Fränkische Vergeltung - Jacqueline Lochmüller - E-Book

Fränkische Vergeltung E-Book

Jacqueline Lochmüller

4,8

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Hanno Reichert, ein unscheinbarer Einzelgänger, kommt auf mysteriöse Weise zu Tode. Bei ihren Ermittlungen stellt Kommissarin Benita Luengo fest, dass Reichert sich etliches hat zu Schulden kommen lassen. Stalking, Erpressung, und nebenbei hat er auch noch eine ganze Familie in den Ruin getrieben. Noch während Benita den Mörder sucht, bekommt sie einen zweiten Fall auf den Tisch. Stadtrat Dennis Meyer, zuständig für die Landesgartenschau, ist verschwunden.

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Seitenzahl: 337

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Jacqueline Lochmüller wurde in Bayreuth geboren, zog als junge Frau für sechzehn Jahre nach Hof und ist mittlerweile mit ihren beiden Töchtern zurückgekehrt. Unter diversen Pseudonymen schreibt sie seit etlichen Jahren Unterhaltungsliteratur.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ©mauritius images/imageBROKER/Val Thoermer Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-988-2 Originalausgabe

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1

Sebastian Kroll sauste mit seinem Rennrad die Eremitagestraße hinunter. Auf Höhe der Hölzleinsmühle reduzierte er die Geschwindigkeit und bog unmittelbar nach der lang gezogenen Kurve in den Radweg zu seiner rechten Seite ein, ohne ein Handzeichen zu geben. Hier bremste er endgültig ab und stieg von dem schmalen Sattel. Obwohl die Sonne mittlerweile tief stand, war es noch ordentlich heiß an diesem Mittwoch Ende Mai. Der Schweiß lief ihm in Strömen über den Rücken und unter dem Helm hervor. Er löste den Kinngurt seines Kopfschutzes und nahm ihn ab. Die dunklen Locken klebten ihm feucht an Stirn und Schläfen, außerdem schmerzte ihn das Gesäß. Er hatte sich für die erste Tour in diesem Frühjahr eindeutig zu viel zugemutet. Sebastian lehnte sein Rad an einen der dickstämmigen Bäume am Ufer des Roten Mains, die sich in Schräglage dem Gewässer zuneigten, und setzte sich auf den Grünstreifen zwischen Radweg und Fluss. Vögel zwitscherten, der Main plätscherte träge durch seinen Lauf, und die Straße entlang der Hölzleinsmühle lag verlassen inmitten der Natur. Tief atmete er die warme, nach Blüten duftende Abendluft ein. Herrlich, diese Ruhe. Er würde den Rest seines Zitronenwassers trinken und dann gemütlich nach Hause fahren. So gemütlich man mit einem Rennrad eben fahren konnte.

Eben wollte er die Kunststoffflasche aus dem Getränkehalter nehmen, der am Rahmen des Gefährts befestigt war, als er nahezu im selben Moment den Motor eines Fahrzeugs hörte und gleichzeitig ein hellgraues Auto die Eremitagestraße hinunterschoss. Der Wagen hielt direkt auf ihn zu. Sebastian saß wie in Zement gegossen, sein Herz jagte und krampfte sich zusammen, und gleichzeitig spürte er einen imaginären Schlag in den Magen. Er vernahm ein ohrenbetäubendes Krachen und Splittern, kleinere Teile flogen um ihn herum, das Geräusch verebbte, und dann hing das Auto gleich einer zerknüllten Metallkugel an einem der Bäume, nur wenige Meter von Sebastian entfernt.

Er hielt den Atem an und versuchte, die unwirkliche Szene zu erfassen. Hatte er tatsächlich überlebt? Er hörte ein Keuchen. Doch ja, die Katastrophe war knapp an ihm vorbeigedonnert. Er selbst war es, der schnaufte. Er wollte aufspringen, um zu sehen, ob er für den oder die Verunglückten etwas tun konnte, doch seine Gliedmaßen reagierten nicht auf seine Befehle. Mit brennenden Augen und pumpendem Herzen starrte er auf das Bild des Schreckens. Es mochten nur Sekunden gewesen sein, in denen sich der Unfall abgespielt hatte.

Ganz langsam flaute die Todesangst ab, die er gespürt hatte, als das Auto auf ihn zugerast war. Er war sicher gewesen, dass sein Leben vorbei war. Jetzt erst merkte er, dass seine Fingerspitzen eiskalt geworden waren. Trotz der Wärme des Abends überlief ihn ein Schauer. Wie rasch alles vorüber sein konnte. Er versuchte zu schlucken, doch sein Mund und seine Kehle waren staubtrocken.

Steh auf und tu was!, hämmerte es in seinem Gehirn. Er stemmte die Hände ins Gras, ein Ästchen piekte in seinen Handballen, und er richtete sich auf. Tatsächlich, er konnte sich wieder bewegen. Mit staksigen Schritten ging er zu dem Blechknäuel, das einmal ein Auto gewesen war. Die Furcht vor dem, was er im Inneren zu sehen bekommen würde, hielt er von sich fern, so gut er konnte.

2

Polizeihauptmeister Konrad Wittgen schob seine Dienstmütze hin und her und kratzte sich am Kopf. Er stand seitlich der Eremitagestraße neben dem rot-weißen Absperrband, das die Kollegen gezogen hatten, damit niemand Unbefugtes den Radweg und die Unfallstelle betrat. Ihm war heiß in seiner Uniform, und er war sauer auf die Kollegin Ulla Bartels, die sich für heute krankgemeldet hatte, sodass er ihren Dienst übernehmen musste.

Nicht, dass er etwas Besonderes vorgehabt hätte. Aber zu einem Unfall mit Todesfolge gerufen zu werden, war immer eine scheußliche Angelegenheit. Vor einer halben Stunde war der Notruf in der Zentrale eingegangen. Ein völlig aufgelöster junger Mann, ein gewisser Sebastian Kroll, hatte angerufen. Ein Wagen wäre frontal gegen einen Baum gefahren, gegenüber der Hölzleinsmühle. Eingeklemmt hinter dem Steuer des zerbeulten Fahrzeuges saß ein Mann, von dem der Zeuge nicht hatte sagen können, ob er noch lebte. Der kurz vor der Polizei eingetroffene Rettungsdienst hatte jedoch mittlerweile den Tod des Fahrers festgestellt.

Wittgen kramte nach seinem Notizbuch. Es half nichts, er musste sich um die Befragung von Kroll kümmern und sich auch den Toten näher ansehen. Er persönlich tippte ja auf einen Schlaganfall, auch wenn der Mann noch verhältnismäßig jung schien. Die auffällige rotviolette Verfärbung seines aufgedunsenen Gesichts erinnerte ihn an seinen Großvater, der unter massivem Bluthochdruck gelitten hatte. Wittgen straffte die Schultern. Am besten sprach er zuerst mit dem Zeugen. Dieser stand, wachsbleich, in einigem Abstand zum Geschehen und sah aus, als würde er jeden Moment umkippen.

»Konrad? Haste mal einen Moment?«, hörte er seinen Kollegen Ulrich Gebauer rufen.

Er nickte, stellte die Befragung von Kroll hintenan und näherte sich der Unfallstelle. Der Tote lag mittlerweile in einem noch offenen Zinksarg. Wittgen bahnte sich seinen Weg durch die Männer der Spurensicherung, wich dem Kollegen aus, der die notwendigen Fotos machte, und wäre beinahe auf den zersplitterten Außenspiegel des Unfallfahrzeugs getreten, obgleich daneben bereits ein kleines gelbes Nummernschildchen platziert war.

Gebauer wartete bei dem zerbeulten Auto, das sich beim näheren Betrachten als ein Golf vermutlich älteren Baujahrs herausstellte. Er zeigte ins Fahrzeuginnere. Wittgen reckte den Hals. Durch einen Spalt konnte er auf den Boden des Beifahrersitzes sehen. Dort lag ein Flachmann.

»Kann sein, er hat während der Fahrt getrunken«, erläuterte Gebauer lapidar.

»Kann sein«, brummte Wittgen und kratzte sich am Hinterkopf. »Das Ding scheint keinen Airbag zu haben«, fuhr er fort.

Gebauer schüttelte den Kopf. »Wie kommst du denn dadrauf? Nur weil das Auto schon älter war? Die werden doch schon seit dreißig Jahren oder so eingebaut. Der hat bestimmt auch einen. Manchmal gehen sie halt nicht auf. Kommt auf den Aufprallwinkel an. Der Wagen ist schräg gegen den Baum geknallt. Wenn da noch ein Beifahrer drin gesessen hätte, der wäre jetzt total…«

»Schon gut!«, fuhr Wittgen den Kollegen an. Heftiger Widerwillen stieg in ihm auf, und beinahe zwanghaft sah er vor sich, was Gebauer eben hatte schildern wollen. Dieser schürzte beleidigt die Lippen.

Wittgen wandte sich ab und stieg durch das knöchelhohe Gras zu dem Zinksarg, neben dem der Mediziner des Rettungsdienstes kniete, der eben seinen Bereitschaftskoffer schloss.

»Falls Sie irgendwelche Fragen an mich haben, ich kann Ihnen nicht viel sagen«, erklärte der Arzt, noch ehe Wittgen sich zu Wort gemeldet hatte. »Nur so viel: So ramponiert, wie das Auto aussieht, der Unfall selbst wäre wohl nicht tödlich gewesen. Er hat weder Kopfverletzungen noch Knochenbrüche und auch keine inneren Verletzungen, die ich hier vor Ort erkennen kann. Dafür hat er etliche Schrammen, und sicherlich ist der Brustkorb geprellt, aber die Rippen scheinen heil zu sein.«

»Hm«, machte Wittgen. »Woran ist er dann gestorben? Herzinfarkt? Schlaganfall?«

Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Das muss die Rechtsmedizin feststellen.«

»Woher hat er die komische Gesichtsfarbe?«, fragte Wittgen.

»Die ist in der Tat eigenartig. Aber die Verfärbungen sind nicht nur im Gesicht. Hier, sehen Sie.« Der Arzt zog das Hemd des Mannes, dessen oberste Knöpfe offen standen, auseinander. Auch im Brustbereich schimmerte die Haut violett.

Wittgen nickte.

3

Kommissarin Benita Luengo stand im Flur ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung, hielt ihre Katze Momo im Arm und streichelte das schwarz glänzende seidige Fell des Tierchens. Momo rieb den Kopf an ihrer Schulter und schnurrte vernehmlich.

»Ich muss gehen, meine Kleine«, sagte sie leise zu dem Kätzchen. »Aber heute ist Freitag, und ich habe das ganze Wochenende frei. Kein Bereitschaftsdienst. Was hältst du davon?« Die Katze schnurrte weiter.

»Dann bist du nicht so viel allein. Das gefällt dir, ich weiß.« Sie drückte das Tier noch einmal an sich und ließ es behutsam auf den Flurteppich gleiten. Momo setzte sich und begann, eine ihrer Vorderpfoten zu lecken.

»Bis später«, verabschiedete sich Benita.

Sie nahm ihre kleine blaue Handtasche vom Garderobenhaken und lauschte hinter der Wohnungstür ins Treppenhaus. Keinesfalls wollte sie wieder Müggemann über den Weg laufen. Von außen war nichts zu hören, was jedoch nichts heißen musste. Oft genug hatte der gegenüber wohnende Nachbar schon hinter seiner eigenen Tür gelauert, bis sie ihre Wohnung verließ, um dann, ganz zufällig natürlich, seine vier Wände zu verlassen. Woraufhin er ihr ein Gespräch aufdrängte oder versuchte, ihr eine Verabredung abzunötigen, womit er jedoch regelmäßig scheiterte. Zwei Atemzüge später zog Benita die Tür hinter sich zu und huschte mit leichten Schritten die Steintreppe hinunter. Müggemann ließ sich nicht blicken. Sicher war er schon auf dem Weg zum Richard-Wagner-Gymnasium, wo er seine Schüler mit Deutsch und Geschichte plagte.

Benita verließ das acht Parteien zählende Mehrfamilienhaus durch die Eingangstür, statt wie üblich auch noch die letzte Treppe bis in die Tiefgarage zu nehmen, wo ihr Mercedes parkte. Ein bisschen Zeit hatte sie noch, ehe sie, möglichst um acht Uhr, im Präsidium sein musste. Sie wandte sich nach links, Richtung Innenstadt, ging an der Klinik am Hofgarten vorbei, die mit einem Schriftzug an der gläsernen Eingangstür damit warb, Kinderwunschzentrum zu sein, und lief weiter in die Fußgängerzone. Das Asia-Bistro, in dem sie gelegentlich aß, hatte um die frühe Stunde– es war gerade halb acht Uhr– noch geschlossen. Ihr Ziel war die Bäckerei Fuchs. Sie hoffte, dort zwei Schokoladencroissants zu bekommen und zwei Laugenstangen.

Sie hatte die Bäckerei bis auf wenige Schritte erreicht, als sie in geschätzten fünfzig Meter Entfernung auf Höhe des Coffee-Stores eine Gestalt schlurfen sah, die in ihre Richtung unterwegs war. Benita fuhr das Entsetzen wie ein Stich in die Magengrube. Das konnte nur ein Irrtum sein. Unwillkürlich ging sie langsamer und kniff die Augen zusammen. Die Morgensonne blendete sie, und doch war sie von Sekunde zu Sekunde sicherer.

Der Alte schlurfte die Fußgängerzone entlang und kam direkt auf sie zu. Sein linker Arm hing schlaff und wie ein Fremdkörper an seiner Schulter. Kalter Schweiß brach ihr aus allen Poren, und ihr Herz fing an zu rasen. Was zum Teufel machte er hier? Ihr erster Gedanke war, auf dem Absatz umzudrehen und davonzurennen. Sie spürte eine Berührung am Ellbogen.

»Alles okay?«, fragte eine weibliche Stimme. Benita zuckte zusammen. Erst jetzt merkte sie, dass sie die ganze Zeit den Atem angehalten hatte.

»Ja. Danke«, stieß sie hervor. Die Frau, die sie angesprochen hatte, mochte etwa ihr Alter haben und hielt ein kleines Kind an der Hand.

»Sicher? Sie sind kreidebleich«, insistierte die Frau.

»Ganz sicher. Alles gut.«

Nur kein Aufsehen erregen. Der Alte war jetzt schon auf Höhe der Takko-Filiale. Sein Blick war zu Boden gerichtet. Benita stürzte förmlich in die Bäckerei, ohne sich weiter um die Passantin zu kümmern. Drei Leute standen vor der Theke. Sie stellte sich ganz links an, um von außen möglichst nicht gesehen zu werden. Ihr Herz schlug noch immer viel zu schnell.

»Bitte schön! Was kriegen Sie denn?«, schnarrte eine junge Verkäuferin mit blau gefärbten Haaren und einem auffälligen Tattoo in Form einer Rosenranke am Hals. Sie konnte weder denken noch antworten, stattdessen schielte sie zwanghaft zu der großen Glasscheibe, die den Verkaufsraum von der Fußgängerzone trennte. Er musste jeden Moment hier vorbeikommen. Im selben Augenblick surrte ein Handy. Benita brauchte einige Sekunden, bis sie begriffen hatte, dass es das ihre war. Eilig tastete sie über die Taschen ihrer Jeans. Da war es nicht. Hartnäckig surrte der Apparat weiter. Sie fand ihn in ihrer Handtasche, ignorierte den missbilligenden Blick der Verkäuferin und erkannte Julius’ Büronummer auf dem Display.

»Dann eben nicht«, hörte sie die beleidigte Stimme der Bäckereiangestellten. »Der Nächste, bitte.«

»Julius, guten Morgen. Was gibt’s?« Wenigstens zitterte ihre Stimme nicht. Sie fixierte den Eingang des Ladens. Was, wenn er auch hier reinwollte? Es gab keinen Fluchtweg.

»Morgen, Chefin. Wann sind Sie denn da?«

»Circa zwanzig oder dreißig Minuten, je nach Verkehr. Warum? Ist was passiert?«

»Vermutlich. Am Mittwochabend gab es auf Höhe der Hölzleinsmühle einen Verkehrsunfall mit Todesfolge. Es sieht so aus, als läge Fremdverschulden vor. Aber das erzähl ich Ihnen, wenn Sie da sind. Kommen Sie zufällig bei einem Bäcker vorbei? Ich hab noch nicht gefrühstückt.«

Sie hätte gern gelächelt, aber der Gedanke an den Alten ließ das nicht zu.

»Zufällig bin ich gerade beim Bäcker. Wie wäre es mit einem Schokoladencroissant?« Während sie sprach, merkte sie, wie sie ruhiger wurde. Er hätte längst hier sein müssen. Bestimmt war er am Laden vorbeigeschlurft, als sie ihr Handy gesucht hatte.

»Das wäre super. Oder besser zwei. Ich koch uns Kaffee, okay?«

»Prima.« Nun musste sie doch lächeln. »Bis gleich, Julius.«

Sie drückte die Aus-Taste und sah ihren schlaksigen Mitarbeiter vor sich, wie er seinen Bürostuhl zurückstieß und seine langen, hageren Beine unter dem Schreibtisch vorzog, um sich um den versprochenen Kaffee zu kümmern.

»Also? Wissen Sie jetzt, was Sie wollen?«, erkundigte sich die Verkäuferin mit den blauen Haaren und stützte die Hände auf die Arbeitsfläche der Theke.

»Drei Schokoladencroissants, bitte«, entschied Benita.

4

Der Duft frisch gebrühten Kaffees empfing sie, als sie eine halbe Stunde später den Büroraum im zweiten Stock des Polizeipräsidiums in der Ludwig-Thoma-Straße betrat, den sie sich mit Julius teilte. Sie hörte ihren Mitarbeiter in der winzigen, an das Büro anschließenden Küche hantieren.

»Morgen, Julius«, grüßte sie, ohne ihn zu sehen.

»Morgen, Chefin.« Mit freundlichem Grinsen schob Julius Schwarz den Kopf durch die offen stehende Tür. »Der Kaffee ist so gut wie fertig. Gab es Croissants?«

»Klar.« Mit einem Lächeln legte sie die Papiertüte mit dem Gebäck auf seinen Schreibtisch. Julius zog die Augenbrauen hoch.

»Alles für mich? Und Sie?«

Benita feixte. »Von wegen. Ein Croissant ist für mich.«

»Ach, tatsächlich? Ich dachte, Sie mögen nix Süßes? Oder ist eines mit Schinken und Käse dabei?«

»Nein.« Zu dumm. Auf die Idee hätte sie auch selbst kommen können. Croissants gab es ja auch salzig. Julius verzog sich schulterzuckend zurück in die Küche. Kaum eine Minute später saßen sie sich an ihren Schreibtischen gegenüber, ihr Frühstück vor sich.

»Also, jetzt erzählen Sie«, bat Benita und nippte an ihrem heißen Kaffee.

»Hm«, machte Julius mit vollen Backen. Wie üblich krümelte er seinen Arbeitsplatz mit dem blättrigen Gebäck voll. Er kämpfte sichtlich mit dem wohl zu großen Bissen und nahm einen Schluck Kaffee hinterher.

»Wie gesagt, am Mittwochabend gab es einen Unfall auf Höhe der Hölzleinsmühle. Sie wissen, wo das ist?«

Benita nickte.

»Zwischen Ortsteil Laineck und der Eremitage.«

»Genau«, bestätigte Julius. »Ein Autofahrer ist in hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum geprallt. Gründe sind bisher nicht bekannt. Der Mann war allein im Fahrzeug, der Airbag ist nicht aufgegangen, wohl wegen des Aufprallwinkels. Dazu brauchen wir aber noch die Ergebnisse der KTU. Ein Radfahrer, der eben eine kleine Pause eingelegt hatte, hat das Ganze beobachtet und die Polizei gerufen. Und jetzt kommt es: Laut Rechtsmedizin war der Unfall gar nicht tödlich. Der Wagen sieht zwar schlimm aus, aber normalerweise hätte der Mann Glück im Unglück gehabt. Ein paar Kratzer und Prellungen, eventuell eine Gehirnerschütterung, und das war es. Hätte jemand auf dem Beifahrersitz gesessen, dem wäre es viel schlechter ergangen. Auffällig sind aber die Hautverfärbungen des Toten.«

Julius biss in sein Croissant.

»Welche Hautverfärbungen?«

»Sein Gesicht war rotblaulila oder so ähnlich verfärbt. Deswegen dachte Wittgen, der vor Ort war, auch erst an einen Schlaganfall. Ich hab ihn heute Morgen im Flur getroffen, da hat er mir das erzählt. Köhler schließt einen Schlaganfall aber definitiv aus.«

»Aha«, machte Benita. »Und woher kommt die Verfärbung?«

»Das wollte ich Ihnen gerade erzählen. Jedenfalls hat der Mann vor seinem Tod ein Pilzgericht gegessen, das in Verbindung mit Alkohol starke Vergiftungserscheinungen hervorruft. In seinem Wagen lag übrigens ein offener, ausgelaufener Flachmann mit Cognac«, nuschelte Julius mit vollem Mund.

»Das heißt, er ist an einer Pilzvergiftung gestorben, die ihn mit voller Wucht im Auto erwischt hat? Und was hat das mit uns zu tun?«

Julius winkte ab.

»Nein, ist er nicht. Ich hab vorhin mit Köhler gesprochen. Er sagt, der Tote, er heißt übrigens Hanno Reichert, hat Faltentintlinge gegessen, die in Verbindung mit Alkohol zu starken Vergiftungserscheinungen führen. Man bekommt Herzrasen, Seh- und Sprechstörungen, Schwindelgefühle et cetera. Auch ein Kreislaufkollaps ist möglich. Das heißt, rein theoretisch hätte der Unfall allein deswegen passieren können. Aber wie gesagt, der war ja nicht tödlich.«

Er stopfte den Rest seines ersten Croissants in den Mund.

»Nun machen Sie es doch nicht so spannend, Julius. Ich will endlich wissen, weshalb wir uns mit dem Fall befassen sollen«, drängte Benita, die allmählich ungeduldig wurde. Der Kaffee schmeckte ihr heute Morgen nicht, und an das Schokocroissant zog es sie auch nicht, seit Julius von Schinken und Käse gesprochen hatte.

»Köhler hat eine Einstichstelle im Oberschenkel des Toten gefunden. Ganz winzig. Sie ist ihm aber trotzdem gleich aufgefallen, weil sie gerötet war. Er dachte nur zuerst an einen Mückenstich. Darinnen hat er… Moment«, Julius hob seinen Teller und zog einen Zettel hervor, »Spuren von Zinkoxid und Glycerol gefunden, außerdem Protamin.«

»Was heißt das?«

»Er sagt, das weist auf eine Insulin-Injektion hin. Nach ersten Ergebnissen war Reichert aber kein Diabetiker. Die Rötung spricht für eine Unverträglichkeit vom Wirkstoff.«

»Moment. Mir schwirrt der Kopf. Ich krieg das nicht ganz zusammen.« Benita beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch. »Irgendjemand hat diesem Reichert also Insulin verpasst, das er nicht vertragen hat. Soweit ich weiß, stirbt ein Nichtdiabetiker so oder so an Insulin, oder?«

»Stimmt. Sagt Köhler auch. Bis heute Mittag will er uns seine gesamten Ergebnisse vorlegen.«

»Das heißt, die Pilzvergiftung hat sich zufällig mit dem Insulin getroffen.«

»Davon ist auszugehen. Sie spielt zumindest für seinen Tod keine Rolle, nach dem, was wir bisher wissen. Moment, ich google das gleich.«

Julius tippte auf seinem Computer herum. Benita probierte nun doch ihr Gebäck. Es schmeckte nicht übel. Weich und süß und schokoladig.

»Hier. Der Faltentintling ist grundsätzlich essbar. Alkoholverzicht für etwa vier Tage vorher und nachher ist aber zwingend erforderlich, weil sonst heftige Vergiftungserscheinungen auftreten. Herzrasen, Brechreiz, unstillbarer Durst und so weiter. Und eine starke Verfärbung der Haut tritt auf, besonders im Gesicht. Rotviolett steht hier.«

Er lehnte sich im Stuhl zurück, die Augen noch immer auf den Bildschirm gerichtet.

»Paradox ist, je mehr Abstand zwischen Alkoholgenuss und Pilzgericht liegt, umso stärker wirkt das Gift.«

»Okay. Er ist also vermutlich an dem Insulin gestorben«, überlegte Benita.

»Vermutlich.«

»Wissen wir sonst noch etwas über den Mann?«

»Bisher nicht. Er hatte den üblichen Kram bei sich. Ein Handy, das noch ausgewertet werden muss, Geldbeutel, Ausweis, Führerschein. Nix Aufregendes. Laut dem Radfahrer, einem gewissen Sebastian Kroll, war auch niemand außer Reichert auf der Eremitagestraße unterwegs, weswegen er hätte ausweichen müssen oder so. Das nur nebenbei.«

»Gut.« Benita legte die Fingerspitzen aneinander. »Warten wir auf die endgültigen Ergebnisse von Köhler. Sind die Angehörigen von Reichert schon verständigt worden?«

»Laut Wittgen waren bislang keine ausfindig zu machen. Der Tote hatte eine Wohnung in der Cosima-Wagner-Straße gegenüber vom Hofgarten. Dort ist er allein gemeldet. Ob er verheiratet ist oder sonst in einer Beziehung war, wissen wir noch nicht.«

»Und was war er von Beruf?«

Julius zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung.«

Benita seufzte.

»Also wissen wir fast nichts. Ich schlage vor, wir fangen mit seiner Wohnung an. Vielleicht finden wir irgendwelche Hinweise auf Verwandte oder seinen Arbeitsplatz.«

Noch während sie sprach, klingelte das Telefon. Benita erkannte die Durchwahl von Köhler.

»Guten Morgen, Herr Köhler, hier Luengo«, meldete sie sich freundlich.

»Guten Morgen, Frau Kollegin. Der Fall Reichert ist Ihnen schon bekannt?«, erkundigte sich der Rechtsmediziner.

»Ja. Herr Schwarz hat mich eben informiert.«

»Gut. Ich habe etwas für euch, was ich gleich loswerden möchte. Nur damit ihr wisst, dass der Fall wirklich ein Fall ist. Ich gehe inzwischen definitiv von Mord aus.«

Köhler machte eine kunstvolle Pause. Benita wartete ab. Sie kannte ihn mittlerweile gut genug. Er würde auf jeden Fall gleich weitersprechen, um seine Erkenntnisse mitzuteilen.

»Sie wissen auch schon von der Einstichstelle im Oberschenkel?«, fragte er.

»Ja«, erwiderte Benita knapp.

»Reichert muss an einer Insulin-Injektion gestorben sein. Er war kein Diabetiker. Die Bauchspeicheldrüse ist völlig in Ordnung. Was mir aufgefallen ist: Ich habe im Einstich winzige Kunststofffasern gefunden. Das heißt, er hat die Injektion durch ein Kleidungsstück bekommen.« Wieder brach er ab.

»Aha«, machte Benita. Sie überlegte, ob dies ein Hinweis auf einen Mord sein konnte. Eventuell hatte der Mann Suizid begangen?

»Ja. Manche Diabetiker spritzen sich das Insulin durchaus durch die Kleidung, wenn sie es eilig haben. Reichert trug aber eine Jeans. Ich habe auch Baumwollfasern im Einstich gefunden. Es ist aber äußerst unwahrscheinlich, dass er über die Einstichstelle noch irgendwas aus Kunststoff gelegt haben sollte, um dann durch sämtliche Stoffschichten… na, Sie wissen schon. Abgesehen davon, dass er ja gar kein Insulin gebraucht hat.« Köhler klang, als sei er sehr zufrieden mit seinen Ergebnissen.

»Könnte er Suizid begangen haben?«, warf Benita ein.

»Nein, das glaub ich nicht. Das Zeug wirkt sehr rasch. Dann hätte er sich die Spritze im Auto geben müssen. Soweit ich weiß, war aber kein Insulinpen im Fahrzeug. Ach ja, noch was. Ich habe Spuren von Protamin gefunden. Das ist eine Verzögerungssubstanz, damit das Medikament länger wirkt als Normalinsulin. Wird unter anderem dann verwendet, wenn der Patient zusätzlich Antibiotika braucht. Aber auch darauf, dass er so was eingenommen hat, gibt es keine Hinweise.«

»Meine Güte. Wie soll ich mir das alles merken?«, murrte Benita.

»Sie kriegen ja alles noch schriftlich. Bis heute Nachmittag werde ich den Bericht fertig haben«, versicherte Köhler.

»Wir kommen zu Ihnen runter. Ich will mir den Toten ansehen, damit ich eine Vorstellung habe«, entschied Benita.

»Lieber nicht jetzt, Frau Luengo. Ich bin mitten in der Obduktion, Sie wissen doch, das ist kein schöner Anblick.«

»Gut. Dann später, wenn Sie ihn wiederhergestellt haben.«

»Okay. Ich sag Ihnen Bescheid.«

Benita bedankte sich und beendete das Gespräch.

»Und?«, erkundigte sich Julius und fegte die Krümel seines Frühstücks vom Schreibtisch direkt in den Papierkorb.

Benita fasste die Ergebnisse des Rechtsmediziners zusammen.

»Was halten Sie davon, wenn wir gleich in Reicherts Wohnung fahren und uns umsehen? Falls er doch irgendwelche Verwandte hat, wird es Zeit, dass die Bescheid wissen«, schlug er vor.

»Einverstanden. Gibt es einen Schlüssel, an den wir rankommen?«

»Ich hoffe es. Wir müssen uns den Schlüsselbund von der KTU besorgen, der im Fahrzeug steckte. Bestimmt ist da einer dran.«

5

Julius parkte seinen Peugeot unmittelbar neben dem dunkelbraun gestrichenen, zweistöckigen Gebäude in der Cosima-Wagner-Straße unter einer hochgewachsenen Linde.

»Sieht recht ruhig aus«, bemerkte er und zog den Zündschlüssel ab.

Benita zuckte mit den Schultern.

»Sind ja auch nur zwei Parteien, höchstens drei, wenn noch jemand im Dachgeschoss wohnt. Reichert ist tot, und die anderen sind wahrscheinlich auf der Arbeit. Also, bringen wir es hinter uns.«

Zur Haustür führten vier Steinstufen hinauf, links der Tür befanden sich drei verblichene Klingelschilder mit den Namen »Betz«, »Reichert« und »Ludmann«.

»Nach der Reihenfolge der Schilder wohnt er im ersten Stock«, plapperte Julius und probierte die Schlüssel, die ihnen von der KTU überlassen worden waren. Benita gab keine Antwort.

»Passt«, stellte er beim dritten zufrieden fest.

»Erfreulich«, sagte Benita und betrat hinter ihm einen düsteren, muffigen Hausflur. Eine schmale, steile Treppe führte nach oben. Tatsächlich stand der Name Reichert an der einzigen Tür im ersten Stock.

»Warten Sie«, sagte Benita zu Julius und drückte auf die Glocke neben dem Rahmen. Julius zog die Augenbrauen hoch.

»Ich glaub nicht, dass da jemand drin ist«, tat er kund.

»Ich auch nicht.« Benita lauschte. Alles blieb ruhig. »Aber sicher ist sicher. Nicht, dass wir jemand zu Tode erschrecken.«

Julius grinste.

»Okay. Machen Sie auf. Die Wohnung ist wohl wirklich leer.«

Sie betraten einen engen dunklen Flur, dessen Boden mit abgetretener grüner Auslegeware bedeckt war. Links stand ein schmaler Schuhschrank, daneben war eine Garderobenleiste auf Kopfhöhe angebracht. Etliche Jacken hingen übereinander, mehrere Paar Schuhe lagen unordentlich darunter. Drei Türen gingen vom Flur ab. Die erste rechts stand offen. Dahinter befand sich ein kleines Bad, ganz in Weiß und Rosa gehalten und überraschend hell.

Benita ging voraus und öffnete die anderen Türen. Hinter einer war eine kleine Küche, billig eingerichtet mit einer Küchenzeile, die wohl aus dem Selbstbausatz eines Möbeldiscounters stammte. Hinter der letzten Tür befand sich ein Wohnzimmer von etwa fünfzehn Quadratmetern, und von diesem ging es in ein beengtes Schlafzimmer, in dem nur ein Einzelbett und ein Kleiderschrank Platz hatten.

»Auf großem Fuß hat er nicht gelebt«, stellte Julius fest. »Und gelüftet hat er wohl auch kaum. Hier drin erstickt man doch.«

»Allerdings«, erwiderte Benita und trat an eines der Wohnzimmerfenster. Es lag zur Cosima-Wagner-Straße, und man konnte direkt auf den Hofgarten sehen.

»Wonach genau suchen wir?«, fragte Julius. Benita wandte sich um.

»Hinweise auf Verwandtschaft und Arbeitsplatz.«

Sie ließ den Blick durch das Wohnzimmer streifen. Auf einem staubigen Regal standen zwei Modellbau-Autos und einige Sachbücher zum Thema Bonsai-Pflege. Grünpflanzen gab es jedoch keine im Raum. Auf einem durchgesessenen grünen Sofa lagen drei aufgerissene Briefumschläge. Benita nahm sie und warf einen Blick darauf. Auf allen dreien stand eine Chiffrenummer. Sie zog den ersten Brief aus dem Kuvert. Ein kleines Foto fiel mit heraus, das das Gesicht einer jungen Frau zeigte, die ernst in die Kamera sah.

»Sieh an«, murmelte Benita, während sie das Schreiben überflog. »Reichert hat Kontaktanzeigen aufgegeben.«

»Warum auch nicht?«, sagte Julius, kam näher und sah ihr über die Schulter.

»Das Schreiben ist aber schon vom Januar«, bemerkte er und nahm Benita das Foto aus der Hand.

»Die sieht doch ganz nett aus«, ergänzte er und musterte das Bild.

Benita schmunzelte.

»Hier.« Sie deutete auf das Schreiben. »Sie hat eine Handynummer angegeben. Wenn der Fall abgeschlossen ist, könnten Sie ja…«

»Schon gut, schon gut.« Julius winkte ab. Ein Hauch Röte stieg in seine meist blassen Wangen.

»Ich dachte nur. Oder haben Sie die Suche nach der Frau fürs Leben vorübergehend eingestellt? Oder hab ich was verpasst, und Sie sind fündig geworden?« Benita nahm ihm das Foto wieder ab und steckte es zurück in den Umschlag.

»Unsinn.« Sichtlich verlegen trat Julius von einem Fuß auf den anderen. »Wir sollten die Briefe mitnehmen«, schlug er vor.

»Sicher. Sie sehen sich in der Küche um und ich mich im Schlafzimmer«, wechselte Benita das Thema.

In diesem Augenblick schellte es an der Wohnungstür. Sie tauschten einen Blick.

»Ich gehe«, entschied Benita. Julius nickte.

Ehe sie öffnete, sah sie durch den Spion. Ein dünner junger Mann stand draußen. Er trug eine Kappe mit nach hinten gedrehtem Schirm und einen Kinnbart, der in einen kurzen geflochtenen Zopf auslief. Benita machte die Tür auf.

»Guten Morgen«, grüßte sie und überlegte im selben Augenblick, ob es für diesen Gruß nicht schon zu spät war.

»Guten Morgen.« Sichtlich verblüfft musterte sie der Mann. »Ist Herr Reichert da?«

»Nein. Und wer sind Sie?« Der Angesprochene runzelte die Stirn.

»Das könnte ich Sie genauso fragen.«

Benita griff in die hintere Tasche ihrer Jeans und zog ihren Ausweis hervor.

»Kriminalpolizei. Mein Name ist Luengo. Also noch mal: Wer sind Sie?«

»Puh«, machte der Mann. »Kripo? Ist was passiert?«

In Benita stieg urplötzlich Wut hoch.

»Zeigen Sie mir Ihre Papiere!«, fuhr sie ihn an. Im Hintergrund hörte sie Julius’ Schritte, den es offensichtlich nicht länger im Wohnzimmer gehalten hatte.

»Schon gut. Ludmann, Lucas. Künstlername Lulu. Ich wohne oben im Dachgeschoss. Eigentlich wollte ich mir von Reichert nur ein paar Teebeutel ausleihen. Ich hab vorhin die Haustür gehört und dachte, vielleicht hat er einen Tag Urlaub oder so. Normalerweise ist er ja um die Zeit auf der Arbeit.«

»Und was machen Sie so, beruflich?«, erkundigte sich Benita. Ihr Ärger ließ nach.

Ludmann sprach höflich und hatte ein freundliches Gesicht, auch wenn seine Kleidung mit der ausgebeulten braunen Stoffhose und dem Hemd im Patchwork-Look, das ihm bis über die Oberschenkel hing, gewöhnungsbedürftig war. Seine nackten Füße steckten in Sandalen.

»Ich bin Musiker. Cello und Bratsche. Ich bin heute Nacht erst von einer Tour zurückgekommen. Was ist denn jetzt passiert? Ist was mit Reichert?«

Benita zögerte einige Sekunden. Im Grunde war es kein Geheimnis.

»Reichert ist tot. Er hatte einen Unfall«, ließ sie Ludmann wissen.

»Ach du Scheiße.« Der Mann trat sichtlich bestürzt einen Schritt zurück.

»Hier? In der Wohnung?«

»Nein. Es war ein Autounfall«, sagte Benita.

»Das ist ja schrecklich. Das tut mir ehrlich leid. Aber was hat die Kripo damit zu tun?«

»Wissen Sie, ob Reichert Angehörige hat? Oder wo er arbeitet?«, erkundigte sich Benita, ohne auf Ludmanns Fragen einzugehen.

»Von Angehörigen weiß ich nix. Wir hatten eigentlich keinen Kontakt. Ab und zu trifft man sich halt im Treppenhaus oder so. Gearbeitet hat er in irgendeinem Büro, keine Ahnung, wo genau.«

»Wer wohnt außer Ihnen noch im Haus?«

»Niemand. Die Wohnung im Erdgeschoss steht schon seit etwa einem Jahr leer. Vorher hat ein Rentner dort gewohnt, aber der ist inzwischen verstorben. Soweit ich weiß, muss erst renoviert werden, ehe weitervermietet werden kann.«

Ludmann schob mit der Spitze seiner Sandale einen Kieselstein über den Steinboden. Benita hatte spontan den Wunsch, das Gespräch zu beenden.

»Gut. Wie können wir Sie am besten erreichen, wenn wir noch Fragen haben?«, fragte sie. Ludmann zeigte mit dem Finger nach oben.

»Wie gesagt, ich wohne im Dachgeschoss. Aber ich bin viel unterwegs, wegen der Musik. Ich kann Ihnen meine Handynummer geben. Ich glaube nur nicht, dass ich Ihnen helfen kann.«

»Wir werden sehen. Julius?« Benita sah über die Schulter. »Sind Sie so gut und nehmen die Daten von Herrn Ludmann auf?«

»Klar«, antwortete ihr Mitarbeiter.

»Was ist denn nun mit den Teebeuteln?«, kam der Nachbar auf den Grund seines Besuches zurück. »Ich meine, der Reichert braucht die doch eh nicht mehr. Er hat da so eine besonders gute Sorte…«

»Nein«, unterbrach Benita ihn entschieden. »Sie werden schon selbst einkaufen gehen müssen.«

Ludmann stopfte die Hände in die Hosentaschen.

»Schon recht. Hätte ja sein können«, murrte er.

Benita überließ den Mann Julius und ging in die Küche. Auf dem Tisch lagen eine Packung Schnittbrot, Frischkäse mit Zwiebeln, eine ganze Gelbwurst, ein Viererpack Nussjoghurt und eine Aluschale mit Deckel, die noch zugeschweißt war. Auf der Schale lag ein Kassenzettel von Real, auf dem ebendiese Lebensmittel aufgelistet waren, einschließlich des Tagesmenüs, Spinat mit Beilagen. Datiert war der Zettel auf Mittwoch, den 17.Mai um siebzehn Uhr fünf.

»So, den sind wir los«, ließ sich Julius vernehmen, der gerade in die Küche kam.

»Schön«, sagte sie und öffnete vorsichtig den Deckel der Aluschale. Darinnen befand sich eine Portion Spinat mit Rührei und Kartoffeln.

»Schauen Sie, Julius. Es sieht ganz so aus, als wollte der Tote das hier zu Abend essen. Irgendwas muss ihm dazwischengekommen sein.«

»Wieso? Er hätte das Zeug doch auch für später oder den nächsten Tag besorgt haben können«, hielt Julius dagegen. Er setzte sich an den Küchentisch und stützte die Ellbogen darauf.

»Spinat mit Ei? Niemals. Spinat darf man gar nicht aufwärmen. Der entwickelt Giftstoffe, und das Ei wird staubtrocken. Schon gleich ohne Mikrowelle, und da seh ich hier keine. Reichert hat wohl sehr rückständig gelebt.«

»Spinat darf man wohl aufwärmen, Chefin. Da sind jetzt Sie rückständig. Die Ansicht ist völlig überholt und stammt noch aus der Zeit, als es keine Kühlschränke gab. Bei Zimmertemperatur oder mehr hat das Essen halt rasch Bakterien angesetzt.«

Benita wurde unangenehm warm, und für einen Augenblick kam sie sich Jahrzehnte älter vor als ihr Mitarbeiter. Dabei trennten sie lediglich zehn Jahre. Sie würde jedenfalls keinen Spinat aufwärmen, rückständig hin oder her. Abgesehen davon, dass sie dieses Grünzeug ohnehin nicht mochte.

»Wie auch immer. Die Wohnung hat er anscheinend ex und hopp verlassen und seine Einkäufe vergessen. Oder er hat geglaubt, es dauert nicht lange. Wurst und Joghurt gehören auf jeden Fall auch in den Kühlschrank.«

»Stimmt«, pflichtete Julius ihr bei.

»Und im Gestern hat er trotzdem gelebt. Allein wenn ich an die Kontaktbriefe denke. So was macht man doch heutzutage über Internet, oder?«, fuhr Benita fort.

Julius zuckte mit den Schultern und lehnte sich im Stuhl zurück, die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Hose gehängt.

»Was fragen Sie mich das? Ich schau mich lieber im wirklichen Leben um.«

»So kommen wir nicht weiter.« Benita setzte sich auf den zweiten Küchenstuhl. »Es muss einen Grund gegeben haben, warum er so plötzlich weg ist.«

»Vielleicht hat er einen Anruf bekommen?«, überlegte Julius.

»Vielleicht. Ich seh mir das Telefon an. Kann sein, es ist was im Rufnummernspeicher«, sagte Benita.

»Okay.« Julius richtete sich auf. »Und ich schlage vor, wir schauen in jede Schublade und jede Ecke, ob wir irgendwas finden. Fotos, ein Adressbuch, Kontoauszüge, die vielleicht Rückschlüsse auf seinen Arbeitgeber zulassen, und so weiter.«

»Einverstanden.«

Eine gute Stunde später verließen sie die Wohnung. Benita verschloss die Tür mit einem Siegel. Sie war verschwitzt, fühlte sich staubig und klebrig, hatte Hunger und war schlechter Laune. Die Durchsuchung hatte kaum etwas gebracht. Die wenigen Rufnummern, die sie im Speicher des Telefons gefunden hatte, hatte sie notiert, um sie in Ruhe zu überprüfen. Die Antworten auf die Kontaktanzeige hielt Julius in der Hand sowie ein nicht eingelöstes Rezept für ein Schilddrüsenpräparat, das auf dem Schuhschrank im Flur gelegen hatte. Der schwache Arztstempel, der sich unter einer unleserlichen Unterschrift befand, ließ sich mühsam als Dr.Hartmut Gröger entziffern. Adresse und Telefonnummer konnte man nicht lesen.

»Was machen wir als Nächstes?«, fragte Julius.

»Ich hab Hunger, und ich will nach Hause unter die Dusche«, antwortete Benita missmutig.

»Die Dusche wird wohl noch warten müssen. Aber wir könnten was zu essen holen fürs Büro«, schlug Julius vor.

»Ja, gut. Ich will was vom Asia-Bistro, nur da ist um die Mittagszeit immer so viel los.«

»Dann nehmen wir den Metzger daneben. Mir reichen zwei Salamibrötchen«, entschied Julius. »Und für abends nehm ich auch gleich was mit. Vielleicht eine Bockwurst. Die mach ich in der Mikrowelle warm und kipp Ketchup drüber, und schon hab ich eine Currywurst.«

»Klingt überzeugend«, erwiderte Benita und überlegte, Julius’ Rezept gelegentlich auch zu Hause auszuprobieren. Dafür fehlte es lediglich an der Mikrowelle, für die sie bisher keine Notwendigkeit gesehen hatte.

Eine halbe Stunde später betraten sie das Präsidium in der Ludwig-Thoma-Straße. Benita hatte sich eine Scheibe warmen Backschinken einpacken lassen und dazu Nudelsalat.

»Aufzug oder Treppe?«, fragte Julius. Benita folgte seinem Blick. Der Aufzug befand sich gerade ganz oben in der fünften Etage.

»Treppe«, antwortete sie. »Die zwei Etagen schaffen wir.«

Auf Höhe des ersten Stockwerks kam ihnen Zacharias Albrecht entgegen, ihr Vorgesetzter. Das cremefarbene Hemd spannte über seinem Bauch.

»Frau Luengo, Herr Schwarz, ich grüße Sie.« Kurzatmig blieb er auf dem Absatz der Treppe zwischen den Stockwerken stehen. »Wie ich höre, gibt es einen neuen Fall. Kann man schon etwas sagen? Ha, das riecht aber lecker.« Albrecht schnupperte hörbar. »Was gibt es denn?«

»Backschinken und Salamibrötchen«, erwiderte Benita.

»Das nenn ich mal eine Zusammenstellung! Haha! Sie wissen, was schmeckt, nicht wahr, Frau Luengo? Aber Spaß beiseite. Es geht um diesen Reichert. Ich habe eben mit Köhler gesprochen. Es war ja wohl eindeutig Mord. Haben Sie schon was unternommen?«

»Natürlich.« Ihr Backschinken würde kalt werden, und wahrscheinlich lief der Bratensaft durch die Alufolie in die Tüte, und dann klebte alles, und wenn sie nicht achtgab, gab es Fettflecke. So knapp wie möglich fasste sie den Besuch in Reicherts Wohnung zusammen.

»Wir wissen noch fast nichts über den Mann«, schloss sie ihren Bericht.

Albrecht nickte und strich sich über seine Glatze, die von einem dünnen Haarkranz umrahmt wurde.

»Wir könnten vorgehen wie üblich in solchen Fällen und ein Foto des Toten in den Nordbayerischen Kurier setzen. Andererseits… nein, wir warten damit noch ab. Wenn er zum Beispiel eine Freundin gehabt haben sollte, stellen Sie sich vor, wie schockiert die Ärmste sein müsste, wenn sie die Zeitung aufschlägt. Ich meine, es kann ja vorkommen, dass man ein paar Tage nichts voneinander hört, nicht wahr?«

»Ich dachte, wir befragen als Erstes diesen Dr.Gröger«, umging Benita Albrechts letzten Satz.

»Ja, machen Sie das. Irgendwas kann er Ihnen vielleicht über den Mann sagen. Jetzt muss ich aber los.« Über das Gesicht des Vorgesetzten huschte ein Grinsen, was seine geröteten Backen noch dicker erscheinen ließ. »Ich muss zum Juwelier.« Vertraulich beugte er sich vor. »Meine Frau und ich feiern nämlich Hochzeitstag. Den zwanzigsten!« Er rieb sich die Hände. »Wer hätte das gedacht, nicht wahr? Haha!«

Benita musste lächeln.

»Dann suchen Sie was Schönes aus, Herr Albrecht. Nicht, dass es der letzte Hochzeitstag war.« Hastig brach sie ab. Wie peinlich, den Vorgesetzten so flapsig anzureden.

Albrecht lachte laut und klopfte ihr auf den Oberarm.

»Sie haben erstens recht und zweitens Humor, Frau Luengo. Das wusste ich bisher noch gar nicht. Sie halten mich auf dem Laufenden, ja? Bis später.«

Julius stieß einen Seufzer aus, kaum dass der Vorgesetzte außer Sichtweite war.

»Den zwanzigsten Hochzeitstag. Das schaffen heute nicht mehr viele.«

»Ich will jetzt mein Mittagessen«, erwiderte Benita.

Sie hatten den zweiten Stock erreicht. Zur rechten Seite erstreckte sich der Flur, auf dem ihr gemeinsames Büro lag. Im selben Moment öffnete sich die Tür des Aufzugs, und heraus trat Teresa Wibeck, die als Opferschutzbeauftragte der Dienststelle arbeitete.

»Hallo, Frau Luengo, grüß dich, Julius«, sagte sie freundlich und strich ihre langen blonden Locken zurück.

In Benitas Bauch zog sich etwas zusammen. Sie mochte die Frau nicht. Sie nickte ihr knapp zu.

»Und? Alles klar bei euch?«, fragte Teresa.

Julius zuckte mit den Schultern.

»Das wissen wir noch nicht. Wir haben einen neuen Fall. Über den Toten ist so gut wie nichts herauszufinden. Aber wir sind ja auch noch nicht lange dran.«

»Worum geht es denn?« Durch ihre weiße Bluse erkannte Benita einen spitzenbesetzten weißen BH, und der hellrote Lippenstift der Kollegin war offensichtlich frisch aufgetragen.

»Ich geh schon mal vor«, ließ sie Julius wissen, wandte sich ab und ging zügig zu ihrem Büro.

Benita holte aus der Küche zwei Teller, legte auf einen die Salamibrötchen für Julius und auf den anderen ihren Backschinken. Tatsächlich war der Bratensaft ausgelaufen.

Sie hatte die Hälfte ihrer Portion bereits gegessen, als ihr Mitarbeiter erschien, mit einem sehr zufriedenen Ausdruck im Gesicht.

»Na Julius, gründlich mit der Kollegin geflirtet?«, fragte Benita und schob etwas vom Nudelsalat auf ihre Gabel.

»Ja.« Julius grinste und setzte sich. »Aber nicht nur das. Ich hab auch was herausgefunden, was uns hoffentlich weiterhilft.«

»Kann ja gar nicht sein.«

»Nun seien Sie doch nicht so negativ. Was haben Sie denn gegen Teresa?« Er wickelte eines seiner Brötchen aus und nahm einen großen Bissen.

»Keine Ahnung. Ich mag sie einfach nicht mit ihrem Weibchen-Getue. Den Stöckelschuhen, den engen Röcken und immerzu den Hintern schwenken. So was kann ich nicht leiden.«

»Ich finde, sie sieht klasse aus. Schade, dass sie verheiratet ist. Aber jetzt zum Wichtigen.«

Benita verdrehte die Augen.

»Gleich sag ich gar nix mehr«, schmollte Julius.

»Legen Sie schon los.«

»Unser Toter hatte vor etwa einem halben Jahr eine Anzeige wegen Stalking. Das Verfahren ist zwar eingestellt worden, aber es gibt eine Akte über ihn! Na, was sagen Sie jetzt?« Triumphierend sah Julius sie an.

»Eine Akte? Das soll heißen, wir haben Angaben zu seiner Person, seinem Arbeitsplatz und so weiter?«

Ausgerechnet die Wibeck half ihnen auf die Sprünge.

»Richtig. Teresa sucht die Akte raus und bringt sie uns. Super, was?«

Benita verschluckte sich und hustete.

»Ich weiß nicht, ob mir das passt, dass Sie der brühwarm von unserem neuen Fall erzählt haben.«

Julius zog die Stirn in Falten und musterte sie finster.

»Frauen. Nie kann man es ihnen recht machen. Ich hab ihr eigentlich gar nix erzählt. Nur Reicherts Name ist mir rausgerutscht, und auf den ist sie gleich angesprungen. Das war es.«

6

Benita blätterte durch die Akte, die Teresa Wibeck wenige Minuten zuvor hereingereicht hatte. Gleich auf der ersten Seite prangte ein Foto des Toten. Er hatte ein rundes Gesicht mit unauffälligen Zügen und dünne dunkle Haare, die im korrekten Seitenscheitel gekämmt waren.

»Hanno Reichert, geboren am 6.6.