Franziska und das furiose Finale - Hans-Peter Mester - E-Book

Franziska und das furiose Finale E-Book

Hans-Peter Mester

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Beschreibung

Das Finale wird turbulent ... Franziska feiert eine vergnügliche Geburtstagsparty, Ehemann Andreas erfreut sie mit Eintrittskarten für den Zirkus ›Mangoldini‹. Während der Vorstellung passiert etwas Schockierendes: Die Hochseilartistin Tarantella Sonnenblume verunglückt tödlich – unter mysteriösen Umständen. Als Franziska kurz danach über die Leiche eines Mannes stolpert, der ihr durchaus bekannt ist, gerät sie selbst unter Tatverdacht und muss fliehen. Umgehend wird das Team um Kriminalrat Strelitz tätig, aber von dem Fall abgezogen. Die Kommissare ermitteln trotzdem, und zwar undercover in Immobilienmakler- und Rockerkreisen. Bis nach Hamburg und Hannover führen sie die verwickelten Spuren, die überraschende Zusammenhänge mit Zirkus- Hintergrund offenlegen. Gelingt es Franziska, den tatsächlichen Mörder zu überführen? Und was wird aus dem Strelitz-Team? Der dramatische Abschluss der beliebten Findorff-Krimis offenbart menschliche Schwächen und kuriose Wendungen, die alle überraschen.

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Hans-Peter Mester

Franziska

und das furiose Finale

Nach dem Romanfragment

von Hans-Peter Mester

Liebevoll ergänzt

von Benjamin Mester

Findorff-Krimi

Band 10

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek

registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

http://dnb.d-nb.de

Impressum

© 2018 KellnerVerlag, Bremen • Boston

St.-Pauli-Deich 3 • 28199 BremenTel. 04 21 - 77 8 66 • Fax 04 21 - 70 40 58

[email protected] • www.kellnerverlag.de

Lektorat: Lisa Kranz, Regina Konradi, Merle Schiebeck, Madita Krügler, Klaus KellnerSatz: Julia FichtnerUmschlag: Designbüro Möhlenkamp & Schuldt, Bremen

ISBN 978-3-95651-200-1

Der Autor der Krimi-Reihe:

Hans-Peter Mester, Jahrgang 1954, in Bremen geboren und aufgewachsen, hat große Teile seiner Kindheit »auf Parzelle« verbringen dürfen. Für den langjährigen Leiter des Ortsamtes Bremen-West gehörte der lokale Blick auf die Stärken unddie Abgründe des Stadtteillebens fast drei Jahrzehnte zu seinem Berufsalltag. Von 1985 bis 2000 war er stellvertretender Leiter, von 2000 bis 2012 Chef des Bremer Ortsamtes West. Er quittierte den Dienst wegen seiner Parkinson-Erkrankung, die ihm anschließend die Gelegenheit bot, zu Hause über kuriose und alltägliche Besonderheiten zu schreiben. Zahlreiche Notizen und Fragmente bildeten die Grundlage für die raffinierten Kriminalromane rund um Stadtplanerin Franziska. Ein besonderer, sozial engagierter Mensch ist nun nicht mehr mit uns. Er starb am 8. April 2016 im 63. Lebensjahr. Er wusste um seine radikal begrenzte Lebenszeit und schrieb in vier Jahren die zehnbändige Krimi-Reihe »Franziska und ...«. Verstorbene leben in den Gedanken der anderen Menschen weiter, Hans-Peter Mester wird zusätzlich durch seine Bücher präsent und noch sehr lange in Erinnerung bleiben.

© Walter Gerbracht

Das Autorenduo

Hans-Peter Mester, Jahrgang 1954, † 2016

Verwaltungsdiplomwirt und langjähriger Ortsamtsleiter für Bremen-West.

Seit den frühen 1970er-Jahren – noch auf Schreibmaschine getippt und als kleine Kurzgeschichtensammlung gestartet – entstanden die ersten Manuskripte zu dieser charmanten Krimi-Reihe. Jahrzehntelang zusammengetragen mit der Ungewissheit, was jemals daraus werden würde, ging sein letzter Traum in Erfüllung.

Die »Franziska«-Krimi-Reihe wird zehntausendfach gelesen. Er hinterlässt uns ein Werk mit etlichen pittoresken Figuren in einem selten thematisierten sozialen Biotop, gewürzt mit einzigartigem, unvergesslichem Humor.

Benjamin Mester, Jahrgang 1983

Verwaltungsangestellter und Autor. Er vermochte den Humor seines Vaters mittels eigener Sprachmelodie zu ergänzen.

In mühevoller Kleinstarbeit rettete und ergänzte er, unter anderem durch die Episoden in Hannover und Hamburg, das letzte nicht komplett vorhandene Romanfragment.

Dieser Abschluss der zehnbändigen Franziska-Serie hält das literarische Wirken seines Vaters in Ehren und erfreut die Leser und Leserinnen ein letztes Mal.

Im Anhang befinden sich einige persönliche Notizen zur jahrzehntelangen Vorgeschichte dieser Kriminalromane. © Sandra Stege

Das Ensemble

Im Kleingartenmilieu

Franziska Morgenstern

Stadtplanerin mit einer Spürnase für Mordfälle, inzwischen fast Profigärtnerin

Andreas Klapphorn

Musikpädagoge, Erster Vorsitzender des Kleingartenvereins »Erntedank« und Franziskas Ehemann

Julia und Johannes

Zügig heranwachsende Kinder aus Andreas’ erster Ehe

Paul

liebt seine Julia über alles

Leo Morgenstern

Vater von Franziska, Vertreter konventioneller Ansichten

Rebecca Morgenstern

Mutter von Franziska, sucht immer den neusten Tratsch

Johanna

Franziskas ältere Schwester, ist ihrer Mutter sehr ähnlich

Hermann Schilling mit Dackel Friedhelm

Dienstältester Kleingärtner mit höchst eigenwilligem Rauhaardackel

Landheimwirt Rudi Klingebiel und seine Ehefrau Maria

Die Seele des Vereins, kommunikativer Dreh- und Angelpunkt

Tatjana Knispel-Klingebiel

Rudis Tochter aus erster Ehe, junge Mutter, verheiratet mit dem aufstrebenden Jung-Kommissar Olaf Knispel

Annemarie Golwitz

Gebeutelte Studentin, die im Landheim neue Perspektiven findet

Lamella Purchtersgarden

Tante von Franziska mit Reiterhof in Verden

Bei der Polizei

Kriminalrat Karl-Eberhard Strelitz und seine Frau Marga

Väterlicher Ermittlungs-Chef, findet immer eine kreative Lösung, neuerdings mit Umzugsabsichten

Oberkommissarin Konstanze Kannengießer

Das weibliche Rückgrat des Ermittlungsteams

Kommissar Olaf Knispel

Seit kurzer Zeit Vater und manchmal als Tollpatsch tätig

Siegmund Schröter

Polizeipräsident (»PP«) und langjähriger Freund von Kriminalrat Strelitz

Rudolf

Dienstältestes Teammitglied, Kaffeemaschine mit Altersschwäche

Das konkurrierende Ermittlungsteam

Kriminalrat Waldemar Schlüter

Würde am liebsten Franziska verhaften, damit der Spuk ein Ende hat

Kommissar Volkmar Fröhlich

Assistent von Schlüter; ohne eigene Ideen

Im Bauressort

Dr. Adrian Strünzel

Stadtplaner mit Abteilungsleiterstatus, kein Sympathieträger

Andrea Wandelbach

Exfrau von Adrian Strünzel

Frau Bieberschwall

Nur Putzfrau von Herrn Strünzel?

Die Immobilieninvestoren

Lothar Grunewald

Investor; kapitalstark, profitorientiert

Wolfgang Erkenschwick

Projektentwickler; immer auf der Suche nach Großinvestoren

Gregor Blütenstein

Treuhänder

Jessie Blütenstein

Gregors Ehefrau; verfügt über allerhand Informationen

Zirkusmilieu / Zirkus »Mangoldini«

Francesco Mangoldini

Zirkusdirektor in dritter Generation

Loui Mangoldini

Ehemaliger Zirkusdirektor und Vater von Francesco

Alfred Plautzke

Dompteur und Tierpfleger

Sylvia Slotorzenski alias Tarantella Sonnenblume

Weltbekannte Hochseilartistin in blumiger Verkleidung

Enzio

Clown

Beppo

Der dumme August

Mitglieder im »Trike Bikers«-Motorradclub

Donald Krause

Chef im »Trike Bikers«-Motorradclub, auch »Bossie« genannt

Dierk Atlas

»Trike Bikers«-Mitglied, kennt alle Straßen Europas, »wandelndes Navi«

Prolog

Die Sektgläser auf dem Tablett schillerten reichlich in der Frühlingssonne. Gläser klirrten, und die prickelnde goldene Flüssigkeit verbreitete einen leicht alkoholischen Geruch, der nur von den nahestehenden Tulpen übertroffen werden konnte.

»Auf unsere Franziska! Happy Birthday, meine Kleine!«, erhob Rebecca Morgenstern ihr Glas und küsste ihre Tochter zur Feier des Tages auf beide Wangen.

»Mutti!«

»Morgensterne, tss!«, schüttelte ihr Vater den Kopf. »Komm her, min Deern, lass dich mal drücken!«

»Papa!« Franziska hatte Mühe, ihr Sektglas nicht zu verlieren.

»Dies ist also das mysteriöse Parzellengebiet, auf dem die Leichen Bremens nur so blühen, ja?«, ließ Rebecca ihren neugierigen Blick durch die umliegenden Gärten schweifen, als handelte es sich um das achte Weltwunder.

»Mal bloß den Teufel nicht an die Wand! Ich wollte dieses Jahr eigentlich zur Abwechslung mal eine friedliche Gartensaison ohne Mord und Totschlag in der direkten Nachbarschaft erleben«, blickte Franziska gen Himmel, als wollte sie Gott zur Sicherheit in diese Vereinbarung mit einbeziehen, was Rebecca lediglich mit einem Schmunzeln quittierte.

»Na, amüsiert ihr euch gut?«, umarmte Andreas seine Franziska zärtlich von hinten und küsste sie auf die Wange.

»Zu köstlich! Die nächste Leiche ist nicht zufällig schon reif zum Pflücken?«

»Ach, Mensch, ich sehe schon, ihr seid heute eher makaber drauf. Ich hol mir mal eben ein Steak vom Grill.«

»Bringst du uns auch etwas mit?«

»Frisch ermordet oder gut abgehangen?«

»Medium!«

»Wird gemacht!«, gab Andreas aus einiger Entfernung zurück.

»Das ist mein Andreas! Ist er nicht goldig?«, blühte Franziska auf.

»Aus welchem Grund hast du diesen Witzbold noch mal geheiratet?«, erkundigte sich ihr Vater.

»Nur dir zuliebe. Das weißt du doch!«, knuffte Franziska ihn in die Seite.

Leo Morgenstern stand im Begriff, mit seinem Blick die Luft zu tranchieren. »Ich sehe schon: Der Kerl hat einen schlechten Einfluss auf dich, was?«, zwickte er zurück.

»Hey!«

»Sorry, Leute. Die Leichen am Grillbuffett sind leider aus, bedaure!«, stieß Strelitz mit einem Lächeln und vier Nackensteaks zu der illustren Runde. »Spricht sich unser kleines Phänomen im Kleingartenverein ›Erntedank‹ herum?« Er biss herzhaft in den Mix aus zartem Fleisch und einer scheinbar exklusiv für dieses Stück Schwein abgemischten Curry-Mango-Kokos-Creme.

»Ich befürchte, ja. Mama, Papa? Karl-Eberhard Strelitz! Bester Grillmeister der Stadt«, stellte Franziska vor.

»Wenn es so gut schmeckt, wie es riecht, scheint der Tag gerettet zu sein«, setzte Franziskas Vater das Steakmesser an. »Das ist ja köstlich! Wir sollten Sie öfters einladen.«

»Und diese Soße! Wo haben Sie mein ganzes Leben lang gesteckt?«, glitzerten Rebeccas Augen dem Kriminalrat bewundernd entgegen.

Fast hätte Leo anstatt des Schweinefleisches seinen eigenen Finger filetiert.

Wenig später ergab sich eine ziemlich skurrile Szenerie: Dackel Friedhelm rauschte mit einer Bratwurst im Maul zwischen die Partygäste, gefolgt von Olaf Knispel mit erbost klappernder Grillzange und vielfältigen Verwünschungen.

»Hey, Franziska! Happy Birthday!«, fiel ihr der nächste Gast ungebeten um den Hals. »Ist ja ganz schön was los bei euch!«

»Ich muss mir doch meine Null versüßen lassen. Die gibt’s nicht jedes Jahr dazu. Hey, das ist mein Lieblingslied!«, stieß Franziska aus. Auf der bald stark beanspruchten Tanzfläche, die in ihrem früheren Leben mal den Rasen darstellte, wurde mit Bier angestoßen, gelacht, gefeiert und die Welt herum vergessen. Dieser überaus gelungene Geburtstag glich einer ausgeklügelten Symphonie aus purem Glück, die nur noch von einem Stück der Erdbeertorte übertroffen werden konnte, die fast vergessen im Kühlschrank stand.

»Grandiose Party, Franziska!«

»Danke, Johanna!«, rief sie der Schwester zu.

Als Franziska herumschwang, sah sie Strelitz und Knispel gerade beeindruckende Hüftschwünge machen.

»Ein Bild für die Götter!«, schoss Konstanze Kannengießer den Schnappschuss ihres Lebens.

Franziska fiel kichernd in die Arme ihrer Schwester, die sie gerade noch so auffangen konnte. Hilflos hing sie zwischen Gras und Johannas Armen und zeigte ungläubig mit dem Bierglas in die Richtung der beiden übermütigen Tänzer, die sich nicht beirren ließen und nun mit eingehakten Armen im Kreis tanzten. Als Knispel bei der Abschlusspirouette beinahe in den Teich gefallen wäre, sackte Franziska endgültig vom Lachkrampf gelähmt ins saftige Grün.

»Dich hat der Himmel geschickt, Konstanze. Das glaubt uns ja sonst keiner!«, rappelte Franziska sich langsam wieder hoch, als Knispel erschöpft zu den drei Damen trat.

»Ja, grandios – nicht wahr?«, resümierte sie.

»Na, Olaf. Wie war die erste Tanzstunde?«

»Na ja, die Hauptsache ist, ich lebe noch, oder?«, zuckte Knispel mit den Schultern und zog sich die Krawatte zurecht.

»Na, dann Prost!«, verteilte Franziska eine neue Runde frisch gefüllter Gläser.

»Donnerlittchen! Mit Ihnen lebt man gefährlich! Um ein Haar wären wir in den Teich geplumpst, mein lieber Scholli. Olaf, Olaf«, fasste Strelitz ihn fassungslos bei den Schultern und schnippte sich eine Seerose vom Schuh.

Knispel entglitt sein Glas, jedoch nicht, ohne die frische Schaumkrone auf einem Arm zu verteilen. »Es wäre auch zu schön gewesen«, wischte Olaf sich den Schaum vom Ärmel.

»Spitzenauftritt, du stiehlst uns allen noch die Show! Was steht als Nächstes auf dem Programm? Eine Bierdusche für alle?«, amüsierte sich Rudi, der Wirt, köstlich.

»Selten so gelacht. Ein frisches Pils für mich, bitte.«

»Damit du noch eins in den Rasen kippen kannst?«

»Na, Olaf? Unvorhergesehene Schwierigkeiten bei der Bestellung?«, klopfte Strelitz dem Kommissar im Freizeitmodus von hinten auf die Schulter. »Wir nehmen noch zwei Bier!«, schob Strelitz einen Fünfer über die Theke.

Rudi griff synchron zwei Gläser, die er in derartig geschicktem Winkel in Einklang mit der Zapfgeschwindigkeit brachte, dass die gewünschten Getränke in wenigen Sekunden mit perfekter Schaumkrone standen. Er verzierte sie durch einen kunstvollen Schnipser mit zwei Rosetten einer namhaften Bremer Brauerei.

»Zeit für Kuchen!«, betrat Franziska erneut die Bühne in Begleitung einer verführerisch aussehenden Erdbeersahnetorte in feinstem Kokosnusskleid. Auch die verstreuten Gäste fanden sich wieder im Mittelpunkt des Geschehens ein, um sich den Leckerbissen nicht entgehen zu lassen. Alle Gespräche verstummten, da sämtliche Aufmerksamkeit auf die Tortenstücke gerichtet war.

Die magische Stille wurde jäh gestört, als Julia und Johannes, mit Wasserpistolen ausgestattet, laut grölend vor Heiterkeit den flüchtenden Andreas vorbeijagten, der verzweifelt versuchte, sich mit einem Billig-Wasserschlauch zu verteidigen. Als Hermann Schilling auf der Rückseite des Gartenhäuschens den Schlauch kurzerhand deinstallierte, um Friedhelm frisches Wasser zu spendieren, war Andreas endgültig entwaffnet und der feindlichen Übermacht schutzlos ausgeliefert. Erschöpft und reichlich durchnässt suchte er Schutz an der Kaffeetafel, die augenblicklich auch das Interesse seiner beiden Kinder einnahm.

»Hoffentlich hat die Überraschung für morgen Abend das Wasserbad überlebt«, fingerte Andreas vorsichtig ein stark mitgenommenes Kuvert aus seiner Hemdtasche und gab ihn dem Geburtstagskind.

»Logenplätze für Zirkus ›Mangoldini‹ mit VIP-Dinner? Du führst mich morgen Abend aus?«, las Franziska durch den nassen Umschlag hindurch und fiel ihm überwältigt um den Hals.

* * *

Ein schwarz-blau gestreiftes Zelt schmückte mit pompös golden blinkenden Lichtern die Bürgerweide. In hohem Bogen präsentierte Zirkus »Mangoldini« seine animierten Buchstaben über dem Zeltdach.

Die Dame an der Kasse schüttelte lediglich den Kopf bei dem Versuch, die Buchstaben auf den wassergeschädig-ten Karten zu entziffern. Zwei Artisten nahmen die Gäste in Empfang und zankten sich klamaukartig um die Bedienung der Drehorgel, lediglich unterbrochen von einem gelegentlichen Lächeln vorgespielter Unschuld für die eintretenden Gäste. Das feierlich geschmückte VIP-Publikum wurde persönlich zu ihren Plätzen geleitet.

Franziska und Andreas sanken erschöpft vom ereignis-reichen Vortag in die weichen Sessel und schlürften ihre Begrüßungsgetränke. Zwei Servierkräfte tanzten mit einem Gaumenschmaus heran, der von einer hübsch verzierten Glosche zwecks Überraschung versteckt wurde. Unter der Haube brutzelte es verdächtig, und als die Kellner sie anhoben, um das Gericht zu präsentieren, schlüpfte ein Aroma von geröstetem Hasen auf Pfefferschaumbrei im Waldbeerenbeet in ihre Nasen.

»Sehr verehrtes Publikum, erlesene Zeitzeugen dieses umwerfenden Abends voller Romantik und Abenteuer! Mein Name ist Mangoldini. Willkommen zu einem unvergesslichen Spektakel!«, kam der Zirkusdirektor auf einem Elefanten in die Manege geritten. Er lupfte seinen schwarzen Zylinder, nahm einen Schluck aus einer Flasche und verbeugte sich flink. Enzio der Clown stolperte ungelenk herein und warf ihm eine brennende Fackel zu, mit der Mangoldini begann, Feuer zu speien. Die Manege bebte und applaudierte. Die ersten Begeisterungspfiffe wurden laut, die Zuschauer tobten angesichts des spektakulären Eröffnungsschlags.

»Ihr seid ein großartiges Publikum, wisst ihr das?«, heizte Mangoldini weiter ein.

Trommeln sorgten für einen spannungsvollen Rhythmus. Die restlichen Musiker auf der Balustrade stießen mit ihren Trompeten dazu, als ein Landauer von acht Pferden hereingezogen wurde. Unerwartet stolperte Enzio aus dem Inneren der Kutsche.

»Ja, ich weiß, ich hab eine heiße Karre.«

Das Publikum applaudierte vor Vergnügen.

»Ach verdammt! Nicht dieser alte Angeber schon wieder!«, kam Beppo in Verkleidung des dummen Augusts in die Manege und klopfte sich auf die Schenkel. Er schwang sich auf den Kutschbock und lenkte das Gespann flink aus der Manege. Verzweifelt rannte der Clown stolpernd der davon-eilenden Kutsche hinterher.

Nachdem die Manege nach dieser kleinen Eröffnungsnummer geräumt war, wurde das Licht gedimmt. Sechs starke Männer in blauer Dschinn-Bemalung trugen zu mystischen Klängen Weidenkörbe ins Zelt und stellten sie in einem Kreis auf. Vorsichtig nahmen sie die Deckel ab und eilten wieder hinaus.

Dann seilte sich eine Frau mit blonder Mähne in einem rotglitzernden Teufelskostüm mit ausgebreiteten Flügeln von der Zirkuszeltdecke kopfüber ab. Einer der Musiker warf ihr seine Trompete zu, die sie routiniert mit sicherem Griff im Spiralflug fing. Langsam schwebte sie im Kreis auf und ab an den Körben vorbei und spielte sanft »Je t’aime moi non plus«. Neugierig streckte die erste Schlange ihren Kopf aus einem der Weidekörbe empor. In weniger als einer Minute hatte sich eine Schlangenreihe gebildet, die zu ihrer Melodie tanzte.

Beppo kam danach ins Zelt gestürmt, verfolgt von Enzio, der mit einem aufgeblasenen Gummi-Hammer auf Beppos Rücken einschlug.

Ein buntes Kaleidoskop dieser Kunststücke erleuchtete farbenfroh die Nacht. Liebevoll ausgesuchte Darbietungen brillierten vor den Augen der verblüfften Zuschauer. Beppo revanchierte sich noch mit einem kalten Eimer Wasser bei Enzio, bevor der Zirkusdirektor wieder in die Manege trat.

»Und nun der Höhepunkt des Abends! Die schönste Blume, die die Sonne je zum Leben erweckt hat: Miss Tarantella Sonnenblume, meine Damen und Herren!«, rief der Zirkusdirektor.

Tarantella sprang im Sonnenblumenkostüm auf die Balustrade hinaus, die Zuschauer mit beiden Armen begrüßend und dabei ihren Silberhut schwenkend.

Nachdem sie in den dünnen blau-gelb gestreiften Metallreifen gestiegen war, wurde ihr Seil unerwartet schnell in luftige Höhe gezogen. Der Reifen stoppte fast direkt unter dem Zeltdach, die Zuschauer jubelten und konnten ihre Augen nicht für eine Sekunde abwenden.

Alle Blicke waren auf Tarantella gerichtet, als plötzlich das Seil riss. Es schien wie ein Teil der Show zu sein. Doch mit einem lauten Schrei fiel die Artistin in die Tiefe und verfehlte das Sicherheitsnetz nur um wenige Zentimeter.

Die Zuschauer kreischten durcheinander und gerieten in Panikstimmung, die anderen Darsteller reagierten schockiert, schnappten ungläubig nach Luft.

Der Abend war zu Ende, bevor er richtig angefangen hatte.

Kapitel 1

Auf dem Kutschbock des Landauers draußen vor dem Zelt saß Mangoldini mit einer kleinen Ukulele vor Tarantellas Sonnenblumenkostüm und spielte ein selbst verfasstes Lied zu ihrem Andenken in Gesellschaft seiner Artisten, die sich um ein kleines Lagerfeuer versammelt hatten. »Ach Sunny …« Ihm gegenüber hatte er das große selbstgemalte Zirkusplakat aufgebaut, von welchem Tarantella ihn mit leuchtenden Augen ansah und vor Bühnenfreude glühte. Man konnte schon am Plakat erkennen, dass ihr Leben die Show war, man sah ihre Gabe, die Zuschauer zu verzaubern.

Plötzlich stolperte Kommissar Knispel mit einem lauten Ratsch durch das Plakat hindurch. Die Leinwand ging in Fetzen, und Mangoldini erzeugte einen schiefen Ton auf der Ukulele.

»Kripo Bremen! Uns wurde eine tote Sonnenblumen-Darstellerin gemeldet«, rauschte Knispel recht rustikal in die spontane Gedenkstunde. »Hoppla, in welche geheime Séance bin ich denn hier hineingeraten?«

»Sagen Sie mal, können Sie nicht vorher anklopfen wie andere auch?«, beschwerte sich Mangoldini.

»Lästige Berufsangewohnheit. Unsere gewünschten Gesprächsteilnehmer verschwinden gern durch die Hintertür.«

»Das kann ich gut verstehen. Aber wieso kommen Sie jetzt erst? Die, die Sie suchen, wurde doch schon längst von Ihnen abgeholt. Tarantella Sonnenblume, Genickbruch heute während der Live-Show. Materialermüdung, sagt das vorläufige Gutachten. Soll ich Ihnen geben. Schöne Grüße von Ihren Kollegen Fröhlich und Schlüter«, berichtete Mangoldini.

»Diese verdammten … Und wohin ist die Verunglückteverbracht worden?«

»Hat der Gerichtsmediziner bereits zur Abholung freigegeben.«

Kapitel 2

Nach dem tragisch verlaufenen Abend im Zirkus wirkte die Arbeit am nächsten Tag wie die Einreibung der Seele mit Heilbalsam. Die berufliche Einsatzfreude erhielt angesichts der freitäglichen Wochenendstimmung zusätzliche Kraft.

Die Stimmungslage der Stadtplanerin Franziska Morgenstern hatte sich diesem Verhaltensmuster angepasst. Lediglich zwei Aktenhefter lagen noch auf ihrem Schreibtisch. Den einen konnte sie durch ein lange aufgeschobenes Telefonat mit einem von ihr geschätzten, allerdings sehr mitteilsamen Ortsamtsleiter auf die dienstliche Zielgerade schieben. Bislang hatte sie das Gespräch allerdings vermieden.

Frage einen Ortsamtsleiter nach der Uhrzeit, und er wird dir mit einer Regierungserklärung antworten, hatte sich Franziska während ihres Bettkantengesprächs am Abend zuvor bei ihrem Ehemann Andreas beklagt. Gleichzeitig hatte sie ihre Bereitschaft erklärt, den fälligen Anruf morgen endlich abarbeiten zu wollen.

Der zweite Vorgang, der Franziska sinnbildlich auf dem Magen lag, würde einen konzentrierten Arbeitseinsatz erfordern, der mit einer Stunde ihrer Dienstzeit zu veranschlagen war. Als Ergebnis wurde von ihr eine Deputationsvorlage erwartet, mit der die planungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Reihenhaussiedlung eingeleitet werden sollten. Genau diese Weichenstellung hielt Franziska jedoch für einen groben Fehler, denn das betroffene Gebiet befand sich in einem bereits sehr verdichtet bebauten Quartier.

Vergleichbare Situationen hielten auf ihrem Arbeitsplatz regelmäßig Einkehr und hatten über die Jahre für manche frustrierende Momente gesorgt. Immer wieder musste sie erleben, wie die Stadtplanung den Interessen von Investoren unterworfen wurde. Das geschah gelegentlich, jedoch zum Nachteil des Gemeinwesens. Und eben dieses Allgemeinwohl besaß für Franziska eine hohe Bedeutung und galt ihr als Leitfaden für das dienstliche Handeln.

Das Problem bestand darin, dass sie bei der Interpretation des Gemeinwohls selten der gleichen Meinung war wie ihre Vorgesetztenebene. Oft ging es lediglich um geringfügig abweichende Einschätzungen, häufiger bekam die Diskussion jedoch ein ideologisches Gepräge und entwickelte sich zum Glaubenskrieg. Ihre Widerstandskraft wurde manchmal zermürbt, und ihre dienstliche Leidensfähigkeit erreichte Grenzpunkte.

Daraufhin hatte sie sich jeweils mit Andreas beraten und das Problem wiederholt bis in die tiefe Nacht diskutiert. Nach einigen intensiven Bettkantengesprächen, die in der Regel erfreulicher endeten, als sie begannen, war Franziska trotzdem reif für die Insel gewesen. Sie hatte sich zunächst für zwölf Monate beurlauben lassen.

Ihr Plan, sich mit einem Werbe-Studio als selbstständige, konkurrenzfähige Planerin in einer Bürogemeinschaft zu profilieren, war jedoch nach wenigen Monaten gescheitert. Dabei war es ausgerechnet ihr ehemaliger Chef Dr. Strünzel gewesen, der ihr kleinere Aufträge der Stadtgemeinde verschaffte, um sie über Wasser zu halten. Vermutlich auch, weil er dadurch hoffte, dass sie nicht zurück ins Amt kommen würde. Dies entsprach allerdings nicht ihrer gewünschten Selbstverwirklichung oder des Konzepts einer freischaffenden Planerin als dauerhafte Existenzform. So war Franziska wieder in die Geborgenheit des öffentlichen Dienstes zurückgekehrt, sehr zum Missfallen ihres Dienstvorgesetzten.

»Wozu hab ich Sie eigentlich beurlaubt, Frau Morgenstern? Sollten Sie nicht schon längst auf den Bahamas in einer alternativen Lebensform ohne Rückfahrschein verweilen?«

Das lag nun einige Wochen zurück, und Franziska hatte sich schnell wieder in die Betriebsabläufe ihrer Abteilung eingefädelt. Die Kolleginnen und Kollegen hatten sie mit offenen Armen empfangen. Nur ihr Abteilungsleiter Dr. Strünzel war so gar nicht amüsiert, eine Haltung, aus der er keinen Hehl machte.

»Sie hätten mir wenigstens ein kleines Souvenir aus Ihrem Langzeiturlaub mitbringen können, wenn Sie schon die Frei-zügigkeit besitzen, vor meiner Pensionierung hier wieder aufzukreuzen.«

Die Fachgespräche zwischen ihm und Franziska besaßen seit ihrer Rückkehr für die jeweiligen Zuhörer daher einen großen Unterhaltungswert. Franziska, die sich zunächst an den kleinen verbalen Gefechten aufrieb, fand eigene Wege, ihren Chef auflaufen zu lassen.

»Frau Morgenstern, Sie haben nicht zufällig die Verwaltungsakte 37B kürzlich gesehen?«

»Nee, sollte ich?«, klimperte sie ganz unschuldig mit den Wimpern. Sie tätschelte gedanklich mit ihrer Hand den Papierkorb unter ihrem Schreibtisch.

So war an diesem Freitag der Stand der Dinge, als Franziska einen Marschbefehl zum Abteilungsleiter erhielt und ihre Mundwinkel umgehend freitagsuntypisch eine Talfahrt absolvierten. Im Vorzimmer musste sie kurz warten, weil Dr. Strünzel deutlich hörbar am Telefon tobte. Wer immer sein aktueller Gesprächspartner war, stand offenbar in akuter Gefahr, einen Hörsturz zu erleiden.

»Dicke Luft?«, fragte Franziska die Vorzimmerkollegin.

Die zuckte mit den Achseln und konzentrierte sich auf das Geschehen auf ihrem Monitor, auf dem sie gerade teilnahmslos ein Moorhuhn nach dem anderen abschoss. Die Gute hatte sich schon vor langer Zeit eine neutrale Zone in einer Art dienstlichem Niemandsland eingerichtet. Darin konnte sie jegliche Kommentierung des Abteilungsleiters ablegen. Mehr konnte man bei ihrer Gehaltsebene nicht verlangen.

Schließlich hatte Dr. Strünzel aufgelegt, und Franziska durfte in das Dienstzimmer ihres Vorgesetzten einrücken.

Mit einer knappen Handbewegung wies er auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch, eine Geste, die angesichts des frostigen Grundklimas zwischen den beiden schon als ungewöhnlich wohlwollend gelten konnte.

Franziska rechnete mit dem Schlimmsten.

Zunächst blätterte ihr Chef ausführlich in einer Akte und schien die Anwesenheit seiner Mitarbeiterin vergessen zu haben. Franziska blieb jedoch fest entschlossen, ihm die Eröffnung dieses Gesprächs zu überlassen.

Er blickte schließlich unvermittelt auf, musterte sie über den Rand seiner Lesebrille, als sei sie eines jener Wesen, für deren Entfernung man gern nach dem Kammerjäger klingelte. Er klappte die Akte zu und hielt sie hoch. »Erinnern Sie sich an diesen Vorgang?«

Franziska nickte. »Ja, selbstverständlich. Das Landheim ›Erntedank‹. Ich hatte den Hefter auf Ihren Tisch gelegt, weil ich der Auffassung bin, dass wir hier das Planungsrecht ändern sollten.«

»Das hatte ich nicht gefragt«, antwortete Dr. Strünzel kalt. »Aber wo Sie es schon ansprechen, sagen Sie mir doch bitte eins: Seit wann legalisieren wir Schwarzbauten, indem wir den geltenden Bebauungsplan anpassen?«

»So ungewöhnlich ist das nicht«, gab Franziska trocken zurück. »Je nachdem, um wessen Interesse es geht.«

»Und das war in Ihren Augen bis jetzt immer skandalös, liege ich da richtig?«

Franziska wollte antworten, dass sie dazu eine sehr differenzierte Auffassung habe und es in diesem Fall ganz andere Hintergründe gebe, bekam aber das Wort abgeschnitten.

»Ich will Ihnen sagen, was skandalös ist: dass Sie als Zweite Vorsitzende des Kleingartenvereins den Versuch unternehmen, Ihr schwarzgebautes Landheim vor dem Abriss zu retten, und dafür das Baurecht verbiegen wollen!«

»Meine Güte, ich profitiere doch nicht davon«, entgegnete Franziska. »Ich will nur für den Pächter und seine Familie verlässliche Verhältnisse schaffen. Seine Tochter wohnt dort mit ihrem Mann und einem Säugling, wie sollen die denn so schnell eine neue Wohnung finden? Außerdem stammt das Landheim aus dem Jahr 1936. Damals hat man einfach gebaut und sich nicht lange mit dem Planungsrecht aufgehalten.

Soweit ich weiß, hatte das Landheim damals nichts mit dem Kleingartenverein zu tun. Vielmehr handelte es sich um eine Ausbildungsstätte für sogenannte Fremdarbeiter. Dort gab es Unterweisungen im U-Boot-Bau und Ähnliches. Das fand eigentlich in den ehemaligen Auswandererhallen an der Hemmstraße statt, aber es sollten ab den 1940ern neue Kapazitäten geschaffen werden«, setzte Franziska ihren Abteilungsleiter ins rechte Licht.

Dr. Strünzel lehnte sich zurück. »Ja, ich weiß, der zweite Gebäudeteil mit den Schlafsälen und Unterrichtsräumen hat dann die große Bombennacht vom 18., 19. August 1944 nicht überlebt, wie so vieles andere auch nicht, und so weiter und so fort. Aber wen interessieren denn diese ganzen Details aus Großmutters Zeiten? Darum geht es hier doch überhaupt nicht.«

Franziska spürte, dass ihr Gegenüber das Gespräch gleich auf den Punkt bringen würde, und wunderte sich über den ungewöhnlich langen Anlauf.

Ihr Abteilungsleiter setzte die Lesebrille ab, um seine ungeliebte Planerin genauer betrachten zu können.

»Frau Morgenstern …«, begann er und setzte ein zufriedenes Lächeln auf. »Also gut, ich werde Ihren Wunsch erfüllen. Wir werden das Planrecht für Ihr Landheim ändern.«

Franziska war sprachlos. »Das ist erfreulich …«, stieß sie hervor und suchte sofort nach einem Haken, denn den gab es zweifelslos.

Dr. Strünzel inspizierte eingehend seine Fingernägel. Sicherlich hielt er dies für einen oscarverdächtigen, ausgeklügelten Showeffekt, um das Spannungsmoment in die Länge zu ziehen. Dann setzte er seine Mitarbeiterin endlich vom neuesten Stand der Dinge in Kenntnis.

»Stellen Sie sich vor, es gibt für Ihr Landheim tatsächlich ganz neue Perspektiven.«

»Jetzt kommt’s«, schnipste Franziska mit ihrem Zeigefinger.

»Ja. Wissen Sie, es gibt einen Investor, der diese alte Kisteaus ihrem Dornröschenschlaf erwecken will. Es gab doch schon einmal ambitionierte Planungen in diese Richtung, oder? Aus dem Landheim sollte doch ein Standort für Erwachsenenbildung werden, wenn ich mich richtig erinnere.«

»Natürlich erinnern Sie sich!«, schnappte Franziska verärgert. »Der Vorgang liegt direkt vor Ihnen. Ich hatte ihn letzte Woche aus unserem Kleingartenarchiv mitgebracht, damit Sie einen Blick darauf werfen.«

»Richtig!«, strahlte Dr. Strünzel, als erinnere er sich an ein lange zurückliegendes, besonders stimmungsvolles Fami-lienfest. »Und die Verfasserin, lebt die eigentlich noch?«

»Frau Dr. Theuerkauf ist verstorben. Sie und ihr Gefährte, der Herr Mattfeld. Er hatte damals das Konzept verfasst und ist ebenfalls ums Leben gekommen. Diese Umstände sollten Ihnen eigentlich geläufig sein, denn die Unterlagen dazu hatte ich Ihnen vor meiner Beurlaubung auf den Schreibtisch gelegt.«

»Ach, und jetzt soll ich den ganzen Senf auswendig kennen? Na, geben Sie mir noch eine Woche Bedenkzeit, danach können Sie mich zu Details befragen.« Der Abteilungsleiter hatte in seiner Gesprächsführung einen forschen Gang eingelegt. Franziska blieb wachsam. Jetzt wird er gleich auf den Punkt kommen, dachte sie zum zweiten Mal.

»Um es kurz zu machen …« Dr. Strünzel schaute gereizt auf seine Armbanduhr, als hielte Franziska ihn mit einer langatmigen Schilderung ihres zu kurz geratenen Bahamas-Urlaubs von der Arbeit ab. »Ich habe einen Investor und einen Projektentwickler an der Hand. Die beiden werden das Landheim abreißen, und dann entsteht ein vorzeigbares Gebäude, das vermutlich rund ums Jahr ausgebucht sein wird. Eventuelle Nachfrageschwächen im Weiterbildungssegment werden die Betreiber ausgleichen. Das Haus wird nämlich auch als Hotel für Montagearbeiter und Geschäftsreisende funktionieren.«

»Am Rande eines Kleingartengebietes?«, kam Franziska so abrupt von ihrem Stuhl hoch, dass er nach hinten flog.

Zur Abwechslung strahlte Dr. Strünzel. »Sie wollten doch das Planrecht ändern, oder? Nun, Ihr Wunsch ist mir Befehl. Aber da Sie hier zweifellos befangen sind, übertrage ich diese Aufgabe einem Kollegen aus einem anderen Bezirk. Aber einen Gefallen können Sie mir tun.« Strünzel strahlte noch immer. »Sagen Sie Ihrem Gastronomie-Zausel, dass er schon mal seinen Zapfhahn abschrauben kann.«

Franziska spürte, dass sie für eine angemessene Wortwahl nicht mehr länger garantieren konnte. Es war Zeit, das Zimmer zu verlassen. Sie machte auf dem Absatz kehrt. In der schon geöffneten Tür blieb sie noch einmal stehen. Strünzel nutzte die Gelegenheit und setzte noch mal nach.

»Was ist jetzt?«, rief er. »Sagen Sie Ihrem Theken-Schrat nun Bescheid? Sie können das sicher besser als ich.«

»Klingebiel heißt er. Rudi Klingebiel. Und ihm Bescheid sagen kann ich sicherlich besser als Sie. Wie übrigens vieles andere auch.«

»Jetzt werden Sie nicht unverschämt!«

»Ich stelle nur Tatsachen fest!«, entgegnete Franziska verbittert.

»Sprechen Sie möglichst bald mit Ihrem Bierzapfer. Ich habe nämlich den Abrissantrag bereits auf meinem Schreibtisch liegen. Und der Landesverband der Kleingärtner ist ebenfalls mit im Boot!«

Franziska bebte vor Empörung.

»Sie glauben doch wohl nicht, dass Sie das durchsetzen können!« Sie knallte die Tür mit Schwung zu. So erbost war sie zuletzt gewesen, als sie ihren damaligen Lebensgefährten und ihre beste Freundin zusammen in ihrem eigenen Bett angetroffen hatte.

Die Vorzimmerkollegin starrte ihr mit offenem Mund erschrocken nach und verpasste zum ersten Mal in ihrer Amtszeit das große 25er-Moorhuhn.

Kapitel 3

Kriminalrat Strelitz befand sich an diesem Freitag in gemischter Laune. Die Arbeitsbelastung seines Teams nach Selbstauflösung des letzten Falls war recht entspannt.

»Was für ein Zirkus gestern. Wer hat einst Frau Morgenstern diesen verdammten Kleingarten angedreht, in dessen Umfeld anstatt Blumen nur Leichen blühen! Seit diesem denkwürdigen Tag, dessen Zahl garantiert eine 13 ziert, ereignen sich im Ortsteil Findorff zu viele Schwerverbrechen!«, murmelte Strelitz laut vor sich hin. Er schien von gestern irgendwie noch unter Strom zu stehen. Zum dritten Mal ging er denselben Stapel von Unterlagen durch. »Hab ich auch alles?«, verunsicherte er sich selbst.

Die Kaffeemaschine, die mindestens die gleiche Zahl an Dienstjahren auf dem Buckel hatte wie der Kriminalrat, schien sich verschluckt zu haben. Sie stieß dichte Dampfwolken aus und hustete. Schließlich verfiel sie in ein Gurgeln und Zischen. Das antike Gerät war vor einiger Zeit vom Ermittlerteam auf den Namen Rudolf getauft worden, weil es wie ein Rentier oder Hirsch röhren konnte.

Verschiedene Gäste, die von Rudolfs akustischen Einlagen weniger begeistert gewesen waren, hatten die Anschaffung einer zeitgemäßen Kaffeemaschine empfohlen. Einige hatten sich sogar finanziell beteiligen wollen. Der Polizeipräsident Siegmund Schröter war sogar bereit gewesen, die vollen Kosten zu übernehmen. Strelitz und sein Team hatten jedoch regelmäßig und empört abgelehnt. Man würde doch Rudolf, den zuverlässigen Kaffeelieferanten, den getreuen Augenzeugen mancher dramatischer Verhöre, nicht einfach entsorgen.

»Siegmund, du musst wissen, dass Rudolf abteilungsintern mehrfach in der engeren Wahl zum Mitarbeiter des Monats war«, hatte Strelitz dem Polizeipräsidenten erklärt. Die beiden waren seit Jahren gut befreundet und sahen sich regelmäßig in einer Doppelkopfrunde. Der PP, wie der Polizeipräsident dienstintern genannt wurde, tadelte seinen alten Weggefährten. »Eine Kaffeemaschine als Mitarbeiter des Monats? Sonst ist bei dir alles in Ordnung, Karl-Eberhard? Ich meine nur, das ist nicht gerade ein Kompliment für dein Team, oder?«

Strelitz hatte nicht gezögert, umgehend eine Ehrenerklärung für seine Mannschaft abzugeben. Sowohl Oberkommissarin Konstanze Kannengießer als auch Kommissar Olaf Knispel bezeichnete er darin als die »tragenden Wände« seiner Organisationseinheit.

Dieses Team stand bereits, inklusive seines Chefs, unter froher Erwartung eines erleichternden Wochenendes. Strelitzzog seine Krawatte zurecht.

»Ich muss jetzt meinen Termin wahrnehmen, egal, was noch passiert. Wenn der PP oder Frau Morgenstern anruft, sagen Sie ihnen, ich sei schon weg«, wies er seine Oberkommissarin an.

Prompt meldete sich auch schon wie bestellt das Telefon und rang um Aufmerksamkeit.

Konstanze Kannengießer schnappte sich mit einem selbstsicheren Griff den Hörer. Sie meldete sich und sagte: »Einen Moment«, und reichte Strelitz den Hörer. »Frau Morgenstern für Sie, Chef!«

Strelitz erblasste. Vor seinem inneren Auge malte sich ein erstochenes Opfer zwischen grün gepflegten Rabatten aus.

»Polizei Bremen. Hier spricht Ihr Anrufbeantworter! … Ach, Marga, du bist es!« Der Kriminalrat atmete auf und drohte seiner Oberkommissarin, die ihren kleinen Scherz sichtlich genoss, mit der freien Hand. Dann stieg er in das Gespräch mit seiner Ehefrau ein. Die hatte ihn lediglich daran erinnern wollen, bei ihrem anstehenden Termin pünktlich zu sein, und wirkte nun recht konsterniert bei dem Versuch, die ungewohnt sarkastischen Aussagen ihres Mannes einzuordnen.

Kommissar Olaf Knispel, der ebenfalls in Strelitz’ Dienstzimmer saß, nahm an diesem kleinen Geplänkel keinen Anteil. Missvergnügt starrte er auf das vor ihm liegende Sudoku. Die Lösung war ihm missglückt, obwohl es aus der einfachsten Stufe stammte. Er hatte anfangs milde lächelnd seinen Stift gezückt und war den Zahlenlücken in den neun einzelnen Quadraten im Eiltempo zu Leibe gerückt.