückte Projekt einlassen würde.
Jetzt schlug ihr auch noch Schneeregen ins Gesicht, so eiskalt, dass ihr fast der Atem stockte, und sie hastete zum Auto zurück. Als sie sich näherte, kam ihr etwas sonderbar vor, und sie hoffte, es läge nur am Zwielicht. Doch dann sah sie im Licht der Taschenlampe, dass der linke Hinterreifen platt wie eine Flunder war.
Luisa fluchte vor sich hin. Es gab nur zwei Optionen: entweder den Reifen selbst reparieren oder für wer weiß wie lange im Auto auf einen Notdienst warten. Und wenn sie die Türen der Edelkarosse nicht offen lassen wollte (Jos Meinung dazu mochte Luisa sich lieber nicht vorstellen), musste sie die Reparatur notgedrungen im Licht der Taschenlampe vornehmen. Luisa öffnete den Kofferraum und verharrte einen Moment unter der schützenden Klappe, um sich zu sortieren.
Plötzlich hörte sie in der Nähe laute Stimmen und Gelächter. Sie drehte sich um und sah schattenhafte Gestalten aus der beleuchteten Tür des Gebäudes gegenüber treten, Jugendliche offenbar. Sie eilten die Straße entlang, die Jacken über den Kopf gezogen, und beklagten sich lautstark über das Wetter. Kurz darauf schloss jemand, der sogar aus der Entfernung sehr groß und wuchtig aussah, die Tür von außen ab. Nun bestand die einzig verbliebene Lichtquelle weit und breit aus Jos Taschenlampe.
Luisa wurde klar, dass sie jetzt wirklich mutterseelenallein war und loslegen musste, bevor sie sich vor Kälte nicht mehr rühren konnte. Entschlossen klemmte sie sich die Taschenlampe zwischen die Zähne und hob die Klappe im Kofferraum an, unter der sich Wagenheber und Werkzeug befanden.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«
Luisa wirbelte so erschrocken herum, dass ihr die Lampe aus dem Mund fiel und wegrollte. Wilde Lichtmuster blitzten auf, und ein paar Schritte entfernt konnte Luisa die Silhouette des wuchtigen Mannes erkennen, der die Tür des Gebäudes abgeschlossen hatte. Er bückte sich und hob die Taschenlampe auf, die auf ihn zugerollt kam.
»Tut mir leid«, sagte er und hielt sie Luisa hin. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt.«
Luisa hätte das gerne verneint, was aber eine Lüge gewesen wäre. Sie stand hier immerhin mit einem wildfremden Mann in der Finsternis. Er war groß und breitschultrig, hatte dunkle kurz geschnittene Haare, und seine Nase sah aus, als sei sie schon einmal gebrochen worden. Luisa tastete zur Sicherheit mit einer Hand nach dem Griff des Wagenhebers.
Inzwischen beäugte der Mann den Reifen. »Kein idealer Zeitpunkt für einen Platten, was?«
»Ach, der ist schnell geflickt«, erwiderte Luisa abwehrend, obwohl ihr inzwischen vor Kälte die Zähne klapperten.
Der Mann warf ihr einen zweifelnden Blick zu, und Luisa lief vor Ärger rot an. Sie befand sich zweifellos in einer unangenehmen Lage, hatte aber deshalb noch lange nicht die Absicht, auf männliche Hilfe angewiesen zu sein.
»Da würde ich mich an Ihrer Stelle aber beeilen«, sagte jetzt eine andere, viel jüngere Stimme, die Luisa erneut zusammenzucken ließ. »Sonst sterben Sie an Unterkühlung, bevor Sie den Schlitten nach Hause fahren können. Wer läuft denn schon im Februar ohne Jacke rum?«
Neben dem Mann erschien ein Mädchen. Es mochte um die sechzehn sein, hatte kurze dunkle Haare und trug schwarze Kleidung. Der Blick war finster, das Gesicht hart, die Arme hatte das Mädchen trotzig vor der Brust verschränkt. Es wirkte auf Luisa ebenso wenig vertrauenerweckend wie dieser Mann – war er ihr Vater?
»Danke für Ihre Fürsorge«, sagte Luisa so leichthin wie möglich, »aber ich komme zurecht. Sie müssen nicht meinetwegen hier herumstehen. Ich bekomme das schon hin.«
Daraufhin wandte das Mädchen sich ab und schlenderte lässig davon.
»Wir können Sie doch nicht einfach hier allein lassen«, sagte der Mann zu Luisa und rief: »Harper, warte!«
Als das Mädchen widerstrebend zurückkam, zog er einen Schlüsselbund aus der Tasche. »Hier, bring die Dame in den Club rüber. Mach ihr einen Kaffee, und schalte das Heizgerät ein. Ich kümmere mich inzwischen um den Reifen.«
Das Mädchen starrte ihn entgeistert an. »Was?«
»Nein, nein, das ist wirklich nicht nötig«, sagte Luisa hastig.
Der Mann warf ihr einen stoischen Blick zu, der Luisa erneut auf die Palme brachte, und schüttelte den Schlüsselbund vor den Augen des Mädchens. »Los doch.«
»Ich muss nach Hause«, sagte Harper mürrisch. »Max braucht sein Abendessen.«
»Halbe Stunde, länger nicht.«
»Ich sag Ihnen was, MrP. Ich mach den Reifen, und Sie kümmern sich um die Lady, okay? Sonst sind wir um Mitternacht noch hier.»
»Augenblick mal«, sagte Luisa so entschieden, dass die beiden sie nicht weiter ignorieren konnten. »Wirklich sehr nett von Ihnen, aber wie gesagt, ich komme zurecht.«
»Ach ja?« Harper trat näher und beäugte den Wagen. »Schon mal den Reifen von einem BMW X5 geflickt?«
Luisa machte den Mund auf, um die Frage zu bejahen, aber das wäre gelogen gewesen. Sie hätte dieser überheblichen Jugendlichen gerne erklärt, dass sie in ihrem Leben schon viele Reifen geflickt hatte, der BMW aber nicht ihr eigenes Auto war. Und dass sie immer robustere Autos fuhr. Aber mit dieser langen Rede hätte sie ihre Position auch nicht verbessert. Deshalb machte sie den Mund einfach wieder zu.
Das Mädchen grinste überlegen. »Dachte ich mir.«
»Hören Sie«, machte Luisa noch einen Versuch, »es ist wirklich nicht …«
Harper beugte sich neben ihr über den Kofferraum und hob schwungvoll den Wagenheber heraus. »Keine Sorge, ich klau die Kutsche schon nicht, nicht mal für eine kurze Spritzfahrt. Versprochen.«
»Na, kommen Sie«, sagte der Mann namens MrP jetzt aufmunternd. »Harper ist spitze mit Autos, und sie hat völlig recht. Sie schafft das wesentlich schneller als ich, Sie können ganz beruhigt sein. Lassen Sie uns lieber ins Warme gehen.«
5
Auf dem Weg zurück warf Cas einen verstohlenen Blick auf die Frau neben ihm. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie auf sein Angebot eingehen würde. Sie hatte eher verärgert gewirkt, weil er sich eingemischt hatte. Was ihn daran erinnerte, dass seine Partnerin Annika ihm immer wieder vorwarf, er würde sie behandeln wie »seine gescheiterten Jugendlichen«, wenn er eigentlich nur helfen wollte.
Zum zweiten Mal an diesem Abend schloss Cas die Doppeltür des großen Gebäudes auf und schaltete das Licht ein. Das Echo ihrer Schritte hallte in dem Flur mit den weiß getünchten Wänden und dem zerschrammten grauen Betonboden, dann bog Cas nach rechts in den Hauptraum ab, durchquerte ihn und öffnete die Tür zu seinem kleinen Büro, die er nie abschloss. Dort stellte er den Ölradiator an und rückte einen braunen Plastikstuhl für die Besucherin zurecht. Als er sich dem kleinen Tisch in der Ecke zuwandte, auf dem Wasserkocher und Becher standen, bemerkte Cas plötzlich, dass er keine Schritte mehr hinter sich hörte. Er drehte sich um und sah durch das große Fenster zum Trainingssaal, dass die Frau dort im Eingang stehen geblieben war und sich umschaute.
Viel zu sehen gab es da allerdings nicht. Das Herzstück des riesigen rechteckigen Raums, den Cas für den Club gemietet hatte, war der Boxring in der Mitte. Doch obwohl Cas sich immer bemühte, alles auszubessern, bröselte der Schaumstoff an den Ringseilen schon wieder. Er hatte das kostspielige Stück überhaupt nur anschaffen können, weil jemand ihm einen Gefallen geschuldet hatte. Und es war Cas auch gelungen, hie und da weiteres Zubehör abzustauben: Boxsäcke, ein Regal für Handschuhe, Helme und andere Schutzausrüstung, ein paar Schließfächer. An einer Wand lagen zusammengerollte Matten, die einen durchdringenden Geruch nach altem Gummi verströmten, den Cas schon lange nicht mehr bemerkte.
Er sah, wie die Frau auf das große Banner blickte, das er gleich nach dem Streichen als Erstes aufgehängt hatte: »RESPEKTIERST DU ANDERE, RESPEKTIERST DU DICH SELBST«. Cas versuchte nicht nur selbst nach dieser Maxime zu leben, sondern sie auch unermüdlich den Jugendlichen nahezubringen, die sich hier einfanden. Allerdings war das eine schwierige Aufgabe, weil diese Kids oft zu Hause rausgeflogen waren und es ihnen schwerfiel, überhaupt irgendetwas zu respektieren – vor allem aber sich selbst.
Cas strich sich müde übers Gesicht. Seit einigen Wochen kämpfte er mit dem Gefühl von Aussichtslosigkeit. Er hatte sich so sehr gewünscht, hier einen Zufluchtsort schaffen zu können, der Jugendlichen Kraft und Hoffnung gab. Aber bisher hatte er mehr Fehlschläge als Erfolge zu verzeichnen. Und in zwei Monaten würde er nicht einmal mehr genug Finanzmittel haben, um die niedrige Miete für die Räume zu bezahlen.
Das Wasser kochte schon, als die Frau das Büro betrat.
»Ich kann Ihnen leider nur Rührkaffee anbieten«, sagte Cas.
Ihr strahlendes Lächeln traf ihn so unerwartet, dass es Cas einen Moment lang vorkam, als sei ein weiteres Licht im Raum angegangen. Er blinzelte verdattert, und die Frau sagte: »Spielt keine Rolle. Hauptsache, er ist heiß. Gerne schwarz, ohne Zucker.«
Als Cas ihr den Becher reichte, fühlte er sich seltsam befangen.
»Danke, sehr nett von Ihnen.« Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder und sagte dann: »Mr … P?«
Cas nahm seinen Kaffeebecher und setzte sich an den Schreibtisch. »So nennen mich die Kids. Als Abkürzung für Pattanyús. Sie können mich aber gerne Cas nennen.«
»Cas«, wiederholte sie. »Ist das auch eine Abkürzung?«
»Ja, für Casimir«, antwortete er und fügte hinzu: »Kommt bei mir aus dem Ungarischen. Und Sie sind …?«
Sie lächelte wieder, aber diesmal war er nicht mehr ganz so geblendet wie beim ersten Mal. »Ich bin Luisa. Luisa MacGregor.« Sie schaute zum Trainingsraum hinüber. »Was ist das hier?«
»Eine Boxschule. Zumindest soll es das sein. Aber manchmal kommt es mir vor, als wäre ich nur mit Schadensbegrenzung beschäftigt.«
»Sie sind Boxer.« Das hörte sich an, als hätte sie sich das ohnehin schon gedacht.
»Nein. Na ja, früher mal ein bisschen, als ich jünger war. Der Boxclub ist nur an ein paar Tagen nachmittags geöffnet, am Wochenende etwas früher. Ich wollte einen Ort schaffen, wo Jugendliche nach der Schule hinkommen können. Eigentlich bin ich Lehrer an der Oberschule.«
Die Frau wirkte überrascht, aber auch beeindruckt. »Also ist das hier ein gemeinnütziges Projekt?«
Cas lachte. »Kann man so sagen, ja. Aber um dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen, wie es so heißt, fehlen uns an allen Ecken und Enden die Finanzmittel.« Er deutete auf den angeschlagenen Kaffeebecher in Luisas Händen. »Falls Sie das nicht ohnehin schon bemerkt haben.«
Sie trank lächelnd einen Schluck, sagte aber nichts. Cas fand sie ein wenig rätselhaft.
»Was haben Sie eigentlich hier gemacht?«, fragte er.
Sie zögerte einen Moment, antwortete dann: »Ich habe mir das brachliegende Grundstück da draußen angesehen. Jemand möchte es mir überlassen.«
Cas runzelte die Stirn. »Im Ernst? Sie sind … Grundstücksentwicklerin?« Ihm wollte beim besten Willen kein Grund einfallen, warum man auf diesem Gelände irgendetwas bauen sollte. Es gab in Collaton schon genügend leer stehende Häuser. Und garantiert keine Abnehmer für irgendwelche Luxusbauten.
»Nein, ich bin Sekretärin«, antwortete Luisa.
»Aha«, sagte Cas, dem das alles jetzt noch schleierhafter war.
Sie seufzte, nagte einen Moment an ihrer Unterlippe und erklärte dann: »Ich arbeite zurzeit als Sekretärin, bin aber eigentlich Gartenarchitektin. Vor einigen Jahren hatte ich eine Idee für ein Projekt. Mit jemandem zusammen …« Sie brach ab, zuckte mit den Schultern. »Wir wollten ungenutzte Grundstücke in benachteiligten Wohngebieten übernehmen und sie zu Orten machen, an denen Menschen zusammenkommen können.«
»Gentrifizierung also«, sagte Cas stirnrunzelnd.
»Nein, ganz im Gegenteil. Uns ging es eher um … Quartiersmanagement, könnte man sagen. Wir wollten den Menschen, die bereits in diesen Vierteln leben, etwas bieten. Eine Art Gemeinschaftsgarten. Wir haben geglaubt«, fügte sie mit leicht wehmütigem Lächeln hinzu, »dass Pflanzen Leben verändern können.«
Cas war noch immer am Rätseln. »Sie wollen einen Garten anlegen? Hier draußen?«
»Viele Menschen haben keinen Garten, oder?«
»Na ja, wir haben einen ziemlich fantastischen direkt vor der Tür«, erwiderte Cas. »Den Lake District.«
»Es ist aber ein großer Unterschied, ob man die vorhandene Natur nutzt oder selbst einen Garten anlegt«, wandte Luisa ein. »Obwohl natürlich beides auf seine Art heilsam sein kann.«
»Heilsame Energien können wir hier auf jeden Fall gut gebrauchen«, bemerkte Cas. »Aber ich verstehe immer noch nicht so richtig, was genau Sie erreichen wollen.«
Luisa schaute auf den schäbigen Boxring in dem kahlen Raum nebenan. »Die Frage könnte ich Ihnen auch stellen«, erwiderte sie ernsthaft. »Was wollen Sie denn mit Ihrem Boxclub erreichen?«
Nicht zum ersten Mal betrachtete Cas den Club mit dem Blick eines Außenstehenden. Diese Frage war ihm schon des Öfteren gestellt worden. Durchaus auch von ihm selbst, wenn er seinen Kontostand sah und sich überlegen musste, ob er Annika vor Monatsende noch zum Essen ausführen konnte. Dass sein Leben mit vierzig so aussehen würde, hätte Cas sich früher nicht ausgemalt.
»Ich will den Jugendlichen eine neue Perspektive bieten«, sagte er schließlich. »Hier können sie lernen, mit ihrer Wut und ihren Gefühlen umzugehen. Ich versuche ihnen beizubringen, nicht nur andere, sondern auch sich selbst wertzuschätzen. Sie können neue Freunde kennenlernen, Teil einer Gemeinschaft werden, in der man sich gegenseitig hilft. Nicht nur hier, sondern auch draußen in der Welt. Ihre Zeit hier hat also nachhaltige Wirkung. Und außerdem ist es ein sicherer Ort für sie.«
Luisa nickte. »Genau das wollten wir mit unserem Gartenprojekt auch erreichen. Das war unser Plan.«
»War?«, fragte Cas.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt: Wir haben das Projekt nie verwirklicht. Gestern hat mir jemand noch eine Chance gegeben, es umzusetzen. Aber es ist zu spät. Ich bin inzwischen jemand anders, mein Leben ist anders. Die Welt ist anders.«
»Trotzdem haben Sie den weiten Weg hierher gemacht«, gab Cas zu bedenken.
Während Luisa MacGregor ihren Kaffee austrank, schien sie sich in Erinnerungen zu verlieren, wirkte ein wenig melancholisch dabei. Dann blinzelte sie und lächelte leicht.
»Ich dachte einfach, ich schaue mir das Gelände zumindest mal an, bevor ich das Angebot ablehne«, sagte sie mit einem Schulterzucken. »Nur deshalb bin ich hier.«
Jetzt hörten sie, wie die Eingangstür aufging und zufiel, dann ertönten schnelle Schritte, und Harper erschien in der Tür. Sie war völlig durchnässt, das schwarze Haar klebte ihr am Kopf.
»Auto ist fertig«, rief sie Luisa zu und wandte sich sofort wieder zum Gehen. »Ich muss jetzt los.«
»Oh – warte!« Luisa sprang auf. »Eine Sekunde, bitte!« Cas folgte ihr.
Harper blieb stehen, und Luisa zog ihre Brieftasche hervor und nahm mehrere Geldscheine heraus: »Als Dankeschön.«
Harper hob abwehrend die Hand. »Sie müssen mich nicht bezahlen.«
»Bitte nimm es«, sagte Luisa. »Wenn du das Geld wirklich nicht haben willst, kannst du es dem Boxclub spenden.«
Harper warf einen Blick auf Cas, der hinter Luisa stand und leicht nickte. Noch immer zögernd nahm Harper die Scheine und steckte sie ein.
»Danke. Aber ich muss jetzt wirklich los.«
»Und vergiss nicht«, sagte Cas, »was wir vorhin besprochen haben.«
Harper verdrehte die Augen. »Ja, ja, schon gut, MrP.«
»Ich musste mich dafür mächtig ins Zeug legen, Harper. Vermassel das bitte nicht.«
»Ich hab doch gesagt, ich weiß!«, erwiderte sie und lief hinaus. Dann waren nur noch ihre eiligen Schritte draußen im Gang zu hören.
»Sie ist tough«, bemerkte Cas. »Hat kein einfaches Leben, ist aber wirklich schlau. Könnte eine vielversprechende Zukunft haben.«
Luisa nickte lächelnd. »Das glaube ich Ihnen.«
»Ich wünschte nur, sie würde es mir auch glauben«, erwiderte Cas seufzend. »Jedenfalls wollte ich Ihnen noch sagen, dass ich Ihre Idee großartig finde. Die Menschen hier könnten jede Menge solcher Projekte brauchen, ehrlich gesagt. Und ich meine … Ich selbst habe immer geglaubt, dass dieses klägliche Boxstudio für die Kids die Welt verändern könnte. Warum also nicht auch Pflanzen?»
Er geleitete Luisa MacGregor hinaus und sah ihr nach, als sie mit diesem Auto davonfuhr, das so viel gekostet hatte, wie er in zwei Jahren verdiente. Quartiersmanagement, dachte er. Schöne Idee, aber nicht weiter verwunderlich, dass sie nach einem Blick auf das Gelände das Weite suchte. So ging es den meisten Menschen mit Collaton.
Cas warf einen Blick auf seine Uhr und fluchte leise. Er war schon wieder zu spät dran, obwohl er fest versprochen hatte, diesmal pünktlich zu sein. Erst als ihm draußen der Schneeregen ins Gesicht peitschte, fiel ihm ein, dass er Luisa hätte bitten können, ihn mitzunehmen.
Schon als er die Wohnung betrat, spürte er, dass etwas im Argen war. Irgendetwas stimmte atmosphärisch nicht in den eleganten weiß gestrichenen Räumen, die er noch immer als Annikas Wohnung ansah, obwohl er seit drei Jahren die Hälfte der Miete bezahlte. Sie hatten überlegt, gemeinsam etwas zu kaufen, aber Annika weigerte sich, an »so einem Ort« Wurzeln zu schlagen, und Cas weigerte sich, aus Collaton wegzuziehen. Was letztlich alles über den Zustand ihrer Beziehung aussagte, aber irgendwie waren sie eben immer noch zusammen.
»Annika?« Aus dem Schlafzimmer war Musik zu hören. Cas wischte sich das Gesicht trocken und zog seine Sneakers aus. »Tut mir leid«, rief er. »Ich bin in fünf Minuten fertig.«
Sie erschien in der Tür, in einem silbernen Kleid, in dem sie aussah wie ein Supermodel. Haare und Make-up waren makellos, nur die Schuhe fehlten noch. Cas dagegen, verschwitzt und tropfnass, bot wohl eher keinen attraktiven Anblick.
»Du kommst zu spät«, sagte Annika.
»Ich weiß, tut mir leid.«
»Du hattest es versprochen …«
»Ich weiß«, wiederholte er. »Mir ist was dazwischengekommen.«
Sie verschwand im Zimmer. Als sie zurückkam, trug sie Schuhe. »Irgendetwas kommt immer dazwischen, Cas. Was war es diesmal? Hat einer von deiner Truppe eine alte Frau überfallen? Einen Laden ausgeraubt? Ich habe es satt, auf dich zu warten. Du kannst deine Zeit von mir aus gerne für irgendwelche aussichtslosen Unterfangen verschwenden. Aber bei mir ist damit jetzt Schluss.«
»Ich verschwende meine Zeit nicht. Wie kannst du so etwas überhaupt sagen?« Über Harpers jüngstes Fehlverhalten verlor er kein Wort, diese Lektion hatte er schon vor langer Zeit gelernt.
Annika breitete die Arme aus. Sie sah wirklich umwerfend aus. »Ach, ich weiß nicht, Cas. Vielleicht, weil ich wieder mal allein ausgehen muss, weil du dich für ein zum Scheitern verurteiltes Projekt verausgabst, anstatt dir ein Leben mit Menschen aufzubauen, das Perspektive hat?«
»Was soll ich denn noch sagen?«, erwiderte er. »Ich habe mich doch schon entschuldigt. Und ich wäre auch pünktlich gewesen, wenn nichts dazwischengekommen wäre.«
»Wenn du mir auch nur die Hälfte der Aufmerksamkeit schenken würdest, die diese Jugendlichen von dir bekommen, wäre das schon mal ein Anfang«, sagte Annika. »Ich wollte mich an einem einzigen Abend nicht für meinen Partner entschuldigen müssen. Aber offenbar bin ich so unwichtig, dass du nicht mal pünktlich sein kannst.«
»Fünf Minuten, mehr nicht. Bin sofort fertig.«
Doch als Cas aus der Dusche kam, war Annika verschwunden.
6
Harper rannte die zwei Straßen nach Hause. Die durchnässte Jeans haftete unangenehm an ihren Beinen. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie die Frau mit ihrem Reifenproblem im Regen stehen lassen. Sie hatte keine Zeit für Leute, die sich eine Luxuskarosse leisten, aber nicht mal die einfachsten Sachen daran selbst erledigen konnten. Hätte Ihrer Hoheit bestimmt gutgetan, sich den einen oder anderen Fingernagel abzubrechen.
Was natürlich schon deshalb nicht passiert wäre, weil MrP die Frau nie und nimmer sich selbst überlassen hätte. Dabei hatte er echt nichts drauf, was Autos anging. Aber er konnte es einfach nicht lassen, ständig guter Samariter spielen zu wollen.
Idiot, dachte Harper, die nicht einmal vor sich selbst zugegeben hätte, dass sie MrP ziemlich gernhatte.
Aber weil er dauernd helfen wollte, war sie jetzt nicht nur klatschnass, sondern auch viel zu spät dran. Immerhin hatte sie ein paar Geldscheine in der Tasche, die vorher noch nicht da gewesen waren. Sie hatte noch nicht nachgesehen, wie viel die Frau ihr gegeben hatte, aber jedes kleine bisschen half. Erst heute früh hatte Harper ihren letzten Zwanziger auf dem Küchentisch zurückgelassen, mitsamt der klaren Ansage, damit ausschließlich die Prepaidkarte für den Stromzähler aufzuladen.
Die Straßen waren an diesem Sonntagabend menschenleer, aber man hörte Geräusche aus den Häusern: Musik, Lachen, Streitereien, die übliche Geräuschkulisse von Menschen, die auf engem Raum zusammenlebten.
Harper wohnte in einem zweistöckigen Ziegelhaus, das genauso aussah wie alle anderen in dieser Straße, aber im Gegensatz zu den anderen hinten an den Schrottplatz angrenzte. Deshalb gab es hinter ihrem Haus keine weiteren Nachbarn, sondern lediglich eine Terrasse, von der aus man auf eine schmale Gasse blickte. Und mehr Licht, wovon Harpers kleiner Bruder Max profitierte, dessen Zimmer nach hinten hinausging. Er hatte schon sein Leben lang Aussicht auf Schrotthaufen, was ihn aber nicht zu stören schien. Wie seine Schwester erledigte Max nur die Dinge, die unbedingt gemacht werden mussten, und hielt sich von allem anderen fern.
Harper machte sich oft Sorgen, weil ein Neunjähriger eigentlich Freunde haben sollte, sagte sie sich. Aber immerhin wurde Max von den anderen Kindern in Ruhe gelassen, weil sie wussten, dass sie es mit seiner Schwester zu tun bekommen würden, wenn sie ihm etwas antaten. Andererseits war es vielleicht auch besser, wenn er mit den Leuten hier so wenig Kontakt wie möglich hatte. Denn Harper plante, so bald wie möglich mit Max aus Collaton abzuhauen. Wie sie das anstellen sollte, war ihr noch ein Rätsel, aber sie war felsenfest davon überzeugt, dass es ihr gelingen würde.
Jetzt schob sie das Tor auf und ging über den betonierten Vorplatz. Noch bevor sie den Schlüssel ins Schloss steckte, hörte sie von drinnen laute Musik. Was das zu bedeuten hatte, war klar. Harper runzelte finster die Stirn und betrat das Haus. Von einem winzigen Eingangsbereich aus führte ein kurzer Flur zur Küche im hinteren Teil. Rechterhand befand sich das Wohnzimmer, aus dem die Musik dröhnte.
»Max?«, rief Harper nach oben, bekam aber keine Antwort. Flur und Küche waren dunkel.
Nachdem Harper ihre nasse Jacke und die Sneakers ausgezogen hatte, ging sie ins Wohnzimmer. Sofort stieg ihr der Gestank von Zigaretten und anderen Substanzen in die Nase. Ihr Vater lag auf einem der zwei durchgesessenen grauen Sofas. Den leeren Bierdosen auf dem Boden nach zu schließen, hatte er sich die Kante gegeben und war eingeschlafen. Auf dem fleckigen Couchtisch standen zwei Aluschalen mit Resten von chinesischem Essen, ein süß-säuerlicher Geruch hing in der Luft.
Harper bahnte sich einen Weg durch die Dosen am Boden und schaltete die ohrenbetäubende Musik aus.
»Hey!«, schrie sie ihren Erzeuger an. »Hast du für Max Abendessen gemacht?«
Die Antwort bestand aus einem Grunzen. Harper wusste aus Erfahrung, dass sie nicht mehr aus ihm herauskriegen würde. Einen Moment lang erwog sie, ihren Vater in die Rippen zu boxen, sah aber sofort MrPs missbilligendes Gesicht vor sich. Der Mann war wie ein nerviger Engel, der ihr ständig auf der Schulter hockte.
Harper ging nach oben und rief auf dem Treppenabsatz erneut nach Max, aber nichts rührte sich. Wahrscheinlich hörte ihr Bruder nichts wegen der Kopfhörer, die Harper ihm letztes Jahr geschenkt hatte. Mit neun hätte er sich selbst etwas zu essen machen können – sie hatte ihm für alle Fälle den Umgang mit der Kochplatte gezeigt –, tat es aber nie. Er interessierte sich nicht für Essen, sondern nur für sein jeweils neuestes Hobby. Und mit seiner Besessenheit brachte er Harper immer wieder in Schwierigkeiten. Erst letzte Woche hatte sie versucht, ihm klarzumachen, dass er doch bestimmt keine weiteren Filzstifte brauche, wenn er bereits vier ungeöffnete Packungen unter seinem Bett gestapelt hatte. Aber er hatte darauf bestanden, und weil ihm ohnehin zu wenig im Leben vergönnt war, hatte sie ihm diesen Wunsch nicht abschlagen können. Dabei hatte sie allerdings den Eifer der Angestellten im Kaufhaus ebenso unterschätzt wie die Schnelligkeit des Detektivs, der sie gestellt hatte.
Weshalb sie nun noch tiefer in Mr