Foxcraft – Der König der Schneewölfe - Inbali Iserles - E-Book

Foxcraft – Der König der Schneewölfe E-Book

Inbali Iserles

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Beschreibung

Tauche ein in »Foxcraft«, den magischen Kosmos der Füchse! In den wilden Schneelanden, weit weg von Zuhause, ist die junge Füchsin Isla auf der Suche nach ihrem Bruder Pirie. Er ist der Einzige, der den bösen Fuchsmagier aufhalten kann. Der Magier bedroht mit dunklem Zauber die Welt der wilden Füchse und will sie für immer zerstören. Als ein Rudel Wölfe Isla findet und gefangen nimmt, schwebt sie in höchster Gefahr. Doch unerwartet tritt ein alter Bekannter auf den Plan: Der Wolf Farraklaue! Er hat ihr einst das Leben gerettet … wird er nun wieder zu ihr stehen? Das große Finale der Saga um die ungezähmten Füchse und ihre Magie, aus der Feder von Inbali Iserles, einer Autorin des Erin-Hunter-Teams. Bisher erschienen: »Foxcraft – Die Magie der Füchse« (Band 1) »Foxcraft – Das Geheimnis der Ältesten« (Band 2)

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Seitenzahl: 341

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Inbali Iserles

Foxcraft

Der König der Schneewölfe

Band 3

Aus dem Englischen von Katharina Orgaß

Mit Vignetten der AutorinBand 3

FISCHER E-Books

Inhalt

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. KapitelFuchsmagieUmgekehrte FuchsmagieGlossarSchauplätzeDanksagungDie Abenteuer von Isla:

Für Peter Fraser –

von den Graulanden zu den Wildlanden,

durch die Schneelande und zurück

1. Kapitel

Fuchs in Not beim Morgenrot, und am Abend ist er tot.

Der Spruch ging mir nicht aus dem Kopf. Pirie und ich hatten immer unsere Großma damit geärgert, aber das schien schon eine Ewigkeit her zu sein, wie in einer anderen Zeit … Damals waren die Tage kürzer, das Leben leichter und die Dämmerung voller Abenteuer gewesen. Und Ma, Pa und Großma waren noch am Leben gewesen.

Dann waren die Gebrochenen aufgetaucht.

Und mein Bruder war verschwunden.

Und nichts war mehr wie vorher.

Der Wind heulte über die Tundra, und meine Pfoten versanken tief im Schnee. Graue Wolkenfetzen jagten an den Sternen vorbei, und die Nacht war in ein unheimliches Licht getaucht. Die fallenden Flocken huschten hakenschlagend wie verängstigte Mäuse durch die Luft. Über den Schneelanden zog ein Sturm auf, und das Geheul des Windes übertönte sogar das Tosen des Zornigen Flusses.

Meine Pfotenabdrücke im Schnee folgten mir wie ein Schatten. Am Horizont erspähte ich einen Fichtenwald, die hohen Bäume zeichneten sich vor schneebedeckten Bergen deutlich ab. Unter ihren Zweigen würde ich vor dem Sturm Schutz finden.

Ein schrilles Aufheulen ließ mich herumfahren. Das Herz schlug mir bis zum Hals. War das nur der Wind gewesen oder etwas anderes?

Jemand anderes?

Die Schneelande erstreckten sich nach allen Richtungen, eine feindliche weiße Welt aus wirbelnden Flocken und eisiger Luft.

Das Reich der Schneewölfe.

Auch ihr Geheul wurde vom Sturm übertönt, und das dichte Schneetreiben hüllte die Landschaft in ein glitzerndes Fell. Ob Wölfe Taggeschöpfe waren, so wie Hunde? Oder jagten sie nachts? Ich wusste so wenig über unsere wilden Verwandten …

Ich blinzelte energisch, aber es nützte nichts. Wenn hier irgendwo Wölfe umherstreiften, würde ich sie bei diesem Schneefall bestimmt nicht sehen. Auch der Wald vor mir war nur ein verschwommenes Gewirr aus dicken braunen Stämmen.

Ich reckte witternd die Schnauze. War Pirie in der Nähe? Doch die bitterkalte Luft trug mir nicht den kleinsten Anflug seines Geruches zu. Ich war in dieser Schneewüste ganz allein. Ich legte den Kopf schief und drehte die Ohren nach vorn. Vögel, Kaninchen, Käfer – irgendetwas davon musste es doch auch hier geben! Sogar das Große Knurren war voller Tauben und Mäuse, Käfer und Fliegen. Und voller Geräusche: die klackernden Pfoten der Pelzlosen, das Dröhnen des Todesweges …

Gefrorene Flocken verfingen sich in meinen Wimpern und legten sich auf mein Fell. Welches Geschöpf wagte sich bei so einem Wetter nach draußen?

Ich schüttelte mich. Meine Pfoten waren schon ganz taub vor Kälte. Was hatte ich denn erwartet? Dass ich hier ankommen und sofort wissen würde, wohin ich musste? Siffrin hatte ganz recht gehabt, als er mich davon hatte abhalten wollen. Unwillkürlich drehte ich mich um. Inzwischen war der gutaussehende Fuchs mit dem leuchtend roten Fell unerreichbar weit weg, denn er war am anderen Ufer des Zornigen Flusses, in den Wildlanden, zurückgeblieben. Nun musste er sich allein durchschlagen. Hoffentlich hatten ihn die Gebrochenen nicht geschnappt.

Bestimmt geht es ihm gut, redete ich mir ein. Schließlich beherrscht er Fuchsmagie.

Doch der Zweifel nagte an mir. Die Gebrochenen waren so viele! Und dann gab es ja noch die Narral, die Leibwache des Magiers, die in seinem Auftrag mordete – und das, anders als die Gebrochenen, aus freien Stücken. Die Narral waren Meister der Fuchsmagie und würden Siffrins Tricks mühelos durchschauen.

Ich atmete tief durch. Ich musste daran glauben, dass es ihm gutging.

Mit gesenktem Kopf lief ich weiter. Der Wind zerzauste mein Fell und strich schneidend über meine Haut. Wie lange konnte ich in dieser Eiseskälte durchhalten? Das Maa, das mir die Ältesten gespendet hatten, hatte ich verbraucht, als ich mich in den Vogel verwandelt hatte. Ich rief mir ins Gedächtnis zurück, wie ich als ein Geschöpf mit Flügeln und Federn über die Wildlande geglitten war. Es war herrlich gewesen, als mich der Wind hoch über die Welt hinweggetragen hatte.

Doch dann hatte sich der Wa’akkir-Zauber verflüchtigt, und ich war abgestürzt.

War wie ein Stein vom Himmel und ins Wasser gefallen.

War durch die Stromschnellen gespült und ans Ufer geschleudert worden, in ein Land der eisigen Stürme, das Malinta nicht kannte.

Meine Pfoten rutschten aus. Ich schlitterte ein Stück vorwärts und schlug mit der Schnauze auf dem gefrorenen Boden auf. Das knirschende Weiß hüllte mich ein, und ich schloss die Augen.

Fuchs in Not …

Ich war selbst an meiner Notlage schuld, denn schließlich hatte ich mich freiwillig ohne Begleitung in die Schneelande begeben. Ich hatte vorher nicht darüber nachgedacht, ob das vernünftig war – ich hatte überhaupt nicht nachgedacht. Ich hatte mir allen Ernstes eingebildet, ich könnte in dieser endlosen Tundra meinen Bruder wiederfinden, ich, die ich mit Schnee und Eis überhaupt nicht vertraut war.

Von diesem Gedanken getrieben, hatte ich die Wildlandfüchse verlassen, obwohl die Ältesten geschwächt waren und die Finsterlande sich immer weiter ausbreiteten. Aber was hätte ich dagegen unternehmen können? Trotzdem ließ das schlechte Gewissen mein Fell kribbeln. Ich hatte die Ältesten im Stich gelassen, und jetzt mussten sie es ohne meine Unterstützung mit dem Magier aufnehmen.

Winselnd rappelte ich mich wieder hoch. Meine Flanken zitterten vor Kälte, und der Schnee lag inzwischen so hoch, dass ich kaum noch darüber hinwegspähen konnte. Der Wald, auf den ich zugehalten hatte, war schon nicht mehr zu erkennen. Verzweiflung stieg in mir auf. Das Schneetreiben verschluckte alles, sogar die Berggipfel hoben sich nicht mehr vom dunkelgrauen Himmel ab.

Als ich mich umdrehte, stellte ich fest, dass auch meine eigenen Spuren vom Flussufer bis hierher zugeweht wurden und schon fast verschwunden waren.

Bald bin ich auch verschwunden.

Ich war eben erst hier angekommen, und schon hatten mich die unbarmherzigen Schneelande bezwungen.

Nein!, dachte ich. Wut durchströmte mich und wärmte meine Pfoten. Ich riss mich zusammen und tappte weiter durch den brusthohen Schnee, aber ich hatte die Orientierung verloren.

Der Wind klang wie Fuchsgeheul.

Dort entlang!

Ich stellte die Ohren auf. Hatte da jemand zu mir gesprochen? Ich lief in die Richtung, aus der der Zuruf gekommen war, doch eine hohe Schneewehe versperrte mir den Weg. Durch das Flockentreiben konnte ich darin eine niedrige Höhle ausmachen. Aufatmend schlüpfte ich hinein und schlang den Schwanz um mich. Hier drinnen war es einigermaßen windgeschützt, und die Kälte war auszuhalten. Ich würde abwarten, bis sich der Sturm gelegt hatte, und dann die Suche nach meinem Bruder fortsetzen, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie und wo ich ihn suchen sollte. Aber mir würde schon etwas einfallen.

 

Als ich tief und fest eingeschlafen war, entführte mich der Sturm in die Lüfte und trug mich bis über die Wolken. Wie der riesige Vogel schwebte ich wieder hoch über die Wildlande und das Große Knurren hinweg, dann setzte mich der Sturm auf einer Wiese ab. Hier war es wunderbar friedlich. Vögel zwitscherten und trillerten in den Bäumen, und Insekten krabbelten durchs hohe Gras. Die Sonne kitzelte mich in der Nase und ließ meine Schnurrhaare schimmern. Ich hatte das eigenartige Gefühl, dass ich schon einmal hier gewesen war, aber die Wiese der Wildlandfüchse konnte es nicht sein, denn in der Ferne hörte man den Todesweg, und am Horizont ragten große, graue Pelzlosenbaue empor.

Es ist lange her, Isla. Großma tauchte aus dem Gras auf.

Mein Herz machte einen freudigen Satz, und ich rannte ihr entgegen.

Sie legte die gescheckte Schnauze an meine Nase.

»Ich wünschte, du wärst niemals fortgegangen, Großma.«

Das geht mir genauso. Aber manchmal geschieht etwas Unvorhergesehenes.

»Du hast immer gesagt, wenn wir in der Nähe unseres Baus bleiben, kann uns nichts passieren. Das hast du Pirie und mir versprochen!«

Aber du bist nicht in der Nähe geblieben, stimmt’s? Sie löste sich von mir und suchte meinen Blick. Meine Schwanzspitze zuckte nervös.

»Ich war nur auf dem Wildpfad! Und ich wollte auch nicht lange wegbleiben. Ich dachte, du merkst es gar nicht …«

Und Pirie?

Ich blinzelte. »Der ist nicht mitgekommen.«

Aber zum Bau ist er auch nicht zurückgekehrt. Er ist genauso verschwunden wie du.

Ich senkte beschämt den Kopf. »Tut mir leid!«, winselte ich kläglich. »Wir waren unartig. Wir haben nicht auf euch gehört und sind alleine losgezogen!«

Darüber bin ich sehr froh.

Ich blickte erstaunt auf.

Natürlich bin ich froh darüber, denn das hat euch das Leben gerettet.

Ich ließ wieder den Kopf hängen. Ich hätte bei meiner Familie sein sollen, als die Gebrochenen kamen. Ich hätte kämpfen sollen.

Du kannst nichts dafür, dass es so gekommen ist, sagte Großma, als könnte sie Gedanken lesen. Du hast die Gebrochenen ja nicht zu uns geführt.

»Zu euch geführt?«, fragte ich verwundert, dann überwältigte mich abermals der Kummer.

Auf einmal herrschte ringsum tiefste Stille. Das Donnern des Todeswegs war verklungen, das Vogelgezwitscher verstummt. Ich machte die Vorderläufe lang und fuhr die Krallen aus, als könnte ich so den Traum festhalten.

»Großma?«

Eisige Kälte durchfuhr mich, meine Augen klappten auf, und ich schauderte fröstelnd. Vom Liegen auf dem gefrorenen Höhlenboden tat mir alles weh. Ich musste mich erst darauf besinnen, wie ich hierhergekommen war, doch dann wälzte ich mich auf die Seite, stand auf und tappte steifbeinig zum Ausgang der Höhle. Der Sturm hatte sich über Nacht gelegt, goldene Lichtstrahlen durchbohrten den dunklen Horizont. Nichts regte sich, nicht mal eine Schneeflocke.

Als ich den Blick über die Tundra gleiten ließ, kribbelten meine Ohren. Die Stille hatte eine Farbe – ungebrochenes, unendliches Weiß, das über die fernen Berge kroch, den Fichtenwald einhüllte und mich unbarmherzig ins Fell zwickte.

Frostkristalle hingen in der Luft, und das Morgenlicht auf dem Schnee blendete mich. Die Nebelwölkchen meines Atems waren weit und breit das Einzige, das sich bewegte.

Pfoten knirschten im Schnee und ließen den Boden erbeben. Ich spähte erschrocken aus meinem Unterschlupf. Einen Augenblick lang hörte und spürte ich sie nur, dann tauchten sie hinter den Schneewehen auf – drei riesengroße Wölfe mit gedrungenen Schnauzen. Ihr Fell war zottig, an ihren kraftvollen Läufen wölbten sich die Muskeln. Ihr Anblick verschlug mir den Atem. War der Wolf im Großen Knurren auch so riesig gewesen? Mager war er gewesen und hatte schütteres Fell gehabt, doch diese drei hier waren breitschultrig und wohlgenährt, hatten glänzende Augen und blanke Schnauzen.

Ich drückte mich rasch an die Höhlenwand.

Sie dürfen mich nicht sehen!

Hoffentlich hatte der Schneesturm meine Spuren endgültig verwischt. Mit klopfendem Herzen dachte ich an den Gang, der durch den Berg in den Wildlanden geführt hatte. Ob diese Höhle hier auch noch einen anderen Ausgang hatte? Doch als ich die hintere Wand beschnüffelte, traf meine Schnauze nur auf hartes Gestein, das mit funkelndem Eis überzogen war.

Ins Freie hinaus traute ich mich nicht, weil die Wölfe bestimmt noch in der Nähe waren. In all dem Weiß machte mich mein rötliches Fell zur leichten Beute. Hier drin sah mich wenigstens niemand. Nein, ich würde weiter abwarten, aber vorsichtshalber mit gespitzten Ohren. Wenn sich drei so große Geschöpfe näherten, würde ich es bestimmt hören.

Schaue! Lausche! Warte!

Ich schärfte all meine Sinne.

Es knirschte im Schnee, ein Schatten glitt über die Felswand.

Ich fuhr herum.

Die drei Wölfe standen direkt vor der Höhle. Sofort setzte ich mich auf die Hinterläufe und rezitierte den alten Zauberspruch: »Was sichtbar ist, verblasse. Was spürbar ist, vergehe. Was Knochen ist, werde biegsam. Was Fell ist, werde Luft.«

Nichts geschah. Ich starrte beschwörend auf meine Pfoten, doch sie hoben sich unverändert schwarz vom Höhlenboden ab.

Mein Maa reicht nicht aus!

Mein Nackenfell sträubte sich wie Stacheln, ich sprang auf und wich zurück. Die Wölfe versperrten den Ausgang, zum Fliehen war es zu spät.

Der mittlere Wolf war so weiß wie der Schnee. »Wer ist das denn?«, fragte er.

Seine beiden Gefährten schoben sich mit gesenkten Köpfen und angelegten Ohren näher heran. Die Höhle versank in ihren Schatten.

Der zweite Wolf hatte struppiges grauweißes Fell. »Ein Eindringling«, erwiderte er finster.

Der Weiße krauste die Nase. »Wer wagt sich ohne unsere Erlaubnis in unser Revier?«

»Das wollte ich nicht«, brachte ich erstickt heraus. »Ich komme nicht aus den Schneelanden und konnte nicht wissen, dass hier euer Revier ist.«

»Du erdreistest dich, mir ungefragt zu antworten, du unverschämtes Ding?«, knurrte der Weiße. »Hat man dir nicht beigebracht, wie man sich gegenüber einem Ranghöheren verhält?« Er zog abfällig die Lefzen nach unten. »Du bist hier nicht einfach nur in den Schneelanden, sondern im Klauenbischar, dem größten Bischar, das es gibt! Hier gilt zu Luft und zu Lande unser Gesetz, und du …«, sein eisiger Blick musterte mich von oben bis unten, »… bist ein Eindringling – ganz gleich, was du behauptest. Wer die Grenzen unseres Reviers verletzt, der wird bestraft.«

Der dritte Wolf – ein Weibchen – machte einen Schritt auf mich zu. Nur die Spitzen ihrer Ohren und ihre Schwanzspitze waren silbergrau, sonst war auch sie ganz weiß, und ihre großen Augen leuchteten himmelblau. »Soll ich ihr die Kehle durchbeißen, Baron Mirraklaue?« Sie fletschte die beeindruckenden Zähne.

Der Weiße wandte sich ab, als langweilte ihn das Ganze bereits. »Nur zu«, knurrte er über die Schulter. »Ihr Blut wird anderen eine Warnung sein.«

2. Kapitel

Die Wölfin mit den himmelblauen Augen packte mich am Nackenfell und schleuderte mich in den Schnee. Ich rappelte mich hoch und wollte fliehen, prallte aber gegen den Grauweißen.

»Die Kleine ist flink«, knurrte er. »Dürfen wir uns ein bisschen mit ihr amüsieren, ehe wir sie den Raben zum Fraß überlassen, Baron Mirraklaue?« Er versetzte mir mit seiner breiten Pfote einen Hieb, der mich durch die Luft schleuderte.

Als ich rücklings im Schnee landete, bohrte mir die Blauäugige ihre Klauen in die Kehle, so dass ich mich nicht mehr rühren konnte. Nach Atem ringend lag ich wie erstarrt da.

»Viel Kampfgeist hat sie ja nicht gerade. Und so dürr, wie sie ist, taugt sie auch nicht zum Spielen für die Welpen.«

Der Grauweiße und die Blauäugige beugten sich mit gebleckten Zähnen über mich.

»Aber was ist sie eigentlich für ein Geschöpf?«, knurrte der Grauweiße. »Eine Art Riesenratte, oder was meint Ihr, Baronin Cattisklaue?«

Die Wölfin drückte noch fester zu. »Nein, eine Ratte ist sie nicht. Eher eine komische Eule ohne Flügel. Oder vielleicht ein besonders magerer Hase?«

Der Weiße – Baron Mirraklaue, wie ihn die beiden anderen nannten –, kam jetzt wieder dazu und schob sich zwischen seine Begleiter, die ihm sofort Platz machten. »Wie könnte sie sich dann mit uns verständigen, ihr Dummköpfe?«, sagte er verächtlich. »Es muss sich um ein Geschöpf Canidas handeln. Um irgendeine schwächliche Art, die im Kampf ums Überleben längst ausgestorben sein müsste. Wollen doch mal hören, wie sie um ihr Leben fleht.« Er kam mit der Schnauze dicht an mich heran und entblößte die gewaltigen Reißzähne. »Na, hast du Schiss, du Kümmerling? Bist wohl ganz allein hier, ohne Freunde, die dir helfen könnten, was? Willst du uns nicht anbetteln, dass wir dich laufen lassen, hm?«

Ich wand mich unter den Krallen der Blauäugigen hervor, doch ich war umzingelt. Das Herz schlug mir bis zum Hals.

Ich werde nicht um mein Leben betteln! Diese Genugtuung gönne ich ihnen nicht!

Ich sah den Weißen an und erwiderte trotz meiner Panik mit fester Stimme: »Nein, ich habe keine Angst vor euch. Und ja, ich bin allein hier. Ich bin eine Füchsin.«

»Sie hat ja doch Mut.« Die Wölfin wedelte belustigt mit dem silbrigen Schwanz. »Irgendwie mag ich sie. Was meinst du, Norralklaue?«

Der Grauweiße machte einen Satz und rammte mir die Pfote in die Brust. Ich landete keuchend im Schnee, doch kaum war ich wieder auf die Beine gekommen, verpasste mir die Blauäugige mit ihrer breiten Schulter einen Stoß. Als ich mich in dem weichen Weiß wegwälzen wollte, stieß ich gegen etwas Hartes – den Vorderlauf eines der Wölfe.

Mirraklaue blickte auf mich herab. »Schluss jetzt!«, befahl er. »Wir müssen zum Klauenbischar zurück. Macht der Fuchs-Ka den Garaus.«

Die Wölfin beugte sich über mich und zog die Lefzen so weit hoch, dass ich ihr rosiges Zahnfleisch sah.

Todesangst packte mich.

Zum Klauenbischar …

Der Wolf aus dem Großen Knurren fiel mir wieder ein. Wie war sein Name gewesen?

»Farraklaue!«, jaulte ich.

Alle drei Wölfe zuckten zusammen und rissen die Augen auf. Dann wechselten sie beunruhigte Blicke.

»Was hast du da eben gesagt?«, fauchte Mirraklaue.

Sie kennen ihn! »Ich bin hergekommen, weil ich Farraklaue sprechen muss«, antwortete ich geistesgegenwärtig. »Ich habe eine Botschaft für ihn.«

»Von wem?«, wollte die Wölfin wissen.

Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren! »Das darf ich nicht sagen.«

»Und wie lautet die Botschaft?«, knurrte der Weiße mit drohend funkelnden gelben Augen.

»Das ist geheim. Die Botschaft ist ausschließlich für Farraklaue bestimmt.«

Ich erwartete, dass Mirraklaue sich nun auf mich stürzen würde, doch er stand reglos da, nur eins seiner weißen Ohren zuckte. Einen Herzschlag lang sagte niemand etwas.

Ermutigt räusperte ich mich und setzte hinzu: »Ich muss ihn unbedingt sprechen – es geht um Leben und Tod.«

Mirraklaue musterte mich argwöhnisch. Inzwischen ging die Sonne über den Schneelanden auf, und seine muskulösen Schultern waren von rötlichem Licht umflossen, als züngelten kalte Flammen über ihn hinweg. Er wandte sich mit gesträubtem Nackenfell ab. »Hier entlang«, knurrte er. »Baronin Cattisklaue – macht der Kleinen Beine.«

Die Blauäugige schubste mich vor sich her. Den Wölfen machte es keine Mühe, durch den hohen Schnee zu traben – mir schon. Ich musste mich mit unbeholfenen Sprüngen fortbewegen und sank bei jeder Landung bis zur Brust ein, so dass ich trotz allen Schubsens zurückblieb. Schließlich hatte Cattisklaue ein Einsehen, packte mich wie einen Welpen am Nackenfell und trug mich. Aber sie ging nicht gerade sanft mit mir um. Ihre Zähne gruben sich in mein Fleisch, und ich wurde im Takt ihres Trabes schmerzhaft durchgeschüttelt.

Ich zwang mich, die Augen zu öffnen. Wo brachten mich die Wölfe hin?

Ringsum erstreckte sich wellige Tundra. Mirraklaue führte die Gruppe an und bahnte seinen Begleitern einen Weg durch den Schnee, der Grauweiße trabte neben Cattisklaue her. Weiter vorn ragten verschneite Fichten auf. Es war der Wald, den ich am vergangenen Abend entdeckt, im Schneesturm aber wieder aus den Augen verloren hatte. Wir hatten ihn im Nu erreicht, doch die Wölfe verlangsamten ihr Tempo nicht. Wurden sie denn gar nicht müde? Vor uns flatterten kreischende Vögel auf, und ein pelziger kleiner Vierbeiner tauchte mit einem Satz im Schnee unter.

Die Wölfe hielten nicht an.

Dann ging es bergauf, und ich erhaschte hier und da einen Blick auf gefrorene Seen und hohe Felsen. Die Gipfel in der Ferne waren in Wolken gehüllt, doch der Himmel über uns war strahlend blau. Die Sonne wärmte allerdings nicht, sondern ließ nur den Schnee grell glitzern.

Von den Zähnen der Blauäugigen tat mir der Nacken scheußlich weh, aber ich beschwerte mich nicht. Ich musste mich konzentrieren, mir überlegen, wie ich weiter vorging. Ob mich die Wölfe tatsächlich zu Farraklaue brachten? Und wenn ja, würde er sich überhaupt an mich erinnern? So, wie ich ihn auf dem Käfighügel im Großen Knurren kennengelernt hatte, hatte er mit seinen drei Artgenossen so gut wie nichts gemeinsam. Weder besaß er ihre kräftige Statur noch ihr Selbstvertrauen. Ich sah wieder seine fast kahle Schnauze vor mir und wie sich seine Rippen unter dem Fell abgezeichnet hatten. Und selbst wenn er sich für mich einsetzte, konnte er sich bestimmt nicht gegen sein ganzes Bischar stellen.

Die Wölfe trabten jetzt langsamer, und ich konnte meine Umgebung besser betrachten. Am Horizont ragte ein Kreis aus spitzen Felsen wie die Zähne eines gewaltigen Maules aus dem Schnee. Davor stieg Dampf auf, und als ich den Hals reckte, erkannte ich einen leuchtend blauen See, der zu meinem Erstaunen Wärme ausstrahlte. Wie konnte ein See in dieser eisigen Umgebung warm sein? Warum fror er nicht zu?

Aus dem See entsprang ein Bach. Sein Wasser war kühler, wie ich spürte, als wir nun anhielten. Mirraklaue neigte den Kopf, murmelte irgendetwas und stillte dann seinen Durst, Cattisklaue ließ mich in den Schnee fallen, dann tranken auch sie und der Grauweiße. Mir war ganz schwindlig, und ich musste erst einmal tief durchatmen.

»Darf die Füchsin auch trinken, Baron Mirraklaue?«, fragte die Wölfin.

»Aus dem heiligen Bach?«, gab der Weiße ungehalten zurück. »Natürlich nicht! Von mir aus kann sie verdursten.«

Verdursten würde ich wohl nicht, bei so viel Schnee um mich herum, aber ich hätte das Wasser des blauen Baches gern gekostet.

Die Wölfe setzten sich wieder in Bewegung, weil sie aber langsamer liefen, blieb ich nicht mehr zurück, als Cattisklaue mich wieder vor sich her stieß. Ich lief zwischen ihr und dem Grauweißen, Mirraklaue hatte sich abermals an die Spitze gesetzt. Vor uns kam ein golden leuchtender Felsen in Sicht. Als Mirraklaue ihn erreicht hatte, blieb er stehen und drehte sich nach Norralklaue um.

»Ruf den Königshof zusammen!«, befahl er.

»Sehr wohl, Baron.«

Mirraklaue verneigte sich vor dem goldenen Felsen, die beiden anderen blieben reglos hinter ihm stehen.

Ich drehte die Ohren nach vorn.

Mirraklaues Ton war ehrerbietig und feierlich, als er sagte: »Edler König Serren vom Klauenbischar, der du uns in deinem Reich Schutz und Frieden gewährst, lass uns ein, die wir reinen Herzens sind und in guter Absicht kommen.« Damit hob er den Kopf und trabte weiter. Nun war es an dem Grauweißen, sich vor dem Felsen zu verneigen und Mirraklaues Worte zu wiederholen.

Ich drehte mich nach Cattisklaue um und sah sie fragend an.

»Du musst erst um Erlaubnis bitten, die Frostige Festung betreten zu dürfen«, sagte sie.

Mein Nackenfell stellte sich auf. Die Frostige Festung … Wollte ich sie denn betreten?

»Wen muss ich denn um Erlaubnis bitten?«

Sie blickte mich mit ihren blauen Augen durchbohrend an. »Die uralte Macht, die den Eingang hütet.«

Ich betrachtete den goldenen Felsen. Mirraklaue und der Grauweiße hatten sich bereits ein ganzes Stück von uns entfernt. Ich leckte mir die Lefzen und drehte mich wieder nach Cattisklaue um. »Ich weiß aber nicht, was ich sagen muss.«

Die Wölfin seufzte. »Mach mal Platz.« Sie trat neben mich und sagte streng: »Verneig dich!«

Ich gehorchte.

Dann wiederholte sie den Spruch: »Edler König Serren vom Klauenbischar, der du uns in deinem Reich Schutz und Frieden gewährst, lass uns passieren, die wir reinen Herzens und guter Absicht sind.« Sie verpasste mir einen Stoß. »Los, weiter, Fuchs.« Mir fiel auf, dass sie mich anders als Mirraklaue nicht »Fuchs-Ka« nannte. Ich lief wieder vor ihr her, und wir betraten den Kreis der Steinzähne.

Im Schnee entdeckte ich zahlreiche frische Pfotenabdrücke. Meine Schnurrhaare kribbelten. Wie viele Schneewölfe mochten hier wohl leben? Ich konnte sie schon wittern: sieben … acht … nein, es waren zu viele. Offenbar lebten Wölfe in viel größeren Gruppen zusammen als wir Füchse. Ob Farraklaue unter ihnen war?

Wir trabten zwischen hohen Eisbrocken hindurch, auf denen das Sonnenlicht spielte. Dann verschmolzen die Eiswände über unseren Köpfen und bildeten einen Gang, dessen Wände spiegelten – an der gewölbten Decke war das verzerrte Abbild von Mirraklaues weißem Rücken zu erkennen. Ich drehte mich um und schaute zurück. Vor dem goldenen Felsen stand jetzt eine fremde Wölfin und spähte mit gespitzten Ohren zu uns herüber.

»Komm her, Fuchs-Ka!« Mirraklaue und der Grauweiße waren stehen geblieben, und Mirraklaue raunte mir zu: »Lass den Kopf immer unten, und erweise dem Königshof deinen Respekt. Sprich nur, wenn man dich dazu auffordert.«

Ich schlang den Schwanz um mich.

»Auf geht’s!« Mirraklaue trabte los.

Cattisklaue gab mir einen Stoß. »Du hast gehört, was der Baron gesagt hat.«

Ich blickte sie verzweifelt an. »Bitte … ich möchte doch nur zu Farraklaue! Warum habt ihr mich hierhergebracht?«

»Weil du erst dem Fürsten und dem Königshof der Klauen deine Ehrerbietung bezeigen musst. So ist es bei uns Brauch. Danach kannst du reden.«

»Danach tötet ihr mich«, entgegnete ich vorwurfsvoll.

»Kann schon sein«, entgegnete sie mit blitzenden Augen.

Die Wolfswitterung wurde immer stärker. Der Eisgang verbreiterte sich und mündete schließlich in eine geräumige Höhle. Auf ihre Kuppeldecke brannte die Sonne herab, so dass die Wände mit grünen und blauen, violetten und roten Lichttupfen übersät waren. Mir wurde ganz schummerig von all den Farben.

Als ich schluckte, war meine Kehle wie ausgedörrt.

Vor meinem inneren Auge erschien das klare blaue Wasser des Baches, doch ich verdrängte den Gedanken sofort.

Konzentrier dich, Isla.

Ob Fuchsmagie mir helfen konnte? Sollte ich mich vielleicht verflimmern? Oder karakken? Ich konnte auch den Wa’akkir-Zauber anwenden … Die Ältesten hatten mich die Kunst gelehrt, eine andere Gestalt anzunehmen, doch von der langen Wanderung hierher war ich sehr erschöpft. Stand mir genug Maa zur Verfügung, um mich zu verwandeln?

Nein, ich musste meine ganze Kraft dafür nutzen, gegenüber den Wölfen einen kühlen Kopf zu bewahren.

Ich holte tief Luft und sah mich um. Auch wenn ich schon gespürt hatte, dass es viele Wölfe waren, wurde mir bei ihrem Anblick vor Angst ganz übel. Sie hatten sich in Reihen hingesetzt und in der Mitte einen Gang freigelassen, den Mirraklaue nun entlangschritt und dabei zornig in die Luft schnappte. Die anderen Wölfe erstarrten, wenn er an ihnen vorbeikam, dann schnappten auch sie in die Luft und funkelten mich böse an.

Zitternd schlich ich zwischen ihnen hindurch, wich ihren Blicken aus und versuchte, nicht an ihre spitzen Krallen und scharfen Zähne zu denken.

»Bleib nicht stehen«, zischte Cattisklaue, »und tu alles, was der Baron dir sagt.« Dann setzte sie sich in die vorderste Reihe, und der Grauweiße nahm hinter ihr Platz, was ich beinahe bedauerte, weil ich jetzt mit Mirraklaue allein war.

Der Wolfsbaron drehte sich nicht nach mir um, sondern trabte unbeirrt weiter. An der Haltung seines Schwanzes, seiner stolzen Miene und der Reaktion seiner Artgenossen sah man, dass er sich seiner Überlegenheit bei jedem Atemzug bewusst war. Verstohlen hielt ich unter den Anwesenden nach einem auffallend abgemagerten, struppigen Wolf Ausschau, doch diese Wölfe hier besaßen allesamt kräftige Muskeln, breite Schultern und üppiges Fell. Keiner war in so schlechtem Zustand, wie es Farraklaue gewesen war.

Als Mirraklaue am hinteren Ende der Höhle angekommen war, drehte er sich um und richtete das Wort an die Versammlung. »Es lebe der Fürst!«, bellte er.

»Es lebe der Fürst!«, jaulte es vielstimmig und so laut, dass ich unwillkürlich die Ohren anlegte. Dann ließen sich sämtliche Wölfe – auch Mirraklaue – gleichzeitig auf den Bauch fallen und senkten die Köpfe.

Es wurde still. Die Wölfe waren reglos wie Stein. Ein Schatten fiel zwischen sie.

»Bezeuge deine Ehrerbietung, Fuchs-Ka!« Mirraklaue fegte mich mit einem Pfotenhieb von den Beinen. Doch den Kopf neigte ich nicht. Wenn ich schon sterben musste, wollte ich dem Tod wenigstens ins Auge blicken.

Ich spähte über die gesenkten Köpfe des Bischars hinweg und erblickte seinen Gebieter. Er hatte kräftige Läufe und langes, silbergrau geflecktes Fell und bewegte sich mit majestätischer Selbstsicherheit. Seine Schönheit war beeindruckend, und die Macht, die er besaß, umwallte ihn wie eine Duftwolke.

Dann sah ich seine Augen. Sie leuchteten gelb wie der Mond, und ein angriffslustiges Feuer funkelte in ihnen.

»Es lebe Fürst Farraklaue Kühnkiefer!«, bellte Mirraklaue.

»Er lebe lang!«, erwiderten die Wölfe im Chor.

»Farraklaue?«, fragte ich ungläubig. Seine vormals kahle Schnauze war mit dichten, hellen Haaren bewachsen, sein damals so struppiges, schütteres Fell floss ihm voll und schimmernd über die Schultern. Seine ganze Erscheinung vibrierte von Maa.

Er drehte die Ohren herum und musterte mich. Auf einmal wurde seine grimmige Miene weicher. »Isla aus den Graulanden!«

»Ihr kennt den Fuchs?«, entfuhr es Mirraklaue.

Farraklaue wandte den Blick nicht von mir ab. »Wie könnte ich Isla je vergessen? Sie hat mich aus dem Käfig der Pelzlosen befreit. Ich verdanke ihr meine Freiheit und stehe tief in ihrer Schuld.« Er legte den Kopf schief und wedelte mit dem Schwanz. »Na, Kleine? Von den Graulanden bis zu uns ist es ein weiter Weg. Hast du ihn auf dich genommen, damit ich mich bei dir revanchiere?«

3. Kapitel

Licht schimmerte durch die Kuppel der Höhle. Die Wölfe blieben liegen, hatten aber die Köpfe gehoben und schauten neugierig zu uns herüber.

Farraklaue hatte sich hingesetzt, und ich staunte wieder einmal, wie groß er war. Selbst wenn ich mich auf die Hinterläufe gestellt hätte, hätte ich ihm nicht einmal bis zur Schulter gereicht. »Du hast einen weiten Weg hinter dir, Isla aus den Graulanden«, wiederholte er mit tiefer Stimme. »Wo habt Ihr sie entdeckt, Baron Mirraklaue?«

»Ich bin zusammen mit Baronin Cattisklaue Grimm-Raa und Krieger Norralklaue-Raa im Sturmtal Streife gelaufen. Die unverschämte Fuchs-Ka hatte sich in Nirrabars Höhle versteckt und sich nicht mal dafür entschuldigt. Wir wollten sie eigentlich töten.«

Farraklaue wandte den Blick immer noch nicht von mir ab. »Stimmt das?«

Furcht kroch über meinen Rücken. Tatsächlich hatte ich bei meinem Aufbruch in die Schneelande gehofft, dass Farraklaue sich bei mir revanchieren würde, aber da hatte ich natürlich noch nicht gewusst, was für einen hohen Rang er einnahm. Würde er mich gegenüber seinem Bischar in Schutz nehmen?

Mirraklaue verneigte sich tief. »Wir haben sie nur verschont, weil sie Euren Namen kannte, Fürst Farraklaue. Sie behauptet, sie hätte eine Botschaft für Euch.«

»Ach ja?« Farraklaue sah mich weiter unverwandt an.

»Ich …« In der stillen Höhle klang meine Stimme hoch und piepsig, und mir war nur allzu bewusst, dass mir alle Wölfe zuhörten. »Ich bin immer noch auf der Suche nach meinem Bruder.«

Farraklaue nickte. »Du meinst deinen Bruder, der verschollen ist, nicht wahr? Hast du ihn noch nicht wiedergefunden?«

Ich leckte mir nervös die Lefzen. »Ich habe die Wildlande kreuz und quer nach ihm abgesucht und mich schließlich an die Ältesten gewandt, die als die Klügsten meiner Art gelten. Eine Gruppe einheimischer Füchse hat mich unterstützt, doch dann wurden sie überfallen. Einer der Ältesten ist nämlich zum Verräter geworden. Er versklavt andere Füchse und hetzt sie gegen ihre ehemaligen Freunde und Verwandten auf.« Vor Aufregung überschlugen sich meine Worte, und ich kniff verlegen den Schwanz ein.

»Auweia – bei den Füchsen gibt es Stunk«, sagte Mirraklaue höhnisch.

»Ruhe«, blaffte Farraklaue so laut, dass ich erschrocken einen Satz rückwärts machte und das Fell sträubte. Doch sein Zorn galt nicht mir, sondern Mirraklaue. Der Weiße drückte sich sofort auf den Boden und spreizte die Ohren seitlich ab. Die anderen Wölfe warteten angespannt darauf, was nun passieren würde. Niemand wagte sich zu rühren.

Als Farraklaue abermals das Wort ergriff, war sein Ton sanft, fast schnurrend. »Erzähl doch weiter, Isla.«

Ich schielte verunsichert zu Mirraklaue hinüber, doch der hatte den Kopf gesenkt und die Augen niedergeschlagen. »Weil ich Pirie in den Wildlanden nicht finden konnte, meinten die Ältesten, ich solle meine Suche in den Schneelanden fortsetzen. Unter dem Fell und der Haut des größten aller Geschöpfe Canidas ist der verschwundene Fuchs den Ältesten entzogen.« Ich sah Farraklaue vielsagend an. »Ich bin davon überzeugt, dass ich nach einem Wolf Ausschau halten muss, denn der Wolf ist nun mal das größte aller Geschöpfe Canidas.«

»Und du bist ganz allein hergekommen?«, fragte der Fürst verblüfft.

»Mir blieb nichts anderes übrig«, erwiderte ich. »Ein Freund wollte mich begleiten, aber er konnte den Zornigen Fluss nicht überqueren.«

Der Schneewolf schnaubte belustigt. Als er die gewaltige Schnauze vorschob, zuckte ich unwillkürlich zusammen, doch er versetzte mir nur einen freundschaftlichen Stoß. Dabei stieg mir seine strenge Witterung in die Nase. »Du bist ganz schön mutig, Isla«, sagte er schwanzwedelnd. »Ich habe zwar keine Ahnung, wie ich dir helfen kann, aber ich stehe zu deiner Verfügung. Wir Wölfe bleiben niemandem etwas schuldig.« Er hob den Kopf und schaute in die Runde. »Erhebt euch!«

De Wölfe sprangen auf und blickten ihn an. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie auch Mirraklaue auf die Pfoten kam und sich schüttelte.

Farraklaue schob mich mit der Schnauze ein Stück nach vorn. »Diese junge Füchsin heißt Isla. Sie ist unser Gast und gilt ab jetzt als Freundin des Klauenbischars. Ihr wisst ja, dass mich die Pelzlosen gefangen und in eine ihrer Schauhöhlen gesperrt hatten, wo sie mich angaffen konnten. Ich hätte dort nicht mehr lange überlebt.«

Ringsum war mitfühlendes Winseln und Jaulen zu vernehmen.

»Isla hat ihr eigenes Leben riskiert, um mich zu befreien. Dafür gebührt ihr allergrößter Respekt. Sie mag nach Belieben durch unser Revier streifen und an unserer Beute teilhaben. Begegnet ihr mit Freundlichkeit und gebt auf sie acht, als wäre sie eine von uns.« Er reckte die Schnauze. »Es lebe das Bischar, vereint unter den Lichtern Canidas. Freundschaft und Ehre auf ewig!«

»Freundschaft und Ehre auf ewig!«, wiederholten die Versammelten, und ihre Stimmen hallten in der Eishöhle so dröhnend wider, dass ich abermals zusammenzuckte.

Farraklaue schüttelte sein graugesprenkeltes Fell. »Heißt unseren Gast willkommen!«

Damit war die Versammlung aufgehoben, und die Wölfe scharten sich um uns. Mir wurde ganz flau im Magen, doch ich zwang mich, tief durchzuatmen. Schließlich wedelten sie mit den Schwänzen und legten die Köpfe schief, wollten mir also nichts Böses. Sie beschnüffelten mich jaulend und mit abgespreizten Ohren.

»Willkommen, Isla!«, riefen sie.

Cattisklaue drängte sich zu mir durch. »Eine Freundin von Fürst Farraklaue ist unser aller Freundin!«

Ich wedelte schüchtern mit dem Schwanz. »Das soll wohl heißen, dass ihr mich doch nicht tötet, oder?«

»Heute jedenfalls nicht«, gab Cattisklaue verschmitzt zurück.

Die Wölfe peitschten mit den Schwänzen und umringten mich so stürmisch, dass ich unter ihrem hellen Fell schier begraben wurde.

»Die Ärmste kriegt ja keine Luft mehr!«, mahnte Farraklaue. »Keine Sorge, ihr alle bekommt noch genug Gelegenheit, sie kennenzulernen.« Daraufhin wichen die Wölfe ein Stück von mir zurück, waren aber immer noch ganz aufgeregt. »Dann bleibst du also erst einmal hier?«, wandte sich Farraklaue wieder an mich.

»Wenn ich darf, gern«, erwiderte ich zaghaft.

»Dann zeige ich dir am besten mal unser Bischar, damit du dich besser auskennst. Dabei kannst du mir noch ausführlicher von deiner Suche erzählen.« Sogleich trabte er in Richtung Ausgang, und die anderen Wölfe machten ihm hastig Platz.

»Bis nachher, Isla«, sagte Cattisklaue und stupste mich mit ihrer feuchten Schnauze kameradschaftlich an.

Ich setzte mich in Bewegung und lief hinter dem Wolfsfürsten her. Das Licht in der Höhle veränderte sich, das grelle Gelb wurde grünlich. Im Laufen drehte ich mich noch einmal nach den Schneewölfen um. Sie waren auf einmal ganz entspannt, sprangen umher, verpassten einander spielerische Stöße und leckten sich gegenseitig die Ohren.

Ihre welpenhafte Fröhlichkeit war ansteckend, und ich fasste neuen Mut. So unbarmherzig die Schneelande auch waren, unter Farraklaues Schutz hatte ich nichts zu befürchten, und vielleicht konnten mir die Wölfe ja tatsächlich dabei helfen, Pirie wiederzufinden.

Als ich mich gerade wieder abwenden wollte, fiel mein Blick auf Mirraklaue, der immer noch an der hinteren Wand stand. Das Licht fing sich in seinen gelben Augen, er hatte die Ohren aufgestellt und wedelte nicht mit dem Schwanz, sondern zog eine Lefze hoch, so dass man den langen, weißen Eckzahn sah.

 

Farraklaue hatte am Höhleneingang haltgemacht und wartete auf mich. Als er mit schief gelegtem Kopf auf mich herabblickte, lag in seinem goldgelben Blick eine Wärme, die ich darin noch nie gesehen hatte.

»Soso«, sagte er, als wir außer Hörweite der anderen Wölfe waren, »du bist zwar nicht mal so groß wie unsere Welpen, aber ich sage nur: klein, aber oho!« Sein Tonfall war scherzhaft, aber auch anerkennend.

»Gibt es denn gerade Nachwuchs in eurem Bischar?«, wollte ich wissen.

»O ja! Vier wunderschöne Welpen.« Farraklaue blieb stehen und schien vor Stolz noch ein Stückchen größer zu werden. »Möchtest du vielleicht ihre Bekanntschaft machen?«

Beim Gedanken an vier Riesenwelpen wurde mir ein bisschen mulmig zumute. Vielleicht hörten sie ja nicht so bereitwillig auf Farraklaues Anweisungen wie die erwachsenen Wölfe. Doch es wäre unhöflich gewesen, das Angebot abzulehnen. »Sehr gern«, erwiderte ich deshalb. »Passt deine Gefährtin gerade auf sie auf?«

»Meine Gefährtin?«, wiederholte Farraklaue verwundert, dann begriff er, was ich meinte. »Ach so! Nein, es sind nicht meine Welpen.«

»Nicht?«

»Aber nein! Nur der König und die Königin bekommen Welpen, aber wir anderen lieben die Kleinen so sehr, als wären es unsere eigenen.« Er lief weiter, und ich musste mich beeilen, um nicht zurückzubleiben. Wir bogen in eine Abzweigung des Eisganges ein, die mir bei meiner Ankunft nicht aufgefallen war. Auch hier roch es nach Schneewölfen, doch Farraklaues Witterung überdeckte alle anderen. Seine Überlegenheit war in den gefrorenen Boden unter unseren Pfoten und in die kalten Eiswände eingegraben, sein Maa war das stärkste, das ich weit und breit wahrnahm.

»Ich dachte …« Ich sah wieder vor mir, wie ihm das ganze Bischar gehorcht hatte. »Bist du denn nicht der Anführer?«

Seine Miene wurde plötzlich ernst, und er sagte eine ganze Weile nichts mehr. Inzwischen hatten wir einen Espenwald erreicht. Die silbrigen Stämme hoben sich schimmernd vom Neuschnee ab. Vor dem vordersten Baum verneigte sich Farraklaue und murmelte etwas Unverständliches, dann trabte er schnüffelnd weiter. »Dieser Wald bildet die nördliche Grenze unseres Reviers.«

Ich vernahm ein schrilles Quieken, den Angstschrei irgendeines kleineren Geschöpfes. Als ich den Kopf hob, entdeckte ich im Baum über mir etwas Pelziges mit kleinen schwarzen Augen, das sich verzweifelt an einen Ast klammerte.

Mein Magen knurrte. »Jagt ihr hier?«

»Hier? Nein. Die Beute, auf die wir aus sind, wagt sich niemals so dicht an unsere Festung heran. Um sie aufzustöbern, müssen wir weit laufen.«

»Aber hier gibt es doch auch Beute«, entgegnete ich erstaunt.

Der Schneewolf folgte meinem Blick. Als er das quiekende Geschöpf in der Espe erblickte, schnaubte er verächtlich, und Dampf quoll aus seiner schwarzen Nase. »Wir jagen doch keine Baumratten!« Doch seine Körperhaltung entspannte sich sofort wieder. »Ach, meine kleine Füchsin – wie verschieden wir doch sind!«

Mir fiel wieder ein, wie er mich damals im Großen Knurren verspottet hatte, und ich drückte selbstbewusst die Brust heraus. »Was ist denn an einer Baumratte verkehrt, bitte sehr?«

»Na ja – wahrscheinlich ist so ein mickriger Happen immer noch besser, als sich vom Abfall der Pelzlosen zu ernähren«, konterte er, doch als er sah, wie gekränkt ich war, lenkte er sofort ein. »War nicht so gemeint. Aber unser Bischar würde verhungern, wenn wir versuchen würden, unsere Bäuche mit solchem Kleingetier zu füllen. Unsere schöne Welt bietet vielen Geschöpfen Platz.« Er stupste mich mit der Schnauze an, und ich war besänftigt und versetzte ihm ebenfalls einen Stups.

Anscheinend wusste ich immer noch viel zu wenig über die Wölfe. Der Wildpfad am Bau meiner Familie fiel mir ein. Dort waren wir immer auf Futtersuche gegangen. »Wo jagt ihr denn dann?«

»Wo immer es Beute gibt.« Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Natürlich nur innerhalb der Grenzen unseres Bischars. Komm, ich zeig’s dir.«

Als wir uns zwischen den hellen Espenstämmen hindurchschlängelten, hinterließen Farraklaues Pfoten breite Abdrücke im Schnee. Nach einer Weile lichteten sich die Bäume, und es ging bergauf. Der Hang war mit großen schwarzen Steinbrocken übersät. »Von dort oben kann man über das ganze Bischar sehen. Ich komme oft hierher und denke nach.«

»Allein?«

»Meistens. Das Bischar versammelt sich eigentlich nur, wenn ich es zusammenrufe – und auf Geheiß des Königspaares.«

Ich blieb stehen. »War das Königspaar vorhin auch in der Frostigen Festung?«

Farraklaues Blick wurde abwesend. »Nein.« Er wandte sich um und trabte weiter bergauf. Ich dagegen kletterte unbeholfen über die großen Steine, die mit glattem Eis bedeckt waren.

Der Wolf war schon ganz oben angekommen und schaute zu mir herunter. Wie er so auf dem dunklen Geröll stand und sich sein graugesprenkeltes Fell vor dem Himmel abzeichnete, wirkte er noch majestätischer. »Brauchst du Hilfe?«, bellte er.

»Nein, danke«, erwiderte ich rasch, denn ich war zu stolz, um Hilfe anzunehmen. Farraklaue war immerhin so freundlich wegzuschauen, als ich meinen Weg schlitternd fortsetzte, doch schließlich kam auch ich oben an und legte mich neben ihn. Von hier aus überblickte man das gesamte Klauenrevier mit der Frostigen Festung und dem goldenen Felsen, an dem Mirraklaue, Cattisklaue und Norralklaue um Einlass gebeten hatten. Die weiße, wellige Tundra erstreckte sich in alle Richtungen.

Farraklaue ließ mich erst wieder zu Atem kommen, dann sagte er: »Du suchst deinen Bruder – ich weiß, wie schrecklich sich Verlust anfühlt. Die Pelzlosen haben mich aus meiner Heimat verschleppt und zu ihrer Belustigung in einen Käfig gesperrt. Das wäre beinahe mein Tod gewesen.« Er funkelte mich an. »Eine mutige Füchsin hat mich gerettet. Du sollst wissen, dass ich alles tun werde, um dir zu helfen, Isla.«

Ich wand mich unter seinem eindringlichen Blick und erwiderte: »Unter dem Fell und der Haut des größten aller Geschöpfe Canidas ist der verschwundene Fuchs den Ältesten entzogen. Dieser Satz ist der einzige Hinweis, den ich habe.«

Seine Ohren zuckten. »Und was bedeutet er?«

Ich schlang den Schwanz um mich. »Wenn ich das wüsste.« Warum habe ich die Ältesten bloß nicht danach gefragt?

»Du hast vorhin eine Gruppe Wildlandfüchse erwähnt, aber du bist allein hergekommen.«

»Die Wildlandfüchse waren sehr freundlich zu mir«, erwiderte ich wehmütig. »Sie haben mich bei sich aufgenommen, und Siffrin und Haiki ebenfalls.«

»Sind die beiden auch Füchse?«

Ich nickte. »Siffrin habe ich noch im Großen Knurren kennengelernt. Er ist ein Bote der Ältesten. Anfangs war ich ihm gegenüber misstrauisch … aber das war unnötig.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Noch in den Wildlanden. Hoffentlich geht es ihm gut. Dort sind so viele Gebrochene unterwegs …«

Farraklaue ließ die Ohren spielen. »Gebrochene?«