Fortgeschritten - Christian Witt - E-Book

Fortgeschritten E-Book

Christian Witt

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Beschreibung

Geflohen aus einem zerrissenen Kosmos, erwachen Adrian, Tarena und Andy in Rihn. Eine Welt aus Kristall, geprägt von erlesener Schönheit und tödlichen Gefahren und der Sitz der Gläsernen Archive, durch deren schillernde Adern sämtliches Wissen des Multiversums fließt. Doch während sie versuchen, dieses Wissen zu nutzen, um den Lauf der Geschichte zu korrigieren, geraten sie zwischen die Fronten von Ordnung und Chaos. Und während in Rihn und anderswo wichtige Schlachten geschlagen werden, sehen sie sich mit jener Frage konfrontiert, die selbst die Weisesten oft nicht beantworten können: Wem kann man trauen, und wem nicht?

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Seitenzahl: 893

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Danksagung

Wie so oft gilt mein Dank vor allem meiner Frau Yvonne, die mich so oft vermissen musste, wenn ich mal wieder in meinen düsteren Kreativkeller verzogen und an der Welt von Rihn, Anntrann oder Cestralia gebaut habe und natürlich auch an meinen ebenso geduldigen Hund „Zeus“, der mir dabei nicht selten schlummernd, schnüffelnd und brummend Gesellschaft leistete und natürlich allen anderen Freunden, Weggefährten und Autorenkollegen. Ein großer Dank gilt aber auch Kati Winter, die diese Geschichte nach all den Jahren noch immer so kunstvoll und treu auf ihrem Kanal zum Leben erweckt und selbstverständlich den wunderbaren Lesern und Hörern, die mich mit ihren Kommentaren bereichert und motiviert haben und die schon gemeinsam mit mir, Adrian und der ganzen Bande durch so viele Welten des Multiversums gereist sind. Und auch wenn sie das leider nicht mehr lesen können, sollen meine Eltern hier nicht unerwähnt bleiben. Auch wenn ihr Tod jetzt schon einige Zeit her ist, vergeht kaum ein Tag und kaum eine geschriebene Zeile, bei der ich nicht an sie denke. Ich hoffe, wir sehen uns auf irgendeine Weise wieder.

Nun aber wünsche ich dir, lieber Leser erstmal viel Spaß in Rihn. Falls dir das Buch gefällt, würde eine Rezension auf Amazon oder anderswo mein kleines Autorenherz vor Freude im Zickzack hüpfen lassen ;-). Weitere Geschichten von mir findest du auf meinem Blog:

www.angstkreis-creepypasta.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Gestrandet

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Kapitel 2 – Schätze im Stein

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Kapitel 3 – Maschinenträume

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Kapitel 4 – Zahnräder

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Kapitel 5 – Schatten im Paradies

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Kapitel 6 – Wissen und Macht

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Kapitel 7 – Krebstherapie

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Kapitel 8 – Grundlagenforschung

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Nachwort

Kapitel 1 – Gestrandet

Es ist schon beeindruckend. Als Fortgeschrittener habe ich die bizarrsten Orte besucht. Dystopische Megastädte, wunderschöne, fremdartige Landschaften, gigantische Himmelstreppen, geisterhafte Wälder, Seen aus Licht und Gärten aus Zahnrädern und doch hat der Anblick des Weltraums für mich nichts an Faszination verloren. So stehe ich unter der Kuppel des Efryums. Eingefroren und staunend, wie das Kind, das ich einst war. Der Junge, der sich zu den Sternen emporgesehnt hat, als höchstes aller Abenteuer. Als glitzernden, goldenen Schuss Fernweh für ein bedrängtes, erdengeplagtes Herz. Durch die durch Anys Wirken fast gänzlich transparent gewordenen Wände des Efryums betrachte ich den schwarzen, luftleeren, trockenen Ozean, den wir zu erforschen beginnen und fülle ihn gedanklich mit Leben. Mit ungezählten Abenteuern auf einer grenzenlosen Vielfalt von Planeten. Verzaubert von diesem Anblick, von diesem Wachtraum fällt es mir schwer, die Raketen, die uns von der Oberfläche Xakrischidaas wie ein Abschiedsgruß entgegenrasen, als die Bedrohung wahrzunehmen, die sie sind. Erst als einige davon das Efryum treffen, die bizarre, aber schützende pyramidenförmige Hülle, die uns vom Vakuum trennt, gelingt es mir, wieder in die Realität zurückzufinden.

Mehrere Erschütterungen jagen durch den Boden und durch die Wände und nur mit Mühe gelingt es mir und den anderen auf den Beinen zu bleiben. Mit Entsetzen stelle ich fest, wie sich winzige Risse im Boden auftun und für einen Moment bilde ich mir ein, den feinen, fremdartigen Geruch des Alls wahrzunehmen, kurz bevor die Schäden von unseren kleinen, automatischen Helfern repariert werden.

Doch meine Erleichterung darüber verflüchtigt sich sofort, als ich erkenne, dass eine weitere, viel größere Salve diesem ersten Bombardement zu folgen scheint.

„Any, verdammt!“, ruft Tarena panisch, „wir müssen etwas tun. Das sind mehr als hundert Geschosse. Die reißen uns auseinander!“

„Das werden sie nicht“, antwortet Any ruhig, „wir warten einfach ab.“

„Hast du den Verstand verloren? Wie kannst du …“, hebt Tarena zu protestieren an, aber Any unterbricht sie mit einer Geste.

„Warte ab“, wiederholt sie bekräftigend und wir alle beobachten, wie die tödlichen Flugkörper auf breiter Front näherrücken und sich – nur wenige Kilometer von uns entfernt – einfach … ausblenden. Ja, sie explodieren nicht etwa und sie lösen sich auch nicht urplötzlich in Luft auf. Stattdessen vervielfältigen sie sich sogar. Sie verdoppeln, vervierfachen, verachtfachen ihre Anzahl und verändern ihre Form, werden breiter, schmaler, größer und kleiner. Und zugleich verblassen sie. Mehr und mehr, bis sie schließlich gar nicht mehr zu erkennen sind. In dem Moment als sie auftreffen – oder eigentlich auftreffen sollten – glaube ich lediglich ein fernes Echo eines Aufpralls zu hören. Das Efryum jedoch bleibt davon vollkommen unbeeindruckt.

„Wie … hast du das gemacht?“, frage ich Any überrascht.

„Ich habe gar nichts gemacht“, erklärt sie nicht etwa erfreut, sondern eher traurig, „das ist das Werk von Astrera.“

„Was?“, wundere ich mich, „sind das nicht eigentlich unserer Feinde?“

„Nicht nur unsere. Die Feinde jeder Ordnung“, präzisiert Any, „seht euch den Planeten an.“

Genau das tue ich und bemerke mit Schrecken, dass auch dieser sich verformt und verändert. Der runde, verwirrende, aufregende Planet, auf dem ich Tarena begegnet bin, verformt sich wie ein Klumpen Lehm in der Hand eines wütenden Riesen, zerfließt in mehrdimensionale, absurde, fast schon nicht mehr geometrische Formen und zerspringt in dutzende kleinere, verwirrende, blasse Nachbilder. Anders als die Raketen löst er sich jedoch nicht gänzlich auf. Xakrischidaa bleibt tapfer an Ort und Stelle. Traurig, leblos und blass wie sein eigener, grotesker Grabstein. Und allein den Planeten anzusehen, bereitet mir seelische Schmerzen. Wenn auch nicht so starke, wie der Anblick von Tarena als ich zu ihr hinübersehe.

Sie zittert. In ihren inzwischen so menschenähnlichen Augen glitzern Tränen. Und ich kann ihre Gedanken fast erraten, bevor sie sie ausspricht.

„Meine Freunde … meine Jagdkollegen … mein … mein Stock … sind sie …“, erkundigt sie sich mit unsicherer, brüchiger Stimme, während sie den schlafenden Andy fester an sich drückt. Auch ich gehe zu ihr. Dann lege ich meinen Arm um sie und genieße ihre Körperwärme, während ich mir einrede, ihr Trost zu spenden. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob ich das hier nicht nur tue, um meine eigene Hilflosigkeit zu überspielen.

„Sie leben noch. Auf gewisse Weise“, erklärt Any, „doch sie haben nicht mehr viel davon. Ihr Bewusstsein ist zersplittert, ihre Tage getränkt von Chaos und Verwirrung. Sie leben rückwärts, seitwärts, gegenläufig. Sie schmecken bevor sie gegessen haben, sie spüren die Folgen von Handlungen, die noch niemand vollzogen hat. Sie sind sich sicher und unsicher, gefangen zwischen Erinnerung und Vergessen, zwischen Ja und nein, zwischen Morgen, gestern und niemals. Sie leiden, lachen, weinen und hassen, ohne zu wissen warum, in einem endlosen, unfassbaren Tag. Das Efryum hat sie und auch dich, Tarena, durch seine Anwesenheit gesammelt. Sie fokussiert. Diese Wirkung hat es auf alles.

„Warum zum Teufel haben wir sie dann verlassen?“, fragt Tarena wütend.

„Sollten wir lieber sterben?“, entgegnet Any ungewohnt emotional, „und mit uns der letzte Rest von Ordnung? Das nämlich wäre die Alternative gewesen. Die bittere Wahrheit ist, dass Astrera bereits gewonnen hat. Beinah zumindest. Sie haben in dieser und den meisten anderen Zeitlinien alles zerschlagen, was die Naturgesetze, die Kausalität, die kosmische Harmonie im Gleichgewicht gehalten hat. Das Efryum ist so ziemlich der letzte Anker von Normalität, der uns noch geblieben ist. Eines der letzten einsamen Schiffchen in einem Ozean des Chaos. Deshalb brauche ich euch. Deshalb brauchte ich die Daten von Projekt Gargona. Das hier ist die letzte Chance, den vollständigen Zerfall zu verhindern.“

„Aber warum habe ich von all dem nichts gesehen?“, wende ich ein, „ich habe seit unserem Treffen in Deovan unzählige Welten bereist. Ich hätte doch bemerken müssen, wie sich das Multiversum um mich herum auflöst. Ich erinnere mich zwar nicht an jedes Detail meiner Reisen, aber …“

„Selbst, wenn du dich erinnern würdest, hättest du es nicht bemerkt“, erklärt Any und wischt sich resigniert den staubig-roten Schweiß aus ihrem Gesicht, „ihr Fortgeschrittenen seid selbst wie ein Anker. Nicht so stark, wie das Efryum, aber dennoch … die Dinge ordnen sich um euch, selbst, wenn ihr euch entscheidet, Jünger des Chaos zu sein. Solange es noch etwas gibt, das existiert, wird es eure Nähe suchen, wie ein verlorenes Kind in der Dunkelheit. Deine letzten Reisen waren ein Schauspiel. Eine Kulisse. Ein Tanz der Toten, die den seltenen Besuch des Lebens ehren. Sobald du einen Schauplatz verlassen hast, ist er zurück in Elend und Chaos gestürzt.“

Das zumindest kommt mir bekannt vor, denke ich.

„Wenn alles verloren ist, welchen Sinn hat unsere Reise dann noch?“, fragt Tarena bitter, „wäre es da nicht noch besser gewesen, sich gleich in Nollotschs Obhut zu begeben?“

„Da spricht eine wahre Krebsbotin“, erwidert Any verschmitzt und an Tarenas Gesicht kann man ablesen, dass ihr diese Einschätzung ganz und gar nicht gefällt, „aber abgesehen davon, dass wir besser beraten wären, den Tod und das Vergessen zu wählen als uns in die Fänge des Planetenkrebses zu begeben, ist noch nicht alles verloren. Dank Adrian habe ich die Daten von Gargona und Abseits des Efryums gibt es noch eine letzte Zuflucht für uns. Neuratia. Mein Heimatplanet und zugleich eine gut verteidigte, hocheffiziente Waffenfabrik. Sobald wir dort angekommen sind, kann ich die Daten eingeben, die Waffe nach unseren Bedürfnissen anpassen und wir können damit beginnen zurückzuschlagen und das Multiversum von Astrera zu reinigen. Es wird eine mühsame Aufgabe werden, aber es ist eine Chance – unsere einzige Chance – für einen Neuanfang. Und wenn wir Glück haben, haben sich auch einige unserer überlebenden Verbündeten dorthin gerettet. Alles, was uns gelingen muss, ist heil dorthin zu kommen.“

„Ich bin nach wie vor nicht davon überzeugt, dass wir das Multiversum in die Harmonie bomben können oder sollten“, beharrt Tarena.

„Manchmal ist ein kompletter Neuanfang die einzige Möglichkeit, Ordnung zu schaffen“, antwortet Any, „und andere Optionen haben wir nicht.“

„Wie weit ist es bis Neuratia?“, frage ich.

„Nicht sehr weit“, sagt Any, „wir sollten in vier oder fünf Stunden dort sein.“

Plötzlich geht erneut eine Erschütterung durch die Pyramide als ein Bündel schwarzer, aber zugleich hell leuchtender Energieblitze in das Efryum einschlägt, das mich verdächtig an die Geschosse aus meiner ehemaligen Armwaffe und aus Karmons Brust erinnert. Diesmal zeigen sich ziemlich starke Risse in der Struktur der fliegenden Pyramide und geben Anys kleinen Helfern eine Menge zu tun.

„Verdammt! Wo kam das her?“, frage ich. Noch immer leicht geblendet, versuche ich am dunklen Himmel die Quelle der Geschosse ausfindig zu machen, als ich vor der mit schmierigen Sternen gespickten Dunkelheit endlich drei nur minimal hellere Bereiche ausmache.

„Dort ist irgendwas“, sage ich, „Raumschiffe womöglich.“

„Mit Sicherheit sogar“, sagt Any, zückt eines ihrer Pendel und bewegt es in einem engen, ovalen Bogen. Kurz darauf werden die drei Angreifer in ein goldenes Licht gehüllt, das sie deutlich vor dem Hintergrund hervorhebt. Die unbekannten Schiffe sind länglich, geformt wie raue, breite Stalagmiten und erinnern an eine Mischung aus erstarrter Lava und dem, was man für gewöhnlich beim Bleigießen erhält.

„Das sind Trekjonen des Dunklen Dorns“, urteilt sie, „Astreras finstere Speerspitze. Deshalb sind sie so schwer erkennbar. Anscheinend hat man unsere Flucht nicht nur auf dem Planeten bemerkt.“

„Wieso sind sie überhaupt in der Lage zu feuern?“, fragt Tarena, „sollten sie nicht unter demselben Chaos leiden wie alle anderen?“

„Das sollten sie“, stimmt Any zu, „unter normalen Umständen. Aber zum einen sind sie in unserer Nähe und zum anderen werden sie mit ziemlicher Sicherheit einen Fortgeschrittenen an Bord haben.“

„Warum setzen sie den Angriff dann nicht fort, war das nur ein Warnschuss?“, fragt Tarena.

„Unwahrscheinlich“, sagt Any, „ihre Waffen brauchen nur eine gewisse Zeit, um nachzuladen. Für gewöhnlich greifen sie fast unsichtbar aus dem Hinterhalt an und vernichten ihr Ziel mit dem ersten Schuss. Aber das Efryum ist ein recht harter Brocken. Das bringt uns einen gewissen Vorteil. Zu viele weitere Treffer sollten wir trotzdem besser nicht riskieren.“

Any zückt ein großes, goldfarbenes Pendel, ohne das erste dabei loszulassen und schwingt es in einer ausgreifenderen, vertikalen Bewegung. Der Effekt lässt nicht lange auf sich warten. Noch bevor die Schiffe des dunklen Dorns eine weitere Salve auf uns abfeuern, löst sich von Any ein Ring aus leuchtend weißer Energie. Er rauscht knapp über unsere Köpfe hinweg, passiert die Wände des Efryums so mühelos, als wären sie wirklich durchlässig und trifft dann alle drei angreifenden Schiffe auf einmal seitlich in den Rumpf. Die Wirkung ist verheerend.

Die nadelförmigen Schiffe leuchten im Eintrittsbereich des Rings hell auf. Wie Blut bei einer Schnittverletzung tritt geschmolzenes Metall hervor, kurz bevor die Oberteile der Kampfschiffe einfach von ihren Unterseiten herabrutschen. Eine große Explosion gibt es nicht. Die Überreste der Schiffe treiben einfach nur reglos wie geköpfte Riesen im Raum. Wer oder was auch immer sich aber an Bord befunden hatte und nicht schon beim Einschlag des Energierings verdampft ist, ist nun der gnadenlosen Leere des Alls ausgeliefert.

„Gute Vorstellung!“, lobe ich Any, stelle jedoch besorgt fest, dass sie schwankt und sehr blass ist.

„Danke“, sagt sie matt, „dummerweise hat das Efryum selbst praktisch keine Waffensysteme und meine Kraft ist endlich. Dieses Manöver erfordert … viel Energie. Hoffen wir, dass es nicht noch einmal nötig sein wird.“

Mir liegt eine Erwiderung auf den Lippen, doch ich belasse es bei einem verschwörerischen Blick zu Tarena. Offenbar wissen wir beide, dass so etwas Wunschdenken ist. Wenn es stimmt, was Any gesagt hat und wir so ziemlich die letzten sind, die Astreras Zielen im Weg stehen, ist davon auszugehen, dass sie alles tun werden, um uns auszuschalten. Ich zumindest würde es tun.

„Ich werde unseren Antrieb beschleunigen“, eröffnet Any, die sich auf den Boden des Efryums gesetzt hat und ihr Pendel wie einen imaginären Krückstock umklammert hält, „das wird uns zwar viel Energie kosten, aber wir können unsere Reserven in Neuratia erneuern und wenn wir es nicht dorthin schaffen, spielt das ohnehin keine Rolle mehr.“

Wir beide nicken, auch wenn ich mir gar nicht sicher bin, ob Any überhaupt nach unserer Zustimmung gefragt hat und bereits Sekunden später bemerken wir am etwas schnelleren Vorbeiflug der Sterne, dass wir tatsächlich beschleunigen. Gleichermaßen verträumt und ängstlich starre ich in die Leere und beobachte die Himmelskörper, die abhängig von ihrer Nähe zu uns mal mehr und mal weniger starke Nachbilder, Verformungen und Unschärfen besitzen. Manchmal taucht aus dem Nichts ein Planet auf, der vorher noch nicht sichtbar gewesen ist, wird kurz riesengroß, nur um dann wieder ins Nichts zu verschwinden und gelegentlich glaube ich auch blasse, geisterhafte Schiffe an uns vorbei oder auf uns zufliegen zu sehen. Doch da keines davon ein wie auch immer geartetes Interesse an uns zu zeigen scheint, gehe ich davon aus, dass es sich um nichts anderes als um Auflösungseffekte der Raumzeit handelt. Diese ganze Reise hat etwas Unwirkliches und zugleich fühlt sie sich nicht wirklich nach einer Reise an.

Zwar höre ich die beinah unendlichen Straßen der nahen, fernen und noch ferneren Welten rufen und spüre, wie sie meine Neugier und meinen Entdeckergeist kitzeln, doch zugleich wird mein Fernweh nicht wirklich herausgefordert. Es ist, als stünde ich vor einer unendlichen Fülle an Möglichkeiten. Als könnte ich jeden nur denkbaren Schritt in die Weiten des Multiversums tun, nicht einmal beschränkt vom engen Korridor meines Katalogs. Und zugleich weiß ich, dass jeder dieser Schritte gleichermaßen sinnlos wäre. Dass jedes Geheimnis schale Erfindung und jede Entdeckung profane Illusion wäre. Es macht mich traurig, ja lässt mich beinah verzweifeln und zugleich birgt es einen gewissen Frieden. Denn es wirft mich zurück auf den Moment, auf einen Augenblick, in dem ich nichts falsch machen kann, da das, was ich erreicht habe, schon das maximal mögliche ist. Ein Zustand, der wie ein Spiegelbild von Zufriedenheit ist. Verdreht, durch eine dünne Glasscheibe getrennt und doch auf gewisse Art dasselbe. Ein Zustand, der mich für einen Moment an den erinnert, der ich einst war. Damals, in meinem Dorf, in dem meine Zukunft noch so ungeschrieben wie ungreifbar gewesen ist.

Das leise, surrende Geräusch, mit dem sich das Efryum fortbewegt und das Schweigen von Any, die sich in einem Zustand zwischen Schlaf, Meditation und Konzentration zu befinden scheint, verstärken diese Stimmung nur noch mehr.

„Wenn mir früher jemand erzählt hätte, dass ich zusammen mit meiner Freundin und der letzten Hüterin des Multiversums am Rande der Apokalypse durch das Weltall jage, hätte ich ihm dringend empfohlen, weniger zu kiffen“, sage ich mit einem Augenzwinkern zu Tarena und bin mir unsicher, ob dabei Sentimentalität oder Verlegenheit aus mir sprechen.

„Glaubst du wirklich, dass wir Freunde sind?“, fragt Tarena kühl und zerreißt damit die einzigartige Stimmung dieses Moments.

Zugleich muss sie bemerkt haben, wie sehr mich ihre Worte verletzt haben. Sie kommt näher und ergreift meine Hand.

„Das hätte ich nicht sagen sollen“, sagt sie bedauernd, „zumal ich nicht wirklich so empfinde.“

„Du hast jedes Recht dazu“, gestehe ich bitter ein, „ich meine, manche Leute beenden Beziehungen wegen eines vergessenen Jahrestags oder unterschiedlichen Vorstellungen von Haushaltsführung. Da hab ich schon deutlich mehr abgeliefert.“

„Du hast auch viel Gutes getan“, sagt Tarena, „du hast mir neue Welten und Gedanken eröffnet. Du hast mir Kinder geschenkt und … im Grunde hast du auch genug Grund mich zu hassen. Nicht viele belohnen ihre Vergewaltigerin mit Zuneigung. Auch wenn ich dir nicht schaden wollte, die Angst, die du damals gefühlt hattest, war real und nicht wieder gutzumachen. Dennoch … es ist so viel passiert … Ich glaube, wenn man zu viele negative Erfahrungen macht, verwandelt das einen unweigerlich, selbst wenn kein Planetenkrebs seine Finger im Spiel hat. Trotzdem sollten wir Freunde sein. Wir haben zu viel gemeinsam durchlitten, um es nicht zu sein.“

„Freunde. Aber nicht mehr?“, frage ich und komme mir dabei vor wie ein Charakter aus einer Teenie-Romanze. Aber gut, so viel Zeit ist auch noch nicht verstrichen, seit ich ein Teenager gewesen bin und manche Grundfragen ziehen sich wohl einfach durch das Menschsein. So profan sie auch sein mögen.

„Adrian, der Fortgeschrittene, der Bezwinger von On-Grarin, der Vernichter von Uranor, Konor und was weiß ich noch für Welten, denkt in solchen Schubladen?“, erwidert Tarena halb ernsthaft.

Ich sehe sie grinsend an, bemüht meine Enttäuschung hinter Fröhlichkeit zu verstecken. „Hey, es ist auch noch nicht lange her, dass ich ein ordnungsfixierter Roboter war, der sich nicht ohne Scheuklappen durch die Welt bewegen konnte. Da sollte dich das nicht wundern.“

„Any hat dich repariert“, entgegnet Tarena.

„Dafür fühle ich mich aber ziemlich kaputt“, erwidere ich bitter und als ich zu Tarena blicke, lese ich in ihren Augen Mitleid. Nicht unbedingt das, was man dort zu sehen erhofft, wenn man jemanden auf romantische Art liebt.

„Es gibt keinen Grund für deine Verbitterung“, sagt Tarena, „wir sind, was wir sind. Und ich erkenne deine Bemühungen durchaus an. Lass uns einfach abwarten, was die Zeit bringt.“

„Sieht nicht so aus, als wäre die noch sonderlich zuverlässig oder als hätten wir noch besonders viel davon“, sage ich nachdenklich, während ich in das verzerrte Weltall blicke, „aber du hast schon recht. Man kann ohnehin nichts erzwingen. Mir hätte nur der Gedanke gefallen, dass alles zwischen uns in Ordnung ist, nun da das Ende so nah ist.“

„Eine Lüge wird dadurch nicht besser, dass man sie nur kurze Zeit erzählen muss“, antwortet Tarena erneut nicht sehr diplomatisch, „außerdem sagt mir etwas, dass unsere Geschichte noch nicht vorbei ist.“

„Dieses etwas ist aber nicht zufällig Nollotsch, oder?“, frage ich neckend.

„Nein“, sagt Tarena ernst, „zumindest glaube ich das nicht. Ich höre ihn sogar, weißt du. Nur ab und an. Ich glaube, er will mir etwas mitteilen, aber diese Veränderungen in den Naturgesetzen scheinen es nicht zuzulassen. Doch das hier ist anders. Mehr wie eine Intuition.“

Kaum da sie dieses Wort ausgesprochen hat, wird die fast vollkommene Stille zerrissen von einem lauten, schrillen Quietschen. Es ist so intensiv, so schmerzhaft, dass Any sofort in die Höhe schießt, Andy beginnt zu brüllen und Tarena und ich uns mit aller Kraft die Hände auf die Ohren pressen.

Dann, auf einen Schlag, endet es und mitten in der Luft erscheint eine rechteckige Projektion. Sie zeigt die Brücke eines Schiffes und fünf Personen. Im weitesten Sinne. Zwei davon sind mir völlig unbekannte Tronhiire, ein Zwillingspaar aus Männchen und Weibchen, deren finsterer Gesichtsausdruck den der Verbindung Zoenhir noch deutlich in den Schatten stellt. Die anderen jedoch kommen mir verdammt bekannt vor. So bekannt, dass ich für einen Moment an eine ziemlich verworrene Illusion glaube.

Zu ihnen gehört eine Bravianerin mit kahlrasiertem Kopf, verschiedenen Tätowierungen und schwarz umrandeten Augen, gehüllt in ein reich verziertes, zeremonielles Gewand. Neben ihr steht eine schlanke, selbstbewusste Andrin mit einem grausamen Lächeln und in einem schwarzen Ganzkörperanzug voller Stacheln, bestickt mit den Gesichtern schreiender Kreaturen. Und ganz vorne eine blau schimmernde, wunderschöne Cestral mit einem bitteren, zornverzerrten Gesicht und gerüstet mit Sahkschas Rüstung.

„Ich hoffe, wir haben nun eure Aufmerksamkeit“, sagt Elyvenne, die desillusionierte, zynische Cestral, die sich seit ihrer Zeit an Sandras Seite noch einmal deutlich zum Schlechteren verändert hat.

„Ein einfaches Hallo hätte auch gereicht, Elyvenne“, antworte ich, noch bevor Any oder Tarena das Wort ergreifen können, „was wollt ihr von uns? Wolltest du mir noch ein paar Beleidigungen an den Kopf werfen, die du damals in Konor noch nicht ausgesprochen hast?“

„Mein Name ist Munnaka“, stellt die vermeintliche Cestral richtig, „doch aus Elyvennes Erinnerungen weiß ich, was für ein aufgeblasener Idiot du bist. Trotzdem geht es überraschenderweise einmal nicht um dich, sondern um das Multiversum. Any, ist es, mit der ich reden will.“

„Und was sollte eine Kwang Ana mir mitzuteilen haben?“, fragt Any, die sich inzwischen wieder gesammelt und aufgerichtet hat.

„Die Botschaft stammt nicht nur von mir, Zahnradhure, sondern vom gesamten momentanen Rat von Astrera“, erwidert der dunkle Kwan Grong, der offenbar die Seele von Elyvenne verschlungen hat. Und sie lautet folgendermaßen: Neuratia ist gefallen und all deine Knechte aus ihrer Gefangenschaft befreit. Genau wie die Gesamtheit aller Dinge, die sind. Dies ist der letzte Tag an, dem wir uns an irgendwelche Gesetze halten müssen. Alles ist fortan möglich. Jeder Weg, auf jedem einzelnen Pfad und in jede nur denkbare Richtung. Alles, was uns noch im Weg steht, bist du und dieses hässliche Ding, in dem du dich versteckst.“

Ich beobachte Any genau. Sie hat sich erstaunlich gut im Griff. Trotzdem glaube ich zu bemerken, dass sie noch blasser geworden ist als zuvor.

„Woher weiß ich, dass ihr die Wahrheit sagt?“, antwortet Any.

„Ob du uns Glauben schenkst oder nicht ist vollkommen egal“, meldet sich die Andrin Razza lachend zu Wort, „dran glauben müssen, wirst du ohnehin!“

„Garwenia“, mische ich mich nun doch wieder ein, „wie kannst du diesen Wahnsinn unterstützen? Du magst mich hassen und das nicht ohne Grund und vielleicht auch die Menschheit an sich. Aber sieh dich doch um: Das, was ihr geschaffen habt, ist eine Hölle und jetzt soll sie unumkehrbar werden? Das kannst du unmöglich wollen!“

Garwenia sieht mich an. In ihren herrschaftlich überlegen blickenden Augen liegen tatsächlich Zweifel. Doch sind sie stark genug?

„Von dir nehme ich keine Ratschläge an“, sagt Garwenia nach einem kurzen Moment des Schweigens, „weder ich noch das bravianische Volk.“

Während sie spricht, glaube ich die Tronhiire bestätigend nicken zu sehen und fühle mich an eine Geiselnahme erinnert. Und doch glaube ich nicht, dass es so einfach ist. Garwenia ist wohl in erster Linie eine Gefangene ihrer eigenen Entscheidungen.

„Wir haben unsere Zukunft gewählt“, sagt sie unsicher und ich habe beinah den Eindruck als würde sie versuchen, sich vor sich selbst zu rechtfertigen, „wir alle haben uns für die grenzenlose Freiheit entschieden. Und selbst, wenn ich es für falsch hielte, so habe ich meinen Leuten nichts mehr zu befehlen. Die Zeit der Regeln ist vorbei, Adrian. Und deine Zeit ist es auch.“

„Mit eurer Entscheidung bestimmt ihr nicht nur über euch, sondern über jedes Lebewesen im Multiversum“, versucht Tarena zu intervenieren, „dazu habt ihr kein Recht.“

„Genug. Die Ära der Diplomaten und ihrer wohlklingenden Halbwahrheiten gehört der Vergangenheit an, Krebsbotin“, entgegnet Munnaka mit dem Mund der Cestral, „jetzt gilt allein die unverfälschte Wahrheit in unser aller Herzen und das ursprüngliche Gesetz des Willens. Das Multiversum wird ein einziger, gigantischer Seelenwirbel. Und ihr könnt daran teilhaben, wenn ihr wollt und schnell genug seid. Um euch diese Chance zu geben, haben wir euch kontaktiert. Verlasst das Efryum, solange ihr noch könnt. Denn in zwei Minuten werden wir beginnen, es in Staub zu verwandeln.“

Kaum da Munnaka geendet hatte, schaltete sich die Übertragung ab und lediglich ein unheilvoller, in schwarzen Zahlen projizierter Countdown blieb auf den Wänden des Efryums zurück. Das Letzte, was ich von der Brücke des Astrera-Schiffes sah, war das innerlich zerrissene Gesicht von Garwenia und das vorfreudige Grinsen von Razza und den Tronhiire.

Kurz darauf tauchen rings um uns hunderte Schiffe unterschiedlichster Bauart auf. Goldene, verspielt verzierte Kreuzer, schwarze Nadeln, dunkelgrüne Scheiben und rote, wuchtige Raumkolosse, deren Design mir nur allzu vertraut ist. Immerhin habe ich in der Zeit meiner Co-Herrschaft in Konor an ihrem Design mitgewirkt. Anders als früher scheinen die Rorak-Schiffe jedoch inzwischen deutlich manövrierfähiger zu sein. All diese Gefährte verteilen sich in einem sorgsam geplanten Manöver, bauen eine Art schwebende Mauer um uns auf und machen es uns praktisch unmöglich zu fliehen.

„Gehe ich recht in der Annahme, dass wir die nicht alle vernichten können?“, frage ich Any.

„So ist es“, antwortet Any, „wir können mit viel Glück vielleicht die Hälfte von ihnen ausschalten, aber spätestens dann würden sie uns in Asche verwandeln und die Kernachse mit uns.“

„Was also tun wir jetzt?“, fragt Tarena, „das Efryum evakuieren und auf Gnade hoffen?“

„Auf keinem Fall!“, sagt Any hart, „selbst wenn wir das wollten, ginge das nicht. Das Efryum hat keine Jäger oder Rettungskapseln an Bord. Nur die Drohnen und die sind nicht für einen bemannten Flug geeignet.“

„Ich lasse Andy nicht sterben!“, beharrt Tarena, „es muss einen Ausweg geben.“

„Den gibt es“, sagt Any und ihre Stimme klingt auf einmal schwermütig, „für euch zumindest.“

„Wie meinst du das?“, erkundige ich mich, während der Countdown auf einer Minute und acht Sekunden steht, „und beeil dich besser mit der Erklärung.“

„Das, was Astrera angerichtet hat, hat auch seine Vorteile. Der Weg in die Vergangenheit ist so einfach wie nie. Zwar ist sie zersplittert in Trilliarden Vergangenheiten, aber hiermit kannst du einen neuen Hauptpfad schaffen und ihn stabilisieren“, sagt Any und reicht mir ein kleines Pendel, welches mir sehr bekannt vorkommt.

„Das hier kenne ich. Aber sonst versteh‘ ich nur Bahnhof“, antworte ich verwirrt, nehme das Pendel dennoch entgegen und schiele unruhig zum Countdown. Noch dreiundvierzig Sekunden.

„Sie will uns in die Vergangenheit schicken und das alles hier ungeschehen machen“, schlussfolgert Tarena. Und daran, dass sie recht schnell spricht, bemerke ich, wie nervös auch sie ist.

„Nicht ganz“, korrigiert Any, „ich will, dass ihr andere Geschehnisse zu den Wesentlichen macht. Aber das Prinzip ist ähnlich.“

„Und wie sollen wir das anstellen?“, frage ich noch immer etwas überfordert von dem Gedanken.

„Ihr habt diese finstere Allianz gesehen. Diese Verbindung aus Hass, Sadismus und falschen Entscheidungen. Sorgt dafür, dass sie gar nicht erst entsteht. Und stellt sicher, dass jene überleben, die auf unserer Seite kämpfen würden. Führt die Gesamtheit der Dinge auf einen Pfad der Ordnung. Um das zu tun, werde ich euch in das frühere Rihn schicken, kurz nach deiner Ankunft dort. Wendet euch an mein damaliges Ich und an die Version von dir, die ihr dort antreffen werdet. Du, Adrian, musst dich mit ihr vereinigen, um die Dinge zu beeinflussen.

Da du dadurch langsam deine Erinnerungen an alle zukünftigen Ereignisse verlieren wirst, musst du sie aus den Archiven sichern. Dein Pendel ist – unter anderem – auch ein Whe-Ann-Datenstick. Er enthält alles, was ich weiß und wird weiteres Wissen aufnehmen können. Speichert diese Zeitlinie und ihre verhängnisvollen Pfade darauf und überbringt diese Informationen der damaligen Any. Sie wird euch sagen können, was ihr tun müsst.“

„Was zur Hölle hast du geraucht?!“, frage ich fassungslos, doch ich erhalte keine Antwort.

Denn genau dann endet der Countdown und eine Welle von Erschütterungen rüttelt das Efryum kräftig durch. Vor unseren Augen detoniert ein Feuerwerk aus dunklen und hellen Lichtern. Schutt fliegt umher, die Kuppel über uns kollabiert, kleine Explosionen fegen durch die Pyramide und die Drohnen wuseln herum, um das Schiff instandzusetzen. Dabei arbeiten sie so emsig und verzweifelt wie Schiffbrüchige, die das Wasser aus ihrem lecken Rettungsboot schöpfen. Geblendet von all den Lichtern und in der Hoffnung, so zu verhindern, dass der Schutt meine Augen in ein schlabbriges Sieb verwandelt, strecke ich mit geschlossenen Lidern die Hand nach Tarena aus und kann schließlich eine ihrer Klauen ergreifen.

„Passt auf euch auf!“, höre ich Any rufen und ein surrendes Geräusch sagt mir, dass sie mitten in diesem Inferno ein weiteres ihrer unzähligen Pendel schwingt, „wir werden uns nicht wiedersehen. Nicht in dieser Form.“

Dann reißt eine weitere, gewaltige Detonation das Efryum auseinander und während Hitze, Kälte und das gierige Vakuum gleichermaßen nach uns und der Kernachse greifen, verschwinden wir aus dieser Zeit.

-2-

Meine von der verheerenden Explosion geblendeten Augen müssen sich gar nicht groß umgewöhnen. Zwar ist das Licht in Rihn nicht annähernd so hell, wie damals in Uranor, aber die kräftige, weißliche Sonne dieser Welt hat auch ohne die geborgte Energie falschen Glaubens eine beachtliche Wirkung. Es liegt jedoch nicht an den Sonnenstrahlen allein. Der Boden des hohen Kristallgebirges, auf dem ich so nahtlos erwache, als hätte ich schon immer dort gestanden, trägt durchaus seinen Teil bei.

Seine milchig-weiße Beschaffenheit, scheint in ungeübten Augen eine milde Form von Schneeblindheit zu erzeugen. Auch, wenn der unangenehm warme Boden sonst ganz sicher nichts mit Schnee gemein hat. Immerhin stehen Tarena, Andy und ich auf einer relativ ebenen Fläche, wie ich erkennen kann, als es mir gelingt, meine zu Schlitzen verengten Augen etwas weiter zu öffnen. Genauso gut hätten wir auf einer der zahlreichen, scharfkantigen, nadelartigen Erhebungen landen können, die überall aus dem Boden ragen. In diesem Fall wäre unsere Zeitreise äußerst kurz ausgefallen.

Ich warte ein paar Sekunden ab, bis ich mich traue, meine schmerzenden Augen endgültig zu öffnen, und stelle fest, dass sich das Gebirge noch ein ganzes Stück über und unter uns fortsetzt. Nicht nur in milchigem Weiß, sondern auch in Rot-, Grün-, Violett- und Silbertönen. Normales Gestein scheint es hier so gut wie gar nicht zu geben. Vielmehr scheint alles hier aus Edelsteinen und Metallen zu bestehen. Selbst der hohe, mit einer ovalen Spitze ausgestatteten Turm aus Bergkristall, der sich glitzernd aus den Nebelbänken des Tals erhebt und bei dem es sich – wie ich weiß – um einen Teil der Gläsernen Archive handelt. Auch wenn dieser Anblick wunderschön ist und jedem nach Schätzen gierenden Drachen vor Freude einen Herzinfarkt beschert hätte, erinnert er mich seltsamerweise nicht zuerst an eine Schatzkammer. Eher an eine mit Blutergüssen, blauen Flecken und Wunden übersäte Leiche mit ziemlich scharfen Zähnen.

Entweder hat mein Sinn für Romantik und Ästhetik also bei diesem Zeitsprung schweren Schaden genommen oder etwas in mir ahnt, dass diese Schönheit trügerisch ist. Nun, im Grunde ist es ja nicht mal eine Ahnung. Ich weiß es ja sogar aus eigener Erfahrung. Wenigstens fast. Diese Erinnerungen sind nicht sofort in meinem Bewusstsein präsent, aber zumindest, wenn ich mich darauf konzentriere, kann ich mir die Ereignisse und Tragödien meines noch nicht geschehenen Besuchs in Rihn klar ins Gedächtnis rufen. Es ist … ziemlich verwirrend. Aber wohl nicht viel verwirrender als Zeitreisen oder die bevorstehende Begegnung mit mir selbst.

„Wie geht es euch?“, frage ich Tarena, als ich mich wieder auf etwas anderes als mich selbst und die fremdartige Umgebung konzentrieren kann.

„Mir überraschend gut, wenn man bedenkt, dass ich vor ein paar Sekunden noch in einem Inferno gestanden habe“, antwortet Tarena, während sie sich die verschwitzen Haare aus dem Gesicht streicht, „und auch Andy scheint wohlauf zu sein. Nach den Beschreibungen deiner Reisen mit der Portalmaschine hatte ich mir das anders vorgestellt. Hat da etwa jemand seine Heldentaten ausschmücken wollen?“

Ein vertrautes Zwinkern nimmt der gespielten Empörung in ihrer Stimme die Spitze.

„Ganz sicher nicht. Mit der Portalmaschine zu reisen ist wirklich kein Vergnügen. Das hier ist etwas anderes. Es ist mehr als …“, beginne ich.

„… als wäre man schon immer hier gewesen“, ergänzt Tarena nachdenklich.

„Genau!“, stimme ich ihr zu, „aber trotzdem will ich hier nicht mehr sein. So langsam habe ich das Gefühl, dass meine Schuhe samt den Füßen darin gekocht werden.“

„Eine solche Hitze spüre ich noch nicht“, meint Tarena, „aber dennoch hast du recht. Wir sollten direkt aufbrechen. Wenn es stimmt, was Any gesagt hat, dann müssen wir dich finden, bevor wir irgendetwas am künftigen Sieg von Astrera ändern können. Weißt du zufällig, wo du damals nach deiner Ankunft als erstes hingegangen bist?“

„Ja“, sage ich nach kurzem Nachdenken und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, „natürlich direkt mitten hinein in die größten Schwierigkeiten.“

-3-

Der Weg durch Rihn verlief bislang verdächtig ruhig. Zumindest, wenn ich bedachte, wie schnell sich die Ereignisse – und Katastrophen – nach meiner Ankunft in früheren Welten entwickelt hatten. Zwar musste ich von Zeit zu Zeit höllisch aufpassen, nicht auf dem glatten Untergrund auszurutschen und in eine mit scharfkantigen Kristallen gespickte Schlucht oder gleich den ganzen Weg hinab ins neblige Tal zu rutschen. Und nach dem, was ich von Pingo erfahren hatte, gab ich auch auf jede noch so kleine und womöglich infektiöse Kristallspitze acht. Aber weder hatte mich etwas oder jemand töten wollen, noch wurde ich bislang von irgendjemandem geprüft, zwangsverpflichtet, verstümmelt oder versklavt und soweit ich wusste, hatte ich mir auch noch keine tödliche Krankheit eingefangen.

Zugegeben, ich verspürte durchaus ein unangenehmes Kratzen im Hals, jedoch ging ich davon aus, dass dieses allein von dem feinen Kristallstaub in der Luft stammte. Dieser wurde nämlich bei den gelegentlichen und eigentlich erfrischenden Windstößen vom Boden aufgewirbelt und selbst mit vorgehaltener Hand konnte ich ihn nicht ganz davon abhalten, in Mund und Nase zu gelangen.

Auch meine trockenen Augen führte ich auf jene Ereignisse zurück. Zugegeben, die möglichen Folgen davon, rasiermesserscharfe Mikro- und Nanopartikel einzuatmen, bereiteten mir schon Sorgen. Aber zum einen hatte ich keine andere Wahl, als mich dem auszusetzen, und zum anderen beruhigte ich mich damit, dass die Rihn-Ha ja damit auch irgendwie fertig wurden. Den Gedanken, daran, dass dies einfach an den Besonderheiten ihrer Physiologie liegen könnte, verdrängte ich ganz bewusst.

Ohnehin war ein anderes Problem viel drängender. In meinem verzweifelten Bestreben, Deovan hinter mir zu lassen, hatte ich nämlich nicht daran gedacht, mich mit Proviant auszustatten. Im Gebäude von New Day hatte ich zwar noch das ein oder andere zu mir genommen, aber es war schon viele Stunden her, dass ich etwas getrunken oder gegessen hatte. Dummerweise erweckte die Umgebung nicht den Eindruck über so etwas wie Seen, Flüsse oder gar Vegetation zu verfügen. Ich konnte also wohl nur darauf hoffen, einen anderen Wanderer zu treffen, den ich um einen Teil seiner Vorräte bitten oder ihn notfalls darum erleichtern müsste. Oder darauf, dass ein Tier oder eine andere Kreatur vorbeikam, die schwächer war als ich, deren Fleisch essbar war und deren Blut so salzarm war, dass es meinen Durst stillen konnte. Good Luck, Adrian.

Aber hey, immerhin lebte ich noch und ich hatte doch auch schon in den kargen Maschinengärten irgendwie überlebt. Bevor ich verdursten würde, konnte ich ja immer noch den Katalog benutzen, nun, da ich ihn endlich wieder bei mir hatte. Wenn mich irgendeine Version von Any danach aufspüren und mir für mein Versagen die Pulsadern mit ihrem Pendel filetieren würde, würde ich wenigstens gesättigt sterben. Und falls das nicht geschah, konnte ich entspannt abwarten, wie die Schöpfung ins haltlose Chaos abrutschte und zu meiner persönlichen Theaterbühne verkam. Nicht die beste Idee vielleicht.

Andererseits war ja nicht gesagt, dass es in den Nadelwelten von Rihn wirklich keine Vegetation und kein Wasser gab und sich nicht doch in irgendeiner Höhle etwas Derartiges verbarg. Die Rihn-Ha mussten ja auch von irgendetwas leben. Und überhaupt: Was wusste ich schon über diese Welt? Im Grunde ja fast gar nichts. Und für jemanden, der für Fernweh und Neugier lebte, waren das eigentlich ziemlich spannende Voraussetzungen.

Von diesem Gedanken ein wenig motiviert, konzentrierte ich mich wieder auf mein Ziel. Ich musste es irgendwie hinunter ins Tal zu den Gläsernen Archiven schaffen und dort nach Anys Kontaktmann fragen. Eigentlich ganz simpel. Dummerweise konnte ich nicht einfach am Rand des Gebirges hinab durch den Nebel klettern. Nicht nur, dass die Sicht dort viel zu schlecht und der Kristall besonders glitschig und rutschig war, es war auch viel zu steil. In meiner Zeit auf der Erde hatte ich schon kein Interesse am Bergsteigen gehegt und meine Abenteuer haben mir zwar ein wenig die Angst vor der Höhe genommen, mir jedoch nicht auf wundersame Weise die Fähigkeit verliehen, blind fast glatte Kristallwände von unbekannter Höhe hinabzukraxeln.

Selbst mein flüchtiger Gedanke, einfach meine Kompassnadeln in die Steilwand zu schießen und mir so eine Art Treppe zu schaffen, erwies sich als erbärmliche Comiclogik. Nicht nur, dass die Nadeln mein Gewicht nicht gehalten und mir höchstens vor dem Fall die Hände zerschnitten hätten, es war aus dieser Höhe und bei den Sichtverhältnissen auch unmöglich, die nötigen Abstände abzuschätzen. Nein, wenn ich hier runterwollte, musste ich eine Art Bergpfad finden, vielleicht auch eine Treppe oder eine Höhle, die mich hinabführte.

Diese Überlegung war es auch, die mich dazu gebracht hatte, stattdessen die leicht abschüssigen Kristallflächen hinabzusteigen – und teilweise zu rutschen – was mir bislang auch ganz gut gelungen war. Ich hatte leider keine Möglichkeit, das genau zu messen, aber ich vermutete dennoch, dass ich nach etwa einer halben Stunde auf diese Weise bereits einige Höhenmeter hinter mich gebracht hatte. Dummerweise war diese Art des Vorankommens recht kräftezehrend, was mein Problem mit dem Proviant nur noch akuter werden ließ und zugleich wurde es immer heißer.

Ich blickte hinauf zur Sonne und vermutete, dass sie in ihrem Zenit stand, konnte das aber auch nicht mit Sicherheit sagen. Immerhin wusste ich ja nicht mal, wie lang ein gewöhnlicher Tagesrhythmus auf Rihn dauerte und vor allem wusste ich nicht, was dort in der Nacht geschah. Wurde es hier nach Sonnenuntergang erträglich kühl oder bitterlich kalt? Und kamen des Nachts vielleicht die Raubtiere heraus, die tagsüber schliefen? Immerhin hatte ich auf meinem zurückgelegten Weg gelegentlich etwas unter dem Kristall hervorscheinen sehen. Schemenhaft und undeutlich zwar, wie durch dickes Eis, aber dennoch klar genug erkennbar.

Seltsame, verkrümmte Formen, mal von dunklem Grau und mal bunt glitzernd, die sich von Zeit zu Zeit kurz aber deutlich geregt hatten, so als würden sie träumen – oder bald erwachen. Ganz gleich, ob es sich dabei um etwas handelte, was sich aus reiner Angst vor der Umwelt versteckte oder mit der Absicht auf den richtigen Moment für einen Angriff zu warten – in beiden Fällen gefielen mir die Schlussfolgerungen, die sich daraus ergaben, gar nicht.

Ein Grund mehr, es schnell hinab ins Tal zu schaffen, bevor die Sonne unterging. Leider erwies sich dieses Vorhaben spätestens nach einer weiteren halben Stunde als vielleicht etwas zu optimistisch. Dann nämlich gelangte ich auf ein Plateau, von dem aus sich für mich drei mögliche Wege ergaben. Der erste davon führte einen Hang aus demselben milchigen Kristall hinauf, über den ich die letzten Stunden gelaufen war, der aber ganz offensichtlich nicht in die gewünschte Richtung führte. Zu meiner rechten schlängelte sich sogar ein rauer Trampelpfad hinab, jedoch inmitten einer Fläche aus pechschwarzen Kristall. Als ich diesen vorsichtig mit dem Finger berührte, entfuhr mir ein Schrei, denn es fühlte sich so an, als hätte ich die Heizstäbe eines auf 280 Grad vorgeheizten Backofens angepackt.

„Verfluchte Scheiße!“, rief ich und betrachtete meinen krebsroten von kleinen, flüssigkeitsgefüllten Brandblasen übersäten Zeigefinger, der intensiv nach verschmorter Haut roch. Selbst, wenn ich über diese Fläche sprinten würde, würde ich nach zehn Sekunden wie geschmolzene Plastikfolie auf der Oberfläche kleben.

Der letzte Ausweg, der mir blieb, war eine Höhle aus bläulichem Kristall, die zwischen diesen beiden Pfaden lag und die so eng und abschüssig war, dass die eher an eine Röhre oder Rutsche erinnerte. Und womöglich war sie das sogar, selbst wenn mir schon beim bloßen Gedanken, mich auf dieses Wagnis einzulassen, fast mein karger Mageninhalt hochkam. Andererseits wirkte diese „Rutsche“ so, als wäre sie nicht natürlich entstanden, sondern von irgendwem angelegt wurden. Der Kristall darin war vergleichsweise kühl und an der Decke der röhrenartigen Höhle waren sogar kleine Griffe aus Metall angebracht.

Womöglich war dies noch die beste Möglichkeit, meinen Weg fortzusetzen. Immerhin wollte ich ja nach unten, oder nicht? Vorsichtig langte ich mit meiner linken Hand nach einem der Griffe, als ich hinter mir eine warnende Stimme hörte.

„Das würde ich lieber lassen“, hörte ich diese Stimme rufen. Sie war tief und sonor, wenn auch nicht auf eine dämonische oder unheilvolle Art. Als jemand, der nicht so lange überlebt hatte, weil er jede Warnung in den Wind schlug, drehte ich mich um und sah einen Rihn-Ha, der mich stark an Pingo erinnerte, auch wenn er zumindest keine sichtbaren Anzeichen eines Steingeweihten an sich hatte. Nun, genau genommen sah er eigentlich ganz anders aus als Pingo, wenn man davon absah, dass er zur selben Spezies gehörte.

Dieser Mann war muskulöser, trug einen Bart und hatte schulterlange Haare, die vor Kristall- und Metallstaub glitzerten. Er war auch ein ganzes Stück größer als der Pyritgeweihte. Wenn mich nicht alles täuschte, sogar über zwei Meter. Außerdem trug er eine cremefarbene Robe mit Verzierungen aus Silber und Bergkristall, eine Hose in der derselben Farbe, einen silbernen Gürtel und seltsame Schuhe, an deren Sohlen kleine Nadeln befestigt waren und die an eine Kreuzung aus Sandalen und Schlittschuhen erinnerten. Um seine Schultern hatte er eine rote Tasche aus dickem Echsenleder geschlungen und an seinem Gürtel baumelte eine ebenfalls aus Kristall gefertigte Waffe. Sein Mund wurde bedeckt von einer Art Maske, die über seinen Lippen ruhte, wie ein Netz aus feinporigem Kristall, jedoch weder seine Sprache, noch seinen Atem zu behindern schien.

„Warum?“, fragte ich skeptisch, noch immer mit einer Hand am Griff der Rutsche.

„Diese Rutsche führt in eine Juink-Echsen-Grube. Dort hat man früher Verbrecher hinabgestoßen, bis der Rat der Unwissenden sich bei den Welthütern beschwert und sie solche Strafen verboten haben. Bedauerlich, wenn du mich fragst, aber das ist das Wesen der Dinge. Sie sind in Bewegung, ob wir es wollen oder nicht.“

„Wie lange ist das her?“, wollte ich wissen.

„Zehn Jahre etwa“, antwortete der Fremde.

„Sind die Echsen dann nicht längst verhungert?“, wand ich ein.

„Möglich“, entgegnete der Rihn-Ha, „auch wenn ihre Zahl sehr groß war und Kannibalismus bei Hunger immer eine Option ist. Aber das spielt keine Rolle. Die Höhe ist so gewählt, dass die Delinquenten halbtot und kampfunfähig auf dem Boden ankommen. Ist das eine Erfahrung, nach der du strebst?“

„Eher weniger“, sagte ich, „aber die Kochplatte dort ist auch nicht besser.“

Ich zeigte auf die Fläche aus schwarzem Kristall, deren Wärme ich selbst aus dieser Entfernung noch spüren konnte.

„Weißt du, wie ich ins Tal komme? Zu den Archiven?“, fragte ich ihn.

„Das sollte ich wohl wissen“, sagte der Mann lächelnd, „immerhin arbeite ich dort.“

„Du bist ein Welthüter?“, fragte ich, mich an den Begriff erinnernd, den Pingo benutzt hatte.

„So ist es“, sagte der Mann, „mein Name ist Argo und der Weg über die schwarze Ebene ist der, den du suchst. Nur kann man ihn nicht bei Tag beschreiten. Wir müssen warten, bis sich der Kristall genügend abgekühlt hat.“

„Wir?“, fragte ich, ein wenig erleichtert über die Aussicht einen ortskundigen Führer zu bekommen, „du musst auch hinunter ins Tal?“

„Ja“, bestätigte Argo, „ich war lediglich auf einer kleinen Forschungsmission. In den Archiven erwartet man bereits sehnsüchtig meine Ankunft. Wenn du magst, können wir hier ein Lager aufschlagen und uns ein wenig unterhalten, bis der Weg wieder frei ist. Dann können wir gemeinsam hinuntergehen.“

„Gerne“, sagte ich, woraufhin sich Argo zu mir begab und sich neben mich setzte.

„Es ist immer spannend, jemand Neues kennenzulernen. Wenn man mit so vielen Geheimnissen zu tun hat, ist der persönliche Kontakt mit Fremden eines der letzten Mysterien“, sagte Argo, „und mir würde es gefallen, ein wenig von diesem Geheimnis zu lüften. Fangen wir zum Beispiel mit deinem Namen an.“

„Adrian“, sagte ich.

Argo sah mich zugleich verärgert und verwundert an, „eigenartig. Das ist nicht die Wahrheit und trotzdem lügst du nicht.“

„Ich bin ein Fortgeschrittener“, antwortete ich erklärend, davon ausgehend, dass dieser Mann sicher wusste, was dieser Begriff bedeutete, „wir vergessen unsere wahren Namen.“

„Oh ja, von diesem Phänomen habe ich gehört“, sagte Argo und seine Miene hellte sich etwas auf, „jedoch kommt es interessanterweise nicht bei jedem Fortgeschrittenen vor. Wir leben in einer Welt von Wahrscheinlichkeiten, nicht von absoluten Gewissheiten. Das zeigt sich immer wieder.“

„Wo wir gerade von absoluten Gewissheiten sprechen. Ich fühle mich nicht gerade wohl, bei dem Gedanken, mit einem lebendigen Lügendetektor zu sprechen“, sagte ich offen heraus.

„Oh, das bin ich nicht“, wiegelte Argo lächelnd ab, „jedenfalls nicht, wenn es um kompliziertere Sachverhalte geht. Namen sind einfach und klar. Zeig mir eine Banane und nenne sie Kirsche und ich weiß, dass das die Unwahrheit ist. Aber sobald Dinge wie Absichten, Ideologien, Pläne, Theorien, Vermutungen, Selbsttäuschung, Emotionen und dergleichen ins Spiel kommen, wird es kompliziert. Hier können nur die Archive Klarheit bringen und auch, wenn mein Kontakt mit ihnen auf mich abgefärbt hat, trage ich sie nicht in mir. Wenn es darauf ankommt, kannst du mich also so gut oder schlecht belügen wie jedes andere Individuum im Multiversum.“

„Und das soll ich dir glauben?“, fragte ich und zog dabei eine Augenbraue hoch.

„Das kann ich dir nicht beantworten. Auch ich kann lügen. Aber es zu glauben, würde dich entspannen, oder nicht?“, sagte der Mann lächelnd.

Das lausbubenhafte Grinsen von Argo machte es mir schwer, in ihm eine Bedrohung zu sehen.

„Dann will ich es mal glauben“, antwortete ich, „wenn du mich auf irgendeine Weise hintergehst oder dein Wissen gegen mich benutzt, kann ich dich ja immer noch beseitigen.“

Ich sagte dies so freundlich und humorvoll, dass es nicht unbedingt wie eine direkte Drohung rüberkam, jedoch genug Restunsicherheit blieb, um meine Worte so verstehen zu können.

„Dann stimmt es wohl, was man über euch Fortgeschrittene sagt“, antwortete Argo im Ton eines blasierten Gelehrten.

„Was sagt man denn über uns?“, fragte ich und setzte dabei mein bestes Bad-Ass-Gesicht auf.

„Dass euch die ganzen Reisen durch düstere, hoffnungslose Welten in verbitterte, misstrauische und humorlose Gestalten verwandelt“, erläuterte Argo schmunzelnd.

„Ist das so?“, fragte ich.

„Eindeutig. Zum Glück kenne ich eine Therapie“, begann Argo und diesmal beschloss ich, meine Klappe zu halten und abzuwarten, worauf seine Worte hinausliefen.

„Gutes Essen und erbauliche Geschichten“, sagte er verschmitzt, holte einen Laib Brot, einige rötliche, birnenförmige Früchte und eine Art Trinkschlauch hervor, der jedoch leer war und an dessen Mundstück mehrere Nadeln aufragten.

„Das klingt wirklich heilsam“, sage ich nun doch etwas freundlicher. Immerhin war ich tatsächlich ziemlich hungrig und durstig, „besonders der erste Teil der Therapie. Auch wenn ich mich frage, was man mit diesem Schlauch trinken soll. Etwa Blut?“

„Das wäre damit tatsächlich möglich“, überlegte Argo laut und hielt dabei den leeren Schlauch etwas in die Höhe, „der enthaltene Entsalzer würde selbst Blut trinkbar machen. Aber so ein barbarischer Akt wird zum Glück nicht nötig sein. Es gibt andere Quellen.“

Mit diesen Worten führte er die Öffnung des Trinkschlauchs ruckartig nach unten und rammte sie in den Kristall. Fasziniert sah ich dabei zu, wie sich der Schlauch mit einem schlürfenden Geräusch füllte und – nachdem ihn Argo angehoben hatte, ohne einen Tropfen zu verschütten – ein Häufchen weißen Kristallstaubs zurückließ.

„Ist das Magie?“, erkundigte ich mich.

„Zu unwesentlichen Anteilen“, erklärte Argo, „hauptsächlich ist es Physik. Auch Kristalle enthalten Wasser. Es kommt nur darauf an, es ihnen zu entreißen. Im Grunde ist es, wie eine Frucht auszupressen. Nur ein wenig raffinierter.“

Er fuhr leicht mit dem Finger über den Rand, woraufhin sich die Nadeln zurückzogen. Dann nahm er selbst einen kleinen Schluck und reichte mir den Schlauch. Vorsichtig, wie ich war, schnüffelte ich daran. Es roch erdig und mineralisch, aber nicht unappetitlich. Dann blickte ich hinein und bemerkte, dass die Flüssigkeit glitzerte.

„Das Glitzern ist harmlos. Die Partikel sind so fein und glatt, dass sie dem Körper nicht schaden. Es ist lediglich eine kleine optische Besonderheit. Das Wasser ist sogar sehr gesund und äußerst mineralhaltig“, beruhigte mich Argo.

Nun war ich sicher nicht scharf darauf vergiftet zu werden, aber zum einen hatte mir Argo demonstriert, dass er selbst dieses Wasser bedenkenlos trank und zum andern war das Wasserangebot in dieser Welt nicht eben üppig. Also trank ich einen Schluck, wobei ich nichts weiter feststellte, als dass es mich sehr erfrischte.

Als er mir ein Stück Brot und eine der Früchte anbot, griff ich ebenfalls zu. Das Brot war würzig und etwas krümelig, dabei jedoch saftig. Die Frucht schmeckte sehr mild, war etwas faserig und gerade süß genug, um nicht als fad bezeichnet werden zu können.

„Schmeckt es dir?“, erkundigte sich Argo, der ebenfalls gut zulangte, wobei sich sein Mundschutz bei jedem Bissen automatisch öffnete.

„Ja, vielen Dank“, sagte ich kauend, „so viel Freundlichkeit von Fremden bin ich nicht gewohnt. Jedenfalls nicht, seit ich die schwarzen Seiten betreten habe.“

„Rihn ist nicht wegen seiner Bewohner gefürchtet“, sagte Argo, „die meisten von uns sind ziemlich gastfreundlich. Die Umwelt jedoch ... nun, sagen wir, ich glaube nicht, dass du es ohne mich lebend zu den Archiven schaffen würdest.“

„Da unterschätzt du meine Fähigkeiten“, sagte ich etwas gekränkt, „ich habe viel Erfahrung im Umgang mit feindlichen Umgebungen.“

„Das bezweifle ich gar nicht“, beteuerte Argo, „ich traue dir durchaus zu, dich gegen viele der hier lebenden Kreaturen zur Wehr zu setzen. Aber der beste Überlebenskünstler kommt mit zerrissenen Lungen nicht sonderlich weit und mit diesem Schuhwerk brichst du dir bei den ersten wirklich glatten Flächen das Genick. Er zeigte erst auf seine Schuhe und dann auf die recht profilarmen Business-Schuhe, die ich noch immer aus meiner Zeit in Deovan trug.

„Glücklicherweise helfe ich dir da gerne aus“, sagte er und holte ein Paar Schuhe und einen Mundschutz aus seiner Tasche.

Beides nahm ich nickend entgegen, wobei ich mir den Mundschutz direkt überstreifte. Er haftete wie von Zauberhand an meinen Lippen, kaum, da ich damit in ihre Nähe kam und entgegen meinen instinktiven Befürchtungen, störte er mich kaum beim Atmen.

„Und dafür willst du auch ganz bestimmt keine Gegenleistung?“, fragte ich misstrauisch.

„Na, ein wenig gute Laune wäre schon mal ein Anfang“, sagte Argo lachend, „aber nein, wir sind hier nicht in Deovan. Hier gibt es auch Leute, denen es Lohn genug ist, keine schlecht ausgerüsteten Wanderer aus dem Kristallgebirge pflücken zu müssen.“

„Wahrscheinlich hat mein Weg doch ein wenig auf mich abgefärbt“, gestand ich ein.

„Das wäre schon ein Wunder, wenn nicht. Alles, mit dem wir konfrontiert werden, hat einen Einfluss auf uns. Jeder Streit und jede Freundlichkeit. Und vor allem jede Bekanntschaft, die wir machen.

Aber wo wir schon dabei sind, Adrian: Warum willst du zu den Archiven? Ist es die reine Neugier eines Fortgeschrittenen oder kommst du mit einer konkreten Frage?“, erkundigte sich Argo und als er sah, wie sich meine Miene verfinsterte, fügte er hinzu, „meine Güte, du musst mir nicht antworten. Natürlich nicht. Das ist ein zwangloses Gespräch unter Reisenden, kein Verhör. Ich bin lediglich – und das wirst du am besten verstehen können – ein wenig neugierig.“

Jetzt sah ich Argo noch kritischer an. Doch nicht wegen Misstrauen ihm gegenüber, sondern mir selbst gegenüber. Hatte er recht? War ich zu misstrauisch geworden? War ich nach all meinen Erlebnissen auf dem besten Weg zu einem misanthropischen (was war eigentlich der richtige Begriff, wenn sich die Ablehnung auf jede Form von intelligenten Wesen bezog?) Griesgram zu werden? Vielleicht. Andererseits hatte ich auf meinem düsteren Pfad bislang auch jeden Grund dazu gehabt.

„Ich suche nach einem alten Freund und will mir die berühmten Archive einmal ansehen. Das ist alles“, blieb ich vage in meiner Antwort.

„Ein alter Freund? In Rihn?“, hakte Argo nach.

„Pingo Dellagrahn. Ich bin ihm auf meinen Reisen begegnet“, wagte ich nun doch ein wenig Offenheit, schon um zu sehen, wie er darauf reagieren würde. Sollte ich es mit einem Hochstapler zu tun haben, konnte ich es vielleicht in seinem Gesicht erkennen.

„Ich kenne Pingo“, sagte Argo und wirkte ehrlich überrascht, „er war ein Sucher in den Archiven. Ein netter Junge, aber leider seit Langem verschollen. Wo und wann hast du ihn zuletzt gesehen?“

„In Uranor“, sagte ich, „vor einigen Monaten.“

Tatsächlich war ich mir da gar nicht so sicher. War es Monate her, dass ich Pingo verabschiedet hatte oder eher Wochen oder gar Jahre?

„Uranor“, sagte Argo langsam, so als würde er das Wort gründlich durchkauen, „dann war er …“

„Ja, er war tot“, bestätigte ich, „aber er ist es nicht mehr. Doch wie es klingt, hast du ihn nicht gesehen oder? Eigentlich wollte er zurück nach Rihn gehen.“

„Bedauerlicherweise nein“, sagte Argo und die Enttäuschung darüber, meinen Freund womöglich doch nicht wiederzusehen, musste mir deutlich ins Gesicht geschrieben stehen.

„Das muss nichts heißen“, fügte Argo tröstend hinzu, „es ist nicht so leicht, in die Archive zurückzukehren, wenn man seinen Posten einmal verlassen hat. Die Anstellungen dort sind sehr begehrt und auch für einen Wiederwachten wird man keinen talentierten Neuzugang entlassen. Womöglich ist er anderswo untergekommen. An deiner Stelle würde ich die Hoffnung nicht aufgeben. Und natürlich werde ich mich umhören, wenn ich wieder in den Archiven bin.“

„Das ist sehr freundlich“, sagte ich.

„Keine Ursache“, sagte Argo lächelnd, „wenn man mich nicht gerade zum Vorgesetzten hat, kann ich ein recht angenehmer Zeitgenosse sein.“

Er lachte und ich stimmte ein, wobei unser Gelächter so stark von den Kristallbergen widerhallte, dass es mir unangenehm war.

„Sollten wir nicht lieber leise sein?“, fragte ich ihn und sah mich nervös um. Dass mir bisher noch keine gefährlichen Kreaturen begegnet waren, beunruhigte mich fast mehr, als dass es mich beruhigte.

„Was immer hier lauert, ist nicht auf unsere Stimmen angewiesen, um uns zu finden“, sagte Argo, womit er meine Angst nicht gerade verringerte. „Aber es ist nicht meine erste Expedition ins Nadelgebirge und mit diesem Kristallkarakt kann ich recht gut umgehen“, sagte Argo selbstbewusst und zeigte dabei auf seine Waffe, „und auch du scheinst mir wehrhaft zu sein. Also sollten wir uns nicht unnötig verrückt machen. Im Gegenteil, ich schlage sogar ein Nickerchen vor. Sobald die Nacht hereinbricht, haben wir noch einen weiten und kräftezehrenden Weg ins Tal vor uns.“

„Du willst ernsthaft hier rasten?“, fragte ich ungläubig.

„Diese Stelle ist gar nicht so schlecht. Bis die Oberfläche abgekühlt ist, kann uns über den Onyxhang nichts erreichen und dort oben, auf dem Bergkristallplateau lebt auch nichts Gefährliches. Außerdem braucht jeder Ruhe. Du wärest schockiert, wie viele Personen mit ein wenig mehr Schlaf viel länger leben würden. Glaub mir, ich habe es gesehen“, antwortete Argo.

„Was ist mit dem Tunnel?“, fragte ich und dachte unwillkürlich an die Juink-Echsen.

„Die Juink können nicht an den Wänden hochkrabbeln. Aber für den Fall, dass sich dort etwas anderes eingenistet hat, werde ich die Öffnung verschließen“, versprach Argo.

Er stand auf und holte eine Art Bunsenbrenner aus seiner gut gefüllten Ledertasche. Mit diesem Gerät schmolz er den blauen Kristall wie Eis oder Wachs, zog die verflüssigten Ränder glatt, als bestünden sie aus Knetmasse, und versiegelte so wie versprochen die Öffnung.

„Ich glaube, ich frage nicht einmal, wie du das angestellt hast“, kommentierte ich das Geschehen.

„Das ist gut“, sagte Argo, „denn es würde dauern, das für Laien verständlich zu erklären. Doch jetzt wird es Zeit für ein wenig Ruhe. Willst du die erste Wache übernehmen oder soll ich?“

„Ich mach‘ das“, sagte ich und schwor mir dabei, kein Auge zuzutun. Lieber ich war bei unserer Wanderung ein wenig müde als in der Nacht tot.

„Ganz wie du willst“, sagte Argo schulterzuckend und war bereits wenige Minuten später eingeschlafen. Während der Rihn-Ha selig vor sich hindöste, fragte ich mich, ob ich wirklich überreagierte. Im Grunde hatte mir der Mann bislang keinen Anlass gegeben, misstrauisch zu sein. Und wenn ich ehrlich war, war ich wirklich ziemlich müde. Immerhin hatte ich seit meiner Neugeburt in Deovan nicht geschlafen.

Andererseits machte mich die Umgebung immer noch nervös und ich hatte das, was auch immer sich unter dem Kristall bewegt hatte, nicht vergessen. Selbst, wenn ich Argo trauen konnte, war ich mir nicht so sicher, ob er sich nicht selbst überschätzte. Wenn all das, was womöglich unter der Kristalldecke schlief, auf irgendeinem Weg an die Oberfläche käme, könnten wir auch zu zweit einen schweren Stand haben.

Eigentlich hätte ich Argo auch darauf ansprechen sollen, aber aus irgendeinem Grund hatte ich es versäumt. Vielleicht aus Eitelkeit. Immerhin wollte ich nicht feige wirken, wenn selbst ein Gelehrter sich ganz allein in dieses Gebirge traute. Aber war das nicht dumm? Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, Argo zu wecken, ließ es dann aber doch sein. Ich war kein Kind mehr. Wenn ich mich auf etwas verlassen können sollte, dann auf meine Fähigkeit zu überleben. Und zum anderen würde er dann sicher doch darauf bestehen, die erste Wache zu übernehmen.

Also starrte ich tapfer auf die glitzernden Flächen hinab, über die ich hierhergekommen war und in dem sich noch immer helles Tageslicht spiegelte und hielt mit zusammengekniffenen Augen nach einer Bedrohung Ausschau. Im Grunde war es schon beneidenswert, bei diesen Lichtverhältnissen schlafen zu können. Ich selbst war da als Kind schon von einem Nachtlicht überfordert gewesen.

Auf der anderen Seite wurde auch mein Bedürfnis nach Schlaf immer drängender. Allein schon die Hitze und die Anstrengung der Reise forderten ihren Tribut. Um mich wach zuhalten, ging ich die Ereignisse meiner erlebten Abenteuer im Geiste durch, verlor mich jedoch allzu schnell in sinnlosen Grübeleien und zielloser Melancholie.

Effektiver im Kampf gegen das Wegdösen war da schon eine Entdeckung am Himmel, die ich nach einigen Stunden machte, als die Sonne schon langsam begann tiefer zu sinken. Es war ein Schwarm beinah adlergroßer, fliegender Kreaturen. Sie erinnerten mich an eine kalkweiße Mischung aus Vögeln und Fledermäusen und schwebten entspannt, mühelos und nur mit gelegentlichen Flügelschlägen im bunt gefärbten Sonnenuntergang von Rihn. Als die Tiere ihre Flughöhe urplötzlich verringerten, geriet ich in Alarmbereitschaft und hätte Argo nun beinah doch geweckt. Aber noch bevor ich mich dazu entschließen konnte, es auch wirklich zu tun, gewannen die Flugkreaturen wieder an Höhe.

Offenbar waren sie lediglich einem absinkenden Luftstrom gefolgt und waren nicht darauf aus gewesen uns zu schaden oder auszuprobieren, ob wir denn essbar wären. Durch ihre vorübergehende Nähe hatte ich jedoch feststellen können, dass ihr kurzes, fast fellartiges Gefieder mit buntem Kristallstaub besetzt war und dass etwa die Hälfte von ihnen kleine, plüschige, noch etwas unbeholfene Versionen ihrer Selbst auf dem Rücken trugen. Ab und zu wanden sie ihre langen, schmalen Köpfe um ihren Nachwuchs zu pflegen, oder ihm Zuwendung zu geben. Die Kleinen plusterten sich daraufhin wohlig piepsend auf und quittierten die Geste mit einem Strahlen in ihren kristallblauen Augen.

Es war ein wunderschöner Anblick, der mich fast mit meinen bisherigen Strapazen versöhnte. Doch auch, wenn mich der vorübergehende Adrenalinschub eine Zeitlang