Fränkische Tapas (eBook) - Susanne Reiche - E-Book

Fränkische Tapas (eBook) E-Book

Susanne Reiche

0,0

Beschreibung

Karola Kampe, eine junge Nürnberger Stadträtin, verschwindet nach einer Ausschusssitzung spurlos. Wochen später gewinnt der Kriminalfall durch eine kuriose Lösegeldforderung an Brisanz - Kommissar Kastner und sein Team übernehmen. Stammt die Geldforderung wirklich von einem Entführer? Hat Karola sie womöglich selbst geschrieben? Ihr Lebensgefährte scheint sich jedenfalls mehr um die eigene Karriere als um seine Partnerin zu sorgen, und in Karolas beruflichem Umfeld wird intrigiert und gemauschelt. Gewohnt beharrlich setzt Kastner das Lebenspuzzle der Vermissten zusammen und stößt auf einen ungelösten alten Fall: Zwanzig Jahre zuvor ist schon einmal ein Stadtratsmitglied verschwunden und nie wieder aufgetaucht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 292

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

 

 

Susanne Reiche

 

Fränkische Tapas

 

Kriminalroman

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage November 2018)

 

© 2018 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stephan Naguschewski

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © Hanne Beinhofer

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-987-6

 

Inhalt

Donnerstag, 8. Februar

Montag, 19. Februar: Sonst Exitus

Karola

Dienstag, 20. Februar: Trautes Heim

Karola

Mittwoch, 21. Februar: House of Cards

Karola

Donnerstag, 22. Februar: Körperzellen

Karola

Freitag, 23. Februar: Kantabrische Höhlenkunst und andere spanische Phänomene

Karola

Samstag, 24. Februar: Es muss Nacht sein

Karola

Sonntag, 25. Februar: Retrograde Amnesie

Karola

Montag, 26. Februar: Eine schöne Leiche

Karola

Dienstag, 27. Februar: Schlechtes Timing

Samstag, 3. März: Die Carmen

Die Autorin

 

Donnerstag, 8. Februar

Karola Kampe schlug die langen Beine übereinander und wippte nachdenklich mit dem Fuß – ihr fehlte noch eine zündende Idee fürs Abendessen. Sie war am Nachmittag schon auf dem Weg in die Feinkostabteilung bei Karstadt gewesen, als irgendetwas sie abgelenkt hatte – das cremefarbene Hirschleder-Handtäschchen von Max Mara vielleicht oder die atemberaubend günstigen Swarovski-Ohrringe –, jedenfalls hatte sie am Ende alles Mögliche gekauft, nur eben kein Essen; und der Kühlschrank zu Hause war definitiv leer. Gut, groß aufzukochen brauchte sie heute nicht, Thomas war mal wieder auf Geschäftsreise und Moritz ertränkte sowieso alles in Ketchup, was man ihm auf den Teller legte … Sie würde einfach eine Tiefkühlpizza machen, beschloss Karola und war mit diesem Entschluss fünf Sekunden lang zufrieden – bis ihr einfiel, dass sie sich eigentlich eine gesunde Ernährung aus biologisch und regional erzeugten sowie fair gehandelten Produkten auf die Fahne geschrieben hatte und eine Tiefkühlpizza wohl keinem dieser Kriterien entsprach. Sie hörte auf, mit dem Fuß zu wippen, und runzelte die Stirn. War es wirklich schon so weit, dass sie wegen einer Pizza ein schlechtes Gewissen bekam? Freilich stand sie gewissermaßen unter Beobachtung, seit sie für die Grünen im Nürnberger Stadtrat saß – du kannst doch nicht, du solltest besser, legten ihr die netteren Fraktionskollegen nahe; einige weniger nette diffamierten sie, je nach Temperament mit oder ohne vorgehaltene Hand, als Schande für die Partei. Aber sicher nicht, weil sie hin und wieder Junkfood aß, sondern – tja. Warum eigentlich? Womöglich war es blanker Neid: Sie war mit einem erfolgreichen Geschäftsmann liiert, wohnte in einem schicken Loft im Pegnitzgrund und gab ihre Aufwandsentschädigung größtenteils für Mode und Schmuck aus – das schickte sich offensichtlich nicht für eine Grüne. Karola schnaubte und schüttelte den Kopf: Als schlössen sich ein gewisser Lebensstandard und die richtige politische Einstellung von vornherein aus!

»Frau Kampe?«, fragte der Baureferent. »Sie schütteln den Kopf? Gibt es von Ihrer Seite Einwände?«

Karola sah auf, ihr wurde heiß und kalt. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, worum es im Stadtplanungsausschuss in der letzten halben Stunde gegangen war. »Einwände? Äh – nein«, behauptete sie. Einerseits hätte sie vermutlich Einwände haben sollen, als Grüne; andererseits wollte sie sich keinesfalls die Blöße völliger Unkenntnis geben. Ihr Plan war gewesen, den Festmeter Sitzungsunterlagen, zumindest aber die Tagesordnung, beim Mittagessen in der Rathauskantine zu überfliegen, aber das hatte nicht hingehauen. Eine der eisernen Jungfern aus Moritz’ Kindergarten hatte sie auf dem Handy angerufen und ihr das Ohr vollgejammert: Der Junge leide an defizitärer Aufmerksamkeit, niedriger Frustrationstoleranz und zielloser Aggression. Das war natürlich Schwachsinn. Ja, Moritz war ein lebhaftes, körperbetontes Kind – er war ein JUNGE! –, und ja, er hatte seinen eigenen Kopf. Sollte sie etwa einen Duckmäuser großziehen, nur damit Schwester Herta – die nicht nur so hieß wie eine Fleischwurst, sondern auch ähnlich viel Humor besaß – entspannte Arbeitstage hatte? Schwester Fleischwurst war auf diesem Ohr jedoch taub gewesen, und ihre Verstocktheit hatte Karola ebenso genervt wie die Tatsache, dass man sie so unverfroren bei der Arbeit störte. Gendermäßig war das nicht korrekt, fand sie. Warum sollten immer die Mütter zuständig sein, wenn es Probleme gab? Schließlich war es Thomas gewesen, der auf diesem erzkatholischen Kindergarten beharrt hatte.

Der Baureferent bat um Abstimmung.

Karola biss sich auf die Lippen und zögerte, hob dann aber zustimmend die Hand. Erst keine Einwände zu haben und dann dagegen zu sein, das hätte ja wohl einen peinlich unprofessionellen Eindruck gemacht.

»Dann sind wir ausnahmsweise einstimmig«, stellte der Baureferent erfreut fest. »Vielen Dank und Ihnen allen einen schönen Abend!«

Während die Kollegen zusammenpackten, knabberte Karola an ihrer Unterlippe und blätterte in der Ausschussvorlage. Was zur Hölle hatte sie da eben mitbeschlossen? Von der Sache her machte es sicher keinen Unterschied – die Große Koalition im Nürnberger Stadtrat beschloss, was immer sie wollte; ob eine Grüne dafür oder dagegen war, interessierte letztlich nur den Protokollführer –, aber sie fürchtete eine ermüdende Debatte in ihrer eigenen Fraktion. Die Plätze in den Ausschüssen waren hart umkämpft, und ihre Neider schliefen nicht. Sicher war in der letzten Fraktionssitzung über diesen Bebauungsplan gesprochen worden, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern.

Tja, dumm gelaufen.

Karola sah von ihren Unterlagen auf und bemerkte, dass alle anderen schon gegangen waren. Normalerweise bildeten sich nach einer Sitzung Grüppchen, in denen man sich noch eine Weile austauschte – netzwerken hieß das, und es war wichtig. Wer Karriere machen wollte, musste Kontakte knüpfen und im Gespräch bleiben, und sie wollte Karriere machen, nicht zuletzt, um Thomas zu beweisen, dass sie das Zeug dazu hatte. Ein paar Wochen nach ihrer Wahl in den Stadtrat hatte er einige seiner Kollegen zum Essen ins Loft eingeladen, und einer der grauen, steinern langweiligen Herren hatte ihr höflich zu ihrem neuen Amt gratuliert. Ja, meine Lebensgefährtin rettet jetzt die Welt, hatte Thomas süffisant erklärt. Ich unterstütze das natürlich, obwohl mich die zusätzliche Kinderbetreuung ein paar Cent mehr kostet, als sie mit ihrem neuen Hobby verdient. Karola bekam noch immer einen dicken Hals, wenn sie daran dachte. Hielt er ihr politisches Engagement für ein Hausfrauenhobby, dem sie allein dank seiner Großzügigkeit nachgehen konnte? Aber sie wollte es ihm schon zeigen: Sie würde netzwerken und Karriere machen!

Dann jetzt aber flott, dachte sie angesichts des leeren Sitzungssaals und stopfte die Unterlagen mit sanfter Gewalt in ihr Aktenmäppchen – das schicke Accessoire passte perfekt zu ihren Stiefeletten aus italienischem Kalbsleder, bot aber leider wenig Platz. Sie klemmte sich die Mappe unter den Arm und stöckelte zur Garderobe, schlüpfte in ihren orchideenroten Kaschmirmantel und spähte in den Rathausflur. Nichts. Niemand. Ein Blick auf ihr Handy: Es war halb fünf. Wenn sie Moritz nicht pünktlich abholte, würde Schwester Fleischwurst ihr persönlich einen Platz in der Hölle reservieren – sie musste sich beeilen.

Das Stakkato ihrer Absätze hallte von den kahlen Wänden wider: klack klack, klack klack. Sie mochte dieses Geräusch: Es klang selbstsicher und kompetent, es klang sexy, es klang nach Karriere – mit den veganen Gesundheitsschuhen ihrer grünen Neider ließ sich ein solcher Effekt nicht erzielen. Dumm nur, dass niemand mehr da war, den sie damit beeindrucken konnte.

Draußen auf dem Fünferplatz dämmerte es schon. Dicke Schneeflocken wirbelten im Licht der Straßenlaternen, weit und breit war kein Stadtrat mehr zu sehen. Der Tag ist im Eimer, netzwerkmäßig, dachte Karola, schlug den Mantelkragen hoch und machte sich auf den Weg ins Parkhaus am Hauptmarkt.

Parkhäuser waren definitiv ein Männerding, fand Karola. Thomas hatte nie Probleme, sein Auto zu finden: Parkdeck 3A, dritte Reihe links, vierter Stellplatz; aber ihr Gehirn funktionierte irgendwie anders. Eigentlich konnte sie links und rechts schon unterscheiden, aber wenn man sich erst mal um hundertachtzig Grad gedreht hatte, um sich umzusehen, dann stand das Auto eben nicht mehr links, sondern rechts – so war es doch; und wenn man sich morgens zwecks Orientierung den roten Hyundai auf dem Nachbarstellplatz gemerkt hatte, war der am Abend schon weggefahren. Ein Parkhaus war ein Labyrinth, und daran änderte auch Thomas’ phantasieloser Hinweis nichts, dass er außer ihr niemanden kannte, der seinen Dauerstellplatz nach vier Jahren immer noch suchen musste.

Sie stieg die Treppe hinauf und betrat das Parkdeck. Eine der Neonlampen an der Decke flackerte und sirrte dabei nervtötend, und nach einer Weile ging das Licht ganz aus. Sie fluchte und tastete in der Aktenmappe nach ihrem Smartphone, als sie etwas hörte: ein schnarrendes, schleifendes Rascheln, das irgendwo vor ihr aufloderte, einen Wimpernschlag andauerte und dann jäh erlosch.

In der Stille danach konnte Karola ihr Herz schlagen hören. Endlich fand sie ihr Handy und schaltete die Taschenlampen-App ein, ließ den schmalen Lichtkegel einmal im Kreis wandern: Betonboden, Stützpfeiler und parkende Autos tauchten auf und verschwanden wieder in der Finsternis.

»Hallo?«, rief sie zaghaft.

Es gab keine Antwort.

Sie lauschte noch einen Moment, dann ging sie weiter. Die Schatten zwischen den eng geparkten Autos zuckten zurück, wenn das Licht sie streifte, warteten, bis sie vorbeigegangen war, und schlossen sich dann wieder zu einer schwarzen Wand. Das Klacken ihrer Absätze klang nicht mehr nach Karriere, sondern nach Pfeifen im dunklen Wald. War sie schon in der richtigen Reihe? War sie überhaupt auf dem richtigen Parkdeck? Sie atmete erleichtert auf, als sie den roten Hyundai entdeckte, dessen Besitzer heute wohl länger als üblich arbeiten musste. Und richtig, rechts daneben stand ihr Wagen: die Einkaufstüten auf der Rückbank, Moritz’ Kindersitz … Geschafft, dachte Karola. Gleich würde sie im Auto sitzen und vorsichtshalber die Türen verriegeln; und nach einem Abstecher zum Kindergarten würde sie nach Hause fahren und mit Moritz zusammen eine schöne, fettige Tiefkühlpizza essen.

Und dann würde sie diesen bescheuerten Tag einfach abhaken.

 

Montag, 19. Februar: Sonst Exitus

Kriminalhauptkommissar Kastner hatte schon die Heizung heruntergedreht und seinen Mantel angezogen, um nach einem recht ereignislosen Tag im Nürnberger Polizeipräsidium Feierabend zu machen, als die Sekretärin des Dezernatsleiters an seine Bürotür klopfte und ihm mitteilte, dass der Chef ihn sofort zu sehen wünsche.

»Karola Kampe«, erklärte Carsten Wismeth, kaum dass Kastner sein Büro betreten hatte, »siebenundzwanzig Jahre jung, Mutter eines fünfjährigen Sohnes und seit 2014 für die Grünen im Nürnberger Stadtrat. Sie wurde zuletzt am 8. Februar gesehen, bei einer Sitzung des Stadtplanungsausschusses. Einen Tag später hat ihr Lebensgefährte sie als vermisst gemeldet.«

Kastner setzte sich unaufgefordert auf einen der Besucherstühle und betrachtete das Foto, das sein Chef ihm hinhielt. Eine recht hübsche Frau, schlank, blond, professionell lächelnd – er erinnerte sich dunkel, dass die Nürnberger Presse vor einiger Zeit über das Verschwinden der jungen Stadträtin berichtet hatte. Ein Vermisstenfall fiel normalerweise nicht in seine Zuständigkeit, deshalb fragte er: »Gibt es denn Hinweise auf ein Verbrechen?«

»Ich fürchte, ja.« Wismeth legte die Stirn in Falten und schob einen Computerausdruck über den Tisch. Kein Polizei!!!, las Kastner, 500.000 Lösegelder sonst Exitus!! Ruf Sie an. Offensichtlich waren dem Schreiber gegen Ende des Textes die Ausrufezeichen ausgegangen.

Wismeth strich sich über den kahlen Schädel. »Ich brauche wohl nicht extra zu erwähnen, dass diese Sache Oberbürgermeister Lamy extrem beunruhigt – ich habe ihm schnelle Ergebnisse und ein äußerst diskretes Vorgehen unsererseits versprochen. Sie verstehen?«

»Aber natürlich«, versicherte Kastner. Seinem Chef zu erklären, dass ein äußerstdiskretes Vorgehen nur selten zur Klärung eines Verbrechens führte, hatte er schon lange aufgegeben. Er tippte mit dem Finger auf die Kopie der Lösegeldforderung. »Ist Frau Kampes Familie denn wohlhabend?«

Wismeth wiegte den Kopf hin und her wie eine Kobra zum Klang der Flöte. »Eher nicht«, erklärte er schließlich. »Aber ihr Lebensgefährte, Thomas Mayerfeldt, ist ein hohes Tier bei der Häusler Gruppe. Das sagt Ihnen was, oder?«

»Häusler – ist das die Putzfirma?«, fragte Kastner. »Blaue Schrift auf weißem Grund, das ›H‹ von Häusler wie ein Häuschen geformt?«

Wismeth lächelte väterlich. »Sie sollten gelegentlich den Wirtschaftsteil Ihrer Frühstückszeitung lesen, Kastner«, riet er. »Häusler hat zwar mal als Nürnberger Familien­unternehmen im Bereich Gebäudereinigung angefangen, ist aber inzwischen eine international tätige GmbH mit über zehntausend Mitarbeitern. Und das Portfolio wurde beträchtlich erweitert: Gebäudemanagement, Catering, Servicedienstleistungen …«

»Eine unternehmerische Erfolgsgeschichte also«, fasste Kastner zusammen, den die Details der Häuslerschen Firmengeschichte im Moment eher nicht interessierten. »Wann wurde die Lösegeldforderung denn übergeben?«

»Tja«, sagte sein Chef und massierte sich den Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger. »Mayerfeldt hat sie heute Morgen in seinem Briefkasten gefunden.«

»Oh.« Kastner rechnete nach. »Da hat es aber jemand nicht besonders eilig.«

Wismeth seufzte. »Künzelmann und seine Technik-Jungs haben eine Fangschaltung eingerichtet, aber bisher hat sich niemand gemeldet. Schweigen im Walde. Um das mit der Diskretion für Sie ein bisschen anschaulicher zu machen, Kastner: Bisher wissen nur wir, Mayerfeldt und Frau Kampes Eltern von dieser Lösegeldforderung; und der OBM natürlich. Das sollte auch so bleiben.«

Kastner nickte zustimmend.

»Ich habe Felix Wernreuther zu Ihrer Unterstützung abgestellt«, fuhr Wismeth fort. »Der recherchiert schon mal Karola Kampes Umfeld und hat bis morgen sicher erste Ergebnisse. Legt sich ganz schön ins Zeug, der Mann, was? Wie ich höre, absolviert er im Sommer die modulare Schulung für den höheren Dienst?«

»So ist es«, sagte Kastner und verkniff sich ein Seufzen – Wernreuther ging ihm manchmal gehörig auf die Nerven. »Claudia Wolfschmidt hat sich übrigens auch dafür angemeldet«, ergänzte er.

»Jaja«, sagte Wismeth und begann, seinen Schreibtisch aufzuräumen.

»Claudia wird eine hervorragende Kommissarin werden«, fuhr Kastner fort. »Sie denkt logisch, ist engagiert, mutig …«

»Sie ist vor allem alleinerziehende Mutter zweier schulpflichtiger Kinder«, fiel sein Chef ihm ins Wort. »Kastner, Sie wissen, dass ich große Stücke auf die Wolfschmidt halte, aber das mit dem höheren Dienst ist eine Schnapsidee. Glauben Sie ernsthaft, sie kriegt hier eine Stelle als Kommissarin? Kinder werden krank, sie wollen abends etwas essen … Es gibt zwölf Wochen Schulferien!«

»… und sie arbeitet sehr teamorientiert«, schloss Kastner unbeirrt. »Könnte sie mich und Wernreuther nicht im Kampe-Fall ein bisschen unterstützen?«

»Im Kampe-Fall?« Wismeth schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht. Der Streifendienstleiter hat die Wolfschmidt auf eine Einbruchserie angesetzt.«

»Hm«, machte Kastner. »Eine Einbruchserie …«

Wismeth stand auf und zog seinen Mantel an.

»Würde der OBM nicht erwarten, dass wir unsere besten Kräfte zusammenziehen, um die entführte Stadträtin zu finden?«, startete Kastner einen letzten Versuch.

Wismeth verzog genervt den Mund und griff nach seiner Aktenmappe. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich das dem Streifendienstleiter erklären soll«, murrte er schließlich, was Kastner als positive Antwort nahm.

 

***

 

»Kein Polizei? 500.000 Lösegelder sonst Exitus?« Mirjam goss sich ein Glas Beaujolais ein und schüttelte den Kopf. »Deutsch ist ja eine schwere Sprache, und das Verbrechen wird zunehmend international, wie man hört, aber da verarscht euch einer, oder? Prost, übrigens.«

»Prost, Hase.« Kastner hob den Bierkrug und stieß mit seiner Lebensgefährtin an. Sie saßen in der Küche ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung in der Nürnberger Südstadt, einem Raum von überschaubarer Größe mit Fenster zum Hinterhof und Blümchentapete. Der hölzerne Küchentisch, den ein Permanent-Make-up aus Messerscharten, Kippenbrandflecken und Rotweinglasrändern zum Zeitzeugen ihres gemeinsamen Lebens machte, wurde an diesem Abend nur notdürftig von einem flackernden Kerzenstummel beleuchtet: Die Glühbirne der Küchenlampe hatte vor drei, vier Tagen den Geist aufgegeben, und bisher hatte niemand sie ausgetauscht. Kastner war der stillschweigenden Ansicht, dies fiele in Mirjams Zuständigkeit, da sie schließlich nur halbtags arbeitete und mehr Zeit in der Küche verbrachte als er. Mirjam schien das jedoch, ebenso stillschweigend, anders zu sehen: Seit es kein elektrisches Licht mehr gab, kochte sie einfach kein Abendessen mehr. Kastner belegte sich also notgedrungen eine Scheibe muffigen Schwarzbrotes mit Schinken und Gurke und sagte: »Dass eine Lösegeldforderung erst elf Tage nach der Entführung eingeht, ist jedenfalls ungewöhnlich.«

»Hm«, machte Mirjam. Sie zündete sich eine Zigarette an und blies nachdenklich den Rauch aus, der im trüben Schein der Kerze bis zur kaputten Deckenlampe aufstieg, wo er vorwurfsvoll verharrte. »Aber zu holen gibt’s da schon was, oder? Beim Chef der Häusler Gruppe?«

»Womöglich«, sagte Kastner. »Obwohl Mayerfeldt nicht der Chef, sondern Mitglied des Vorstandes ist. Die Häusler Gruppe ist eine GmbH.«

»Hm«, machte Mirjam wieder und stippte ein Flöckchen Asche ab. »Arm sind die jedenfalls nicht, was man so hört. Ein stylishes Loft im Pegnitzgrund, dicke Autos … Karola Kampe hat ’ne steile Karriere hingelegt: von der Schulabbrecherin zum erfolgreichen Model, vom Model zu Mayerfeldts Lebensgefährtin und dann vom heimischen Herd auf Anhieb in den Stadtrat. Und als es um den Platz im Stadtplanungsausschuss ging, ist sie elegant an einigen grünen Urgesteinen vorbeigestöckelt, obwohl sie von Stadtplanung ungefähr so viel Ahnung hat wie ein Nougattrüffel von Astrophysik.«

»Was du alles weißt«, wunderte sich Kastner rhetorisch – Mirjam arbeitete in der Stadtverwaltung beim Service öffentlicher Raum, kurz SÖR genannt, und bekam über den Flurfunk einiges aus Verwaltung und Politik mit.

»Dass die Kampe ausgerechnet für die Grünen kandidiert, hat einige gewundert«, fuhr Mirjam fort. »Mit einem solchen Hintergrund macht man ja normalerweise Karriere bei den Konservativen. Aber gut – sie ist jung, sie ist eine Frau, da tut man sich bei den Grünen vermutlich leichter als in der Union, wo sich auf den vorderen Listenplätzen eine Legion älterer Herren mit leichenstarrer Ideologie drängelt.«

 

Karola

Es war stockdunkel, irgendwo tropfte Wasser. Pling, pling, pling. Karola weinte, ohne zu wissen, warum. In ihrem Kopf pochte ein dumpfer Schmerz, Kälte kroch in ihre Knochen. Ihr Körper war taub, kalt wie Stein.

Gedanken schwammen vorbei wie Fische, glitzernd und glatt, nicht zu greifen.

 

Dienstag, 20. Februar: Trautes Heim

»Die Kampe hat am 8. Februar an einer planmäßigen Sitzung des Stadtplanungsausschusses im Alten Rathaus teilgenommen, danach hat sie niemand mehr gesehen«, referierte Felix Wernreuther und schielte dabei in die Akte der Vermisstenstelle. »Thomas Mayerfeldt, ihr Lebensgefährte, war an diesem Tag geschäftlich in Berlin, und, äh – also am frühen Abend hat ihn eine Erzieherin angerufen, weil Kampe den gemeinsamen Sohn nicht vom Kindergarten abgeholt hat. Mayerfeldt hat vergeblich versucht, seine Lebensgefährtin telefonisch zu erreichen, und schließlich ihre Mutter gebeten, den Jungen abzuholen. Am nächsten Tag ist Mayerfeldt nach Nürnberg zurückgefahren; abends um sieben ist er hier vorstellig geworden und hat die Vermisstenanzeige aufgegeben. Die Kollegen haben Kampes Auto im Parkhaus am Hauptmarkt gefunden, wo sie es vermutlich vor der Sitzung abgestellt hat.« Wernreuther tippte auf die Akte. »So steht’s hier, unterschrieben von Polizeimeisterin Hirschel höchstpersönlich.«

»Er ist erst am Freitag zurückgefahren?«, wunderte sich Kastner. »Und hat dann noch bis zum Abend gewartet, ehe er zur Polizei gegangen ist?«

Der junge Streifenbeamte zuckte die Achseln. »Na ja, am Freitagvormittag war die Vorstandssitzung, wegen der er extra nach Berlin gefahren ist. Und man denkt ja nicht gleich das Schlimmste, wenn die Frau mal nicht pünktlich nach Hause kommt.«

»Die Frau ist eine Mutter«, erinnerte Kastner. »Man vergisst doch nicht, sein Kind vom Kindergarten abzuholen, so wie man mal vergisst, die Haustür abzuschließen!«

»So was kommt öfter vor, als du denkst«, behauptete Wernreuther. »Ein Bekannter von mir arbeitet beim Jugendamt, der erzählt mir manchmal Sachen …«

»Haben die Kollegen von der Vermisstenstelle versucht, Frau Kampes Mobiltelefon zu orten?«, unterbrach Kastner, ehe Wernreuther in den Anekdotenmodus schalten konnte.

Wernreuther runzelte die Stirn und blätterte in der Akte. »Ähm, ja. Aber ohne Erfolg. Kein Signal.«

»Das heißt, jemand hat den Akku rausgenommen – oder das Handy zerstört«, überlegte Kastner laut. »Womöglich der Entführer?«

»Aber mit der Lösegeldforderung hat er sich dann Zeit gelassen«, erklärte Wernreuther nach einem weiteren Blick in die Akte. Er fuhr mit dem Zeigefinger eine Zeile entlang und las vor: »Standard-Druckerpapier DIN A4, Tintenstrahldrucker, Text in Arial 14, einmal zusammengefaltet, ohne Kuvert und Poststempel, nicht adressiert, keine Fingerabdrücke … Das ist doch ein Fake. Ich meine, welcher Kidnapper druckt denn eine Lösegeldforderung aus und trägt die dann elf Tage mit sich rum, bis er mal zufällig in die Gegend kommt, um sie persönlich in den Briefkasten zu werfen? Sämtliche Regionalblättchen haben über Kampes Verschwinden berichtet, da wird halt irgendein Trittbrettfahrer die Gelegenheit beim Schopf ergriffen haben.«

»Das wäre möglich«, gab Kastner zu. »Ist Mayerfeldt überprüft worden?«

»Mayerfeldt? Überprüft?«, wiederholte Wernreuther gedehnt und schob die Akte der Vermisstenstelle von links nach rechts. »Er hatte von Donnerstag auf Freitag ein Zimmer in einem Berliner Hotel gebucht, wenn es das ist, was du wissen willst.«

»Hat er eingecheckt? Hat ihn jemand an beiden Tagen gesehen? Wann haben Mayerfeldt und Karola Kampe zuletzt miteinander telefoniert, über was haben sie gesprochen? Ist Mayerfeldt an seiner Lebensgefährtin irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Wernreuther zuckte die Achseln.

»Hm«, machte Kastner. »Felix, Wismeth hatte dich doch gebeten, Karola Kampes Umfeld zu recherchieren. Was ist dabei rausgekommen?«

Wernreuther hob beide Hände bis zum Kinn, kippte die Handflächen nach außen und ließ sie wieder fallen. »Na, ich hab mir von der Hirschel die Vermisstenakte rauskramen lassen«, erklärte er dazu.

»Danke«, sagte Kastner und griff nach der Akte. »Ich les mir das hier mal in Ruhe durch und melde mich dann wieder bei dir.«

Wernreuther nickte jovial und platzierte schwungvoll die Polizeimütze auf seinem Kopf, ehe er aufstand. Er war ein Mann, der sich gut in Uniform machte, wie Mirjam zu sagen pflegte – was, aus ihrem Mund, eher kein Kompliment war, aber in der Sache zutraf: Wernreuther war mittelgroß und durchtrainiert, trug sein hellblondes Haar militärisch kurz und hatte stahlblaue Augen. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Äh«, sagte er, »warum ermitteln wir da jetzt eigentlich? Nur wegen dieser Parodie einer Lösegeldforderung? Vermutlich sitzt die Kampe just in diesem Moment mit ihrem Latin Lover in einer italienischen Bar und trinkt einen Espresso. Versteh mich nicht falsch, Kastner, aber ich habe auch so genug zu tun – ich bin da gerade einer dreisten Einbrecherbande auf den Fersen.«

Kastner nickte. »Freilich, Felix«, sagte er. »Vertrau mir. Ich werde dich nur dann von der Arbeit abhalten, wenn es ohne dich gar nicht geht.«

Wernreuther legte den Kopf schief und dachte eine Weile darüber nach, dann lächelte er zufrieden und tippte sich zum Abschied zackig an die Mütze.

 

***

 

Kastner drehte die Heizung hoch, schaltete sein Telefon auf Mailbox und las Karola Kampes Vermisstenakte von vorne bis hinten durch. Der einzige Lichtblick waren genaue Angaben zu der Kleidung, die die junge Frau am 8. Februar getragen hatte – eine CSU-Stadträtin mit einem Faible für Mode hatte jedes Kleidungsstück sowie die Stiefel und die Aktenmappe detailliert beschrieben. Ansonsten hatten sich die Kollegen von der Vermisstenstelle bei ihren Nachforschungen nicht überschlagen; Karola Kampe war schließlich erwachsen, und Hinweise auf eine Selbstgefährdung oder ein Verbrechen hatten sie nicht gesehen – bis gestern. Kein Polizei!!! 500.000 Lösegelder sonst Exitus!! Ruf Sie an. Kastner drehte den Computerausdruck hin und her. Wernreuther hatte recht: Ein Lösegelderpresser hätte sich früher gemeldet, er hätte Mayerfeldt angerufen und Druck gemacht.

Kastner suchte in der Akte nach Mayerfeldts Geschäftsnummer und griff zum Telefon. Nach einigem Hin und Her wurde er von einer Sekretärin weiterverbunden.

»Mayerfeldt.«

»Kriminalhauptkommissar Kastner vom Dezernat 1, Polizeipräsidium Mittelfranken«, sagte Kastner. »Guten Tag, Herr Mayerfeldt. Ich bearbeite die mutmaßliche Entführung Ihrer Lebensgefährtin – können wir uns treffen?«

Eine Weile herrschte Schweigen, dann raschelten Papiere und Mayerfeldt sprach mit vorgehaltener Hand ein paar Sätze mit jemand anderem. Schließlich sagte er: »Natürlich. Vielleicht in der Mittagspause, irgendwo in der Innenstadt? Oder soll ich ins Präsidium kommen? Ich habe allerdings nur eine halbe Stunde …«

»Danke, aber ich würde Sie lieber zu Hause besuchen«, erwiderte Kastner, der sich gern ein Bild von Karola Kampes Lebensumständen verschaffen wollte.

»Hm«, machte sein Gesprächspartner und raschelte wieder mit Papieren. Dann seufzte er. »Na gut, ich komme ja hier zurzeit eh zu nichts, weil ich meinen Sohn schon um siebzehn Uhr vom Kindergarten abholen muss – Sie haben meine Adresse?«

»Ja, die Adresse steht in der Akte.« Kastner widerstand der Versuchung, ein wenig mit der Vermisstenakte zu rascheln, um an Wichtigkeit mit Mayerfeldt gleichzuziehen. »Also heute Abend, um achtzehn Uhr? Dann haben Sie vorher noch etwas Zeit für Ihren Sohn?«

»Ja. Jaja, das ist okay.« Mayerfeldt legte auf.

Kastner legte ebenfalls auf. Eine Weile trommelte er mit den Fingerkuppen auf den Schreibtisch, dann machte er sich auf den Weg ins Großraumbüro.

 

***

 

»Das steht alles in der Akte«, behauptete Polizeimeisterin Ulrike Hirschel, ohne von der Tastatur aufzusehen, die sie mit flinken Fingern bearbeitete.

»Freilich«, sagte Kastner. »Aber Sie haben doch persönlich mit Thomas Mayerfeldt gesprochen – welchen Eindruck hat er denn auf Sie gemacht?«

Polizeimeisterin Hirschel schrieb einen längeren Satz zu Ende, las ihn noch einmal durch, änderte ein Wort und setzte dann demonstrativ seufzend einen Punkt, ehe sie die Arme vor der Brust verschränkte und Kastner von unten herauf ansah. »Der Mann hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben«, sagte sie und betonte die Silben, als würde sie mit einem Dreijährigen sprechen, »und ich habe sie aufgenommen.«

»Hm. War er besorgt? Aufgeregt?«

Polizeimeisterin Hirschel zuckte die Achseln. »Er hat bezweifelt, dass sich seine Lebensgefährtin einen Spontan­urlaub gönnt. Und er ruft alle drei Tage an und fragt nach Neuigkeiten – ganz der treusorgende Gatte also.«

Na, es geht doch, dachte Kastner. »Der Versuch, Frau Kampes Handy zu orten, war ja leider erfolglos … Haben Sie oder die Kollegen noch weitere Recherchen angestellt?«

»Was genau haben Sie an Das steht alles in der Akte eigentlich nicht verstanden?«, erkundigte sich Frau Hirschel.

»Also hat niemand mit Karola Kampes Freunden und Verwandten gesprochen, mit ihren Kollegen aus dem Stadtrat? Niemand hat sich ihre Handyverbindungen angesehen, ihre Kontodaten und E-Mails überprüft, ihr Navigationsgerät ausgewertet?«

Polizeimeisterin Hirschel kniff die Augen zusammen. »Ich weiß ja nicht, wie das bei Ihnen ist, aber wir unteren Ebenen haben mit erheblichem Personalmangel zu kämpfen und werden dazu angehalten, keine Steuergelder für überflüssige Ermittlungen zu verschwenden.«

»Das würde ich dann als Nein verstehen«, fasste Kastner zusammen und fügte hinzu: »Es haben ja einige Tageszeitungen über Frau Kampes Verschwinden berichtet – hat es vielleicht Hinweise aus der Bevölkerung gegeben?«

»Bei mir sind jedenfalls keine angekommen«, erklärte Ulrike Hirschel schmallippig und widmete sich wieder ihrem Text.

 

***

 

Im Polizeipräsidium gab es auf jedem Stockwerk eine kleine Teeküche. Carsten Wismeth nannte das fensterlose Zimmerchen den Sozialraum oder, neudeutsch, Communication-Center, was etwas hochtrabend klang, im Prinzip aber richtig war – Kastner traf hier häufig Kollegen und noch häufiger Kolleginnen, die Kommunikationsbedarf bezüglich seines Engagements beim Ausräumen der Spülmaschine oder Befüllen der alten Filterkaffeemaschine hatten. Im Moment war jedoch niemand zu sehen, und in einer der schwarzen Thermoskannen schwappte noch ein Schluck Kaffee. Kastner fahndete in dem skurrilen Privattassensammelsurium der Kollegen nach seiner Blümchentasse und schenkte sich ein.

Zurück in seinem Büro zog er die Schuhe aus, legte die Füße auf den Schreibtisch und recherchierte im Internet über Karola Kampe und ihren Lebensgefährten. Wie es das Arrangement Geschäftsmann–Model vermuten ließ, war er älter als sie, allerdings nicht wesentlich – sechs Jahre, das ging in Kastners Augen gerade noch an. Mayerfeldt hatte BWL studiert und anschließend bei Häusler flott Karriere gemacht, seit zwei Jahren saß er auf einem lukrativen Vorstandsposten. Das Foto auf der Häusler-Homepage zeigte ihn im Halbprofil – dunkles, akkurat gescheiteltes Haar, braune Augen, fleischige Nase, kantiges Kinn, das smarte Lächeln eines gut gelaunten Haifischs. Außer diesen beruflichen Informationen hatte Mayerfeldt dem World Wide Web nichts anvertraut. Karola Kampe war wesentlich freigiebiger: Sie hatte eine Homepage und einen Facebook-Account, postete Fotos bei Instagram, twitterte regelmäßig und war in verschiedenen Foren aktiv. Kastner klickte sich zunächst durch eine Serie von gephotoshopten Modelfotos, die sie in Unterwäsche, Sportsachen oder Abendkleidern zeigten und unter anderem in Paris, Mailand und Sankt Petersburg entstanden waren. Strahlender Sunshine auf La Gomera!, schrieb sie zu einem der Fotos, tolles Shooting, super Crew! I ♥ my Job! Auf ihrer Homepage appellierte Karola direkt ans Volk und sparte auch dabei nicht an Ausrufezeichen: Wir alle sind aufgefordert, etwas für eine bessere Welt zu tun! Engagiert euch, werdet ehrenamtlich tätig, bringt euch politisch ein! In einem Lokalpolitikforum spannte Frau Kampe den Bogen von Verstopfte Klos, bröckelnder Putz – Nürnbergs Schulen brauchen mehr Geld! (5 Likes, ein Kommentar: Wahnsinn, dass das nach all den Jahren mal jemandem auffällt) über Drei JahreStillstand beim Quelle-Areal – vielleicht doch abreißen? (0 Likes, 2 Kommentare: Die Quelle ist ein Industriedenkmal, Schätzchen, drum steht sie unter Denkmalschutz! und Freilich, weg mit dem alten Scheiß und mutig nach vorne gedacht! Kaiserburg, Sebalduskirche, Fachwerkhäuser – alles marode und sauteuer im Unterhalt, dabei in bester Lage für zeitgemäße Projekte wie Hotels und Einkaufszentren) bis hin zu Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist … (22 Likes, 25 Kommentare, von: Danke für das schöne, poetische Bild, Karola! bis zu der Antwort darauf: Das ist ein Zitat, du Schwachmat, die angebliche Weissagung der Cree, und mir fällt dazu ein anderes Zitat ein: Getretener Quark wird breit, nicht stark). In einem Modeforum trat Karola Kampe für mehr Mut zu Personality und gegen Magermodels ein, über ein Tierschutzforum kritisierte sie die Welpen-Mafia und Schlachtviehtransporte. Auch hier gab es viele zynische Kommentare (Die armen Rindviecher werden über die Autobahn gekarrt, weil Leute wie du am Sonntag einen Braten essen wollen – schon mal darüber nachgedacht? Also für mich heißt Personality, auf den ganzen Modewahnsinn komplett zu scheißen).

Kastner war sich unsicher, was er davon halten sollte. War Karola nun eine engagierte Frau, die sich prinzipiell für die richtigen Dinge einsetzte und im Haifischbecken Internet nur deshalb mit Sarkasmus konfrontiert wurde, weil sie vielleicht ein bisschen naiv war? Oder war sie eine kühle Strategin, die bewusst politische Worthülsen drosch, weil schlechte Publicity allemal besser war als keine Publicity?

Über ihr Privatleben gab Karola nur schlichte Fakten preis: ein Lebensgefährte, ein Kind, ein Hund. Keine heimeligen Familienfotos, keine Instrumentalisierung des putzigen Haustiers … Das sprach immerhin für sie, fand Kastner. Zum Abschluss seiner Recherche sah er sich noch zwei, drei Unterwäschemodelfotos auf Instagram an, dann fuhr er den PC herunter und griff nach seinem Mantel.

Es war an der Zeit, sich mit dem Haifischbecken Realität auseinanderzusetzen.

 

***

 

Vom Polizeipräsidium am Jakobsplatz aus folgte Kastner dem schmalen Trampelpfad, der durch kniehohen Neuschnee zum U-Bahn-Eingang Weißer Turm führte. Der Winter hatte mit Regen begonnen und sich über grüne Weihnachten zu einem frühlingshaften Januar vorgearbeitet – tapfere Schneeglöckchen hatten ihre Köpfe aus dem Schlamm erhoben, mutige Menschen waren mittags ohne Jacke aus dem Haus gegangen, und morgens und abends hatten in den Grünanlagen zuversichtliche Amseln gezwitschert, die es wegen des Klimawandels nicht mehr für nötig erachteten, in den Süden zu fliegen. Darauf schien der Winter nur gewartet zu haben, um es allen mal wieder richtig zu zeigen: Anfang Februar hatte es zu schneien begonnen. Was die hektische Großstadt tagsüber wegschmolz, rieselte über Nacht wieder herunter, aus grauen, tief hängenden Wolken. Resignation und Lichtmangel-Depressionen griffen um sich, und der städtische Winterdienst schien von der Entwicklung einmal mehr kalt erwischt zu werden: Es gebe Lieferschwierigkeiten beim Streusalz, hieß es, und wegen des überdurchschnittlich hohen Krankenstandes könne es zu Engpässen bei der Straßenräumung kommen.

Genauso kam es dann auch.

Der Winter hat sein Imageproblem nur wegen seines schlechten Timings, dachte Kastner. Er benimmt sich, als gingen ihn Adventszeit und Weihnachtsferien nichts an, als mache er sich nichts aus schlittenfahrenden Kindern und Laternenzügen, aus Weihnachtsmärkten und Glühwein. Er wartet geduldig, bis die Tage länger werden und die Menschen in ihren Autowerkstätten anrufen, um sich Sommerreifen aufziehen zu lassen, und dann schlägt er zu.

Nicht einmal unter der Erde lief der Verkehr reibungslos: Wegen einer technischen Störung musste Kastner zwanzig Minuten auf die nächste U-Bahn warten. Die Rolltreppe spuckte stetig weitere Menschen in dicken Wintermänteln auf den Bahnsteig, die alle schlecht gelaunt, erkältet und in großer Eile zu sein schienen. Als der Zug endlich kam, setzte sich das Heer potenzieller Fahrgäste wie ein Mann in Bewegung. »Bitte nicht einsteigen, der Zug ist voll. Der nächste Zug kommt in wenigen Minuten«, appellierte eine Lautsprecherdurchsage, aber jeder fand, daran könne sich ja sein Nachbar halten. Kastner wurde von den Nachdrängenden in den Zug gequetscht, wo die Leute, die schon ein paar Haltestellen vorher eingestiegen waren, die Neuankömmlinge und ihre tropfenden Regenschirme feindselig anstarrten. Kastner legte die Arme eng an den Körper und bemühte sich, flach zu atmen. Er wollte sich keinen grippalen Infekt einfangen, gerade jetzt, wo er einen neuen Fall hatte.

An der Haltestelle Bauernfeindstraße stieg er aus und spazierte zwischen den in Reihen gebauten, zwei- bis dreistöckigen Bürgerhäusern hindurch bis zur sogenannten Burg, dem historischen Zentrum der ehemaligen Eisenbahnersiedlung am Rangierbahnhof. Gleich um die Ecke, in einer sehr ruhigen Nebenstraße, wohnten Karola Kampes Eltern in einer Erdgeschosswohnung. Kastner drückte auf die Klingel und rief sich in Erinnerung, was Polizeimeisterin Hirschel in ihrer Akte über die beiden vermerkt hatte: Rudolf Kampe, seit einem Jahr im Ruhestand, früher Inhaber eines Elektrogeschäfts mit drei Angestellten; Ulla Kampe, Hausfrau, erteilt Gymnasiasten private Nachhilfe in Mathe und Physik.

 

***

 

»Rudi? Da ist jemand von der Polizei – wegen Karola!«, rief Ulla Kampe über die Schulter nach hinten. Ein blonder Kurzhaarschnitt mit dezenten grauen Strähnen betonte tiefblaue Augen und hohe Wangenknochen. Obwohl sie eine geblümte Kittelschürze und Haushaltshandschuhe trug, denen Seifenschaum anhaftete, wirkte sie alles andere als altbacken.

»Kommen Sie herein«, bat sie. »Ich war nur grad beim Fensterputzen, aber – bitte!«

»Danke«, sagte Kastner, trat sich die Schuhe ab und folgte ihr in den schmalen, langen Flur.

Ulla Kampe zog die Handschuhe aus und führte ihn in ein kleines Wohnzimmer mit sonnengelb getünchten Wänden. Eine Armada pink blühender Orchideen vor dem Fenster ersetzte die Gardinen. »Das ist mein Mann Rudi.«

Herr Kampe hatte offensichtlich ein Vormittagsschläfchen gehalten; er lag, in eine blaukarierte Wolldecke gewickelt, auf einem Liegesessel mit Fußstütze. Er schälte sich aus der Decke und reichte sie seiner Frau, die sie ausschüttelte und ordentlich zusammenlegte. »Kampe«, sagte Kampe und stellte die Rückenlehne des Sessels hoch. Ohne die Wolldecke erwies er sich als untadelig gekleidet – er trug eine graue Anzughose, ein blütenweißes Hemd und sogar eine Krawatte. Er war älter als seine Frau oder hatte sich zumindest weniger gut gehalten: Durch eine quer über den Schädel gekämmte graue Haarsträhne schimmerte fleckige Kopfhaut, seine rotgeäderten Bäckchen stützten sich auf dem gestärkten Hemdkragen ab. »Und Sie sind Herr …?«

»Kastner«, sagte Kastner und schüttelte die Hand, die Kampe ihm hinhielt, ohne ein Aufstehen auch nur anzudeuten. »Ich ermittle im Fall Ihrer Tochter.«

»Ach«, sagte Kampe bissig. »Da wird jetzt mal ermittelt? Bisher hatte ich den Eindruck, die Polizei findet nichts dabei, wenn sich Menschen von heute auf morgen in Luft auflösen!« Er war nicht größer als eins achtundsechzig und von schmächtiger Statur, aber sein Ton ließ auf ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein schließen.

Kastner lächelte entschuldigend und redete die Kollegen von der Vermisstenstelle mit den Standardfloskeln heraus: Erwachsene Frau, zunächst kein Hinweis auf ein Verbrechen …

»Bitte setzen Sie sich, Herr Kastner«, sagte Frau Kampe, als er damit fertig war, und wies auf einen runden Glastisch, um den vier Korbstühle standen. »Wollen Sie etwas trinken? Ich hab vorhin Kaffee aufgesetzt.«

»Für mich bitte mit Milch und Zucker, Ulla«, sagte ihr Mann, »einen Löffel Zucker; und zwar einen Teelöffel, keinen Esslöffel.« An Kastner gewandt fügte er hinzu: »Wir sind seit achtundzwanzig Jahren verheiratet, aber wie ich meinen Kaffee trinke, hat meine Frau noch immer nicht raus. Was soll man davon halten, frage ich Sie? Dummheit kann es eigentlich nicht sein, denn Ulla hat acht Semester Physik studiert, bevor ich sie geheiratet habe. Was also? Lieblosigkeit? Trotz?«

Ein peinliches Schweigen entstand. Ulla Kampe legte die Wolldecke weg, setzte sich auf einen der Korbstühle und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Hm, ich will Ihnen wirklich keine Umstände machen«, sagte Kastner schließlich verlegen und nahm ebenfalls Platz. »Ich habe nur ein paar Fragen – zum familiären Umfeld Ihrer Tochter, zu ihren Gewohnheiten und …«

»Was soll das denn bringen?«, warf Kampe unwirsch ein. »Karola ist entführt worden, dachte ich. Jemand hat spitzgekriegt, dass Thomas ganz gut verdient, und jetzt will er ein Stück vom Kuchen abhaben. Warum machen Sie nicht eine Fangschaltung oder so was?«