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Sharon Gosling

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Beschreibung

In einem kleinen Dorf in Schottland, mitten auf dem Festland, steht ein Leuchtturm. Im Inneren der alten Gemäuer, die dick genug sind, um Sturmfluten zu trotzen, befindet sich ein kleines Antiquariat. Hier, umgeben von alten Büchern, hat Rachel vor vielen Jahren einen Neuanfang gewagt – und Freunde gefunden. Sie verbringt ihre Tage mit Literatur, Kaffee und Shortbread, beobachtet ihren Chef Cullen und seinen Freund Ron beim Schachspiel oder schlichtet die Streitigkeiten ihrer ewig zankenden Stammgäste Edie und Ezra. Eines Tages bekommt die kleine Gemeinschaft unerwarteten Zuwachs: Gilly, eine junge Ausreißerin, betritt den Leuchtturm auf der Suche nach einem trockenen Unterschlupf und Toby, ein ehemaliger Kriegsreporter, findet in der Buchhandlung einen Ort zum Schreiben. Sie alle sind von der Vergangenheit gezeichnet, doch mit der Zeit beginnen sie, Vertrauen zueinander zu fassen. Einfühlsam und voller Wärme erzählt Sharon Gosling in ›Lighthouse Bookshop‹ von einer ungewöhnlichen Wahlfamilie und den unterschiedlichsten Arten von Liebe und Freundschaft. »Für alle, die sich nach einer warmen und einladenden Geschichte sehnen, gibt es nichts Besseres als das Vergnügen, das im ›Lighthouse Bookshop‹ auf sie wartet ...« Pam Norfolk, LANCASHIRE POST

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Seitenzahl: 520

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In einem kleinen Dorf in Schottland, mitten auf dem Festland, steht ein Leuchtturm. Im Inneren der alten Gemäuer, die dick genug sind, um Sturmfluten zu trotzen, befindet sich ein kleines Antiquariat. Hier, umgeben von alten Büchern, hat Rachel vor vielen Jahren einen Neuanfang gewagt – und Freunde gefunden. Sie verbringt ihre Tage mit Literatur, Kaffee und Shortbread, beobachtet ihren Chef Cullen und seinen Freund Ron beim Schachspiel oder schlichtet die Streitigkeiten ihrer ewig zankenden Stammgäste Edie und Ezra.

Eines Tages bekommt die kleine Gemeinschaft unerwarteten Zuwachs: Gilly, eine junge Ausreißerin, betritt den Leuchtturm auf der Suche nach einem trockenen Unterschlupf und Toby, ein ehemaliger Kriegsreporter, findet in der Buchhandlung einen Ort zum Schreiben. Sie alle sind von der Vergangenheit gezeichnet, doch mit der Zeit beginnen sie, Vertrauen zueinander zu fassen.

Einfühlsam und voller Wärme erzählt Sharon Gosling in ›Lighthouse Bookshop‹ von einer ungewöhnlichen Wahlfamilie und den unterschiedlichsten Arten von Liebe und Freundschaft.

© Phil Rigby

Sharon Gosling ist eine britische Journalistin und Autorin. ›Lighthouse Bookshop ist nach ›Fishergirl’s Luck‹ (2022) ihr zweiter Roman bei DuMont. Sie lebt mit ihrer Familie im Norden von England, ihr Mann besitzt einen Buchladen.

Sibylle Schmidt übersetzt aus dem Englischen, zuletzt u. a. Ciara Geraghty, Phillipa Ashley und JP Delaney.

Sharon Gosling

LIGHTHOUSE BOOKSHOP

Roman

Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt

Von Sharon Gosling ist bei DuMont außerdem erschienen: Fishergirl’s Luck

eBook 2023DuMont Buchverlag, KölnAlle Rechte vorbehaltenCopyright © Sharon Gosling, 2022Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel ›The Lighthouse Bookshop‹ bei Simon & Schuster UK Ltd, London© 2023 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, KölnÜbersetzung: Sibylle SchmidtUmschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, KölnUmschlagabbildung: © Haley TippmannSatz: Angelika Kudella, KölneBook-Konvertierung: CPI books GmbH, LeckISBN eBook 978-3-8321-8295-3

www.dumont-buchverlag.de

Für Adam, wegen der Bücher.

Prolog

Der Brief traf an einem Donnerstag ein, verborgen in einem Umschlag, der so unauffällig wirkte, dass Rachel ihn nichtsahnend öffnete. Als sie den Brief herausnahm, stellte sie fest, dass er ziemlich mitgenommen aussah, als hätte er eine lange Reise mit vielen Umwegen hinter sich.

Sie legte ihn auf die Verkaufstheke, starrte auf Namen und Adresse im Sichtfenster und hatte dabei das unangenehme Gefühl, rasend schnell aus höchster Höhe abzustürzen. In nur einer Sekunde lösten sich all die Jahre in Luft auf, die zwischen diesen fünf Zeilen und Rachels jetzigem Leben lagen, zwischen der Person, die sie früher einmal gewesen war, und der von heute. Sie hörte nur noch ihren holpernden Herzschlag, als ihre Fingerspitzen diesen Namen berührten, der die Macht hatte, ihr Leben zu zerstören.

Dem verschlossenen Brief lag ein zusammengefaltetes Blatt bei. Erst nach einiger Zeit fand Rachel den Mut, es zu öffnen, und nachdem sie eine Weile wie blind auf die schnörkelige Handschrift gestarrt hatte, begann sie zu lesen.

Als Erstes: Bitte mach dir keine Sorgen! Er ist weggezogen und hat keine Ahnung, dass ich den Brief an mich genommen habe. Der alten Mrs Meadows hat er gesagt, er würde zum Arbeiten ins Ausland gehen und nicht mehr wiederkommen. Ich weiß natürlich nicht, ob das stimmt, aber andererseits: Warum sollte er sie anlügen? Er hatte etliche schwarze Abfallsäcke vor die Tür gestellt. Die Möwen sind darüber hergefallen, und als ich den auf der Straße verstreuten Müll aufgesammelt habe, fiel mir dieser Brief in die Hände. Ich habe ihn nicht geöffnet, wollte ihn dir aber zur Sicherheit schicken. Warum, weiß ich selbst nicht so genau. Ich hatte einfach das Gefühl, wenn so ein Mann etwas wegwirft, sollte man es sich besser noch mal anschauen.

Ich hoffe sehr, dass es dir gut geht. Ich denke oft an dich und wünschte, wir hätten die Gelegenheit gehabt, uns näher kennenzulernen. Oder könnten uns jetzt noch kennenlernen, aber ich vermute, das wäre schwierig für dich, weil du dann ständig an ihn denken müsstest. Ich freue mich jedenfalls, dass du ein neues Zuhause gefunden hast, und danke dir sehr, dass du mir davon berichtet hast. Ich hoffe auch, dass du Freunde und vielleicht eine neue Liebe gefunden hast und dass dir ein richtiger Neuanfang gelungen ist.

Fühl dich bitte nicht gedrängt zu antworten.

Alles Liebe

A.

Rachel starrte noch einen Moment auf die Zeilen. Ausland. Nicht mehr wiederkommen. Dann hob sie den Kopf und schaute zur Tür. Sah vor ihrem inneren Auge, wie er plötzlich durch die Tür des Buchladens trat, und diese imaginierte Szene wirkte so real, dass Rachel der kalte Schweiß ausbrach. Sie zwang sich zur Beherrschung. Viele Jahre waren vergangen, er hatte sie bisher nicht gefunden, und falls es je dazu kommen sollte …

»Alles in Ordnung mit dir?«, hörte sie die vertraute Stimme von Cullen, der wie immer in seinem Lieblingssessel saß.

»Ja, klar«, antwortete Rachel. »Ich habe nur etwas vergessen. Kannst du hier kurz die Stellung halten? Bin gleich wieder da.«

Sie ging mit dem Brief nach oben, ohne zu wissen, was sie damit machen sollte. In ihrer Küche blickte sie hektisch um sich. Es kam ihr vor, als wäre der Brief in ihrer Hand glühend heiß. Doch diese Räume waren so klein, hier konnte man kaum etwas verstecken.

Schließlich zog Rachel eine der Küchenschubladen auf, stopfte den Brief hinein und gelobte sich, ihn zu vergessen.

Es war alles gut. Nur ein Name, der längst vergessen war und keinen Schaden mehr anrichten konnte. Was sollte schon passieren?

1

Toby hatte wieder von seinem Tod geträumt. Schweißgebadet schreckte er hoch und starrte in die Dunkelheit. Es dauerte ein paar Minuten, bis er merkte, dass die Schreie in seinem Kopf mit dem stechenden Schmerz in seinem Bein zu tun hatten. In einem seiner Anfälle von Naivität – die bereits seine Ex-Frau Sylvie zur Raserei getrieben hatten – hatte Toby angenommen, die Todesgeister gemeinsam mit seinem alten Leben hinter sich lassen zu können. Dass das ein großer Irrtum war, wurde ihm nun endgültig klar, als er in dem unbekannten Bett um Atem rang und darauf wartete, dass die mittlerweile vertrauten Schmerzen nachließen.

Garantiert war diese furchtbare Dora McCreedy, der er gestern begegnet war, Ursache der Albträume. Sie war aus dem Haus neben seinem gemieteten Cottage gekommen, als Toby gerade vorfuhr. Offenbar hatte sie das Nachbarhaus besichtigt, auf dessen Rasen ein Zu-verkaufen-Schild stand. »Wunderschöne Gegend, oder?«, sagte Toby im Rausch seines Neuanfangs und fragte dann: »Wollen Sie da einziehen?«,woraufhin sie auf eine derartig herablassende Art lachte, dass Toby sich sofort wünschte, den Mund gehalten zu haben. Dann erklärte McCreedy, ihre Familie gehöre zu den alteingesessensten der Gegend und sie besitze Immobilien in ganz Aberdeenshire.

»Habe aber seit jeher eine Schwäche für Newton Dunbar«, fügte sie hinzu. »Ich komme von hier und will am Ball bleiben. Mit besserer Planung und Investitionen könnte das ein schöner und lebendiger Ort werden.«

»Also, ich finde es jetzt schon herrlich hier«, erwiderte Toby. »Vor allem der Leuchtturm ist so charmant.«

McCreedy blickte zu dem skurrilen Bauwerk hinüber, das auf dem Hügel hinter dem Dorf aufragte, und seufzte dramatisch. »Diese alte Scheußlichkeit! Ich hoffe doch, Sie sind nicht deshalb hierhergekommen.«

»Ich brauche einen ruhigen Ort für ein Arbeitsprojekt«, erklärte Toby, als müsste er sich rechtfertigen, »und Newton Dunbar schien mir dafür gut geeignet zu sein.«

Das löste ein weiteres Lachen aus. »Ja, ruhig ist es hier auf jeden Fall. Was arbeiten Sie denn, Mr …?«

Inzwischen bereute Toby zutiefst, die Frau überhaupt angesprochen zu haben. Die Unterhaltung jetzt abzubrechen, wäre allerdings extrem unhöflich gewesen.

»Toby Hollingwood«, stellte er sich vor. »Ich bin … Autor.«

Zu seiner Erleichterung schien McCreedy ihn nicht zu kennen.

»Wenn Sie über den Leuchtturm schreiben wollen«, sagte sie, »werden Sie feststellen, dass er in furchtbarem Zustand ist. Wird allmählich zu einem richtigen Schandfleck. Ist vollgestopft mit altem Gerümpel.«

»Aber ist da nicht ein Antiquariat drin?«

McCreedy ging auf die Frage nicht weiter ein. »Sie kennen die Geschichte, oder? Der Bauherr, James MacDonald, kam bei einem Brand ums Leben.«

»Im Leuchtturm?« Toby schaute unwillkürlich zu dem Gebäude hinüber.

»Nein, nein. Im Herrenhaus, Braecoille. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, kurz nachdem dieser absurde Turm entstanden ist. Seine Frau war verrückt, wissen Sie. Hat das Haus angezündet, und er ist darin verbrannt.«

Toby schauderte unwillkürlich. »Grausige Geschichte.«

»Ja, wahrhaftig«, sagte McCreedy mit dem befriedigten Unterton der Sensationslüsternen. »Die Ruine und das Grundstück gehören mir. Das Gemäuer ist inzwischen überwuchert, aber die Überreste sind immer noch kohlschwarz. Es heißt, man hätte die Flammen meilenweit sehen können und die Frau hätte auf dem Rasen getanzt, während die Villa abbrannte. Perfekter Romanstoff, oder?« Sie lächelte.

Toby fragte sich, ob McCreedy wohl immer noch lächeln würde, wenn sie jemals einen brennenden Menschen gesehen hätte. Er befürchtete, die Frage bejahen zu müssen, worauf die Frau ihm schlagartig noch unsympathischer wurde.

»Über so etwas schreibe ich nicht«, hatte er knapp erwidert.

Dieses Gespräch war bestimmt der Auslöser dafür, dass Toby wieder von Feuer und dem üblichen Horrorgemisch aus Schüssen, Explosionen und Flucht geträumt hatte. Jetzt lag er im Bett und starrte in die Dunkelheit. Es war zwar noch nicht mal fünf, aber Toby wusste aus Erfahrung, dass an Einschlafen nicht mehr zu denken war. Er stand auf, zog Jogginghose und Pullover an und ging nach unten. Die Stille im Haus war so intensiv, dass sie wie Rauschen in seinen Ohren klang.

In der Küche, die ebenso weiß und minimalistisch gestaltet war wie der Rest des Hauses, trat er an die breite Glastür zu Veranda und Garten und spähte hinaus. Sein Spiegelbild in der Glasscheibe sah aus wie ein Gespenst.

Handlungsunfähigkeit war schon immer Tobys Hauptproblem gewesen. Er wusste oft nicht, was er tun sollte. Oder vielmehr: Er wusste durchaus, was er tun sollte, nur nicht, wie er damit anfangen sollte. Sylvie hatte ihm klargemacht, dass sie seine Memoiren an einen Verlag verkaufen könnte. Dazu musste er sie aber erst einmal verfassen, einen Anfang finden. Als Journalist war Toby daran gewöhnt, Ereignisse zu beschreiben, sie in Zusammenhängen, im Kontext darzustellen. Er hatte allerdings keinen blassen Schimmer, wie er sein eigenes Leben in irgendeinen Kontext setzen und sich selbst anderen Menschen erklären sollte. Wie auch, wenn er sich seit geraumer Zeit nicht einmal mehr selbst verstand.

Was, wann, wo, wie, warum – diese fünf Fragen musste jeder journalistische Text beantworten können, sonst taugte er nichts. Zurzeit konnte Toby nicht einmal die erste Frage beantworten. Sein Kopf war so angefüllt mit den Lebensgeschichten und Ereignissen anderer, die er mit dreihundert, fünfhundert oder auch tausend Wörtern nicht einmal annähernd hatte beschreiben können. Und er befürchtete, dass er diesen Geschichten nicht hatte gerecht werden können, dass er sie nicht mit genügend Mitgefühl dargestellt hatte.

Seines eigenen Spiegelbilds überdrüssig, verließ er das Haus mit seiner Umhängetasche über der Schulter, als wäre er unterwegs zu einem Auftrag. Der Morgen dämmerte allmählich, doch der Himmel war wolkenverhangen. Die Luft roch feucht, es musste vor Kurzem noch geregnet haben. Wenn er Büsche streifte, sprühten ihm Tropfen ins Gesicht.

Das Cottage, das Toby gemietet hatte, befand sich am westlichen Ende der Hauptstraße von Newton Dunbar, die auch die einzige Straße der Ortschaft war, von einigen kurzen Seitenwegen abgesehen. Sie endeten meistens an Feldern oder dem Fluss Dun, der sich durch das Tal an den nördlichen Ausläufern der Cairngorms schlängelte, in dem das Dorf entstanden war. Links und rechts der Ansammlung von Häusern und Geschäften, aus denen Newton Dunbar bestand, erstreckten sich die Bergrücken des Gebirges. In Richtung Westen verlief die Hauptstraße entlang des Flusses bis nach Grantown-on-Spey. Im Osten führte sie über den Fluss, und nach etwa sechzehn Kilometern erreichte man Great Dunbar, Newton Dunbars größeren und etwas städtischeren Cousin. Von dort aus gelangte man zu den Autobahnen nach Aberdeen.

Newton Dunbar war ein abgelegener Ort und weitgehend unbekannt. Als einzige Attraktion des Dorfes galt der Leuchtturm, der gar kein Leuchtturm war. Er stand an der Ostseite des Dorfes auf einem Hügel, an dessen Fuße sich einige Reihenhäuser und ein kleines Pförtnerhaus befanden. Toby hatte gelesen, dass der Turm in der viktorianischen Zeit, in der man Reichtum gerne protzig zur Schau stellte, als Bibliothek für das Anwesen Braecoille entstanden war, dessen Ruine nun vom Wald überwuchert wurde. Und James MacDonald, der Bauherr, hatte gewiss zu schätzen gewusst, dass man von der Spitze des Turms eine fantastische Aussicht hatte, nicht nur über das gesamte Dorf und das Tal, sondern sogar auf Great Dunbar in der Ferne.

Toby ging so zügig, wie es ihm mit seinem schmerzenden Bein möglich war. Er steuerte aber nicht den Turm des unglückseligen Gutsherren an, sondern das Waldstück auf der anderen Hügelseite. Als Toby dessen Rand erreichte, war es schon hell genug, um in den blauschwarzen Schatten Umrisse von Büschen zu erkennen. Ein hüfthoher Zaun versperrte den Zutritt, und Toby fiel wieder ein, dass McCreedy die Besitzerin dieses Grundstücks war. Da die allerdings weit und breit nicht zu sehen war, kraxelte Toby mühsam über den Zaun, sein widerspenstiges Bein verfluchend.

Für Rachel begann der Tag wie jeder andere damit, dass Eustace ihr lautstark ins Ohr miaute. Sie öffnete die Augen, rollte sich auf den Rücken und blickte zur weiß tapezierten Decke ihres runden Schlafzimmers auf. In den dicken Steinwänden des Turms gab es nur kleine Fenster, und zum wiederholten Mal in den fünf Jahren, in denen sie hier lebte, sann Rachel darüber nach, wie absurd es war, in einem Leuchtturm zu wenig natürliches Licht zu haben.

Auf den Treppenstufen nach unten in die winzige halbmondförmige Küche versuchte Rachel, nicht über den Kater zu stolpern. Eustace gehörte zum Inventar des Leuchtturms, aber deshalb noch lange nicht ihr, da machte sich Rachel keine Illusionen. Er war und blieb der Kater von Cullen MacDonald, genauso wie der Leuchtturm, auch wenn Cullen ihn nicht mehr bewohnte. Als Rachel dem alten Kater Futter hinstellte und ihn streichelte, fragte sie sich unwillkürlich, wie lange er – und auch sein Besitzer – die vielen Treppenstufen des Turms wohl noch bewältigen könnten.

Später stieg Rachel die Wendeltreppe zum Buchladen hinunter, begleitet von Eustace. Am Fuß der Treppe befand sich eine schwere Holztür, durch die man aufs Halbgeschoss hinaustrat. Die schmiedeeiserne Treppe nach unten zum Buchladen verlief entlang der runden Wände. Seit sie das Antiquariat betrieb, hatte Rachel immer wieder mit Cullen darüber debattiert: Wenn doch der Turm von Anfang an als Bibliothek geplant war, wieso hatte der Architekt die Wendeltreppe nicht in der Mitte des Raums fortgeführt? Dann hätte man die ohnehin unpraktischen runden Wände zumindest für Regale nutzen können, was bei dem notorischen Platzmangel sehr willkommen gewesen wäre.

Cullen war für Umbauten in dem Turm jedenfalls gar nicht zu haben. Vor sechzig Jahren war er hier eingezogen, und auch damals hatte er so wenig wie möglich in dem höhlenartigen Raum verändert, in dem seine heiß geliebten Bücher untergebracht waren. Die Liebe zum Buch war bei Cullen zweifellos über Generationen vererbt worden. Allerdings waren die Finanzmittel, die man brauchte, um in einem derart sonderbaren Gebäude seiner Leidenschaft für Literatur nachzugehen, leider kein Teil des Erbes gewesen.

Lediglich zwei Veränderungen hatte Cullen gestattet: den Einbau der winzigen Toilette im Erdgeschoss und der halbkreisförmigen Verkaufstheke mit zahllosen Schubladen und Fächern, in denen sich im Laufe der Jahre allerhand angesammelt hatte, Wichtiges wie längst Vergessenes. Dazu zählten unter anderem die Kasse, ein Wust von Rechnungen, ein Laptop, der in Computerjahren etwa so alt war wie der Leuchtturm, sowie Wasserkocher, Tee und Kaffee, Toaster, Brotkasten und eine gläserne Kuchenglocke mit Fuß.

Gleich hinter der Theke befand sich der Ofen, der in einem Gebäude, dessen Steinwände dick genug waren, um Sturmfluten der Nordsee zu widerstehen, das ganze Jahr über in Betrieb war. Dabei spielte es keine Rolle, dass sich in der Nähe dieses Leuchtturms lediglich ein Fluss befand und das Meer kilometerweit entfernt war.

Der kurze Abstand zwischen Theke und Holzofen wäre ideal gewesen, hätte Bukowski es sich nicht gerne daneben gemütlich gemacht. Das führte nicht selten dazu, dass Rachel über den Hund stolperte und um ein Haar auf ihrem Gesäß landete. Sie dachte oft, dass der Schriftsteller, nach dem der Collie benannt war, wohl seine helle Freude daran gehabt hätte.

Als Rachel den Ofen anfeuerte, hörte sie, wie sich ein schwerer Eisenschlüssel im Schloss der bogenförmigen Eingangstür drehte, bevor sie langsam aufging. Rachel legte die Streichhölzer beiseite, machte einen Riesenschritt über den gegenwärtig nicht vorhandenen Hund hinweg, lavierte sich an den zwei Sesseln und dem kleinen Tisch mit Schachbrett neben der Theke vorbei und eilte zur Tür, während sie auf die Uhr schaute. Es war noch nicht einmal halb neun.

Die gebückte weißhaarige Gestalt von Cullen MacDonald erschien im Türrahmen, vor dem Hintergrund eines düsteren blauschwarzen Himmels und von stürmischem Wind gepeitschten Bäumen.

»Was machst du denn schon so früh hier?«, fragte Rachel und nahm Cullen den Korb ab, den er über einem Arm trug. »Ich dachte, du wolltest ausschlafen.«

»Hab ich ja«, erwiderte ihr Vermieter und Arbeitgeber munter, während er Regentropfen aus seinem dünnen Haar schüttelte. »Bin um halb sieben statt um sechs aufgestanden.«

Der Korb, der mit einem blütenweißen Geschirrtuch abgedeckt war und einen betörenden Duft nach buttrigem Gebäck verströmte, erinnerte Rachel an Illustrationen in Märchenbüchern.

Cullen ließ sich in seinem olivgrünen Samtsessel mit den abgewetzten Armlehnen und dem gelben zerdrückten Kissen nieder. Wie aus dem Nichts erschien Eustace, sprang auf den Schoß des alten Mannes, vollführte eine Drehung und rollte sich ein, behaglich schnurrend, weil alles seinen üblichen Gang ging.

»Ist nur Shortbread«, erklärte Cullen, als Rachel an der Theke den Korb aufdeckte. »Dachte, ich mach mir heute mal wenig Arbeit.«

Rachel lächelte, während sie die Kuchenglocke unter der Theke hervornahm und die Kekse hineinlegte. »Kommst du inzwischen gut mit dem Herd zurecht?«

»Wird jedenfalls besser«, antwortete Cullen. »Auch wenn ich immer noch nicht kapiere, wieso man so viele Piep- und Klingeltöne an einem Gerät braucht, mit dem man lediglich Essen zubereiten will. Das Ding sieht doch aus, als könnte es im Alleingang zum Mars und wieder zurück fliegen.«

Nachdem das Shortbread verstaut war, widmete Rachel sich ihrer gemeinsamen täglichen Morgenroutine, der Zubereitung von Kaffee und Toast. Als sie nach Newton Dunbar gekommen war, hatte Cullen noch im Leuchtturm gewohnt. Doch der Nachfahre der Familie MacDonald war in seinem siebten Lebensjahrzehnt angekommen, und damals hatte sich schon abgezeichnet, dass er mit den baulichen Eigenarten des Turms nicht mehr gut zurechtkam. Die Treppen waren für Cullen kaum noch zu bewältigen gewesen, und so war er in das Pförtnerhaus am Fuße des Hügels gezogen, das zum Familienanwesen gehörte und seit Jahren leer stand. Geld für eine vollständige Renovierung war nicht vorhanden, außerdem wollte Cullen auch dieses Häuschen nicht wesentlich verändern. Er hatte aber eingesehen, dass zumindest eine neue Küche und ein neues Bad vonnöten waren.

»Wir haben einen Gast im Dorf«, verkündete Cullen kurz darauf, während er sich den heißen Toast mit Butter schmecken ließ. »Ezra hat gestern im Pub von ihm erzählt.«

»Ich hoffe, du warst artig«, sagte Rachel, während sie den Inhalt der Kasse überprüfte. »Du weißt ja, was der Arzt gesagt hat.«

»Gab Shepherd’s Pie gestern«, erwiderte Cullen, was eher ein Ablenkungsmanöver als eine Antwort war. »Dieser Typ scheint offenbar Interesse am Leuchtturm zu haben. Deshalb ist er überhaupt nach Newton Dunbar gekommen. Er schreibt ein Buch.«

Rachel lief es kalt den Rücken hinunter. »Was? Über den Buchladen? Über uns?«

Cullen verputzte den Rest seines Toasts. »Glaube ich eher nicht. Was soll es da zu erzählen geben?«

Dennoch konnte Rachel ihr Unbehagen nicht abschütteln. »Hast du den Mann kennengelernt? War er gestern Abend im Pub?«, fragte sie.

»Nee, Ezra hatte es von Ron gehört, und der von Stanley, und der hatte es direkt von Dora McCreedy, die gerade aus dem Featherly-Haus kam, als der Mann eintraf. Sie hat das Haus übrigens schon gekauft, obwohl es gerade mal einen Tag auf dem Markt war. Das ist schon die dritte Immobilie, die sie sich dieses Jahr unter den Nagel gerissen hat, oder? Scheint das gesamte Dorf aufkaufen zu wollen. Na, jedenfalls fing der Mann an, Kartons auszuladen, und die beiden kamen ins Gespräch.«

»Hm«, machte Rachel, während sie versuchte, den antiquierten Laptop zum Starten zu bewegen. »Na, jedenfalls muss einem der Bursche leidtun. Wen McCreedy sich krallt, der hat keine ruhige Minute mehr.«

Cullen gab sein typisches keckerndes Lachen von sich. Rachel hatte unwillkürlich mitlachen müssen, als sie es zum ersten Mal gehört hatte, obwohl sie damals seit einer Ewigkeit nicht mehr gelacht hatte. Auch jetzt musste sie grinsen.

»Könnte aber von Vorteil für uns sein, oder nicht?«, bemerkte Cullen. »Ein Autor kauft doch bestimmt Bücher. Und einen neuen Stammkunden könnten wir gut gebrauchen, auch wenn er vielleicht nicht lange bleibt.«

»Dem kann ich nicht widersprechen«, pflichtete Rachel dem alten Mann bei. Abgesehen von Touristen und einer kleinen Stammkundschaft verirrten sich selten leseinteressierte Menschen in den Laden. Der Leuchtturm gehörte Cullen, und Rachels Lohn war niedrig, weil sie umsonst hier wohnen konnte. Aber sie hatten auch Ausgaben, und an manchen Tagen verkaufte sie kaum mehr als die Postkarten von den wunderschönen Holzschnitten vom Leuchtturm, die von der Künstlerin Edie Strang angefertigt wurden.

Rachel legte eigentlich keinen Wert auf neue Besucher im Laden – ganz besonders nicht auf solche, die Newton Dunbar »endlich mal weithin bekannt machen« würden, wie Dora McCreedy ständig verlangte. Aber Rechnungen mussten nun mal bezahlt werden.

Obwohl es inzwischen hell geworden war, blieb Tobys Suche nach der Ruine des Herrenhauses vergeblich. Eigentlich hätte ihn diese Eigenschaft des Universums, Anzeichen von Tragödien spurlos verschwinden zu lassen, nicht wundern sollen. Er müsste sich längst daran gewöhnt haben, weil er nur allzu gut wusste, wie schnell die Wahrheit einer Reportage nach ihrer Veröffentlichung in Vergessenheit geriet. Aber er hatte das tatsächlich nie akzeptieren können, nicht einmal nach zwanzig Jahren Berufsleben.

Nachdem er über eine Baumwurzel stolperte, stürzte und sich danach wegen der Schmerzen im Bein minutenlang nicht rühren konnte, gab er die Suche schließlich auf und machte sich auf den Rückweg.

Als Toby aus dem Wäldchen trat, begann es erneut zu regnen. Er fühlte sich erschöpft und bleischwer. Nach Jahren mühseliger Reisen, Jetlag, Schlafmangel und anstrengender Arbeit war er mit dieser Form von Müdigkeit vertraut. Er sehnte sich nach Kaffee, wusste aber nicht mehr, ob er welchen mitgebracht hatte. Auf dem Weg zu seinem Cottage bemerkte er, dass oben im Leuchtturm gelbes Licht durch die schmalen Fensterschlitze fiel. War der Buchladen etwa schon geöffnet? Toby machte sich auf den Weg, um es herauszufinden.

Als die Tür erneut knarrend aufging, rechnete Rachel mit Ron und Bukowski. Doch stattdessen erschien ein ihr unbekannter Mann. Er war sehr groß und hielt sich ein wenig gebückt, als fürchtete er, seine Körpergröße könnte einschüchternd wirken. Sein Gesicht erinnerte Rachel an Werke ihrer Künstlerfreundin Edie: kantige, gerade Linien und interessante Schatten wie bei einer ausdrucksstarken Skulptur. Rachel schätzte ihn auf Mitte vierzig, sein dunkles Haar war schon grau meliert. Er hatte markante Wangenknochen und sonnengebräunte Haut und wirkte auf Rachel wie jemand, der immer ein sehr aktives Leben geführt hatte. Als er den Kopf schräg legte und ein leicht schiefes Lächeln auf sein Gesicht trat, erschienen Fältchen in seinen Augenwinkeln. Auf Haar und Schultern glitzerten Regentropfen.

»Hi«, sagte der Mann. »Ist der Laden schon geöffnet? Ich habe einen frühen Morgenspaziergang gemacht und weiß nicht, wie spät es ist.«

Rachel warf einen Blick auf die Wanduhr. »Es ist kurz vor neun«, sagte sie. »Eigentlich machen wir erst um halb zehn auf, aber kommen Sie ruhig rein.«

Das Lächeln wurde breiter, und der Mann schloss die Tür hinter sich. Über der Schulter trug er eine abgenutzte Ledertasche, die etwa so alt zu sein schien wie der Laptop, den Rachel noch immer zum Leben zu erwecken versuchte. Die Hosenbeine des Mannes sahen nass aus, als wäre er durch Unterholz gestapft, und auf einem Knie war ein Schlammfleck, den Rachel rührender fand, als ihr lieb war.

»Wir können einen frischen Kaffee anbieten, falls Sie mögen«, verkündete Cullen, der sich jetzt in seinem Sessel vorbeugte, um den Neuankömmling zu beäugen.

»Oh«, sagte der Fremde überrascht. »Das ist sehr nett, vielen Dank. Ein Kaffee wäre absolut wunderbar.«

Cullen machte Anstalten, sich zu erheben, aber Rachel bedeutete ihm, sitzen zu bleiben, und förderte aus einem der Thekenfächer einen weiteren Becher zutage. Als der Mann näher kam, sah sie, dass er links stark hinkte, wodurch ihm die Tasche bei jedem Schritt gegen die Hüfte schlug. Später dachte Rachel immer wieder daran, dass dies ihr allererster Eindruck von Toby gewesen war: ein Mann, der sie an ein robustes Schiff mit beschädigter Takelage erinnerte, das kühn und unerschrocken auf den Weltmeeren unterwegs war.

Tobys erste Reaktion auf das Innenleben des Leuchtturms war Erstaunen. Er hatte Dora McCreedys Beschreibung nicht hinterfragt – ein verheerender Fehler, sich als Journalist auf eine einzige Quelle zu verlassen – und hatte sich einen schäbigen, muffigen Raum vorgestellt. Stattdessen war es in dem Turm wohlig warm und duftete so süß wie in der Küche seiner Großmutter an einem Sonntagnachmittag. Und im nächsten Augenblick wurde er von einer freundlichen Frau am Tresen hereingebeten und bekam von einem alten Mann, der aus einem Sessel hervorspähte, Kaffee angeboten, als wären die beiden Flaschengeister, die alle Wünsche erhörten.

»Sie sind ja zeitig auf den Beinen«, bemerkte der Alte, während Toby sich zwischen Bücherkisten zur Theke durchlavierte. »Und das auch noch bei Regen.«

»Ich bin gerne frühmorgens unterwegs«, erwiderte Toby, »und als ich losging, hat es noch nicht geregnet. Ich vergesse manchmal, dass ich nicht mehr so schnell bin wie früher. Rasch zurücklaufen, um was zu holen, ist nicht mehr.«

Der Alte gluckste, und erst jetzt sah Toby den großen getigerten Kater auf seinem Schoß. »Kann ich nachfühlen.«

Toby bemerkte, dass die Frau einen Blick auf seine Beine warf, aber sie sagte nichts, sondern reichte ihm nur mit einem kleinen Lächeln den Kaffeebecher. Um Toby ins Gesicht zu schauen, musste sie den Kopf heben. Ihre wasserhellen Augen standen in eigenartigem Kontrast zu ihrem kurzen dunklen Haar, und alles an ihr erschien Toby zierlich und fein. Als Journalist war er den Tatsachen verpflichtet und verlor sich eher selten in Fantasien, aber angesichts dieser Frau kamen ihm die Worte bezaubernd und elfenhaft in den Sinn. Sie hätte gut in den Wald gepasst, den er gerade erkundet hatte. Toby mochte die stille Ernsthaftigkeit in ihrem Gesicht, die ihn auch eine gewisse unirdische Weisheit erahnen ließ. Gekleidet war die Frau jedoch sehr irdisch mit einer weich fallenden weißen Bluse, einer übergroßen blauen Strickjacke, engen Jeans und braunen Stiefeletten mit Knopf am Knöchel. All diese Details registrierte Toby, aber ihr Alter konnte er beim besten Willen nicht schätzen.

»Suchen Sie nach etwas Bestimmtem?«, fragte sie, als er sich Shortbread von dem dargebotenen Teller nahm.

Toby schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Ich wollte mir den Laden nur mal anschauen.«

Die Frau lächelte und wandte sich ab. Er hatte den Eindruck, dass sie so etwas öfter zu hören bekam.

»Es sei denn, Sie haben Bücher über diesen Ort hier«, fügte er rasch hinzu, um nicht wie ein beliebiger Tourist zu wirken, obwohl er natürlich genau das war. »Den Leuchtturm, meine ich – wann und warum er erbaut wurde, Material über den Architekten, solche Sachen.«

»Damit kann ich nicht dienen, fürchte ich.«

»Wäre aber auch ein verdammt dünnes Bändchen«, warf der Alte ein. »Die Geschichte vom Turm lässt sich auf einer Seite abhandeln. Etwa so: 1812 beschloss der hiesige Grundbesitzer James MacDonald jede Menge Geld aus seinem beträchtlichen Vermögen in den Plan und Bau eines Leuchtturms auf einem Hügel am Rande des Dorfes New Dunbar zu investieren. Er benannte den Turm nach sich selbst, wie derlei Männer es zu tun pflegen, und brachte seine private Bibliothek darin unter. Heutzutage beherbergt der Leuchtturm ein Antiquariat. Ende der Geschichte.« Der Alte blickte mit verschmitzter Miene zu Toby auf. »Jedenfalls nicht genug, um ein Buch darüber zu schreiben, so viel steht fest.«

Toby grinste. »Aha. Bin ich hier im Ort bereits bekannt, oder wie ist das?«

Der Alte schmunzelte. »Wenn Sie der Bursche sind, der nach Newton Dunbar gekommen ist, um ein Buch zu schreiben, dann ja.« Er streckte Toby eine knochige Hand hin. »Cullen MacDonald.«

»Toby Hollingwood.« Er drückte die dargebotene Hand. »Stammen Sie aus der MacDonald-Familie, die den Turm erbaut hat?«

»So sieht’s aus.«

Toby wollte sich gerade erkundigen, welche von Dora McCreedys Äußerungen der Wahrheit entsprachen, als hinter ihm ein Tumult entstand. Die Eingangstür wurde aufgerissen, und als Toby sich umdrehte, sah er einen kleinen untersetzten Mann, der sich mit theatralisch ausgebreiteten Armen seitlich durch den Türrahmen drängte, um einen zottigen triefnassen Collie hereinzulassen.

»Nein, nein, nein!«, schrie die Frau und kam hinter dem Tresen hervorgeschossen, wobei sie vor dem Ofen einen merkwürdigen kleinen Hopser machte. »Raus mit dir! Erst schütteln!«

Der Neuankömmling wandte sich zur Tür, als wollte er wieder gehen. Das galt jedoch nicht für den Collie, der mit hängender Zunge und freudigem Hundegrinsen Richtung Theke trabte. Der Kater auf Cullen MacDonalds Schoß hob den Kopf und beobachtete die Szene mit argwöhnisch verkniffenen Augen.

»Ron!«, kreischte die Frau, schnappte den Hund am Halsband und zerrte ihn zur Tür. »Bukowski! Er ist klatschnass, er muss sich erst draußen schütteln, bevor du ihn reinbringst!«

»Ach ja!«, dröhnte der Mann. »Hab kurz gedacht, du meinst mich. Na klar. Komm, mein Junge, hopphopp, raus mit dir!«

Der Collie wurde nach draußen gescheucht, und die Frau stand an der angelehnten Tür Wache, während von draußen »Na, jetzt schüttel dich, Junge, los doch!« und dann das Geräusch von schlackerndem nassen Fell zu hören war. Danach öffnete die Frau die Tür wieder und ließ das feuchte Duo erneut ein.

»Das ist ein Buchladen, Ron«, sagte die Frau sanft mahnend zu dem Mann. »Bücher und Nässe gehen nicht gut zusammen.«

»Weiß ich doch, Mädchen, weiß ich«, erwiderte der Mann namens Ron aufrichtig zerknirscht. Dann blickte er zu der Sitzecke hinüber, und ein sonniges Strahlen trat auf sein Gesicht. Einen Moment lang dachte Toby, Ron würde mit seiner Baritonstimme ein Lied anstimmen. »Cullen!«

»Morgen, Ron. Kaffee ist fertig.«

»Prächtig, prächtig. Und wer ist das?«, fragte Ron mit Blick auf Toby und fügte dann sofort hinzu: »Lassen Sie mich raten. Sie sind doch bestimmt der Schriftsteller, von dem McCreedy ganz aufgeregt in der Dorftränke berichtet hat.« Ron trat zu Toby und schüttelte ihm so kraftvoll die Hand, dass Toby das Gefühl hatte, seine Hand steckte in einem Schraubstock.

»Ja, stimmt«, sagte Toby. »Allmählich habe ich den Eindruck, dass ich schon im ganzen Ort bekannt bin, obwohl ich noch keinen hier kenne.«

Ron schlug Toby schwungvoll auf den Oberarm. »Willkommen in Newton Dunbar, junger Mann, wo nie was passiert und keiner je was zu tratschen hat.«

»Was für eine Art von Autor sind Sie denn?«, erkundigte sich Cullen.

»Ich bin Journalist. Oder war es zumindest«, antwortete Toby. Ron steuerte unterdessen auf den Kaffee zu, und der Collie hatte sich dicht am Ofen niedergelassen, um so viel Wärme wie möglich zu ergattern. »Ich soll meine Lebensgeschichte schreiben, habe aber noch keine Ahnung, wie ich das anfangen soll«, erklärte Toby. »Deshalb bin ich hierhergekommen. Weil ich mir dachte, Abgeschiedenheit hilft vielleicht.«

Cullen gab sein keckerndes Lachen von sich. »Hast du das gehört, Rachel? Wir werden doch nicht berühmt! Sie hat sich nämlich Sorgen gemacht, dass Sie über den Leuchtturm schreiben wollen«, fügte er, zu Toby gewandt, hinzu.

»Ich habe mir keine Sorgen gemacht«, widersprach Rachel, die inzwischen E-Mails auf einem Laptop durchsah, der aus der Zeit der Dampfmaschinen zu stammen schien. »Aber wie üblich ist es in diesem Dorf etwa so einfach, die Wahrheit zu ermitteln, wie mit Spaghetti zu stricken.« Sie schaute mit einem Lächeln zu Toby auf. »Auf dem Halbgeschoss da oben stehen Sessel, falls Sie irgendwo ruhig sitzen und nachdenken wollen. Oder sogar vielleicht arbeiten.«

»Vielen Dank. In meinem Cottage gibt es einen Schreibtisch, aber ich habe den größten Teil meines Lebens auf dem Schoß oder auf der Rückbank von Autos geschrieben. Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich in der Stille die nötige Konzentration finden würde, aber inzwischen bezweifle ich, ehrlich gesagt, dass Stille förderlich ist.«

Rachels Blick richtete sich wieder auf sein Bein, als versuchte sie Informationen zu kombinieren, ohne weitere Fragen zu stellen.

»Die Zeit läuft davon!«, rief Ron aus und ließ sich in den Sessel gegenüber von Cullen plumpsen. »Ich muss ein bedrohliches Imperium besiegen, und es ist schon spät am Tage!«

Rachel sah Toby an. »Bleiben Sie ruhig hier, Mr Hollingwood«, sagte sie trocken. »Wie Sie sehen, gelingt es uns mühelos, so viel Krach und Chaos zu erzeugen, dass ›Stille‹ für uns alle ein Fremdwort ist.«

2

Als Edie Strang aus dem Atelierfenster schaute, erblickte sie in ihrem Staudenbeet eine Ziege, die genüsslich Blumen verspeiste. Mit einem Aufschrei ließ Edie den Druck fallen, den sie gerade in der Hand hielt, und stürzte hinaus in den Regen.

»Hau ab!«, schrie sie.

Die Ziege, die sich an den gefüllten orangen Tulpen gütlich tat, störte das allerdings nicht im Mindesten.

»Verschwinde, du altes Biest!« Edie schnappte sich eine leere Gießkanne und begann erbost mit der Faust auf den Boden zu hämmern. Der Krach übertönte sogar das Trommeln der Regentropfen auf den Steinguttöpfen. Die Ziege erschrak, schlug aus und wich zurück auf Edies sorgsam gepflegtes Rasenstück.

»Wage es bloß nicht!«, zischte Edie, als die Ziege auf den schmalen Steinplattenweg galoppierte, der das Gemüsebeet von den Rabatten trennte. »Wenn du meinen Palmkohl auch nur anschaust, dann …« Sie schlug noch wilder auf die Gießkanne ein, worauf die Ziege vor Schreck einen Luftsprung machte.

Edie jagte dem Eindringling nach, bis es ihr schließlich gelang, das Tier zwischen Zaun und Schuppen im hinteren Garten in die Enge zu treiben. Dann ließ Edie die Gießkanne fallen und packte die Ziege fest am Nackenfell. Durch ein Tor im Zaun kam man direkten Wegs auf den Hügel hinter dem Haus, und einen Moment lang erwog Edie, das Tier einfach hinauszujagen, damit es anderswo Gärten verwüsten konnte. Der nichtsnutzige Ziegenbesitzer hatte weiß Gott nichts anderes verdient.

Doch stattdessen zerrte Edie das meckernde, störrische Tier, das in alle Richtungen ausschlug, zu einem anderen Tor im Zaun, durch das man in den benachbarten Garten gelangte.

»Ezra!«, brüllte Edie, während sie die zeternde Ziege durch das Tor bugsierte und es rasch wieder zuknallte. »Ezra Jones, hörst du mich? Komm sofort raus, du Vollidiot!«

Von ihrem Nachbarn war weit und breit nichts zu sehen. Entweder er war nicht zu Hause, oder er hatte beschlossen, Edie keine Beachtung zu schenken. Beides war denkbar.

»Wenn dieses Vieh noch mal in meinem Garten auftaucht, kommt es auf den Grill, das schwöre ich dir!«, schrie Edie, bevor sie wutentbrannt ins Atelier zurückstapfte. Dort säuberte sie ihre Hände am Waschbecken und rubbelte sich mit einem Handtuch die regennassen Haare trocken, immer noch schäumend vor Wut.

Vor zwanzig Jahren hatte Edie ihr Reihenhäuschen, das Corner Cottage, gekauft. Damals hatte sie es noch als Glückstreffer erachtet. Sie hätte zwar lieber ein einzeln stehendes Haus gehabt, aber der Anbau eignete sich perfekt als Atelier, und ein großartigeres Motiv als den kuriosen Leuchtturm, der auf dem kahlen Hügel aufragte, konnte es für eine Künstlerin kaum geben. Nie wäre Edie auf die Idee gekommen, dass sie nun Tür an Tür mit einem Mann leben musste, den sie wahrhaftig noch weniger leiden konnte als den Mistkerl, mit dem sie früher verheiratet gewesen war.

Und dann auch noch diese Ziege. Dieses Vieh gab Edie endgültig den Rest. Seit es sich in Ezras Besitz befand – »Ich habe ihr das Leben gerettet, Edie, jetzt sei doch nur ein einziges Mal nicht so kaltherzig!« –, hielt sich dieses gescheckte Ungeheuer mehr in ihrem Garten auf als nebenan. Ezra weigerte sich hartnäckig, die Ziege anzubinden oder in einen Pferch zu stecken, weil er ihre »natürlichen Instinkte« nicht beschränken wollte. Edies natürliche Instinkte dagegen hätten sie gerne dazu verleitet, der Ziege ebenso wie ihrem Besitzer mit einem Baseballschläger auf den Kopf zu hauen. Was auch immer noch irgendwann passieren konnte …

Sie seufzte und machte sich wieder ans Verpacken der Holzschnitte. Es hatte zwar eine Weile gedauert, bis Edie sich mit Instagram vertraut gemacht hatte, aber es war den Einsatz wert gewesen, denn sie hatte damit ein neues Publikum gewonnen. Zwei Jahre nach Beginn ihres Ruhestands hatte Edie alle Hände voll zu tun.

Der Leuchtturm war seit zwei Jahrzehnten ihre Muse und ein Hauptmotiv ihrer Arbeit. Beim letzten Projekt hatte sie etwas Neues ausprobiert: eine Serie von vier Holzschnitten in fünf Farben, auf denen der James-MacDonald-Turm in allen vier Jahreszeiten dargestellt war. Die nuancierten Unterschiede von Licht und Schatten stellten eine Herausforderung dar, die Edie sehr inspirierend fand. Monatelange Vorbereitung und Arbeit hatten schließlich fünfundneunzig Holzschnitte ergeben, neunzehn Sets, die allesamt verkauft worden waren. Nun war Edie dabei, jedes einzelne Blatt sorgfältig zu verpacken, um es in so weit entfernte Orte wie Neuseeland und Malta zu verschicken. Ein dreifaches Hoch auf das Internet, dachte sie, als sie nach dem nächsten Blatt griff.

Im letzten Moment sah sie das Blut an ihrem Daumen und riss fluchend die Hand zurück. Das fehlte gerade noch – eines der Originale auf teurem, zarten Daphnepapier mit einem Blutfleck zu ruinieren.

Edie ging zum Waschbecken zurück, hielt den Finger unters Wasser und tupfte ihn verärgert mit Haushaltspapier ab. Am Tag zuvor war sie beim Schnitzen abgeglitten und hatte sich einen kleinen, aber tiefen Schnitt am Daumen zugezogen. Ein Anfängerfehler, der wegen der feinen Winkel bei der Arbeit für ihren nächsten Druckstock entstanden war. Und beim Gerangel mit der abscheulichen Ziege war die Wunde wohl wieder aufgegangen.

Edie warf das Papier in den Abfalleimer und klebte ein Pflaster auf den Daumen. Sie brauchte frische Luft und musste sich die Beine vertreten, bevor sie sich die letzten dreißig Sendungen vornahm. Außerdem musste sie ohnehin beim Buchladen vorbeischauen; letzte Woche schon hatte sie Rachel einen Satz neuer Postkarten versprochen, aber noch keine Zeit gefunden, sie abzuliefern. Edie schlüpfte in ihre Jacke, griff nach ihrem Regenschirm und der Box mit den Karten und schloss die Tür hinter sich ab.

Vom Gartentor aus war der Weg zum Leuchtturm nicht mehr weit. Corner Cottage war das Eckhaus von vier Reihenhäusern, am anderen Ende stand das Pförtnerhaus, in dem inzwischen Cullen wohnte. Edie hatte ihn einmal nach der Geschichte dieser Häuserzeile gefragt, und Cullen hatte erklärt, dass sie ursprünglich für Bedienstete des Anwesens gebaut worden war. Vielleicht hatte in ihrem Haus sogar einer der Arbeiter gewohnt, sagte sich Edie, der am Bau des Leuchtturms beteiligt gewesen war. Ein späterer Mieter hatte dem Haus mit vier Zimmern den Anbau hinzugefügt, der so hell und geräumig war, dass sich Edie dort ihr Atelier eingerichtet hatte.

Als sie die umlaufende Veranda am Leuchtturm erreicht hatte und die Tür öffnete, hörte sie Ron triumphierend posaunen: »Schachmatt!«

»Du hast gemogelt!«, protestierte Cullen, wie jedes Mal, wenn Ron gewonnen hatte.

Edie, vertraut mit dem freundschaftlichen Gezänk der beiden, ging zur Theke.

»Hallo, ihr zwei«, begrüßte sie die beiden Männer im Vorbeigehen. »Belagern die Barbaren mal wieder die Pforten?«

»Sie hatten keine Chance«, antwortete Ron grinsend. »Ich habe die heidnischen Horden vertrieben, es ist wieder Frieden eingekehrt.«

»Ein Frieden, der mit unrechten Mitteln gewonnen wird, ist keiner«, beschwerte sich Cullen, »weshalb ich eine sofortige Revanche verlange.«

»Na, dann leg los«, versetzte sein Freund.

Die beiden begannen das Schachbrett vorzubereiten, und Edie wandte sich Rachel zu, die sie bereits lächelnd erwartete.

»Tut mir leid, dass ich sie dir nicht schon früher vorbeigebracht habe«, erklärte Edie, als sie die Schachtel mit den Postkarten auf die Theke stellte. »Hab gerade viel um die Ohren.«

»Vielen Dank, dass du neue gemacht hast«, erwiderte Rachel und nahm einen Stapel Karten aus der Box. »Wir haben fast keine mehr. Möchtest du einen Kaffee?«

»Das wäre herrlich, danke.« Sie wollte sich gerade einen Sitzplatz suchen, als Edie etwas Außergewöhnliches hinter dem Tresen bemerkte und verblüfft fragte: »Wer ist das denn?«

Neben dem Ofen saß eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie hatte nasse zerzauste Haare, trug ein verwaschenes Sweatshirt und schmutzige Jeans und war barfuß. Abgetragene Sneakers waren an den Ofen gelehnt, fadenscheinige Strümpfe lagen daneben. Neben einem abgewetzten Rucksack stand ein Teller mit Toast. Das Mädchen hielt einen dampfenden Becher Kaffee in einer Hand und streichelte mit der anderen Bukowski, der schmachtend zu ihr aufblickte.

»Das ist Gilly«, sagte Rachel leise, während sie Edie Kaffee eingoss und ihr den Becher reichte. »Ich glaube, sie braucht ein trockenes Plätzchen, bis der Regen vorbei ist.«

»Hm«, machte Edie stirnrunzelnd. Rachel, die begonnen hatte, den drehbaren Kartenständer aufzufüllen, warf ihrer Freundin einen Blick zu. »Was ist?«

»Sei lieber vorsichtig. Gestern war Jean vom Supermarkt beunruhigt, weil sich jemand dort herumdrückte und offenbar etwas stehlen wollte. War ein Mädchen … sie hier wahrscheinlich …«

»Edie«, sagte Rachel mit mahnendem Unterton.

»Was denn?«

Bevor Rachel sich äußern konnte, tauchte eine wuchtige Gestalt neben Edie auf. Sie wusste auch ohne hinzuschauen, um wen es sich handelte. Finster blickte sie ihren Nachbarn an. Ezra Jones hatte wieder etliche von diesen lächerlichen historischen Liebesromanen in der Hand, offenbar die einzige Lektüre, die er sich jemals zu Gemüte führte.

»Ich hab ein Hühnchen mit dir zu rupfen«, begann Edie.

»Was für eine Überraschung«, erwiderte Ezra in diesem betont nachsichtigen Tonfall, der Edie regelmäßig in Rage versetzte. »Was meinst du denn, was ich schon wieder verbrochen habe, Edie? Erzähl’s mir.«

»Ich meine nicht, dass du etwas verbrochen hast, ich weiß es«, fauchte Edie aufgebracht. »Und zwar, dass deine verdammte Ziege vor einer halben Stunde wieder mal in meinem Garten war, wo sie wieder mal meine Pflanzen fraß.«

»Hattest du das Tor verriegelt?«, fragte Ezra, während er seine Romane auf den Tresen legte.

»Natürlich!«

»Ziegen sind nämlich nicht nur störrisch, sondern auch schlau. Sie hat wahrscheinlich verstanden, dass sie das Tor aufmachen kann, wenn der Riegel nicht vorgeschoben ist.«

»Das Tor war geschlossen!«

Ezra warf Edie einen unnachgiebigen Blick zu. »Dann muss meine Ziege wohl fliegen können.«

»Nun werd nicht auch noch sarkastisch«, knurrte Edie.

»Bin ich nicht. Der Riegel für das Tor befindet sich auf deiner Seite, Edie, also …«

»Ich habe dir schon tausendmal gesagt …«

»Hey, hey, ihr beiden«, mischte Rachel sich ein, »nun zankt euch mal nicht. Wir haben einen Gast.«

Edie blickte misstrauisch auf das Mädchen, aber das war so mit Toast und Hund beschäftigt, dass es den Streit am Tresen nicht zu bemerken schien.

»Ich meine nicht Gilly«, fügte Rachel mit gedämpfter Stimme hinzu. »Sondern den Mann, der da oben versucht, ein Buch zu schreiben.«

Edie blickte zum Halbgeschoss hinauf, obwohl die Lesesessel vom Tresen aus nicht zu sehen waren. »Ach, wirklich? Ist das der Journalist, der nach Newton Dunbar gekommen ist, um hier seine Memoiren zu schreiben? Toby Hollingwood, oder? Er war früher Auslandskorrespondent für die Times. Ist letztes Jahr im Jemen angeschossen worden, wusstest du das? Hat seither ein kaputtes Bein und arbeitet nicht mehr. Wie ist er so?«

Rachel schüttelte resigniert und amüsiert zugleich den Kopf. »Dieses Dorf ist doch wirklich der reinste Albtraum.«

»Was meinst du damit?«

»Ich glaube, Rachel meint damit, dass es in Newton Dunbar jede Menge Klatsch und Tratsch gibt«, meldete sich Ezra wieder zu Wort. »Und wahrscheinlich kann sie nicht fassen, dass eine Freundin von ihr zu den Hauptakteuren der Gerüchteküche gehört.«

»Also, du bist doch wirklich …«, zischte Edie erbost.

»Ezra«, sagte Rachel mit warnendem Unterton.

Aber Edie hatte die Nase voll. Der Ausflug zum Buchladen hatte ihrer Entspannung dienen sollen. Stattdessen war sie noch wütender als vorher, und alles nur wegen diesem hirnverbrannten Idioten.

»Muss los«, verkündete sie. »Manche Menschen haben ja zu arbeiten.«

»Aber du hast deinen Kaffee noch gar nicht ausgetrunken, Edie«, wandte Rachel ein.

»Ich komme morgen wieder. Bis dahin hat sich hoffentlich die Qualität deiner Kundschaft verbessert.« Edie wusste, dass sie überreagierte, konnte aber nicht anders. Ezra Jones hatte immer diese Wirkung auf sie. Sie konnte sein selbstgefälliges Grinsen einfach nicht ertragen. Und auch nicht, dass er immer so viel Raum einnahm. »Vergiss nicht, was ich gesagt habe, Rachel. Hab ein Auge auf die Kasse. Und du«, sagte Edie zu ihrem Nachbarn, »sorg dafür, dass diese Ziege auf deinem Grundstück bleibt, wenn du sie behalten willst.«

»Ziegen sind bekanntlich nicht nur starrsinnig, sondern auch biestig und launisch«, erwiderte Ezra. »Und sie legen großen Wert auf die Gesellschaft ihrer Artgenossen. Ich vermute, Georgette sucht deshalb so oft deine Nähe.«

Als Edie hinausmarschierte, gelang es ihr nur mit Mühe, die Tür nicht hinter sich zuzuknallen. Draußen nahm sie ihren Schirm vom Haken und stapfte den Hügel hinunter. Der verletzte Daumen pochte und schmerzte, sie musste ihn wohl mit Wundsalbe behandeln. Eine leise, hartnäckige Stimme in ihrem Hinterkopf behauptete allerdings, sie sollte sich vor allem um die Schmerzen in ihrem Gelenk kümmern. Denn die waren der Grund dafür, dass sie überhaupt beim Schnitzen abgerutscht war.

In ihrem Garten inspizierte Edie das Tor zu Ezras Grundstück. Der Riegel war tatsächlich nicht richtig eingerastet. Sie versuchte ihn herunterzudrücken, aber er hakte, schien verrostet zu sein. Es gefiel ihr gar nicht, wie lange ihre Finger sich weigerten, genügend Druck auszuüben. Aber schließlich hatte sie auch den ganzen Vorabend damit verbracht, winzige Details zu schnitzen, danach schmerzten ihre Finger immer. Zu guter Letzt kehrte Edie dem widerspenstigen Tor den Rücken zu und stellte dabei fest, dass die Tür des Schuppens offen stand, wahrscheinlich aufgerissen vom Wind. Mit einem Seufzer ging Edie hinüber, machte sie zu und gelobte sich zum wiederholten Mal, endlich ein Schloss anzubringen.

3

»Du solltest sie nicht immer so aufregen, Ezra«, sagte Rachel mahnend, nachdem Edie aus dem Laden gestürmt war.

»Ich finde, sie fordert das heraus«, wandte Ezra ein.

»Du weißt doch, wie sehr Edie ihr Garten am Herzen liegt.« Rachel nahm sich Ezras Romanstapel vor und gab die Preise in die Kasse ein. »Stimmt es denn, dass deine Ziege immer wieder auf Edies Grundstück kommt?«

»Nur weil sie dauernd das Tor nicht verriegelt«, beharrte Ezra. »Keine Ahnung, warum sie nicht überprüft, ob es richtig zu ist. Wenn sie das machen würde, müsste ich sogar darum bitten, dass sie mir öffnet, um den hinteren Ausgang benutzen zu können. Und wir wissen doch alle, wie sehr sie es genießt, wenn ich sie um etwas bitten muss.«

Ezra liebte sein Häuschen sehr, aber es gab einen Haken daran, der zu viel Ärger führte: eine Sonderklausel in seinem Kaufvertrag, den Zugang zu seinem Grundstück betreffend. Ezras Cottage lag in der Mitte der Häuserzeile, und im Gegensatz zu allen anderen gab es von Ezras Garten aus keinen direkten Zugang zum Hügel. Die hintere Begrenzung des Grundstücks bestand aus einem gewaltigen Felsen – vor Äonen von einem wandernden Eisberg hinterlassen, der auch das Tal geschaffen hatte, in dem Newton Dunbar lag –, sodass ein Zaun an dieser Stelle unnötig gewesen wäre.

Als die Grundstücke aufgeteilt wurden, hätten die Bauentwickler auch einen Streifen für einen Hinterausgang mit Gartentor einplanen können. Stattdessen legten sie vertraglich fest, dass der Besitzer des Hauses rechtlichen Anspruch auf die Benutzung des Hinterausgangs vom Haus nebenan, Corner Cottage, hatte.

Der Anwalt, der den Hauskauf für Ezra geregelt hatte, sah damals keinen Anlass zur Beanstandung dieser Klausel, sondern sagte, solche Regelungen seien in dieser Gegend nicht unüblich. Und Ezra hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, sondern war davon ausgegangen – fälschlicherweise, wie er inzwischen wusste –, dass sämtliche Nachbarn immer so vernünftig und freundlich sein würden wie er selbst. Ezra war eigentlich immer mit allen Menschen gut zurechtgekommen, so schwierig sie auch sein mochten. Ohne diese Fähigkeit wäre seine Laufbahn auf den Ölbohrinseln schnell zu Ende gewesen.

Bis heute war ihm nicht klar, wann und aus welchen Gründen seine Probleme mit Edie Strang begonnen hatten. Wären sie nicht anfänglich befreundet gewesen, hätte er Edie für eine dieser mürrischen verschrobenen Personen gehalten, von denen es in Newton Dunbar etliche gab. Aber in den ersten Monaten nach Ezras Umzug vor mittlerweile fünfzehn Jahren verstanden Edie und er sich so prächtig, dass er manchmal sogar eine Chance für mehr in ihrem Verhältnis sah. Edie nahm ihn damals mit ins Antiquariat und stellte ihn ihren Freunden vor. Im Pub führten Edie und er ebenso angeregte Gespräche wie am Gartenzaun und debattierten leidenschaftlich über ihre Lesevorlieben. Sie gab ihm allerlei nützliche Ratschläge für seinen Garten, weil Ezra noch nie einen besessen hatte und sich von dieser Aufgabe zunächst überfordert fühlte. Damals empfand er Edie Strang als faszinierende Künstlerin – er liebte ihre Bilder – und als charmante, attraktive Frau.

Doch das lag lange zurück. Ezra hatte es längst aufgegeben, den Grund für ihr mittlerweile gestörtes Verhältnis verstehen zu wollen. Irgendwann war einfach eine feindselige Atmosphäre entstanden, und seiner Ansicht nach ging das ausschließlich von Edie aus. Ihm wollte beim besten Willen nicht einfallen, was er falsch gemacht haben könnte. Doch offenbar war dieser Zustand nicht mehr zu verbessern, und Ezra hatte ihn irgendwann als unabänderlich akzeptiert. Er weigerte sich allerdings, Edie deshalb auszuweichen. Vor allem der Buchladen und die dazugehörigen Menschen waren ihm ans Herz gewachsen. Ezra hatte nicht die Absicht, auf sein Leben hier zu verzichten. Damit würde sich Edie Strang eben abfinden müssen, so erbittert sie darüber auch sein mochte.

Rachel reichte ihm die Bücher. »Möchtest du einen Kaffee?«

Ezra schüttelte den Kopf. »Ich sollte lieber nach Hause gehen und schauen, ob Georgette nicht schon wieder ausgebüxt ist.«

Sein Blick fiel auf die abgerissene Gestalt, die neben dem Ofen am Boden hockte.

»Sie muss doch nichts Böses im Sinn haben«, sagte er so leise, dass das Mädchen es nicht hören konnte. »Jedenfalls hat sie bestimmt kein leichtes Leben.«

Rachel wandte den Blick ab. Etwas in ihrer Miene veränderte sich, aber es war nur eine Nuance, die Ezra sich nicht erklären konnte. Es kam ihm vor, als sei ein Schatten über ihr Gesicht gehuscht, obwohl Rachel sonst immer so ruhig und ausgeglichen wirkte. Sie machte den Eindruck, als könnte sie so leicht nichts erschüttern. Vielleicht stand das in Zusammenhang mit ihrer Vergangenheit, über die Rachel kein Wort verlor. Eines Tages war sie einfach in Newton Dunbar aufgetaucht, als wäre sie vom Himmel gefallen, hatte sich aber von Anfang an perfekt hier eingefügt. Als sie den Buchladen übernahm, wusste niemand etwas über ihre Vorgeschichte. Das galt wohl auch für Cullen MacDonald, der allerdings ein Ehrenmann war. Selbst wenn er etwas wusste, würde er das Geheimnis auf jeden Fall für sich behalten.

»Ich rede nachher mal mit ihr«, sagte Rachel, »und versuche rauszukriegen, ob sie Hilfe braucht.«

Ezra lächelte und nahm seine Bücher unter den Arm. »Du machst das bestimmt richtig«, sagte er. »Wie immer.«

Draußen regnete es, und Ezra blieb einen Moment unter dem Holzvordach stehen. An den Garderobenhaken hing gegenwärtig nur seine eigene Regenjacke. Ezra besaß sie schon seit Jahren. Das gute Stück hatte ihn von einer Bohrinsel zur nächsten begleitet und war eine Zeit lang sein wertvollster Besitz gewesen. Mittlerweile sah die Jacke ziemlich mitgenommen aus, war jedoch immer noch wasserdicht und konnte heftigsten Stürmen und Schauern trotzen. Ezra musste unwillkürlich daran denken, wie nass die Kleidung des Mädchens gewesen war.

Er ließ die Jacke hängen, zog seinen Pullover über die Bücher, damit sie trocken blieben, und eilte nach Hause. Dicke warme Regentropfen klatschten ihm ins Gesicht, und als Ezra an seinem Tor ankam, spähte er kurz in Edies Garten, um sicherzugehen, dass Georgette sich nicht dort herumtrieb. Dabei bot sich Ezra ein Anblick, bei dem ihm fast das Herz stehen blieb.

Edie Strang stand auf der obersten Sprosse einer Leiter, die ziemlich schief an der Wand lehnte, und schwang, über das Dach gebeugt, einen Hammer, als wollte sie damit Steine zertrümmern. Jedes Mal, wenn sie zuschlug, geriet die Leiter gefährlich ins Wanken.

»Was um alles in der Welt machst du da?«, fragte Ezra vom Gartentor aus.

»Ich lass Drachen fliegen«, knurrte Edie. »Wonach sieht es denn aus, um Himmels willen? Da ist ein Loch im Dach, es regnet rein.«

»Sieht eher aus, als hättest du vor, dir den Hals zu brechen, wenn du mich fragst.«

»Tue ich aber …«, brachte Edie gerade noch hervor, bevor sie einen schrillen Schrei ausstieß, weil die Leiter zu kippen begann.

Ezra schoss durchs Tor und fing Edie gerade noch im Fall auf. Leiter und Hammer landeten mit gewaltigem Getöse auf dem Gartenweg. Dann herrschte Stille, und Ezra spürte, wie Edie sich an ihm festklammerte, während er sie stützte. Seine Bücher waren auf dem Boden verstreut.

»Alles in Ordnung?«, fragte er schließlich.

Edie räusperte sich und schob ihn weg, aber er spürte, dass sie zitterte. »Mir geht’s gut«, sagte sie und fügte dann, ohne ihn anzusehen, hinzu: »Danke.«

Er nickte. »Mach das bitte nie wieder.«

Jetzt schaute sie zu ihm auf, die Augen zusammengekniffen. Regentropfen glitzerten auf ihrem silbernen Haar. Ezra wappnete sich innerlich gegen eine bissige Bemerkung. Doch stattdessen musterte Edie ihn von Kopf bis Fuß und fragte stirnrunzelnd: »Wo ist deine Regenjacke?«

Ezra bückte sich und hob die Bücher auf. »Ach, die habe ich am Leuchtturm hängen lassen. Für dieses Mädchen, Gilly.«

Edie blieb stumm, und als er sie wieder ansah, bemerkte er einen Ausdruck in ihren Augen, den er nicht deuten konnte. Jedenfalls war es nicht der Zorn, mit dem er gerechnet hatte. Dann gab Edie ein Schnauben von sich und schüttelte den Kopf.

»Viel zu weichherzig«, murmelte sie. »Geh lieber ins Haus, und trockne dich ab. In deinem Alter holt man sich bei einer Erkältung leicht den Tod.« Sie deutete auf die Pforte zwischen den Gärten. »Du kannst da durchgehen.«

Ezra zögerte einen Moment, bevor er durchs Tor trat. Dann drehte er sich noch einmal um. »Sieh zu, dass du es vernünftig absperrst. Kein gutes Wetter zum Grillen heute.«

Er sah einen Anflug von Amüsiertheit in ihren grünen Augen, bevor Edie das Tor hinter ihm verriegelte und sich abwandte.

Im Haus griff Ezra als Erstes zum Telefon und wählte die Nummer des Buchladens. Als Rachel sich meldete, sagte Ezra: »Gilly hat ja nichts zum Überziehen, deswegen habe ich meine Regenjacke draußen hängen lassen. Sag ihr, sie soll sich die Jacke nehmen. Und alles, was in den Taschen ist.«

Dann legte er auf und starrte an die Wand, die sein Haus und Edies Cottage voneinander trennte.

Gilly war in den Buchladen gegangen, sobald er öffnete. Ihr kleines Zelt war völlig durchnässt, und sie fürchtete, dass auch noch ihre wenigen trockenen Klamotten nass werden würden. Sie hatte gehofft, sich irgendwo hinter einem Bücherregal verkriechen zu können, bis sie einigermaßen trocken war, aber Rachel hatte sie sofort mit einem Lächeln begrüßt. »Hallo, willkommen. Grässliches Wetter heute, magst du dich vielleicht am Ofen wärmen? Ich habe ihn gerade angefeuert, und frischen Kaffee könnte ich auch anbieten.« Und als Gilly dann den Buttertoast roch und ihr der Magen knurrte, fügte Rachel hinzu: »Wie wär’s mit einem Toast? Wir haben reichlich Vorrat.«

So ein Angebot hatte Gilly einfach nicht ablehnen können, vor allem, weil ihre sorgsam gehüteten Ersparnisse zu schwinden begannen. Und nun war sie immer noch hier, Stunden später, und fühlte sich mollig warm. So warm war ihr nicht mehr gewesen, seit sie zum letzten Mal in einem richtigen Bett geschlafen hatte.

Gilly sagte sich zum wiederholten Mal, dass sie jetzt besser wieder verschwinden sollte, konnte sich aber einfach nicht aufraffen. Dabei war es nie gut, es sich irgendwo zu bequem zu machen, das war zu auffällig. Und kurz darauf fingen die Leute immer an, Fragen zu stellen, die Gilly nicht beantworten wollte.

Die Menschen hier waren allerdings alle recht nett und hatten sie in Ruhe gelassen. Die beiden Alten hatten sie nur begrüßt und sich dann wieder ihrem Schachspiel zugewandt. Was sie von dem großen Mann halten sollte, der gerade eben den Laden verlassen hatte, wusste sie nicht so recht. Allerdings hatte er die alte Schreckschraube zurechtgewiesen, die vorher herumgetuschelt hatte. Worüber die sich beschwerte, hatte Gilly zwar nicht genau gehört, konnte es sich aber denken. Sie war nicht blöd, ihr war schon klar, dass sie nicht danach aussah, als würde sie viel Zeit in Buchhandlungen verbringen.

Dabei kannte sie – dank ihrer Großmutter – den Leuchtturm aus ihrer Kindheit. Aus einem der idyllischen Sommer, in denen sie zumindest kurz von jemandem geliebt worden war, noch vor all den Kinderheimen und Pflegefamilien, in denen sie eigentlich niemand haben wollte. Nur ein einziges Mal war Gilly hier gewesen, als sie mit ihrer Oma die triste graue Stadt verlassen und einen Ausflug in der ratternden alten Schrottkarre gemacht hatte. Gilly konnte sich noch genau erinnern, wie ihre Oma damals zu dem Leuchtturm aufblickte, der stolz auf dem Hügel aufragte. »Das ist er«, sagte sie und klang froh und glücklich dabei. »Genauso, wie ich ihn in Erinnerung habe! Und er ist voller Bücher, ist das nicht wunderbar?« Gilly hatte ihr zugestimmt.

Und voller Bücher war der Leuchtturm auch heute noch.

Gilly saß am Boden und streichelte den Collie, als das Telefon klingelte und sie vor Schreck zusammenzuckte. Rachel nahm ab, und als ihr Blick daraufhin zu Gilly wanderte, wurde ihr ganz flau im Magen.

»Na klar«, sagte Rachel. »Ich richte es ihr aus. Schönen Tag dir noch.«

Die Buchhändlerin legte das Telefon weg und sah Gilly lächelnd an. »Das war Ezra. Er sagt, er hat seine Regenjacke für dich draußen an der Tür hängen lassen. Du sollst sie dir nehmen.«

Gilly blinzelte verwirrt. »Ezra?«

»Der große Mann, der vorhin hier war.«

Ezra. Was war das denn für ein Name? So konnte doch nur ein Irrer heißen. Wer sonst würde einfach so seine Jacke weggeben, die er vor Kurzem noch getragen hatte? Und das auch noch an sie, mit der er kein einziges Wort gewechselt hatte?

Gilly blieb stumm, aber Rachel bemerkte offenbar ihre Skepsis, denn jetzt trat die Buchhändlerin einen Schritt näher.

»Er hat bemerkt, dass du keine Jacke hast«, sagte sie. »Und er wollte nicht, dass du nass wirst, das ist alles. Du kannst alles behalten, was in den Taschen ist, sagt er.«

Was?

»Ich brauche nichts, danke.«

Rachel sah sie nachdenklich an, fast so als müsste sie eine schwierige Entscheidung treffen. Schließlich ging sie neben Gilly in die Hocke und fragte behutsam: »Brauchst du vielleicht Hilfe? Gibt es jemanden, den ich anrufen …«

Na bitte. Und schon ging es los. Genau deshalb durfte man es sich nirgendwo bequem machen. Sofort kamen die Fragen, auf die Gilly nicht antworten wollte.

»Mir geht’s gut«, sagte sie. »Ich brauche keine Hilfe. Bin nur in den Regen geraten, mehr nicht. Aber ich muss auch nicht mehr herkommen, wenn Ihnen das lieber ist.« Sie stand auf.

»Hey«, sagte Rachel, als sie sich aufrichtete. »So habe ich das nicht gemeint. Aber wenn du Hilfe brauchst …«

»Tue ich aber nicht. Ich bin erwachsen und kann auf mich selbst aufpassen. Mir geht’s gut, wie gesagt.«

Rachel nickte. »Okay, aber wenn du es dir noch anders überlegst …«

»Werd ich nicht tun.« Gilly strich über ihre Jeans, die inzwischen getrocknet war. »Ich geh jetzt.«

»Musst du aber nicht.«

»Bin mit einer Freundin zum Lunch verabredet.« Gilly war klar, dass das nach einer Lüge klang. »Danke für den Toast.«

»Gerne«, erwiderte Rachel. »Und das Angebot für die Jacke gilt immer noch.«

Doch Gilly hatte genügend Lebenserfahrung, um zu wissen, dass es nicht bei einem netten Angebot blieb, auch wenn sie nicht recht einschätzen konnte, was dieser Ezra im Sinn hatte. Wäre er direkt zu ihr gekommen und hätte breit grinsend gesagt: »Hey, Mädchen, du siehst aus, als könntest du eine Regenjacke gebrauchen, nimm meine«, hätte sie genau gewusst, worum es ging. Die klassische »Ich hab dir einen Gefallen getan, was kriege ich dafür«-Situation. Das hatte sie gelernt, als sie das letzte Mal weggelaufen und bescheuert genug gewesen war, in eine Großstadt zu flüchten. Gilly hatte geglaubt, da würde sie weniger auffallen. Aber als sie schließlich gezwungen gewesen war, auf der Straße zu betteln, hatte sie schnell gemerkt, dass die Anzugtypen mit dem strahlenden Lächeln und dem dicken goldenen Ehering am Finger die gefährlichsten waren. Nicht zu fassen, was solche Männer sich trauten, wenn sie glaubten, sie könnten unbemerkt damit davonkommen.

So etwas hatte Ezra allerdings nicht probiert. Er hatte nur Rachel angerufen und wegen der Jacke Bescheid gesagt, hatte nicht mal seine Adresse hinterlassen. Gilly befürchtete, er könnte ihr draußen auflauern. Vielleicht hatte er auch religiöse Beweggründe? Wahrscheinlich würde sie eine Bibel oder einen Flyer in der Tasche finden, in dem Jesus sie aufforderte, zu ihm zu kommen oder irgend so einen Schwachsinn. Ezra war doch sogar ein biblischer Name, vielleicht nahm dieser Spinner das etwas zu ernst.

Draußen war er nirgendwo zu sehen, doch Gilly hatte nicht die Absicht, die Jacke an sich zu nehmen. Sie durchsuchte allerdings die Taschen, das konnte schließlich nicht schaden. Eine Taschenlampe kam zum Vorschein, die Gilly wieder zurücksteckte. Sie wollte die Suche schon aufgeben, als sie in einer versteckten Innentasche vier zusammengefaltete Zehn-Pfund-Scheine fand. Vierzig Pfund, für ihre Verhältnisse ein Vermögen! Damit kam sie ein paar Wochen durch, wenn sie gut aufpasste. Vielleicht konnte sie sich sogar ein billiges Buch kaufen. Dann hätte sie einen guten Grund, hierher zurückzukommen, ohne dass Rachel sie für eine Schnorrerin hielt.