Franziska und der Kleingartenkrieg - Hans-Peter Mester - E-Book

Franziska und der Kleingartenkrieg E-Book

Hans-Peter Mester

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Beschreibung

Manches ist anders, als es scheint Für den alljährlich anstehenden Wettbewerb der schönsten Bremer Kleingärten werden erneut drei direkt benachbarte und anscheinend zerstrittene Seniorenpaare nominiert. Dann wird der erste Teilnehmer in seiner Wohnung erschlagen, und der zweite stirbt in seiner Laube. Es wird bekannt, dass die drei Paare intime Verhältnisse miteinander pflegten und eine wertvolle Münzsammlung verschwunden ist. Da sich Kriminalrat Strelitz zur Kur begab, wird Oberkommissarin Kannengießer vor eine Leistungsprobe gestellt. Kann sie die Mordfälle aufklären, bevor der Kriminalrat zurückkommt, oder muss erneut Franziska eingreifen? Auch ein Osterfeuer sowie Senioren-Abzockerei im Landheim sorgen für Verdruss, bis die Taten in Mord und Totschlag differenziert werden können. Folgenschwere Entscheidungen und überraschende Erkenntnisse.

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Hans-Peter Mester

Franziska

und derKleingartenkrieg

Findorff-Krimi

Band 9

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek

registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

http://dnb.d-nb.de

Impressum

© 2018 KellnerVerlag, Bremen • Boston

St.-Pauli-Deich 3 • 28199 BremenTel. 04 21 - 77 8 66 • Fax 04 21 - 70 40 58

[email protected] • www.kellnerverlag.de

Lektorat: Regina Konradi, Sebastian Liedtke, Klaus KellnerSatz: Annika NehlUmschlag: Designbüro Möhlenkamp & Schuldt, Bremen

ISBN 978-3-95651-188-2

Der Autor:

Hans-Peter Mester, Jahrgang 1954, in Bremen geboren und aufgewachsen, hat große Teile seiner Kindheit »auf Parzelle« verbringen dürfen. Für den langjährigen Leiter des Ortsamtes Bremen-West gehörte der lokale Blick auf die Stärken und die Abgründe des Stadtteillebens fast drei Jahrzehnte zu seinem Berufsalltag. Von 1985 bis 2000 war er stellvertretender Leiter, von 2000 bis 2012 Chef des Bremer Ortsamtes West.

Er quittierte den Dienst wegen seiner Parkinson-Erkrankung, die ihm anschließend die Gelegenheit bot, zu Hause über kuriose und alltägliche Besonderheiten zu schreiben. Zahlreiche Notizen bildeten die Grundlage für die raffinierten Kriminalromane rund um Stadtplanerin Franziska.

Ein besonderer, sozial engagierter Mensch ist nun nicht mehr mit uns. Er starb am 8. April 2016 im 63. Lebensjahr. Er wusste um seine radikal begrenzte Lebenszeit und schrieb die zehnbändige Krimi-Reihe »Franziska und ...«. Diesem neunten Band wird noch das Finale bis Ende 2018 folgen.

Verstorbene leben in den Gedanken der anderen Menschen weiter, Hans-Peter Mester wird zusätzlich durch seine Bücher präsent und noch sehr lange in Erinnerung bleiben.

Foto: Walter Gerbracht

Die Akteure

Im Kleingartenmilieu

Franziska Morgenstern

Eigentlich Stadtplanerin, mit Sicherheit Kleingärtnerin, manchmal in kriminelle Vorgänge verstrickt.

Andreas Klapphorn

Musikpädagoge, Ehepartner von Franziska und Vereinsvorsitzender.

Julia und Johannes

Kinder von Andreas aus erste Ehe.

Paul

Freund von Julia.

Johanna Morgenstern

Schwester von Franziska; etwas geschwätzig, aber herzensgut.

Tatjana Knispel-Klingebiel

Tochter von Rudi aus erster Ehe, Ehefrau von Olaf und werdende Mutter.

Hermann Schilling mit Dackel Friedhelm

Parzellennachbar von Franziska und Andreas. Dienstältester Kleingärtner im Verein. Von seinem neurotischen Rauhaardackel Friedhelm nicht zu trennen.

Beamte

Kriminalrat Karl-Eberhard Strelitz

Erfahrungsgesättigter Chef des Morddezernats, hadert mit dem Älterwerden.

Oberkommissarin Konstanze Kannengießer

Loyale Oberkommissarin – das Rückgrat im Ermittler-Team.

Kommissar Olaf Knispel

Jüngstes Mitglied im Ermittlerteam, manchmal übereifrig, zuständig für Fettnäpfchen.

Isabel Graf

Volontärin. Sie begleitet die Arbeit des Ermittler-Teams.

… und außerdem

Rudi Klingebiel und seine Frau Maria

Pächter des Landheims »Erntedank«. Rudi ist Gemütsmensch, verkörpert »Volkes Stimme« und ist mit seiner Gaststätte die kommunikative Drehscheibe des Kleingartenvereins.

Erwin und Trude Rübsam, Karl und Grete Flottbeck, Friedo und Elsbeth Bohnekamp

Finalisten des Wettbewerbs »Schönster Kleingarten«, die sich in einer ungesunden Konkurrenz zueinander befinden, aber mehr miteinander verbandelt sind, als offenkundig ist.

Markus Schneidewind

Lebensbegleiter von Isabel Graf.

Christian Schwalbach

Leiter des Drogendezernats, Lebensgefährte von Konstanze Kannengießer.

Theobald Feinripp

Leitet Verkaufsveranstaltungen für Senioren im Landheim.

Alexander Weber, Krzystof Przyblynski, Thomasz Matuschewski

Dienstjüngste Kleingärtner. Weber ist direkter, neuer Nachbar der Teilnehmer zum Wettbewerb »Schönster Kleingarten«.

Marga Strelitz

Ehefrau des Kriminalrates, sorgt sich um seine Gesundheit.

Prolog

Vor 25 Jahren, am Karfreitag, abends.Drei Lichtkegel tanzten in einem Kleingartenverein unruhig über den grobkörnigen Belag eines Parzellenweges, der an beiden Seiten von dichten Hecken eingefasst war, deren Höhe die zulässige Obergrenze bereits deutlich überschritten hatte.

Die Gestalten, deren Schatten sich hinter den Taschenlampen bewegten, hatten jedoch keinen Blick für das überbordende Wachstum der Liguster- und Blutjohannisbeergewächse, die in diesem Weg die Einfassung der Parzellen dominierten und mit ihren ausladenden Trieben nach den nächtlichen Besuchern zu greifen schienen.

Jeder der drei trug außer der Taschenlampe einen Benzinkanister. Das Ziel dieser kleinen Expedition stand offenbar fest.

»Das wird eine nette Überraschung«, kicherte einer der drei Leisetreter.

»Pscht!«, wurde er gleich zweifach zur Ruhe ermahnt. Die drei bogen noch zweimal ab und gelangten an eine Freifläche, die während der Gartensaison unterschiedlichsten Zwecken diente. Höhepunkt war das große Sommerfest am jeweils letzten Augustwochenende. Heute, Anfang April, zeigte sich der Platz in ungewöhnlichem Zustand. Gegen den dunklen Himmel zeichnete sich ein hochaufgetürmter Stapel von Ästen, Zweigen und Stämmen ab, ein gigantischer Scheiterhaufen.

»Das ist ja gewaltig!«, raunte einer der dunklen Gestalten. »Und leider völlig vergebens«, kicherte der zweite Schatten. »Los jetzt«, befahl der Dritte. Die Benzinkanister wurden aufgeschraubt und der Inhalt über einen Teil des Brennmaterials entleert. Mit dem Rest wurde eine zehn Meter lange Spur gelegt. »So viel Sicherheitsabstand wird nötig sein. Der Stapel ist in den letzten Tagen zusammengetragen worden, und es hat über eine Woche nicht geregnet. Das Material ist knochentrocken. Ihr werdet sehen, das zündet so durch!«, prophezeite einer der drei Akteure. Er betätigte sein Sturmfeuerzeug, hielt es an das benzingetränkte Gras und behielt Recht.

Kapitel 1

25 Jahre später gelangte Erwin Rübsam zu der Überzeugung, dass er seinen Urlaubsort nicht sorgfältig genug gewählt hatte. Die Insel Spiekeroog war jedenfalls nicht entfernt genug, um ihn vor einem Rückruf in die Firma zu schützen. Mit einem markigen, keinen Widerspruch duldenden »Moin, Rübsam!«, hatte sich sein Chef per Handy in seinem rechten Ohr eingenistet. Rübsam versuchte, sich aus seiner Bettdecke zu schälen, und tastete nach dem Reisewecker. Sieben Uhr morgens. Er hatte schon lange den Verdacht, dass sein Chef im privaten Leben nicht ausgelastet war. Rübsams Frau reagierte auf die Störung mit einem gereizten, fast schon bedrohlichen Grunzen. Im Gegensatz zu ihrem Gatten kroch sie noch ein Stück tiefer unter ihre Decke.

Rübsam stöhnte. Er schätzte es nicht, wenn seine Frau derartige akustische Beiträge lieferte, und noch weniger schätzte er es, wenn sein Chef ihn wie einen Leibeigenen behandelte.

»Sie wird gar nicht realisieren, dass Sie mal eben kurz unterwegs waren.«

»Aber Chef, das ist mein Urlaub …«

»… ich weiß«, beschwichtigte der Allgewaltige, »… und ich weiß auch, dass es Ihr letzter Urlaub vor der Pensionierung ist. Aber wir anderen, wir müssen noch ein bisschen länger arbeiten, und da muss jede Weichenstellung stimmen. Das muss ich Ihnen als Dienstältesten doch nicht erzählen. Die Zentrale wird mir jedenfalls das Gesäß aufreißen, wenn ich jetzt eine falsche Entscheidung treffe!«

»Aber Chef, ich …«

»Nun machen Sie schon! Frühstücken können Sie auf der Fähre. Wie gesagt, grüßen Sie ihre Frau von mir, und dann will ich möglichst schnell Ihr Urteil hören!«

»Aber …«

»Nix aber, sagen Sie Ihre Wattwanderungen ab, setzen Sie sich an den Strand, und arbeiten Sie das Material durch. Sie kriegen das schon gewuppt. Ich verlass mich auf Sie. Ach ja – morgen Abend bitte einen telefonischen Vorab-Bericht!«

Das Gespräch wurde beendet. Rübsam schaute ratlos auf sein Handy und dann auf seine Frau.

Die brachte mit einem Spalt weit geöffneten Auge Schärfe in die Auseinandersetzung. »Wenn du jetzt aufstehst und nach Hause fährst, dann war’s das! Dann werde ich nicht mehr hier sein, wenn du zurückkommst!«

Rübsam saß mittlerweile auf der Bettkante und gähnte. Die Zeit, in der solch drohende Sätze eine ernsthafte Gefährdung der häuslichen Harmonie oder gar eine grundsätzliche Bedrohung der ehelichen Gemeinschaft darstellten, lag lange zurück. Noch ein gutes halbes Jahr, und er konnte in den sogenannten Ruhestand eintreten – dann gehörten Momente wie dieser der Vergangenheit an.

Seine Frau öffnete ein Auge und sah Erwin ins Bad schlurfen. Ihr Urteil fiel vernichtend aus. »Du bist ein absoluter Waschlappen!« Damit drehte sie sich übellaunig die Decke über den Kopf und suchte Anschluss an ihren letzten Traum.

Sie konnte nicht ahnen, dass sie ihren »Waschlappen« zum letzten Mal lebend gesehen hatte.

Kapitel 2

Franziska besuchte an diesem Tag wieder einmal ihre Dienststelle. Sie war Stadtplanerin und als solche eigentlich für die Stadtgemeinde tätig.

Allerdings hatte sie eine Reihe von Reibungspunkten veranlasst, sich vor einigen Monaten für zunächst ein Jahr beurlauben zu lassen. Ein überheblicher Abteilungsleiter, mangelnde Perspektiven für einen beruflichen Aufstieg und zunehmende Fremdbestimmtheit ihrer Arbeitsinhalte hatten ihr die Bereitschaft genommen, jeden Tag unkritisch und weisungsgemäß zu funktionieren. Sie sehnte sich danach, wieder Kreativschübe ausleben zu dürfen, das scheinbar Unmögliche Realität werden zu lassen und Grenzen des Planungsrechts manchmal hilfreich zu überschreiten. Im Hinterkopf hatte sie den Verdacht verworfen, dass eine winzig bemessene Portion Midlife-Crisis eine Rolle spielen könnte. Mit Mitte 30 erschien es ihr deutlich verfrüht, auf diese gern genommene Universalentschuldigung für gestörte Befindlichkeiten zurückzugreifen.

Außerdem war es keinesfalls so, dass sie dem Müßiggang frönte. Mit ihrer Schwester Johanna hatte sie in der Münchener Straße ein Planungsbüro eröffnet, das sie unter dem Namen »Stadtplan & Wirkung« in Bürogemeinschaft mit einem Werbeunternehmen führen wollten. Diese Idee hatte sich jedoch zerschlagen, und nun hatten sie als Ersatzlösung das Arbeitszimmer von Franziska in ihrem Wohnhaus in der Torgauer Straße umgebaut. Andreas war damit einverstanden – schließlich hatte er diese Lösung schon zu einem frühen Zeitpunkt selbst ins Spiel gebracht.

Bis jetzt war die Auftragslage des Planungsbüros überschaubar. Auch das »Urlaubsjahr« war bereits zur Hälfte verstrichen, und in Kürze würde Franziska entscheiden müssen, ob sie für längere Zeit die eigenverantwortliche Lebensform einer freien Planerin bevorzugen sollte. Vielleicht war es doch klüger, den Weg zurück in die schützenden Strukturen eines stadtbremischen Beschäftigungsverhältnisses einzuschlagen. Bislang hatte sie diese Entscheidung erfolgreich verschieben können, aber bis Ostern würde sie den Daumen in die eine oder andere Richtung bewegen müssen.

Obwohl ihr noch ein paar Tage Zeit für die Entscheidung blieben, hatte ihr Abteilungsleiter Gesprächsbedarf signalisiert. Das war zumindest die Botschaft seiner Sekretärin gewesen. Für ein direktes Telefonat hatte er keine Notwendigkeit erkennen können.

Sie fand sich pünktlich bei ihrem früheren Abteilungsleiter ein und hatte ausreichend Zeitreserve eingeplant, um zuvor ihre Kollegen zu begrüßen.

Der Abteilungsleiter machte es kurz und kam direkt auf den Punkt.

»Guten Morgen, Frau Morgenstern. Nehmen Sie Platz, wenn Sie mögen.«

Angesichts dieser herzlichen Begrüßung zog Franziska es vor, stehen zu bleiben.

»Kennen Sie den Begriff ›Schröder-Ring‹?«, erkundigte sich der Abteilungsleiter und blätterte geistesabwesend in einem Stapel Vorgänge, der auf seinem Schreibtisch den wesentlichen Teil eines gut inszenierten Chaos bildete, das dem neutralen Beobachter den Eindruck einer völligen Arbeitsüberlastung vermitteln sollte. Für seine Mitarbeiter war es jedoch ein offenes Geheimnis, dass es sich um potemkinsche Dörfer handelte.

»Selbstverständlich«, bestätigte Franziska. »Es handelt sich um das von dem guten alten Baurat Schröder noch im 19. Jahrhundert entwickelte Straßenraster, mit dem er die Linienführung Waller Ring, Osterfeuerberger Ring, Utbremer Ring hinein in den Schwachhauser Ring festschrieb. Zwischen dem Utbremer Ring und dem Schwachhauser Ring fehlt jedoch ein Abschnitt. Er führt durch den Bürgerpark – zwar asphaltiert, aber für motorisierte Verkehrsteilnehmer nicht zugelassen. Diese Tatsache hat bislang einer Komplettierung der Ringstraße entgegengestanden.« Sie lehnte sich zurück und behielt den Abteilungsleiter im Blick. »Und hoffentlich auch weiterhin entgegenstehen wird«, setzte sie hinzu.

»Gemach, Frau Morgenstern, gemach«, wehrte ihr einstiger Vorgesetzte ab.

Er stieß sich mit seinem linken Fuß vom Schreibtisch ab, rollte mit dem Drehstuhl an einen im Hintergrund stehenden Aktenbock und versorgte sich dort mit einer Tasse Kaffee, ohne seiner Besucherin etwas anzubieten.

»Es gibt eine neue politische Setzung. Führende politische Kräfte diskutieren zurzeit, ob eine Straßenbahnverbindung durch den Schröder-Ring gelegt werden soll.«

Der Abteilungsleiter kostete jedes Wort aus.

Franziska war entsetzt. »Das wäre der kapitalste Fehler der Stadt- und Raumplanung seit dem Ersatz der alten Börse am Marktplatz durch das Bürgerschaftsgebäude! Eine Straßenbahn durch den Bürgerpark? Entschuldigung, aber geht’s denn noch? Wer diese Tür auch nur ein Stück öffnet, wird sie nicht wieder zubekommen. Mit anderen Worten: Den Geist, den man da aus der Flasche lässt¸ wird man nicht wieder zurück …«

»Frau Morgenstern«, unterbrach ihr Gegenüber, »bitte! Es muss doch gestattet sein, über alles nachzudenken und zu debattieren. Ergebnisoffen, versteht sich. Es ist beabsichtigt, drei Planungsbüros zu beauftragen, um die Option einer Straßenbahnführung durch den Bürgerpark zu prüfen. Nach unseren Vorstellungen sollen Sie einer der Auftragnehmer sein. Beachten Sie bitte, dass sowohl Aspekte der Freiraum- als auch der Verkehrsplanung einzubeziehen sind. Mit anderen Worten: Ziehen Sie weitere Experten hinzu. Und scheuen Sie sich nicht, zu unpopulären Ergebnissen zu kommen. Ich hatte ja bereits angedeutet, dass dieser Auftrag völlig ergebnisoffen angelegt ist. Entscheidend wird die Begründung sein, mit der Sie zu Ihrem Ergebnis gelangen.« Der Abteilungsleiter beugte sich über den unsortierten Schreibtisch. »Finanziell ist der Auftrag übrigens nicht uninteressant.« Er schob ihr eine Mappe zu. »Die Unterlagen des Wettbewerbs.«

Er setzte eine gönnerhafte Miene auf, und Franziska fühlte sich, als empfange sie in einer öffentlichen Suppenküche soeben die erste warme Mahlzeit dieser Woche. Sie verspürte einen Impuls, dem ihr gegenübersitzenden Herrn seinen Kaffee in den Schritt zu kippen, widerstand aber der Versuchung und nahm stattdessen die Mappe kommentarlos an sich. »War’s das?«, fragte sie reserviert und machte Anstalten, sich zu erheben.

»Doch, ja, ich denke schon.« Ihr Gegenüber erhob sich ebenfalls. »Sie werden sehen, die Unterlagen sind sehr umfassend gehalten. Sollten Sie wider Erwarten noch Fragen haben, kennen Sie ja die kompetentesten Mitarbeiter unseres Stabes.«

»Keine Angst, ich käme nicht auf die Idee, Sie anzurufen«, lächelte Franziska mit umwerfendem Charme. »Ich meine, ich weiß ja, wie beschäftigt Sie sind.«

Sie verließ mit einem kurzen »Man sieht sich!« das Dienstzimmer. Auf einen Händedruck legte sie keinen Wert, und es gelang ihr mit dem raschen Abgang, jeglicher Abschiedszeremonie aus dem Weg zu gehen.

Kapitel 3

Franziska hatte sich den Tag mit Andreas so eingeteilt, dass sie sich erst abends wieder begegnen würden. Franziska hatte noch den Besuch eines Elternabends übernommen. Dort standen Johannes’ Leistungen auf dem Prüfstand. Man war sich einig, dass er durchweg sehr akzeptable Ergebnisse lieferte, wobei dieser Umstand sowohl den Pädagogen als auch Franziska und Andreas ein Rätsel blieb. Niemand hätte je behaupten können, Johannes beim Lernen oder aber einer annähernd vergleichbaren Tätigkeit beobachtet zu haben.

Andreas wiederum hatte die Sprechstunde des Vorstandes übernommen. Er war Erster Vorsitzender des Kleingartenvereins »Erntedank«, Franziska seine Stellvertreterin. Den Auftakt der heutigen Jammer- und Nörgelkultur, die in der Sprechstunde regelmäßig zu beobachten war, bildete eine Beschwerde über einen Nachbarn, der angeblich ständig mit der »chemischen Keule« arbeitete – selbst jetzt noch, Anfang März. Weitere Beschwerden gab es über Lärm und Müllablagerungen. Danach gab es Leerlauf, und Andreas hatte Gelegenheit, in alten Vorstandsprotokollen zu blättern. Schließlich war es 19 Uhr, und er konnte endlich die heutige Vorstandssitzung eröffnen. Alle Mitglieder waren pünktlich erschienen – ein Umstand, der von der Schriftführerin gewissenhaft notiert wurde.

Die Genehmigung des Protokolls der letzten Sitzung war ein Selbstläufer. Andreas hatte mit der Schriftführerin verabredet, dass er ihre Notizen lektoriert und in einfache Hauptsätze umarbeitet. Auf diese Art schrieb er die Protokolle im Grunde selbst, hatte damit abschließenden Einfluss auf den Inhalt und konnte gleichzeitig einen erträglichen Schreibstil sicherstellen. Er war zu sehr Lehrer, als dass er diese Aufgabe der netten, aber unbedarften Schriftführerin hätte überlassen können. Diese war wiederum für die Arbeitsentlastung dankbar und setzte ohne Bedenken ihren Namen unter das Endprodukt.

In der weiteren Tagesordnung ging es zunächst um eine heikle Entscheidung. Der Landesverband der Kleingärtner hatte nämlich wie in den Vorjahren einen Wettbewerb ausgeschrieben, um die zehn schönsten Bremer Kleingärten zu küren. Jeder Bremer Kleingartenverein konnte für die Endauswahl drei Parzellen anmelden.

Nach langer Diskussion fasste Andreas zusammen, dass es wie in den Jahren zuvor nur drei ernsthafte Kandidaten gab. Der Zufall wollte es, dass diese Gärten im Bickbeerweg direkt nebeneinander lagen.

»Karlchen Flottbeck, Friedo Bohnekamp und Erwin Rübsam – das sind damit wieder unsere drei Vertreter. Leider völlig zerstrittene, unversöhnliche Rivalen«, bedauerte er, »aber deswegen kann man sie ja nicht aus dem Wettbewerb kicken.«

Zustimmendes Gemurmel.

»Also gut, Abstimmung«, verkündete Andreas. »Wer ist dafür, die drei wieder ins Rennen zu schicken?« Er sah über den Rand seiner ausnahmsweise im Einsatz befindlichen Lesebrille hinweg. »Bei einer Enthaltung zugestimmt«, stellte er fest.

Die Enthaltung war keine Überraschung – sie kam von einer Beisitzerin, die sich bei fast allen Abstimmungen enthielt und dazu regelmäßig ein angestrengtes, von Zweifeln durchsetztes Mienenspiel präsentierte.

»Gut, unsere Meldung geht gleich morgen raus. Die Jury wird sich freuen – keine langen Gepäckmärsche, sondern drei Gärten, wie an der Perlenschnur nebeneinander aufgereiht.«

»Wieso muss das eigentlich so früh im Jahr sein?«, meldete sich ein Beisitzer zu Wort. Er besaß eine Begabung dafür, Themen aufzugreifen, die gerade mit Erfolg abgeschlossen worden waren.

»Weil die Konturen eines Kleingartens schon zu diesem Zeitpunkt erkennbar sind und den Kandidaten Gelegenheit gegeben werden soll, diese bis zum August intensiv zu veredeln.«

»Aha«, machte der Beisitzer. Andreas hatte ihn mit Erfolg ruhiggestellt. Die nächsten zehn Minuten würde der Vorstandskollege damit beschäftigt sein, die Antwort des Ersten Vorsitzenden geistig zu verdauen.

Andreas wiederum atmete tief durch. »Kommen wir zum nächsten Tagesordnungspunkt: Vergabe von brachliegenden Parzellen. Wir haben in unserer letzten Sitzung drei Bewerber kennen gelernt. Erinnert ihr euch? Ich habe inzwischen mit den drei Interessierten Ortsbegehungen durchführen können. Herr Matuschewski, Herr Weber und der dritte Kandidat, dessen Namen ich noch ein wenig üben muss, sind bereit, Mitglieder in unserem Verein zu werden und die ihnen angebotenen Parzellen zu bewirtschaften. Zwei haben Familien mit kleinen Kindern; Herr Weber hat eine Lebensgefährtin an seiner Seite. Besonders spannend finde ich, dass er den völlig verwilderten Garten neben unseren drei Vorzeigeparzellen im Bickbeerweg übernehmen will.«

Andreas schaute wieder in die Runde, die inzwischen überwiegend aus teilnahmslosen Blicken bestand. Es war offensichtlich zu spät für geistige Akrobatik.

Andreas trug dieser Situation Rechnung und beschleunigte die Aussprache. »Abstimmung – wollen wir die drei Parzellen an die Bewerber geben? Bei einer Enthaltung so beschlossen, danke.« Ein Blick zur Schriftführerin zeigte ihm, dass auch dort ein Dämmerzustand eingetreten war. Der gesamte Vorstand schien sich in einer komatösen Verfassung zu befinden – das war zwar nicht ungewöhnlich, aber in dieser Ausprägung doch irritierend. Möglicherweise lag es an der Heizung – Rudi hatte angesichts der Wetterkapriolen für ausgesprochen mollige Temperaturen gesorgt.

Er legte die Unterlagen beiseite. »Kommen wir zu ›Verschiedenes‹. Ich hatte in der Sprechstunde zeitweise Leerlauf und habe mal ein bisschen in den Ordnern mit den alten Protokollen geblättert. Wusstet ihr, dass der Verein ›Erntedank‹ früher jedes Jahr ein großes Osterfeuer veranstaltet hat?«

»Was heißt ›früher‹?«, wollte der Kassenwart wissen.

»Oh, vor über 20 Jahren. 25, um genau zu sein, danach hat nichts dergleichen mehr stattgefunden. Es fehlt auch ein Protokoll. Ich hab den alten Hermann Schilling angesprochen, der saß nämlich vorhin in der Gaststube. Zuerst war das überhaupt nicht sein Thema. Er war wortkarg wie sonst selten. Aber egal – was haltet ihr denn davon, wenn wir diese schöne alte Tradition wieder aufleben ließen? Das scheint mir nicht sehr aufwändig zu sein. Ein Aufruf an unsere Mitglieder, eine Absprache mit dem Revier und der Feuerwehr. Als Ort nehmen wir wie damals die Freifläche in der Nähe des Landheims. Der Abstand ist groß genug. Für unseren Wirt, Rudi Klingebiel, wäre das ein schöner Einstieg in die neue Saison, und für unsere Mitglieder ist es eine gute Gelegenheit, das Gestrüpp des Vorjahres zu entsorgen, denn darum geht es eigentlich!«

Rudi Klingebiel war der Pächter des Landheims »Erntedank e. V«. Mit seiner Frau Maria, Tochter Tatjana und dem Schwiegersohn Olaf Knispel, Kommissar bei der Bremer Kripo, bewohnte er die Räume über der Gaststätte. Rudi war die Seele des Vereins. Seine Gaststätte funktionierte als Drehscheibe für Information und Kommunikation aller Art.

Der übrige Vorstand zeigte sich mäßig interessiert. »Hört sich gut an. Ja, mach mal!«, gähnte einer der Beisitzer und schlug vor, endlich mal zu lüften.

»Gut, dann schieb ich das mal an.« Andreas machte sich eine neue Notiz. »Man muss ja nicht das Rad neu erfinden, wenn man gute, alte Ideen reaktivieren kann. Sind wir dann durch?«

»Wenn du in den alten Ordnern nichts weiter Aufregendes gefunden hast, können wir jetzt schließen«, meinte die Schriftführerin und spähte auf die Armbanduhr, um den Zeitpunkt des Sitzungsendes festzuhalten.

Kapitel 4

Eine halbe Stunde später saßen Andreas und Franziska zu Hause und brachten sich gegenseitig auf den neuesten Stand der Dinge. Während ihres Informationsaustausches saßen die beiden in der Küche, inspizierten zuvor den Kühlschrank, stellten sich einen kleinen Imbiss zusammen und setzten sich an den Küchentisch. Andreas öffnete zwei Bierflaschen.

»Wie war es bei dir?«, erkundigte er sich und bearbeitete eine Brötchenhälfte mit dem Margarinemesser.

»Oh, nicht viel. Johannes tut nichts, hat aber hervorragende Zensuren und Aussichten auf ein vorzügliches Zeugnis, und ich plane eine Straßenbahn durch den Bürgerpark.«

Andreas war tief in seine Gedankenwelt verstrickt und hatte noch nicht auf den Zuhörmodus umgeschaltet. Entsprechend irritiert schaute er jetzt von seinem Käsebrötchen auf, und die andere Hand, die gerade im Begriff stand, die Bierflasche an den Mund zu führen, verharrte auf halbem Weg.

»Was war das eben? Du planst eine Straßenbahn durch den Bürgerpark? Testest du mich, ob ich zuhöre?«

»Leider nein«, kam Franziskas verbitterte Antwort. »Es gibt einen begrenzt ausgelobten Wettbewerb, mit dem die Sinnhaftigkeit einer ÖPNV-Querung über den Schröder-Ring geprüft werden soll.«

»Also eher eine Machbarkeits-Studie? Das ist doch … ich meine, da kannst du doch gut herausarbeiten, welch grober Unfug diese Idee ist.«

Franziska konnte sich eines Schmunzelns nicht enthalten. »So funktioniert wissenschaftliches Arbeiten aber nicht, Herr Klapphorn«, tadelte sie ihren Ehemann. Beide waren übereingekommen, trotz Heirat ihren ursprünglichen Nachnamen zu behalten. »Du stellst das Ergebnis an den Anfang der Recherche – das ist nicht professionell!«

»Wenn es dazu beiträgt, schwere Fehler zu verhindern, dann wäre ich bereit, unwissenschaftlich zu arbeiten, Frau Morgenstern«, gab er zurück.

»Aber dann machst du dich zum Maßstab – du entscheidest nach Bauchgefühl, was richtig und was fehlerhaft ist. Und das geht nicht.«

»Wieso«, wehrte sich Andreas, »die Auslober machen doch das Gleiche. Sie haben eine abenteuerliche Idee, hinter der vermutlich – wie üblich – handfeste Interessen stehen, verpacken das Ganze in einem netten kleinen Wettbewerb …«

»Nein, sie erklären die Idee ja nicht von vornherein zum unabdingbaren Ergebnis. Und nachdenken muss man dürfen – über fast alles. Das war zumindest die Botschaft, die ich heute empfangen habe.«

Andreas wollte widersprechen. Aber eigentlich lag ihm nichts an einem politischen Exkurs. Nicht so spät, und nicht an einem solchen Tag.

»Solange der Wettbewerb dich nicht in deiner Entscheidung zu deinem weiteren beruflichen Werdegang beeinflusst«, meinte Andreas entspannt, räumte die Reste seines Imbisses weg und legte seine Arme um ihre Schultern.

Sie ließ sich diese Nähe gern gefallen, konnte das Thema aber noch nicht fallen lassen. »Es beeinflusst mich durchaus, weil ich denke, dass man mich mit solchen Themen vergraulen will. Ich glaube, die wollen sichergehen, dass ich nicht wieder zurückkehre. Die setzen darauf, dass ich nicht in einer Dienststelle beschäftigt sein will, die solche Planungen anschiebt.«

»Da könntest du richtig liegen.« Andreas schaute nachdenklich auf die zweite Hälfte seines Käsebrötchens. »Ich muss etwas beichten, bevor ich es vergesse.« Andreas setzte eine schuldbewusste Miene auf. »In der Sprechstunde war nicht viel los. Da hab ich mir die alten Protokolle vorgenommen. Unser Verein hat bis vor 25 Jahren ein Osterfeuer veranstaltet. Dann riss diese Tradition plötzlich ab. Ein paar Seiten der alten Protokolle fehlen. Dann gibt es nur eine kurze Notiz:

Auf Vorschlag des Ersten Vorsitzenden wird von einer weiteren Durchführung des alljährlichen Osterfeuers abgesehen. Der Beschluss erfolgte einstimmig.

Keine Begründung, nichts. Ich hab Hermann Schilling gefragt, aber der hatte irgendwie schlechte Laune. Aber er ist der Einzige, der damals schon im Verein war. Vielleicht kannst du ihn ja noch mal darauf ansprechen.«

»Toll«, beschwerte sich Franziska, »für mich bleiben immer die Himmelfahrtskommandos.«

»Auf jeden Fall habe ich den Vorstand überzeugt, das Osterfeuer wieder einzuführen«, verkündete er stolz.

Sie spendierte ihm einen Kuss. »Ich rieche Arbeit. Arbeit, die an mir hängen bleiben wird.«

In diesem Moment ging die Küchentür auf.

»Oh, guten Abend«, meinte Julia, die 17-jährige Tochter des Hauses, und zog ihren Freund Paul hinter sich her. »Wir wollen uns noch eben eine Pizza machen. Irgendwie haben wir heute noch nichts Vernünftiges gegessen.«

»Mit Thunfisch«, erläuterte Paul, für den Fall, dass die ältere Generation über die Variationsmöglichkeiten einer Pizza nicht genau aufgeklärt sein sollte.

»Pizza ist was Vernünftiges, und um 22 Uhr?«, erkundigte sich Andreas.

Die beiden jugendlichen Hoffnungsträger zuckten mit den Schultern. Tageszeiten hatten für sie nicht nur hinsichtlich der Nahrungsaufnahme eine allenfalls beratende Funktion.

Franziska löste sich von Andreas. Nachdem Julias Freund vor einem Monat nach intensiven, teilweise recht aufreibenden Diskussionen in ihr Haus mit eingezogen war, zeigten die Tagesstrukturen etwas verschwommene Konturen. »Guten Appetit bei eurer Pizza funghi«, wünschte Franziska. »Wir treten den Rückzug an. Gute Nacht.«

»Pizza tonno!«, kam prompt die zweistimmige Antwort.

Kapitel 5

Am folgenden Tag verlief die Morgenrunde im Dienstzimmer des Kriminalrates Karl-Eberhard Strelitz ungewöhnlich entspannt. Selbst die Kaffeemaschine Rudolf, benannt nach dem gleichnamigen Rentier und für ihre akustischen Einlagen berüchtigt, blubberte friedlich vor sich hin.

Strelitz referierte über sein Lieblingsthema – das Älterwerden. Als in der zweiten 50er-Hälfte befindlicher Vorgesetzter ließ er seine jüngeren Mitarbeiter, Konstanze Kannengießer und Olaf Knispel, immer wieder gern an den Lasten des Alterungsprozesses teilhaben.

»Älterwerden ist nichts für Feiglinge«, dozierte er. »Das passiert ja meistens nicht von heute auf morgen. Vielmehr handelt es sich um einen allmählichen Vorgang, den man am ehesten wahrnimmt, wenn man die aktuelle Leistungsfähigkeit mit dem vergleicht, was man noch vor fünf Jahren geschafft hat.«

Strelitz hatte den Zeigefinger erhoben und schaute seine Mitstreiter bedeutungsvoll an.

»Manchmal hilft schon der Abgleich von Fotos«, meinte Konstanze Kannengießer mit einem feinen Lächeln.

Der Kriminalrat war einen Moment irritiert. »Wie kommen Sie jetzt darauf?«

»Nun ja, man sieht, ob die Haare seitdem grauer geworden oder sogar ein Stück weiter zurückgegangen sind.«

Strelitz tastete nach seinen Geheimratsecken. »Ein gut aussehendes Gesicht benötigt eben etwas mehr Platz«, konterte er.

»Meine Haarfarbe ist noch echt!«, verkündete Olaf Knispel nicht ohne Stolz.

»Sie sind ja auch noch keine 30«, murrte der ergraute Beamte.

»… und im Mund habe ich noch die komplette dentale Grundausstattung.« Knispel lehnte sich zufrieden zurück. »Wie sieht es da bei Ihnen aus, Chef? Wie geht’s den Beißerchen?«

»Keine Ahnung, wir schlafen getrennt«, brummelte Stre­litz. Er begann zu bedauern, dieses Thema angeschnitten zu haben. Aber er war jetzt richtig in Fahrt und kam auf die Medikamente zu sprechen. »Ich hab nie Pillen nehmen wollen – den pharmazeutischen Unternehmen und den Apotheken blas ich doch nicht mein Geld ins Gesäß!«

Der Kriminalrat lehnte sich zurück.

»Das hatte ich zumindest bis zum 40. Lebensjahr gedacht. Und dann kommt eins zum anderen – und ich spreche ausdrücklich nicht von Viagra! – und schon hat man morgens den Tablettenschuber zur Hand und befüllt ihn mit kleinen bunten Helferlein. Mein neuester Mitarbeiter ist klein, rund, weiß und hört auf den Namen ›Beta-Blocker‹!«

»Chef!« Konstanze Kannengießer wurde ernst. »Irgendwelche koronaren Defizite?«

Olaf Knispel stutzte. »Koro … was?«

»Koronare Probleme. Das Herz, die Pumpe«, erläuterte Konstanze.

»Oh, ich wusste nicht, dass du Medizin studiert hast«, meinte Olaf verdrossen.

»Können wir uns mal wieder auf den älteren Herrn in unserer Mitte konzentrieren?«, beschwerte sich Strelitz. »Ich hab das nämlich alles nur erzählt, weil erstens mein Rücken vom Hecke-Schneiden schmerzt und ich zweitens zur Kur fahren werde.«

Einen Moment herrschte Stille.

Dann sagte Knispel: »Wegen der Hecke?«

»Nein, wegen der Pumpe. Da ist zwar nichts Ernstes, aber einfach prophylaktisch, verstehen Sie?«

»Nicht so ganz.«

»Prophylaktisch, Olaf, vorbeugend!«

»Ach so.« Knispel wirkte beruhigt und beugte sich vor.

»Nicht du, Olaf«, stöhnte Konstanze.

Im selben Moment klopfte es an der Tür, und bevor jemand zum Eintreten auffordern konnte, betrat eine junge Dame das Zimmer. Karl-Eberhard Strelitz vergaß mit einem Schlag die Beschwernisse des Älterwerdens, Olaf Knispel versäumte es, den Mund zu schließen, und Konstanze Kannengießer zog die Augenbrauen hoch.

»Guten Morgen, ich bin Isabel Graf. Sie können mich gern Isabel nennen. Es tut mir leid, aber ich bin ein kleines bisschen zu spät …«

Der Kriminalrat war aufgesprungen, ohne zu ächzen, und seine obligatorisch knackenden Gelenke verhielten sich diesmal geräuschlos. Für seine Verhältnisse war er geradezu elastisch auf die Beine gekommen.

»Strelitz ist mein Name«, verkündete er mit geradem Rückgrat und drückte mit ausgesuchter Herzlichkeit die Hand der Besucherin. »Ich bin hier der Chef. Oder wenigstens versuchen meine Mitarbeiter, mir diesen Eindruck zu vermitteln.« Er streute ein leutseliges Lachen ein. »Kommen Sie in unsere Mitte, nehmen Sie Platz, ziehen Sie sich aus … ich meine, legen Sie doch Ihren Mantel ab.«

Strelitz stand kurz davor, in eine Endlos-Schleife abzurutschen. Er war völlig außer sich. Solch ein bezauberndes Wesen war ihm schon lange nicht mehr untergekommen. Dabei schien sie sich ihrer Wirkung auf ihre Umgebung überhaupt nicht bewusst zu sein. Sie strahlte eine unbekümmerte Natürlichkeit aus und konnte es sich erlauben, auf den Einsatz irgendeines Makeups zu verzichten.

»Darf ich vorstellen?« Strelitz blieb am Ball. »Dies ist Oberkommissarin Kannengießer, eine der Experten meines Teams, und der junge Mann dort, der gerade Schnapp-Atmung zu haben scheint, ist Kommissar Knispel. Ebenfalls ein wertvoller Mitarbeiter – zumindest in den Zeitfenstern, die ihm ein regelmäßiges Atmen erlauben. Und dieses ist unsere Kaffeemaschine Rudolf.«

»Rudolf?«

»Ja, Rudolf.«

»Wie das Rentier in dem Weihnachtslied? Macht das Gerät denn solche Geräusche? Es wirkt doch recht friedlich!«, stellte Isabel Graf fest.

In diesem Moment ersetzte Rudolf sein friedliches Blubbern durch ein bedrohlich klingendes Gurgeln, fauchte schließlich und schien sich zum Abschluss des Arbeitsprozesses übergeben zu wollen.

»Oha!«, kommentierte Isabel den ungewöhnlichen akustischen Beitrag und rückte unwillkürlich etwas ab.

»Sehen Sie, was ich meine?«, fragte der Kriminalrat stolz, als hätte sein Enkel soeben das kleine Einmaleins fehlerfrei vorgetragen. »Rudolf ist seit vielen Jahren unser freier Mitarbeiter.« Strelitz tätschelte Rudolfs Glaskanne und verbrannte sich fast die Finger.

»Ungefähr seit der Zeit, als die Farbfernseher aufkamen«, vermutete Isabel. Sie beschloss, das Gerät nicht mehr aus den Augen zu lassen.

»Wir hatten Sie schon erwartet – es ist ja nicht so, dass Sie völlig überraschend dieses Zimmer betreten. Es war immerhin der PP, also der Polizeipräsident, der mir Ihr Kommen persönlich angekündigt hat«, betonte Strelitz, der damit seine Nähe zum PP herausstellte. »Sie werden ihn nicht kennen …«

»Er ist mein Onkel.«

Diese Antwort, mit Ruhe und Gelassenheit vorgetragen, kam ohne einen überheblichen oder anmaßenden Tonfall aus. Für einen Moment war es im Dienstzimmer still.

»Naja, ich … äh … wer kann schon was für seine Verwandten? Wir lassen uns davon jedenfalls nicht irritieren«, äußerte Strelitz, der sich zu der Besucherin vorgebeugt hatte. Beinahe hätte er wohlwollend ihr Knie getätschelt.

Meine Güte, Karl-Eberhard, jetzt reiß dich mal zusammen!, dachte er und blickte zu Olaf Knispel. Dessen Unterkiefer stand immer noch auf Halbmast.

»Naja«, entgegnete Isabel, »das Gerücht, letztlich doch nur ein Protegé zu sein, wird sich schnell verbreiten. Deswegen mache ich gleich reinen Tisch.«

»Das spricht für Sie, Isabel. Wenn ich Ihre Mission richtig verstehe, streben Sie eine Ausbildung als Journalistin an, und dabei wollen Sie sich auf den Bereich ›Innere Sicherheit und Justiz‹ konzentrieren, richtig?«

»Ja, so kann man das wohl beschreiben.«

»Also eine Art Volontariat in unserem Team. Herzlich willkommen. Ich fürchte nur, dass wir Ihnen keine aktuellen Fälle anbieten können – im Moment ist es ziemlich ruhig bei uns« – er schaute auf Rudolf – »von unserem kleinen Freund einmal abgesehen.«

Strelitz’ Telefon klingelte.

»Gehen Sie eben ran, Konstanze? Danke. Wo war ich stehen geblieben? Richtig – Sie werden wohl vorerst Aktenstudium betreiben müssen, und vielleicht erzählen Sie uns ein wenig über den bisherigen Verlauf Ihrer Ausbildung, und Sie, Olaf, gucken nicht mehr so unglücklich – ich erzähle Ihnen nachher in der Kantine, was ein Protegé und ein Volontariat sind ... ja, Konstanze, was gibt’s denn?«

Die Oberkommissarin hatte während Strelitz’ Ansprache versucht, durch Winken mit dem Hörer seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

»Chef, wir haben eine Leiche!«

Kapitel 6

Zur selben Zeit begab sich die Familie um Andreas an ihr Tagewerk. Julia und Johannes hatten sich mit der handelsüblichen Begeisterung stundenplankonform in ihre Klassenverbände eingefädelt.

Paul gewann in der Buslinie 28 den Kampf um einen Sitzplatz und stöpselte sich für den Weg zur Uni die Ohrhörer seines iPods in die Ohren.

Andreas tauchte in den Alltag seiner Schule ein, an der er den stellvertretenden Rektor gab.

Franziska hingegen befasste sich mit den Unterlagen für den Wettbewerb, der eine mögliche Straßenbahnführung über den Schröder-Ring zum Thema hatte. Dabei wurde sie von ihrer Schwester Johanna abgelenkt – sie wollte sich ursprünglich mit einigen Aufgaben aus dem Arbeitsfeld »Büroarbeit« beschäftigen, kam aber ins Schwatzen und lenkte Franziska von ihrem Aktenstudium ab.

Als sie merkte, dass ihre große Schwester entschlossen war, den gesamten Vormittag zu zerreden, klappte sie ihre Mappe mit den Unterlagen zu. »Ich bin dann mal vor Ort, ein paar Einzelheiten überprüfen und … ja, äh, Eindrücke sammeln.«

»Oh fein, ich komm mit«, strahlte Johanna und wollte sich ihre Jacke überstreifen.

»Nein«, kam es sehr bestimmt von Franziska, die jetzt ihrerseits eine Jacke überzog und begann, sich mit der Grundausstattung für Radfahrer auszustatten: Mütze, Schal, Handschuhe. Der März hatte sich bislang von seiner ungemütlichen Seite gezeigt. »Du bleibst bitte hier«, sagte sie mit einer gewissen Festigkeit, »und übernimmst ein bisschen Schriftverkehr für mich. Der hat zwar weniger mit unserem Planungsbüro und mehr mit meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Zweite Vorsitzende des Kleingartenvereins ›Erntedank‹ zu tun, aber auch dieser Schriftverkehr erledigt sich nicht von selbst.«

Mit diesen Worten schob sie Johanna einen Zettel zu, auf dem Andreas mehrere Arbeitsaufträge notiert hatte.

»Ach, der Erste Vorsitzende von ›Erntedank‹ hat dir das Tagesprogramm vorgegeben?«, stellte Johanna fest und hielt den Zettel mit spitzen Fingern und langen Armen vor sich, als sei sie extrem weitsichtig.