Tod im Fichtelgebirge - Jacqueline Lochmüller - E-Book

Tod im Fichtelgebirge E-Book

Jacqueline Lochmüller

5,0

Beschreibung

Erschütternd, dramatisch und mit einem Ende, das sprachlos macht. An einem herrlichen Sommertag verschwinden zwei kleine Mädchen spurlos. Trotz fieberhafter Suche finden Kommissarin Kristina Herbich und ihr Kollege Breuer keinen Hinweis auf die Kinder. Zur selben Zeit werden in Bayreuth immer wieder junge Männer als vermisst gemeldet. Während die Polizei auf Hochtouren arbeitet, taucht im Wald von Bad Berneck eine verwirrte junge Frau auf, halb nackt und in Panik. Wie hängen all diese Fälle zusammen? Herbich und Breuer läuft gnadenlos die Zeit davon ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 391

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.
Sortieren nach:
marcelnebe

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Spannender Krimi mit einer super Thematik. Super Autorin, die mich auf jeden Fall für weitere Bücher von Ihr überzeugen konnte.
00

Beliebtheit



Ähnliche


Jacqueline Lochmüller wurde 1965 in Bayreuth geboren, wo sie auch aufwuchs. Nach sechzehn Jahren in Hof kehrte sie in ihre Heimatstadt zurück. Sie schreibt Kriminalromane unter ihrem eigenen Namen, Thriller unter Pseudonym sowie True-Storys für Zeitschriftenverlage.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Lust auf mehr? Laden Sie sich die »LChoice«-App runter, scannen Sie den QR-Code und bestellen Sie weitere Bücher direkt in Ihrer Buchhandlung.

© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Lie Avison/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-541-1

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

1

Robert Sander stieg aus der Dusche, griff nach dem flauschigen weißen Handtuch mit der goldfarbenen Stickerei »Arcona Living München«, das neben dem Waschbecken lag, und trocknete sich ab. In einer halben Stunde wollte er sich mit seinen Kollegen im Separee des Hotels zum gemeinsamen Abendessen treffen.

Er rubbelte mit dem mittlerweile feuchten Duschtuch über seine dunklen Haare und warf das Handtuch auf die Ablage über dem schmalen Heizkörper, von der es wieder herunterrutschte und als zerknüllter feuchter Haufen vor seinen Füßen landete. Er bückte sich, faltete es rasch und ungleichmäßig zusammen und legte es zurück auf das Gittergestell.

Ehe er das kleine Badezimmer verließ, prüfte er seinen Bartwuchs im Spiegel und strich mit der Hand übers Kinn. Er überlegte, ob er noch einmal mit dem Rasierer übers Gesicht fahren sollte, und entschied sich dagegen. Es reichte, wenn er sich morgen wieder rasierte.

Robert betrat das Zimmer, das er für die Dauer seiner Fortbildung in Sachen Medikationsberatung von Schwangeren für Apotheker im Arcona Living gebucht hatte. Es lag im zweiten Stock des Hauses. Durch die großen blank polierten Fenster konnte er den strahlenden Sonnenschein an diesem Julitag sehen. Draußen war es heute unerträglich heiß, und auch jetzt am frühen Abend hatte die Hitze die Stadt fest im Griff, doch die Klimaanlage hielt die Temperatur im Raum konstant auf angenehmen zwanzig Grad.

Er überlegte, ob er Mareike anrufen sollte, um zu hören, wie es ihr und den Kindern ging und ob in Bayreuth auch solch backofenartige Temperaturen herrschten. Er beschloss, den Anruf auf später zu verschieben. Es war jetzt halb sechs, und vermutlich aß sie eben mit den Kindern zu Abend.

Über dem Herrendiener neben dem Bett hingen ein weißes Hemd und ein dunkles Sakko. Beides hatte er heute tagsüber getragen. Er nahm eine helle Bundfaltenhose und ein blaues Poloshirt aus seinem Koffer, der aufgeklappt auf dem Kofferträger neben dem Schreibtisch stand. Jetzt, für den Abend, mochte er es lässig.

Robert zog sich an, richtete den Kragen des Poloshirts und griff nach seinem Kamm. Vor dem hohen Spiegel, der zwischen Kofferträger und Schreibtisch hing, überprüfte er seine Frisur. Danach trat er in den winzigen Flur des Hotelzimmers. Dort standen drei Paar Schuhe, ordentlich an der Wand aufgereiht. Ein Paar schwarze glänzende Lackschuhe, die er häufig zu seinen Anzügen trug und in denen er sich schon manche Blase gelaufen hatte. Ein Paar Sneakers, die herrlich bequem waren. Die mochte er am liebsten, aber sie waren für seinen Geschmack für offizielle Anlässe zu sportlich, und ein Paar braune Mokassins. Die schienen ihm für das Abendessen und sein Outfit geeignet.

Er ging zurück ins Zimmer und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Aus den Augenwinkeln sah er, dass das Display seines Handys, das auf dem Schreibtisch lag, aufleuchtete, und gleich darauf meldete es mit einem brummenden Ton den Eingang eines Anrufes.

Mareikes Antlitz lächelte ihm durch die kleine Scheibe des Telefons entgegen. Robert drückte auf »Gesprächsannahme«.

»Hallo, mein Schatz. Ich hab eben an dich gedacht und überlegt, ob ich dich anrufen soll. Aber dann …« Er brach ab.

Durch den Apparat drang ein eigentümliches Geräusch. Ein Würgen, eine Art Schluchzen, ein lang gezogener Ton, in dem uferlose Qual lag. Von einer Sekunde zur nächsten wurde Robert kalt.

»Mareike?«

»Robert …« Sie keuchte, ihre Stimme schien zu flattern, sie klang hysterisch.

Er bekam Angst. Schreckliche Angst, die er unbedingt von sich fernhalten wollte.

»Mareike, was ist los?« Er musste Ruhe bewahren. Dennoch war ihm jetzt schon klar, dass etwas wirklich Schlimmes passiert war. Mareike war keine Frau, die zu Panik und Übertreibung neigte.

»Robert, die Kinder …«

»Was ist mit den Kindern?« Sein Mund wurde trocken, und sein Magen zog sich zusammen.

»Sie sind … es sind Toni und Natalie. Sie sind …« Jedes Wort wurde von wildem Schluchzen unterbrochen. Plötzlich hätte er sie packen und schütteln mögen. In seine Angst mischte sich Wut.

»Mareike, reiß dich zusammen!«, fuhr er sie an. »Was ist passiert?« Er sprach jetzt laut und eindringlich.

»Sie sind … verschwunden.« Wieder drang ein Keuchen durch die Leitung, abgelöst von wildem Schluchzen.

»Wie, sie sind verschwunden?« Ein winziger Funken Erleichterung mischte sich in seine Furcht. Er hatte die Kinder schon unter einem Lkw liegen sehen. Oder in dem verdammten Pool im Keller ihres Hauses ertrunken. Die Tür zu der kleinen Schwimmhalle war eigentlich immer abgeschlossen. Eigentlich. Wenn Antonia auf einen Stuhl kletterte, reichte ihre Körpergröße inzwischen, um an den Schlüssel zu kommen, der neben der bewussten Tür auf einem Wandbord lag. Es wurde höchste Zeit, ihn woanders zu deponieren. Vielleicht waren die Kinder ausgebüxt. Vielleicht hatte Antonia ihre kleine Schwester an der Hand genommen, und sie hatten St. Johannis erkundet, das Wohngebiet, in dem ihr Haus stand. Das Grundstück war gut gesichert, um Passanten keine Einsicht zu gewähren, mit einem Mäuerchen um den großzügigen Garten und einem hölzernen Eingangstor. Aber es war keine Festung. Es brauchte nur ein Besucher das Tor nicht wieder richtig geschlossen zu haben, schon konnten die zwei nach draußen. Der gegenüberliegende Friedhof hatte auf Natalie schon immer eine magische Anziehungskraft ausgeübt. Vielleicht waren sie dort und spielten zwischen den Gräbern. Es wäre nicht das erste Mal, und es war ja noch nicht dunkel.

»Sie sind … weg. Weg, verstehst du?« Sie sprach jetzt deutlicher, dennoch vernahm er nach wie vor ihr stoßweises Schluchzen.

»Mareike, nun beruhige dich.«

»Verstehst du denn nicht?« Unvermittelt schrie sie ihn an. »Sie sind weg!«

»Was ist mit Fabian?« Er musste die Nerven behalten.

»Der ist bei Lu…kas.«

Robert setzte sich auf die Bettkante.

»Mareike. Hör mir zu. Ich will, dass du mir jetzt genau sagst, was vorgefallen ist. Ganz genau, ja?«

»Ja«, flüsterte sie.

Trotz der etwa zweihundertfünfzig Kilometer Entfernung, die zwischen ihnen lagen, meinte er zu spüren, wie sehr sie sich konzentrierte, ihm zu erzählen, was geschehen war. In den nächsten Minuten erfuhr Robert von der Katastrophe, die in sein Leben eingebrochen war und die sein Dasein zerstörte. Nichts würde je wieder so sein, wie es gewesen war.

2

Kriminalhauptkommissarin Kristina Herbich, sechsundvierzig, Single und keine Kinder, fühlte sich der sieben Personen zählenden Familie, die sich vor ihrem Schreibtisch im Polizeipräsidium versammelt hatte, hilflos ausgeliefert. Die Mutter, deren Alter sie schwer einschätzen konnte, hatte ein Kleinkind von vielleicht einem Jahr, das trotzte, zappelte und quengelte, auf dem Schoß sitzen, weitere fünf Kinder scharten sich um sie, alle dicht aneinandergedrückt. Das älteste Kind, einen Jungen, schätzte Kristina auf circa vierzehn Jahre. Der Dolmetscher, ein etwa dreißigjähriger Afghane mit dem Namen Arman Pazwak, der seit etlichen Jahren in Deutschland lebte, übersetzte, was die Mutter der Kinderschar aufgebracht mitteilte.

»Die Familie lebt seit einem halben Jahr in der Gemeinschaftsunterkunft in der Wilhelm-Busch-Straße. Der älteste Sohn ist seit drei Tagen verschwunden. Die Mutter hat ihn das letzte Mal am Freitagabend gegen neunzehn Uhr gesehen. Sie weiß nicht, ob er etwas vorhatte oder sich mit jemandem treffen wollte. Aber er ist bisher nie über Nacht weggeblieben, spätestens gegen Mitternacht war er immer wieder da.«

»Wie alt ist der Sohn?«, erkundigte sich Kristina und wartete ab, bis Pazwak die Frage weitergegeben hatte.

»Neunzehn Jahre«, teilte der Dolmetscher der Kommissarin mit. Kristina griff nach einem Kugelschreiber und notierte sich das Alter auf einem losen Blatt. Der junge Mann war volljährig. Damit waren ihr im Grunde die Hände gebunden, solange er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen. Sie fragte nach dem Namen des Vermissten.

»Tarik Ghubar«, informierte Pazwak sie.

Kristina tippte in ihren Computer. Wenn die Familie asylsuchend gemeldet war, mussten alle Familienmitglieder über vierzehn Jahre ordnungsgemäß registriert sein, was wiederum hieß, dass von dem abgängigen jungen Mann unter anderem ein Lichtbild vorhanden sein sollte. Kristina fand nichts.

»Sie haben bisher keinen Asylantrag gestellt?«, wandte sie sich direkt an die Mutter, die ihr buntes Kopftuch tief in die Stirn gezogen trug. Ihr Körper war vom Kragen bis zu den Schuhsohlen in einen weiten braunen Mantel gehüllt, der ihre Gestalt komplett verbarg. Frau Ghubar schüttelte heftig den Kopf, zeigte mit den Händen auf ihre Ohren und ihren Mund und zuckte mit den Schultern. Wieder schaltete sich Pazwak ein.

»Sie hat für sich einen Asylantrag gestellt«, teilte er Kristina mit. »Die Kinder sind nicht zentral gespeichert, weil sie noch unter vierzehn Jahren sind. Tarik ist erst seit einem Vierteljahr in Deutschland. Sie dachte, er hätte sich längst um den Antrag gekümmert.«

Kristina nickte.

»Gibt es ein Bild von ihm? Und was hat er für Kleidung getragen?«, fragte sie weiter. Sie sah so gut wie keine Chance, den jungen Mann aufzuspüren. Knapp neunhundert Flüchtlinge waren derzeit in Bayreuth registriert, dazu kamen all jene, die nicht erfasst waren. Vielleicht hatte Tarik Freundschaften mit anderen Asylanten geschlossen und hielt sich bei diesen auf.

»Es gibt kein Bild«, teilte Pazwak mit. »Er trug eine Jeans und ein dunkles T-Shirt. Er besitzt ein Handy, aber es ist ausgeschaltet, oder der Akku ist leer.«

»Was ist mit dem Vater?«, fragte sie weiter.

»Er soll noch in Afghanistan sein«, übersetzte Pazwak.

Das Kleinkind auf Frau Ghubars Schoß hatte mittlerweile den Daumen in den Mund gesteckt, nuckelte daran, und das Köpfchen sank an die Brust der Mutter.

»Beschreiben Sie Ihren Sohn bitte. Wie groß ist er? Ist er schlank oder eher kräftig?« Kristina versuchte, der Frau in die Augen zu sehen, doch diese mied ihren Blick. Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Dolmetscher wandte sich dieser wieder an sie.

»Er sieht seinem Bruder Hamed sehr ähnlich.« Er deutete auf den ältesten Jungen. Hamed war etwa einen Meter sechzig groß und sehr schlank, beinahe knochig, und seine glatten dunklen Haare waren kurz geschnitten. Kristina unterdrückte ein Seufzen. In ihren Augen sahen unzählige der zugereisten jungen Männer so aus wie Hamed.

Aus der Gruppe der Kinder, die sich bisher eng bei der Mutter gehalten hatte, löste sich ein kleines Mädchen. Seidige schwarze Haare fielen dem Kind bis auf die Schultern. Scheu näherte sie sich Kristinas Schreibtisch, auf der eine Schneekugel stand. Im Inneren befanden sich die Figuren zweier Eisbären, die Mutter und Kind darstellten und sich aneinanderschmiegten. Die Kleine blieb davor stehen und betrachtete konzentriert die Dekoration. Kristina griff nach der Kugel, die sie als Briefbeschwerer nutzte, und schüttelte sie leicht, sodass die künstlichen Schneeflocken durch den gewölbten Behälter schwebten, und ein Lächeln zog die Mundwinkel des Kindes auseinander. Sie streckte die Hand nach der Kugel aus und tippte mit einem Finger dagegen.

»Du darfst sie auch mal schütteln«, bot Kristina an und dachte, noch während sie sprach, dass das Kind sie wohl genauso wenig verstand wie der Rest der Familie.

Das zierliche kleine Mädchen mit der dunklen Haut und dem schlichten roten Kleid rührte sie. Pazwak, der wohl den gleichen Gedanken hatte, übersetzte und schmunzelte dabei. Die Kleine sah von dem Dolmetscher zu ihrer Mutter und dann zu Kristina, als wollte sie sich vergewissern, ob jeder einverstanden war. Pazwak grinste, Kristina nickte, nur die Mutter schenkte dem Kind keine Beachtung. Vorsichtig griff das Mädchen nach der Schneekugel, musterte die Figuren im Inneren und stellte die Dekoration zurück. Schnell wandte sie sich ab und eilte die wenigen Schritte zurück zu ihren Geschwistern. Kristina lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

»Frau Ghubar«, sprach sie die Mutter des Kindes auf gut Glück an. »Könnte es sein, dass sich Ihr Sohn bei Freunden aufhält? Gab es Streit innerhalb der Familie, oder wäre es möglich, dass er zurück nach Afghanistan wollte? Zu seinem Vater zum Beispiel?«

Frau Ghubar schüttelte unentwegt den Kopf, noch während Kristina sprach. Sie fragte sich, ob die Frau doch einiges von der deutschen Sprache verstand. Wieder schaltete sich Pazwak ein, um die Fragen weiterzugeben.

»Sie hält das für völlig ausgeschlossen. Es gab keinen Streit, und Tarik ist sehr familienverbunden. Er hat versucht, die Rolle des Vaters zu übernehmen, um seine Mutter und die jüngeren Geschwister zu schützen. Niemals wäre er einfach verschwunden.«

Kristina nickte wieder. Letzten Endes konnte sie gar nichts tun, lediglich die Vermisstenmeldung aufnehmen. Es gab kein Bild, nur eine vage Personenbeschreibung und, zumindest soweit sie wusste, keine Straftat, die es zu ahnden galt. Vielleicht hatte der junge Mann Heimweh gehabt, was vielleicht in seiner Kultur als Schwäche galt, und er hatte sich eine Weile zurückgezogen. Oder Frau Ghubar ignorierte die Tatsachen, und es hatte doch Streit oder Freundschaften gegeben, von denen sie nichts wissen wollte. Eventuell hatte Tarik auch ein Mädchen kennengelernt und war bei diesem untergeschlüpft. Mochte es gar eine Deutsche sein, wo die familiären Vorstellungen ganz andere waren, und nun erhoffte sie sich polizeiliche Maßnahmen, um den ungehorsamen Sohn zurückzuholen.

»Frau Ghubar, ich kann Ihnen leider nichts versprechen. Ihr Sohn ist vor dem Gesetz volljährig und zudem, laut Ihrer Aussage, bereits drei Monate im Land. Er darf sich aufhalten, wo er möchte.«

Empört sprang die Frau auf, wobei sie ihr jüngstes Kind fest an sich presste. Das Kleine öffnete die Augen und fing augenblicklich an zu brüllen. Aufgeregt gestikulierte die Mutter, in ihrer Miene deutliche Zeichen von Entrüstung, und gab einen heftigen Wortschwall von sich, wobei sie Kristina zum ersten Mal direkt ansah. Aha. Sie verstand durchaus Bruchstücke der Sprache. Kristina versuchte, Ruhe zu bewahren, obwohl sie sich angegriffen fühlte, ohne die Worte der Frau übersetzen zu können. Die aufgebrachte Tirade, die ihr entgegenschlug, nahm kein Ende.

Mit einer Handbewegung versuchte Kristina, die Frau schließlich zum Schweigen zu bewegen, jedoch ohne Erfolg. Entschlossen stand sie auf.

»Genug jetzt!«, fuhr sie Frau Ghubar an. Überraschenderweise wirkte der scharfe Tonfall. Für Sekunden herrschte Stille im Raum, sogar das Kleinkind hörte verwundert auf zu plärren und musterte Kristina aus tiefschwarzen verweinten Kulleraugen. Tränenspuren zogen sich über das kleine dunkle Gesicht.

»Was hat sie gesagt?«, wandte sich Kristina an Pazwak. Er zuckte mit den Schultern, sein Blick war gleichmütig.

»Sie hat Sie beschimpft und Ihnen Vorwürfe gemacht. Sie würden nichts unternehmen wollen, weil Tarik ein Flüchtling ist.«

»Das ist doch Unsinn!« Nun wurde sie tatsächlich wütend. »Was soll ich denn unternehmen? Der Mann hat sich hier nicht gemeldet, es gibt kein Foto und nur eine spärliche Beschreibung, dafür absolut keine Anhaltspunkte, zu wem er in letzter Zeit Kontakt gehabt haben könnte. Wo sollen wir denn da ansetzen?«

»Ich hab Ihnen nur gesagt, was sie gesagt hat, Frau Herbich.« Sein Gesichtsausdruck war undurchschaubar.

»Gut.« Ihr Ärger wich einer leichten Erschöpfung. »Fragen Sie sie bitte, wie wir sie erreichen können. Über eine Handynummer oder so.«

Sie war überzeugt, der junge Mann würde über kurz oder lang unbeschadet wieder auftauchen.

3

Mareike Sander lag auf dem dunkelroten Sofa mit extra tiefer Sitzfläche, das mit jedem Bett konkurrieren konnte. Ihre Hände ruhten, schweißnass wie ihr gesamter Körper, neben den Oberschenkeln auf den festen Baumwollstoff gedrückt. Ihr Atem ging flach und keuchend, als läge eine Steinplatte auf ihrer Brust. Die letzten Sonnenstrahlen des extrem heißen Sommertages leuchteten in einem schmalen Streifen ins Wohnzimmer. Ihr Verstand funktionierte nicht mehr, stattdessen zerbarst ihr Innerstes ohne Unterlass und unter Höllenqualen.

Es durfte einfach nicht sein, was geschehen war. Natalie und Antonia waren weg. Ihre Kinder, ihr Ein und Alles. Die zarten kleinen Geschöpfe, die ihr der Himmel geschenkt hatte. Sie hatte nicht aufgepasst. Sie war schuld. Sie ganz allein. Sie hatte sämtliche möglichen Gefahren ausgeblendet, und nun war das Schlimmste eingetreten, was einer Mutter passieren konnte. Ihr Leben war zu Ende, ausgelöscht und zerstört, ein einziger Trümmerhaufen. Doch grausamerweise existierte ein Teil von ihr weiter. Jener Teil, der heftigstes Leid erdulden musste, der sich weder schützen noch die Tatsachen verleugnen konnte.

In ein paar Stunden würde Robert hier sein. Sie musste ihm gegenübertreten, sicherlich wiederholen, was sie ihm schon am Telefon gesagt hatte, sie musste seinen Schmerz und sein Entsetzen ertragen, zusätzlich zu ihren eigenen unermesslichen Qualen. Und sie musste endlich die Polizei verständigen. Das hätte sie eigentlich sofort tun müssen.

Mareike stemmte sich in sitzende Position. Ihre Arme waren unvorstellbar schwer, und sogar zwischen ihren Fingern saß der Schweiß. Es gelang ihr kaum, nach dem Telefon zu greifen. Sie wählte den Notruf.

»Polizei, Notruf«, hörte sie eine junge weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Mareike Sander hier.« Sie krächzte, und ein heftiges Zittern schüttelte sie. Beinahe wäre ihr das Handy entglitten.

»Meine Kinder …« Es ging nicht. Sie konnte es nicht noch einmal aussprechen. Bumm, bumm, bumm, drosch ihr Herz gegen die Rippen, bis hinauf in den Hals.

»Frau Sander? Hallo? Was ist mit Ihren Kindern?«

Antworten. Ich muss antworten. Ich darf nicht verrückt werden. Blitzartig tauchte das Bild ihres Sohnes Fabian vor ihren Augen auf. Für ihn musste sie weiterexistieren.

»Sie sind verschwunden. Weggelaufen. Oder entführt. Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme brach, und der nachfolgende Weinkrampf schien ihr Kehle und Brust zu zersprengen.

»Bitte versuchen Sie sich zu beruhigen, Frau Sander. Ich brauche ein paar Informationen von Ihnen«, sprach die diensthabende Angestellte auf sie ein.

Mareike rang nach Luft.

»Wie alt sind die Kinder?« Ruhig und sachlich drang die Frauenstimme an ihr Ohr. Eigentümlicherweise half ihr das, sich ein wenig zu fassen.

»Drei und vier Jahre.« Sie sah ihre zwei kleinen Mädchen vor sich, als stünden sie im Raum und lächelten ihr zu.

»Seit wann vermissen Sie die beiden?«

»Seit … heute Mittag. Ich war … ich habe … es war vor der Norma in Aichig. Ich wollte noch rasch etwas einkaufen, und als ich zurückgekommen bin, waren sie weg.«

4

Kristina Herbich parkte ihren schwarzen Peugeot 206 direkt vor dem Anwesen der Familie Sander im Stadtteil St. Johannis. Das Haus lag gegenüber dem Friedhof. Es war halb acht, die Abendsonne warf lange Schatten, und es war noch immer drückend warm. Wie verlassen erstreckte sich die Straße in der gepflegten Wohngegend entlang den Häusern. Offenbar zog es die Anwohner an diesem schwülen Abend nicht einmal in ihre Gärten. Dennoch erschnupperte sie von irgendwoher den Duft von Gegrilltem und bekam augenblicklich Appetit. Sie sah ein gut gewürztes Steak vor sich, knusprige Bratwürste, dazu Kartoffelsalat. Kristina lief das Wasser im Mund zusammen. Zu Hause im Kühlschrank lag eine Fertigpackung mit gemischtem Salat, dazu ein Light-Dressing. Nicht die wahre Erfüllung, wenn sie richtig Hunger hatte. Aber sie musste unbedingt ein paar Kilo loswerden. Vermutlich würde sie den Salat hinunterwürgen, um sich anschließend etwas Essbares zu suchen. Kristina beschloss, über ihr heutiges Abendessen später nachzudenken.

Um das Haus der Sanders zog sich eine weiße Mauer, etwa einen Meter hoch. Das zweiflügelige, mannshohe Gartentor war aus honigfarbenem Holz, und über die Einfassung des Grundstücks wuchsen üppige Sträucher und Rosenbüsche, die gelbe und rote Blüten trugen, dazwischen drängte sich lilafarbener Hibiskus. Einen Einblick in den Garten bekam man nur, wenn man direkt vor der Mauer stand und durch die Zweige spähte.

Kristina betätigte die Glocke, die rechts vom Tor in die Steine eingelassen war. Es gab keine Gegensprechanlage. Sie wartete auf das Summen eines Türöffners, doch nichts passierte. Auch auf ein zweites Klingeln reagierte niemand. Probehalber drückte sie den Griff nieder, und tatsächlich ging das Tor auf. Ein mit terrakottafarbenen Steinen gepflasterter Weg ging schnurgerade zum Haus. Zu beiden Seiten des Weges gab es eine frisch gemähte Rasenfläche, rechts sah sie eine Schaukel und einen Sandkasten, dazwischen lag ein Fußball. Das kleine Vordach über der Eingangstür des Hauses wurde von zwei hellen Säulen getragen. Eine einzelne breite Stufe führte zur Tür, unter der eine schlanke Frau stand. Sie hatte kinnlange braune Haare, ein vom Weinen verquollenes Gesicht und hielt die Arme krampfhaft vor dem Bauch verschlungen. Ihr helles Sommerkleid war zerknittert. Beim Näherkommen entdeckte Kristina am Hals der Frau einen rötlich schimmernden Fleck. Ein Knutschfleck, diagnostizierte sie trocken, noch nicht sehr alt.

»Frau Dr. Sander?«

Die Frau nickte. Kristina hielt ihr die Hand hin.

»Kristina Herbich, Kriminalhauptkommissarin«, stellte sie sich vor.

Mareike Sanders Hand war kalt und schweißnass. Sie ging mit steifen Schritten voraus ins Haus. Kristina nutzte den Moment, die fremden Hautabsonderungen an den leichten Stoff ihrer Hose zu wischen.

Sie betraten einen kleinen Windfang, in dem maximal drei Personen Platz fanden. Links und rechts direkt an der Wand lagen jede Menge Schuhe auf dem alten Parkett, bunt durcheinandergewürfelt. Auf Kopfhöhe gab es eine Reihe von messingfarbenen Garderobenhaken, an denen etliche Jacken übereinanderhingen. Ein brauner Samtvorhang, der vor einem bogenförmigen Durchgang angebracht war, trennte den Windfang von einer geräumigen Eingangshalle. Der Samtvorhang schlug hinter ihnen zu. Die rechte Seite des Foyers wurde von einer offen stehenden Terrassentür mit weißen Sprossenfenstern beherrscht. Draußen standen weiße Korbstühle mit roten Sitzkissen. Sie gruppierten sich um einen Tisch mit Glasplatte, unter einer ebenfalls roten Markise. Der Terrassenboden war mit marmorierten schwarzen Platten ausgelegt.

Die Hausherrin öffnete eine der Türen, die von der Eingangshalle abgingen, und Kristina folgte ihr in ein großzügiges Wohnzimmer.

»Bitte.«

Dr. Mareike Sander war kaum zu verstehen. Sie machte eine schwache Handbewegung zu der Sitzgarnitur, die mitten im Raum stand, und ließ ihren Arm sofort wieder fallen, als hätte sie die Geste zu viel Kraft gekostet. Kristina setzte sich auf die Kante des Sofas, Dr. Sander nahm auf einem Hocker gegenüber Platz. Auf dem gläsernen Couchtisch zwischen ihnen lagen Buntstifte und zwei Malbücher, eines davon war aufgeschlagen. Ein Marienkäfer war mit unkontrollierten orangefarbenen Strichen ausgemalt, die über sämtliche Ränder des Vordruckes gingen. Zwischen den Stiften verstreut lagen Schokoladenpapierchen.

»Sie sind alleine zu Hause?«, begann Kristina das Gespräch und nahm aus ihrer Tasche einen Notizblock und einen Kugelschreiber.

»Ja. Mein Mann ist auf einer Fortbildung in München. Er ist aber schon unterwegs hierher.« Ihre Stimme klang heiser, ihre Augen waren gerötet, und über die fleckige Haut ihrer Wangen zogen sich Tränenspuren. »Unser Sohn Fabian ist bei einem Freund.«

»Wie alt ist Ihr Sohn?«

»Zehn Jahre.« Sie räusperte sich.

»Bitte erzählen Sie, was passiert ist«, bat Kristina.

Mareike Sander verschränkte wieder die Arme vor dem Bauch und umkrampfte die Ellbogen mit den Händen. Gleichzeitig beugte sie sich vor, als litte sie starke Schmerzen.

»Ich hab … die Kinder abgeholt. Aus dem Kindergarten.«

»Welcher Kindergarten und wann genau?«

»Der Kindergarten heißt Sternschnuppe und ist in Grunau. Das ist ein Ortsteil von Aichig. Ich war kurz nach zwölf Uhr da.« Sie starrte auf den Fußboden und drückte die Arme noch fester an den Körper.

»Und dann?«, hakte Kristina nach.

»Sabine hat auf uns gewartet. Das ist eine der Kindergärtnerinnen. Natalie und Antonia waren schon fertig. Sie …« Ihre Stimme brach, sie gab einen hohen lang gezogenen Ton von sich, der in ein kurzes, hartes Schluchzen überging. Kristina ließ ihr einen Augenblick Zeit, damit sie sich fassen konnte. Mareike Sander verstummte, verzerrte nun aber das Gesicht in einer Art tonlosem Schrei und wiegte den Oberkörper vor und zurück.

»Bitte, Frau Doktor. Wenn ich Ihre Kinder finden soll, brauche ich Ihre Hilfe«, sagte sie sanft und überlegte, ob es nicht besser wäre, einen Arzt zu rufen. Mareike Sander reagierte nicht.

»Frau Doktor? Ich würde gerne einen Kollegen für Sie anrufen. Wer …«

»Kollegen?« Die Frau hörte mit den wiegenden Bewegungen auf und sah Kristina aus weit aufgerissenen Augen an.

»Ja. Einen Arzt. Sie sind doch selbst Ärztin, nicht wahr? Gibt es jemanden, den ich für Sie anrufen kann?«

»Nein. Nein, ich brauche keinen Arzt«, stieß sie hervor. »Mein Mann kommt bald. Und Sie sind ja jetzt auch da.«

Kristina musterte die völlig aufgelöste Frau. Ehe sie ging, würde sie auf jeden Fall jemanden verständigen.

»Wie Sie möchten. Dann schildern Sie mir jetzt bitte den genauen Ablauf, nachdem Sie Ihre Kinder in Empfang genommen hatten.«

Mareike Sander nickte.

»Sabine hat mir die Kinder übergeben. Natalie war müde und quengelig, und Antonia wollte unbedingt eine Milchschnitte. Ich hab die beiden ins Auto gesetzt. Hinten, auf die Rückbank, und sie angeschnallt. Dann sind wir zum Discounter gefahren, zur Norma. Die Filiale liegt auf dem Weg, es sind mit dem Auto nur ein paar Minuten. Natalie war da schon eingeschlafen.« Die Frau unterbrach sich, als müsse sie nachdenken. »Ich hab den Wagen seitlich am Laden geparkt, da, wo man eigentlich nicht stehen darf. Dort war nämlich Schatten, und es war doch heute so heiß.« Ihre Stimme kippte. Nach ein paar Sekunden fing sie sich wieder.

»Ich habe Antonia gebeten, auf die Kleine aufzupassen. Ich wollte doch gleich wieder zurück sein.«

»Wie alt sind die Kinder?«, erkundigte sich Kristina und warf einen Blick auf ihre Vermerke, die sie sich bereits im Präsidium gemacht hatte.

»Antonia ist vier und Natalie drei Jahre«, erwiderte die Mutter und räusperte sich. Kristina machte einen Haken hinter das bereits notierte Alter der beiden Mädchen.

»Sie sind also in die Norma rein? Und dann?«, fuhr sie fort.

»Dann habe ich eine Packung Milchschnitten geholt, gezahlt und den Laden verlassen.« Sie sprach jetzt monoton. Die Überlegung, einen Arzt anzufordern, hatte offenbar bewirkt, dass sie ruhiger wurde.

»Und dann?«, wiederholte Kristina.

»Dann waren sie weg.« Das Gesicht der Frau schien wie versteinert.

»Waren die Autotüren offen oder zu?«

»Zu.«

»Abgesperrt?«

»Das weiß ich nicht mehr.«

»Können Sie sich erinnern, ob Sie das Fahrzeug abgeschlossen hatten, bevor Sie in die Norma rein sind?«

»Ich sperre immer ab. Das macht man doch ganz automatisch. Allerdings … ich war in Eile. Ich wollte die Kinder eigentlich nicht alleine im Auto lassen. Aber … meine Güte … haben Sie Kinder?«

»Nein.«

»Wenn ich sie mitgenommen hätte, wäre Natalie aufgewacht. Sie hätte ohne Ende gebrüllt und gestrampelt. Ein Kampf, verstehen Sie? Alles wegen ein paar Milchschnitten. Ich hab gesehen, dass im Laden fast nichts los ist. Ich war sicher, es geht ganz schnell. War ja auch so.«

Nicht schnell genug, dachte Kristina.

»Hat Ihr Fahrzeug eine Kindersicherung an den hinteren Türen?«

»Nein.«

»Es könnte also sein, dass Antonia die Tür geöffnet hat und …«

»Nein.« Mareike Sander schüttelte heftig den Kopf. »Beide saßen im Kindersitz und waren angeschnallt. Selbst wenn sie die Tür aufbekommen hätten, sie hätten den Gurt nicht lösen können. Es muss jemand … Es muss …« Sie presste die Fäuste vor den Mund, ihre Augen waren weit aufgerissen.

Kristina ließ den Blick durch das Wohnzimmer wandern. Eine riesige Glasfront nahm eine Seite des Raumes fast komplett ein und gab den Blick in den hinteren Bereich des Gartens frei. Auch hier war der Rasen gemäht, doch Bäume und Sträucher wuchsen, wie es der Natur gefiel. Durch das Gestrüpp schimmerten an manchen Stellen die hellen Steine der Mauer durch, die um das Grundstück gezogen war. Eine schmiedeeiserne Sitzgruppe, bestehend aus einem runden Tisch und zwei Stühlen, stand seitlich der Rasenfläche. Die Sitzgruppe machte einen rostigen Eindruck und diente wohl nur der Optik, nicht der Nutzung. Das Wohnzimmer wurde von einer roten Sitzgarnitur beherrscht und einer deckenhohen Schrankwand aus rostbraunem glänzenden Holz. Kristina konnte nicht einschätzen, ob die Familie vermögend war, sah man davon ab, dass im Bayreuther Stadtteil St. Johannis nicht unbedingt die Ärmsten der Armen wohnten. Möglicherweise waren die Mädchen entführt worden, um die Eltern zu erpressen.

»Warum haben Sie sich so spät gemeldet?«, erkundigte sie sich. Sie wusste, dass der Vorwurf unüberhörbar war. Dennoch musste sie die Frage stellen.

Dr. Sander ließ die Hände in den Schoß sinken und knetete sie.

»Ich dachte … ich … ich hab sie gesucht. Ich dachte, ich finde sie selber.«

Kristina musterte die Frau.

»Eben sagten Sie, die Mädchen wären auf keinen Fall alleine aus dem Fahrzeug gekommen. Weshalb glauben Sie, Sie hätten sie selbst finden können?«

Mareike Sander zuckte mit den Schultern und hörte auf, ihre Finger zu kneten.

»Ich weiß es doch nicht. Ich dachte erst, sie sind weggelaufen. Ich dachte, sie machen sich einen Spaß daraus sich zu verstecken, während ich sie suche. Das machen sie manchmal. Sie sind hier sogar schon bis zum Friedhof gelaufen, der ist ja gleich gegenüber, und haben sich zwischen den Gräbern versteckt. Das ist erst etwa zwei Wochen her. Robert war damals kurz davor, die Polizei zu rufen, als die beiden von einer Nachbarin zurückgebracht wurden. Ich hab das einfach ausgeblendet, dass sie ohne Hilfe nicht aus den Kindersitzen konnten.«

Sie sprach jetzt flüssiger. Ihr Blick war konzentriert auf das aufgeschlagene Malbuch gerichtet.

»Wo haben Sie überall gesucht?«, fragte Kristina.

Verwirrt sah Mareike sie an.

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, Sie sagten, die Kinder wären gelegentlich bis zum Friedhof gelaufen. Der ist hier, Ihrem Anwesen gegenüber. Verschwunden sind die beiden aber in Aichig. Wo also haben Sie sie gesucht?«

»Überall. Erst auf dem Parkplatz, zwischen den Autos.«

»Haben Sie nach ihnen gerufen?«, wollte Kristina wissen.

»Ja.«

»Hat Sie jemand gehört? Ich meine Kunden oder das Personal?«

»Das weiß ich doch nicht! Nein, ich glaube nicht. Ich bin dann noch auf die andere Straßenseite, gegenüber der Norma. Dort gibt es einen Bäcker und einen Metzger und ein China-Restaurant. Ich dachte, vielleicht sind sie zum Metzger, weil sie gehofft hatten, jeder ein Würstchen zu bekommen.«

»Haben Sie dort nachgefragt?«, forschte Kristina weiter.

»Nein. Der Metzger hat Urlaub. Ich wollte noch am Bäckereistand nachfragen, aber es war so viel los, und außerdem kannte ich die Verkäuferin nicht, die an der Theke war. Sie muss neu sein. Ich dachte, die kennt meine Kinder sowieso nicht. Ich bin einfach kreuz und quer gerannt. Ich bin auch zurück zum Kindergarten. Aber ich … ich bin dann umgekehrt. Ich war sicher, dorthin sind sie nicht gelaufen.«

»Warum nicht?«

»Weil Antonia sauer auf Sabine war, die Erzieherin. Sie hatte sie zurechtgewiesen, weil sie beim Aufräumen in der Spielecke nicht mithelfen wollte.«

Kristina machte sich einen Vermerk.

»Dann war ich noch bei den Feldern, hinter dem Landgasthof. Der ist ein Stück die Straße runter, Richtung Speichersdorf. Dort waren wir ein paar Tage zuvor spazieren und haben junge Hasen gesehen. Ich dachte, vielleicht …« Ihre Stimme kippte. Kristina wartete ab.

»Irgendwann war mir klar, dass ich wertvolle Zeit verliere. Inzwischen war der Nachmittag praktisch vorbei. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie lange ich schon herumgerannt bin. Und dann hab ich auch eingesehen, dass ich mir was vormache. Es muss jemand die beiden aus dem Auto geholt und mitgenommen haben.«

Sie sah an Kristina vorbei.

»Gibt es irgendwen, den Sie in Verdacht haben?«

»Nein.«

»Ich brauche Fotos Ihrer Töchter, so aktuell wie möglich. Wir geben sie in die Fahndung. Außerdem jeweils ein Kleidungsstück.«

»Doch.«

»Was: doch?«, fragte Kristina.

Mareike Sander räusperte sich.

»Vielleicht hat Tina was gesehen.« Rote Flecken erschienen auf den Wangen der Ärztin. Sie hob den Kopf, und für einen Moment kreuzte sich ihr Blick mit dem der Kommissarin. In ihren Augen flackerte es.

»Wer ist Tina?«

»Tina ist … die Tochter einer ehemaligen Nachbarin. Sie hat auf dem Norma-Parkplatz gespielt, als ich gekommen bin.«

»Wie kann ich das Mädchen erreichen?« Kristina überlegte, wie alt das Kind sein mochte und ob es überhaupt Sinn machte, mit dem Mädchen zu reden. Andererseits durfte sie nichts außer Acht lassen.

»Die Leute heißen mit Nachnamen Schwede. Sie wohnen jetzt in Aichig. Das heißt, die Mutter wohnt mit Tina in Aichig. Das Mädchen ist geistig behindert. Das hat die Ehe nicht ausgehalten und …« Sie brach ab und zupfte an ihrem Kleid.

»Gut. Ich werde mit ihr sprechen. Jetzt geben Sie mir bitte die Fotos und je ein Kleidungsstück«, wiederholte Kristina. Sie durften keine Zeit verlieren. Es war schon zu viel geredet worden. Vor etwa einer Stunde erst hatte sich die völlig aufgelöste Mutter gemeldet, die Kinder waren seit heute Mittag verschwunden.

»Ein Kleidungsstück?« Verwirrt sah Mareike Sander sie an und ballte die Fäuste.

»Ja. Wir setzen Suchhunde ein.«

Die Mutter nickte, stand auf und verließ den Raum. Keine zwei Minuten später übergab sie Kristina zwei dünne Strickjacken, eine blaue und eine bunt geblümte, sowie ein Foto, auf dem zwei kleine Mädchen in die Kamera lächelten. Um die runden Gesichter kräuselten sich braune Löckchen. Die Kinder hielten sich an den Händen. Sie trugen geringelte Sommerkleider und rote Sandalen, und ein Mädchen war ein wenig größer als das andere.

»Was macht Ihr Mann beruflich, Frau Dr. Sander?«, fragte sie und stand auf.

»Er ist Apotheker. Er …«

In dem Moment hörte man, wie die Haustür auf- und wieder zuging. Schritte durchquerten die Eingangshalle, und ein schlanker hochgewachsener Mann erschien unter der Wohnzimmertür. Kristina fiel sofort die Ähnlichkeit zu den beiden Kindern auf dem Foto auf, das sie eben in die Tasche gesteckt hatte.

»Robert.« Mareike Sander blieb reglos neben Kristina stehen.

»Robert Sander, guten Abend.«

Der Mann streckte Kristina die Hand hin.

»Kristina Herbich, Kripo Bayreuth«, stellte sie sich vor.

»Was ist mit den Kindern? Wissen Sie schon etwas?«

Sander strich seiner Frau flüchtig über den Arm und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, während er sprach.

»Nein, wir wissen noch nichts. Wir geben jetzt eine Suchmeldung raus, über sämtliche Medien, und setzen Spürhunde ein. Können Sie sich eine Entführung vorstellen?« Kristinas Blick wechselte zwischen den Eheleuten hin und her.

Sander zuckte mit den Schultern, seine Frau presste die Handflächen aneinander.

»Wenn sie nicht weggelaufen sind, natürlich. Obwohl ich nicht verstehe … ich meine … aus dem Auto heraus entführt? Eine Entführung plant man doch, oder nicht? Es konnte doch niemand wissen, dass Mareike einkauft und währenddessen die Kinder im Auto lässt. Es sei denn, es wäre eine spontane Aktion gewesen. Vielleicht ist meine Frau beobachtet worden, und derjenige hat auf einen passenden Moment gewartet. Aber am helllichten Tag vor einem Discounter … Mein Gott.« Er rang nach Luft. »Wenn wer unsere Kinder mitgenommen haben sollte, muss die Tat doch von irgendeinem beobachtet worden sein! Außerdem sind Natalie und Antonia eher scheu. Wenn sie jemanden nicht kennen … nun, ich glaube, hätte sie ein Fremder aus dem Auto geholt, es hätte ein fürchterliches Geschrei gegeben.«

Sander zerrte am Kragen seines Poloshirts.

Es sei denn, die Kinder kannten denjenigen, ergänzte Kristina ohne es auszusprechen. Oder sie wurden betäubt.

»Werden Sie bedroht? Könnte es sich um einen Racheakt handeln?«, fragte sie.

»Nein, nein.« Sander machte eine abwehrende Handbewegung.

»Gut. Ich kümmere mich jetzt um alles, was nötig ist. Sie melden sich umgehend, falls es etwas Neues gibt, zum Beispiel eine Lösegeldforderung.«

Kristina ließ sich noch eine Beschreibung der Kleidung geben, die die Kinder getragen hatten, sowie sämtliche Telefonnummern der Eltern und fuhr zurück ins Präsidium. Dort angekommen, beschloss sie, die Telefone der Sanders überwachen zu lassen. Das Risiko, dass eine Lösegeldforderung verheimlicht wurde, um vermeintlich die Kinder zu schützen, erschien ihr zu groß.

5

Betty Krüger schlug die Augen auf, und noch ehe sie sich des neuen Morgens bewusst war, erinnerte sie sich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Sie rappelte sich vom Sofa hoch, suchte ihr Handy und fand es auf der Fernsehzeitschrift liegend, auf dem Fußboden. Halb sieben und noch immer keine Nachricht von Djadi. Aber vielleicht war er inzwischen nach Hause gekommen. Vielleicht lag er im Bett und hatte sie nur nicht wecken wollen. Er war so ein ruhiger, rücksichtsvoller Mensch. Betty schwang die Beine über die Sofakante und schlich durch den Flur zum Schlafzimmer.

Die Tür stand einen Spalt offen, und augenblicklich war ihr klar, dass sie vergeblich gehofft hatte. Djadi war noch immer nicht zurück. Dennoch betrat sie den Raum und betrachtete das sorgfältig gemachte Bett, als würde dies etwas an der unerträglichen Situation ändern. Wo war er? Ihr Herz und ihr Magen zogen sich zusammen. Er hatte ihr keine Nachricht hinterlassen, und er war noch nie so lange fort gewesen, seit sie zusammenlebten. Ob ihm etwas zugestoßen war? War er vor ein Auto gelaufen? Hatte er einen Unfall mit dem Fahrrad gehabt, das sie ihm vor Kurzem gebraucht gekauft hatte? Das Rad war auch weg, das hatte sie gestern Abend schon überprüft.

Oder brauchte er Zeit für sich? Der letzte Gedanke schnürte ihr die Kehle zu, mehr noch als die Vorstellung, ihm könnte etwas passiert sein. Ihre Handflächen wurden feucht. Sie konnte in der Kleiderkammer ihre Kollegin Rita fragen, ob sie etwas wusste. Rita unterhielt sich auch ab und zu mit Djadi. Allerdings kam die Frage einer Schmach und Niederlage gleich. Rita hatte sie von Anfang an spüren lassen, was sie von der Sache hielt. Oder sollte sie gleich zur Polizei gehen? Nur, was sollte sie dort sagen? Dass ihr Liebhaber verschwunden war? Sie glaubte schon jetzt, in den Gesichtern der Beamten ein vielsagendes Grinsen zu sehen, das ihr schamvolle Hitze durch den Körper trieb. Sie würden sie wegschicken und vorher darauf hinweisen, dass Djadi tun und lassen konnte, was er wollte, solange es keine Straftat war.

Bettys Blick ging quer durch den Raum und blieb am Spiegel des Schlafzimmerschranks hängen. Ihre dünnen braunen Haare hingen zottig in ihr rundes Gesicht, die linke Wange war rot und zeigte Druckstellen von der Nacht auf dem Sofa. Die feinen Fältchen, die sich schon frühzeitig um ihre Augen und Mundwinkel gebildet hatten, waren sogar auf die etwa drei Meter Entfernung im Spiegel zu erkennen. Ihr cremefarbenes Sommerkleid mit dem bunten Streublumen-Muster war völlig zerknittert. Und ihre Waden waren zu dick und die Haut zu hell, und wenn sie genau hinsah, sprossen auf ihren Armen und Beinen hier und da, völlig vereinzelt, braune Haare, die dort nicht hingehörten. Meist hatte sie keine Lust, diese abzurasieren, nur wenn sie sich ihrer bewusst wurde, schämte sie sich doch dafür.

Betty verließ das Schlafzimmer. Ihre Schicht in der Kleiderkammer begann erst um zwei Uhr. Eben war ihr jemand eingefallen, den sie wegen ihres Freundes um Rat fragen konnte. Sie würde sich gleich auf den Weg machen.

6

Pfarrer Johan Kunze köpfte sein Frühstücksei und betrachtete zufrieden das flüssige Eigelb, fest eingebettet ins perfekt durchgegarte Eiweiß. So sollte es sein. Die zwei Scheiben Toast, die er dazu essen wollte, hatte er noch warm mit Butter bestrichen, sodass das Fett auf dem röschen Brot zerlaufen war. Er streute ein wenig Salz auf das Ei und nippte an seinem heißen Kaffee. Arno, sein Rauhaardackel, stupste ihn gegen das Schienbein. Kunze säbelte mit dem Frühstücksmesser eine kleine Ecke vom Toast ab und gab sie ihm. Arno schnappte danach, spuckte das Brot wieder aus, schnupperte daran und leckte die Butter ab, ehe er seinen Anteil verschlang. Augenblicklich drückte er seine feuchte Nase wieder an Kunzes nacktes Bein. Der Dackel gab nie auf, ehe Kunze nicht seine jeweiligen Mahlzeiten beendet hatte.

»Lass das«, murmelte der alte Pfarrer, ohne jegliche Erwartung, dass der Hund auf ihn hörte, und tauchte genüsslich den Löffel in das Eigelb. Er hatte ihn noch nicht zum Mund geführt, als es läutete. Kunze zuckte erschrocken zusammen, Arno fuhr herum und rannte unter wildem Gekläffe in den Flur.

»Herrschaft!« Verärgert sah der Pfarrer auf das verkleckerte Ei, das sowohl an der Schale herunterlief als auch in seinen Kaffee gekleckst war.

»Arno! Schnauze!«, rief er und stand auf.

Der Dackel gab ein unwilliges Knurren von sich, hörte jedoch auf zu bellen.

»Platz!«, befahl er, während er zur Tür ging. Arno setzte sich und stand sofort wieder auf. »Donnerwetter! Platz jetzt«, wiederholte Kunze, nun recht ärgerlich. »Und bleib«, fuhr er fort.

Sichtlich widerborstig ließ sich der Hund auf sein Hinterteil nieder, und der Pfarrer öffnete die Tür.

»Ja, Betty. Grüß dich, so früh am Morgen. Ist was passiert?« Verwundert musterte er seine ehemalige Konfirmandin, die nach der Einsegnung noch viele Jahre in seiner Kirchengemeinde ehrenamtlich in der Kinder- und Jugendgruppe mitgearbeitet hatte.

»Herr Kunze, guten Morgen. Ich brauch Ihren Rat. Hoffentlich stör ich nicht, aber ich wusste nicht … also, ich hab niemanden, den ich sonst fragen kann.« Sie wickelte den dünnen Riemen ihrer Handtasche um den Finger.

Kunze dachte an sein Frühstück, das jetzt kalt wurde.

»Du störst überhaupt nicht. Komm rein. Magst du einen Kaffee?«

»Ja, gern.«

Der Pfarrer schloss die Haustür, nachdem Betty Krüger eingetreten war, und Arno kläffte den Besuch an, ohne seinen Platz zu verlassen.

»Hallo, Arno«, begrüßte Betty den Dackel und streichelte ihn. Der Hund wedelte mit dem Schwanz, schnupperte an ihren Beinen und folgte seinem Herrn und der Besucherin ohne Erlaubnis in die Küche. Kunze nahm es aus dem Augenwinkel wahr. Er war einfach zur Erziehung nicht geeignet.

Er füllte eine Tasse mit Kaffee, stellte Milch und Zucker dazu, und Betty nahm dem Pfarrer gegenüber am Tisch Platz. Auf dem ersehnten Frühstücksei hatte sich bereits eine dünne Haut gebildet. Er würde es trotzdem essen.

»Hast du auch Hunger?«, erkundigte er sich.

Betty sah blass und unglücklich aus. Ihr Kleid war zerknittert, die Haare gleichgültig im Nacken zusammengefasst, und ihre Wimpern waren so farblos und unauffällig, als hätte sie keine. Gleichzeitig hatte sie die schönsten blauen Augen, die er sich vorstellen konnte.

»Nein«, erwiderte sie.

»Also, was ist los?«, fragte er.

Betty schob ihre Tasse beiseite, ohne getrunken zu haben, und stützte die Unterarme auf den Tisch.

»Es tut mir leid, dass ich Sie so überfalle. Aber ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte.«

Sie legte die Fingerspitzen aneinander, während sie sprach. Kunze wartete ab.

»Es ist wegen Djadi. Meinem Freund«, fuhr sie fort und schlug rasch die Augen nieder. Kunze versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Dass Betty einen Freund hatte, verblüffte ihn wirklich. Feine Röte stieg in die Wangen der Frau. Eilig sprach sie weiter.

»Er ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.«

Das Ei war tatsächlich kalt und der Kaffee lauwarm. Außerdem erinnerte er sich, dass etwas von dem Eigelb in die Tasse gekleckst war. Sehen konnte er den Klecks nicht, es musste also geronnen irgendwo in der Tiefe schwimmen. Er hatte Hunger, aber der Appetit war ihm vergangen.

»Macht er das öfters?«, fragte er, stand auf, goss den Kaffee in die Spüle und schenkte sich einen neuen ein.

»Nein. Er geht schon manchmal abends weg, aber er kommt immer vor Mitternacht nach Hause.«

»Hm«, machte Kunze. »Er geht alleine weg?«

»Ja.« Sie sah ihn nicht an.

»Und wohin geht er?«

»Keine Ahnung. Also ich meine, er geht spazieren. Er sagt, er mag die Nächte, vor allem wenn der Himmel klar ist und man die Sterne sieht.«

Schwerfällig setzte Kunze sich wieder auf seinen Platz. Bettys Freund ging also nachts allein spazieren und begutachtete die Sterne.

»Habt ihr euch gestritten?«

»Nein, gar nicht. Überhaupt nicht.« Betty hielt die Unterarme auf den Tisch gepresst und betrachtete ihre Hände.

»Hast du dich in seinem Freundeskreis umgehört?«

»Djadi hat keine Freunde, zumindest nicht in Deutschland. Ich hab ihm ein paar Nachrichten geschrieben, übers Handy. Aber er antwortet nicht.«

»Nachrichten? Du meinst SMS?«, fragte Kunze und fand, der Kaffee schmeckte bitter und abgestanden. Das Frühstück war ihm heute nicht vergönnt.

»Ja. Ich hab’s erst über WhatsApp probiert, aber sein Internet ist ausgeschaltet.«

»Arbeitet dein Freund?«

Betty zuckte mit den Schultern und lehnte sich jetzt doch im Stuhl zurück.

»Er hilft ehrenamtlich in der Kleiderkammer, Wäsche sortieren und dolmetschen. Da hab ich … da haben wir uns auch kennengelernt.« Sie vermied es, ihn anzusehen. Kunze wurde plötzlich das Gefühl nicht los, dass sie ihm etwas verheimlichte.

»Wie lang seid ihr denn schon zusammen, du und dieser Djadi? Was ist das eigentlich für ein Landsmann?«

»Djadi kommt aus Syrien. Er ist seit knapp zwei Jahren in Deutschland. Wir sind jetzt drei Monate zusammen.« Wieder bekamen ihre Wangen einen Hauch Farbe.

»Aha«, machte Kunze. Unvermittelt beugte sich Betty ein Stück vor.

»Ich weiß, was Sie denken. Aber so ist es nicht. Wir lieben uns.« Jetzt schoss flammende Röte in ihr Gesicht.

»Ich denke gar nichts.« Der alte Pfarrer stellte seine Tasse auf den Tisch und gab Arno, der zu seinen Füßen lag, ein Stück Toast. Der Hund schmatzte vernehmlich.

»Ich weiß aber auch nicht, wie ich dir helfen kann. Vielleicht hat dein Freund Familie in Deutschland, bei der er sein könnte?«

»Nein, nein, nein. Djadi ist damals als Flüchtling hierhergekommen, ganz allein. Er hat bis vor ein paar Monaten in der Unterkunft in der Wilhelm-Busch-Straße gewohnt. Ich …« Sie brach ab.

»Ja?«, fragte Kunze.

»Ich habe ihm angeboten, zu mir zu ziehen. Ich hab ja genug Platz.« Beinahe trotzig sah sie ihn an.

»Hm, hm«, machte der Pfarrer.

»Sein Fahrrad ist auch weg«, ergänzte sie.

»Vielleicht ist er doch bei Freunden. Er wird doch in der Zeit, in der er schon hier ist, ein paar Leute kennengelernt haben«, überlegte Kunze. »Hast du in der Wilhelm-Busch-Straße nachgefragt?«

»Nein«, gab sie zu. »Aber ich glaube auch nicht, dass er dorthin zurück ist. Dafür gibt es keinen Grund. Er hatte bei mir alles, und er hat mir immer wieder gesagt, wie schön meine Wohnung ist. Ich hab ihm sogar …«

»Was?«

»Ab und zu ein bisschen Geld gegeben. Nicht viel, ich hab ja selber nicht viel. Halt, dass er sich was kaufen kann. Schokolade zum Beispiel.«

Kunze nahm bedächtig seinen Toast und biss hinein. Der Rand war hart und trocken, das Innere von der Butter durchweicht. Der Hunger trieb das Brot hinein.

»Meinen Sie, ihm ist etwas zugestoßen?« Ihr Blick wurde ängstlich.

Kunze schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht beurteilen, Betty. Du kannst bei der Polizei nachfragen, ob ein Unfall gemeldet wurde, oder in den umliegenden Krankenhäusern.«

»Können Sie mir nicht suchen helfen?«

»Aber, Betty, jetzt mal im Ernst: Nach wem soll ich denn suchen und vor allem wo?«

Sie hatte offenbar keinerlei Anhaltspunkte, wo der Mann sich aufhalten konnte. Betty mochte noch genauso einsam sein, wie sie es vor fünfundzwanzig Jahren gewesen war. Vermutlich hatte der Mann das erkannt und die Annehmlichkeiten genossen, die eine Affäre mit ihr, oder was auch immer sie verbunden haben mochte, bedeutete, und nun hatte er genug und hatte das Weite gesucht. Sie wiederum hatte in die Liebschaft die Hoffnung auf eine dauerhafte Beziehung hineininterpretiert.

»Herr Pfarrer bitte. Ich kenne Djadi. Er hätte mich niemals … einfach so, verstehen Sie? Ja, ich weiß, Sie denken, von einer wie mir kann ein Mann doch gar nichts wollen. Aber Djadi ist anders. Er mochte mich wirklich. Selbst wenn er hätte gehen wollen, er hätte es nie heimlich getan. Bitte helfen Sie mir.«

Kunze schnaufte durch. Es beschämte ihn, dass Betty genau erkannt hatte, was ihm durch den Kopf gegangen war.

Betty griff in ihre Tasche und zog ihr Handy hervor.

»Ich hab ein Bild von ihm. Das schicke ich Ihnen auf Ihr Handy, ja? Damit Sie wissen, wie er aussieht. Vielleicht können Sie sich umhören? Sie kennen doch viel mehr Leute als ich, und außerdem … die Leute kennen Sie. Sie sind eine Vertrauensperson. Ich dagegen … ich kenne doch nur die Kollegen aus der Kleiderkammer und meine Nachbarn. Bitte. Geben Sie mir Ihre Handynummer?«

»Zeig mal das Bild«, wich Kunze aus.

Bettys Hand zitterte, und der alte Pfarrer runzelte die Stirn, während er den Mann auf dem Display betrachtete.

»Das ist Djadi? Wie alt ist der?«

»Zweiundzwanzig«, erwiderte Betty und räusperte sich.

»Zweiundzwanzig? Bist du sicher?« Der Mann sah aus wie achtzehn Jahre, höchstens. Betty mochte mittlerweile vierzig Jahre sein, oder gar älter.

»Natürlich bin ich sicher! Was spielt denn das Alter für eine Rolle, wenn man sich liebt?«