Frankfurter Vorlesungen - Ingeborg Bachmann - E-Book

Frankfurter Vorlesungen E-Book

Ingeborg Bachmann

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Beschreibung

Im Wintersemester 1959/60 hielt Ingeborg Bachmann im Rahmen einer Vortragsreihe an der Frankfurter Universität fünf Vorlesungen zu Fragen der Poetik. Diese essayistischen Arbeiten sind ein integraler Bestandteil ihres dichterischen Schaffens. In den Vorlesungen zu »Problemen zeitgenössischer Dichtung« formuliert Ingeborg Bachmann die Quintessenz ihrer ästhetischen Grundüberzeugungen, ihre Sprachmoral. Die Fragen »Warum schreiben? Wozu?« und »Warum wollen wir Veränderung durch Kunst?« beantwortet sie mit dem Postulat eines »moralischen, erkenntnishaften Rucks«, eines »neuen Geistes«, der die neue Sprache bewohnen müsse. Sie untersucht Gedichte von Eich, Celan, Enzensberger, Kaschnitz und anderen, befasst sich mit der Problematik des »schreibenden Ichs«, dem »Umgang mit Namen« und der Aufgabe der »Literatur als Utopie«. Es sind Schlüsseltexte für das literarische Selbstverständnis der Autorin sowie der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.

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I

Fragen und Scheinfragen

Meine Damen und Herren,

Neugier und Interesse, die Sie in diesen Saal geführt haben, glaube ich zu kennen. Sie entspringen dem Verlangen, über die Dinge etwas zu hören, die uns beschäftigen, also Urteile, Meinungen, Verhandlungen über Gegenstände, die uns an sich, in ihrem Vorhandensein, genügen müßten. Also etwas Schwächeres, denn alles, was über Werke gesagt wird, ist schwächer als die Werke. Das gilt, meine ich, auch für die höchsten Erzeugnisse der Kritik und [von] dem, was von Zeit zu Zeit grundsätzlich und grundlegend gesagt werden wollte und immer wieder gesagt werden will. Es wird zur Orientierung gesagt, und wir verlangen es zu hören, der Orientierung wegen. Nicht zuletzt haben die Schriftsteller selber immer das größte Interesse bewiesen für die Zeugnisse anderer Schriftsteller, für Tagebücher, Arbeitsbücher, Briefwechsel und die theoretischen Mitteilungen, neuerdings mehr und mehr für die Enthüllung von »Werkstattgeheimnissen«. Vor dreißig Jahren noch teilte der russische Dichter Majakowskij seinen Lesern mit, sie hätten das Recht, von den Dichtern zu verlangen, daß sie die Geheimnisse ihres Metiers nicht ins Grab mitnähmen. Nun, die Gefahr besteht heute kaum mehr, besonders die Lyriker geizen nicht mit Kundmachungen, volle Einigkeit herrscht aber nicht …: ein Gedicht wird gemacht, ein Gedicht wird geahnt, gebraut, gebaut, montiert, auch bei uns.

Wie dem auch sei, Sie werden reichlich aufgeklärt, und es werden Ihnen sogar Geheimnisse verraten, die gar keine sind. So vielerlei Neugier da ist – so vielerlei Enttäuschung ist möglich, und all dies mag uns vorläufig zur Entschuldigung dienen für die falschen Hoffnungen, die Sie sich machen und die ich mir mache, indem ich, Mut fassend, meine, daß sich von diesem Lehrstuhl aus zwar nichts lehren, vielleicht aber etwas erwecken läßt – ein Mitdenken von der Verzweiflung und der Hoffnung, mit der einige wenige – oder sind es schon viele? – mit sich selber und der neuen Literatur ins Gericht gehen.

»Fragen zeitgenössischer Dichtung« – dieser Titel wurde gewählt für eine erste Reihe von Vorlesungen, und als ich mit der Arbeit beginnen wollte, bis zuletzt fast unfähig, einen Ansatzpunkt zu finden für diesen Versuch, der mir nicht geheuer ist, überlegte ich noch einmal den Titel. Sollten denn hier Fragen behandelt werden, die schon gestellt sind, welche übrigens, und wo gestellt und von wem? Oder sollen gar Antworten gegeben werden? Kennen Sie denn die Autoritäten, glauben Sie denn an solche, die da Fragen austeilen und Antworten liefern? Und vor allem, um welche Fragen könnte es sich eigentlich handeln? Soll man sich kümmern um die Fragen, wie sie die Tagespresse in ihren Feuilletons hin und wieder aufwirft, oder um diejenigen, die auf Akademien und Kongressen behandelt werden, oder soll man, noch fortschrittlicher gestimmt, sich um die Rundfragen des Rundfunks oder der literarischen Weihnachtsrätselecken bekümmern? Um nur einige zu nennen: »Soll das Material kalt behandelt werden?« »Ist der psychologische Roman tot?« »Ist die Chronologie im Roman noch möglich im Zeitalter der Relativitätstheorie?« »Muß die neue Dichtung so dunkel sein?« »Die Dramaturgie von Fall zu Fall.«

Oder sollen die weniger lärmigen, weniger attraktiven Fragen, wie sie in der Literaturwissenschaft gestellt werden, berücksichtigt werden? Darf man sich, ungelernt, ohne fachliche Kenntnis, trauen, dort Hilfe zu suchen? Da sind die Rettungsringe bereit gemacht – einfühlende Interpretation, Historismus, Formalismus, sozialistischer Realismus. Wer möchte da nicht gerettet sein, zu niemands Schaden! Auch die Psychologie, die Psychoanalyse, Existenzphilosophie, die Soziologie bieten sich an, haben Fragen an die Literatur zu stellen. Überall Fundiertes, Standorte, Gesichtspunkte, Devisen, Merkblätter, geistesgeschichtliche Stichworte, unter denen etwas zu finden ist – und wie es zu finden ist. Nur das Stichwort fehlt für den, der im Augenblick selbst vorzutreten hat und alle die Werke, die Zeiten, hinter sich liegen fühlt, auch die jüngstgeschaffenen, die jüngstvergangenen, und er fürchtet, mangels Gelehrsamkeit, sich auf einige wenige eigene Erfahrungen mit der Sprache und den Gebilden, die mit dem Stempel Literatur versehen worden sind, zurückziehen zu müssen. Und doch ist ja die Erfahrung die einzige Lehrmeisterin. Wie gering sie auch sein mag – vielleicht wird sie nicht schlechter beraten als ein Wissen, das durch so viele Hände geht, gebraucht und mißbraucht oft, das sich oft verbraucht und leer läuft, von keiner Erfahrung erfrischt.

Für den Schriftsteller gibt es nämlich vor allem Fragen, die scheinbar außerhalb der literarischen liegen, scheinbar, weil ihre glatten Übersetzungen in die Sprache für die literarischen Probleme, mit denen man uns bekannt macht, sie uns als sekundär empfinden lassen; manchmal bemerken wir sie nicht einmal. Es sind zerstörerische, furchtbare Fragen in ihrer Einfachheit, und wo sie nicht aufgekommen sind, ist auch nichts aufgekommen in einem Werk.

Wenn wir zurückblicken auf das vergangene halbe Jahrhundert, auf seine Literatur mit den Kapiteln Naturalismus und Symbolismus, Expressionismus, Surrealismus, Imagismus, Futurismus, Dadaismus und einiges, was in kein Kapitel passen will, so kommt es uns vor, als entwickelte sich die Literatur aufs wunderbarste, wenn auch etwas widersprüchlich, ganz wie immer, wie früher – erst Sturm und Drang, dann Klassik, dann Romantik und so fort, es macht keine so großen Schwierigkeiten, sich zu verständigen darüber; nur die Gegenwart läßt einiges zu wünschen übrig, man sieht nicht recht, wie es sich entwickelt, wohin es will, nichts mehr wird klar, nicht einmal die Richtung oder Richtungen lassen sich verläßlich angeben. Es ergeht uns wie mit der Gegenwartsgeschichte; weil wir zu nahe daran sind, überblicken wir nichts, erst wenn die Phrasen einer Zeit verschwinden, finden wir die Sprache für eine Zeit und wird Darstellung möglich. Auch von den heutigen Phrasen werden uns nur die kräftigsten bewußt. Hätten wir das Wort, hätten wir Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht.

Was die Literatur anbelangt, brauche ich Ihnen ja nur ins Gedächtnis zu rufen, wovon in den vergangenen Jahren am meisten die Rede war und zur Zeit am meisten die Rede ist. Von der einen Seite hören Sie das Wehklagen über den Verlust der Mitte, und die Etiketten für diese mittelosen Literaturprodukte lauten: alogisch, zu kalkuliert, irrational, zu rational, destruktiv, antihumanistisch – also alles erdenklich negative Kennzeichnungen. Dem gegenüber steht von ihren Fürsprechern ein Vokabular, das in hohem Maß dem andern ähnlich ist, die negativen Kennzeichnungen werden freiwillig übernommen, oder es werden neue erschaffen, also gottlob, heißt es, und ja, begrüßen wir es, das Alogische, Absurde, Groteske, anti-, dis- und de-, Destruktion, Diskontinuität, es gibt das Antistück, den Anti-Roman, vom Anti-Gedicht war noch nicht die Rede, vielleicht kommt es noch. Daneben laufen behäbigere traditionellere Produkte her, von einer traditionelleren Kritik begleitet, die auf Vokabeln hält wie: Gestaltetes, Schöpferisches, Wesentliches. Sie können beliebig ergänzen. Und aus der aufgeregten, hoffnungsträchtigen Zeit direkt nach dem Krieg stoßen uns auch noch manchmal Worte auf wie Kahlschlag, Nullpunkt, Kalligraphie, Existenzielles, Seinslagen, Vorder- und Hintergründiges, und zuerst beigewohnt hat unsere Generation dem Aufflackern des Kampfes zwischen der engagierten Literatur und dem l’art pour l’art, diesmal als direkte Folge der politischen Katastrophe in Deutschland und der damit verbundenen Katastrophen in den heimgesuchten Nachbarländern, genährt von der Ahnung neuer künftiger Katastrophen.

Man hat also die Wahl, bräuchte sich nur mit Begeisterung über das eine, mit Abscheu über das andere zu äußern und sich auf die einem zusagende Seite zu schlagen. Vielleicht fragen Sie sich, von welcher Stelle aus man Sie an dem Schauspiel des Kampfs teilzunehmen zwingen wird, oder ob Sie gar mit einer neutralen, objektiven Betrachtung hingehalten werden sollen – um es allen recht zu machen, um nirgends anzuecken. Denn jeder Schriftsteller befindet sich in einer verwickelten Lage, ob er sich’s eingestehen mag oder nicht, er lebt in einem Netz von Gunst und Ungunst, und es ist unmöglich, dafür blind zu sein, daß die Literatur heute eine Börse ist. Aber dieses Wort ist nicht von mir und überhaupt nicht von heute, sondern von Hebbel, Friedrich Hebbel, niedergeschrieben im Jahr 1849. Hierin ändern sich die Zeiten nicht so sehr.

Aber lassen Sie uns die Parteiischkeit wie die Neutralität verwerfen und ein Drittes versuchen: eine hindernisvolle Herausführung aus der babylonischen Sprachverwirrung.

Die erste und schlimmste dieser Fragen, von denen ich Ihnen gesprochen habe und die den Schriftsteller zu bewegen hat, betrifft die Rechtfertigung seiner Existenz. Freilich ist sie dem einzelnen, der da schreibt, versucht und belebt von seiner Begabung, selten gleich bewußt, oft wird sie es erst spät. Warum schreiben? Wozu? Und wozu, seit kein Auftrag mehr da ist von oben und überhaupt kein Auftrag mehr kommt, keiner mehr täuscht. Woraufhin schreiben, für wen sich ausdrücken und was ausdrücken vor den Menschen, in dieser Welt. Er, der selbst erkenntnissüchtiger, deutungssüchtiger und sinnsüchtiger ist als die anderen, kann er mit irgend einer Deutung, einer Sinngebung, auch nur mit einer Beschreibung, und erschiene sie ihm noch so genau, bestehen? Ist seine Bewertung durch Sprache, und er bewertet immer, mit jeder Benennung bewertet er die Dinge und den Menschen, nicht völlig gleichgültig, oder irreführend, oder verwerflich? Und ist der Auftrag, wenn er ihn sich selbst zu geben traut (und er kann ihn sich heute nur selbst geben!), nicht beliebig, befangen, bleibt er nicht, wie sehr er sich auch bemühen mag, der Wahrheit immer etwas schuldig? Ist nicht all sein Tun Hybris, und muß er sich nicht verdächtigen immerzu, jedes seiner Worte, jede seiner Zielsetzungen? Daß diese Frage lange nur von biographischem Interesse für diejenigen geblieben ist, die sich mit der Literatur und ihren Opfern beschäftigt haben, ist befremdend. Denn wenn man über das »Ende der Dichtung« zu reden anfängt, eine solche Möglichkeit schwelgerisch oder gehässig erwägt, als wäre es die Dichtung selbst, die zu Ende gehen wollte, oder als wäre dieses Ende ihr letztes Thema, so kann man nicht außer acht lassen, wo eine der Voraussetzungen dazu immer gelegen hat. In den Dichtern selbst, in ihrem Schmerz über ihre Unzulänglichkeit, in ihren Schuldgefühlen. Tolstoi hat in seinen letzten Jahren die Kunst verdammt, hat sich selbst und alle Genies verhöhnt, sich und die anderen aller Teufeleien bezichtigt, des Hochmuts, der Hinopferung der Wahrheit, der Liebe, und hat seine geistige und sittliche Niederlage in die Welt geschrien. Gogol hat die Fortsetzung der ›Toten Seelen‹ verbrannt. Kleist hat den ›Robert Guiscard‹ verbrannt, hielt sich danach für gescheitert und beging Selbstmord. In einem seiner Briefe ist zu lesen: »Ein großes Bedürfnis ist in mir rege geworden, ohne dessen Befriedigung ich niemals glücklich sein werde; es ist dieses, etwas Gutes zu tun.« Und was bedeutet Grillparzers und Mörikes schweigendes Verzichten auf Weiterarbeit. Die äußeren Umstände kommen zur Erklärung kaum in Betracht. Und Brentanos Flucht in den Schoß der Kirche, sein Widerruf, seine Absage an all das Schöne, das er geschrieben hat? Und all diese Widerrufe, die Selbstmorde, das Verstummen, der Wahnsinn, Schweigen über Schweigen aus dem Gefühl der Sündhaftigkeit, der metaphysischen Schuld, oder menschlicher Schuld, Schuld an der Gesellschaft aus Gleichgültigkeit, aus Mangel. Jede Art von Unzulänglichkeit begegnet uns schon vor der Zeit, mit der wir uns zu befassen haben. In unserem Jahrhundert scheinen mir diese Stürze ins Schweigen, die Motive dafür und für die Wiederkehr aus dem Schweigen darum von großer Wichtigkeit für das Verständnis der sprachlichen Leistungen, die ihm vorausgehen oder folgen, weil sich die Lage noch verschärft hat. Der Fragwürdigkeit der dichterischen Existenz steht nun zum ersten Mal eine Unsicherheit der gesamten Verhältnisse gegenüber. Die Realitäten von Raum und Zeit sind aufgelöst, die Wirklichkeit harrt ständig einer neuen Definition, weil die Wissenschaft sie gänzlich verformelt hat. Das Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding ist schwer erschüttert. Das erste Dokument, in dem Selbstbezweiflung, Sprachverzweiflung und die Verzweiflung über die fremde Übermacht der Dinge, die nicht mehr zu fassen sind, in einem Thema angeschlagen sind, ist der berühmte ›Brief des Lord Chandos‹ von Hugo von Hofmannsthal. Mit diesem Brief erfolgt zugleich die unerwartete Abwendung Hofmannsthals von den reinen zaubrischen Gedichten seiner frühen Jahre – eine Abwendung vom Ästhetizismus.

»Aber, mein verehrter Freund, auch die irdischen Begriffe entziehen sich mir in der gleichen Weise. Wie soll ich es versuchen, Ihnen diese seltsamen geistigen Qualen zu schildern, dies Emporschnellen der Fruchtzweige über meinen ausgestreckten Händen, dies Zurückweichen des murmelnden Wassers vor meinen dürstenden Lippen?

Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.