Frau Fünf - Juliane Baldy - E-Book

Frau Fünf E-Book

Juliane Baldy

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Beschreibung

Mirjam wird von Martin Mustermann nach fast zehn Jahren Beziehung verlassen. Völlig unerwartet steht sie allein in der ehemals gemeinsamen Wohnung und versteht die Welt nicht mehr. Eine Welt, die mit Martins Möbeln eingerichtet war. Nach Jahren der Anpassung an Martins Leben und Vorlieben, bricht es aus ihr heraus. Wütend versucht Mirjam, Martins Beweggründe für die Trennung herauszufinden. Hat er eine andere? Mit drastischen Mitteln spioniert sie ihm nach und fängt an, ihr eigenes Leben zu erkunden. Was bedeutet ihr die Freundschaft zu ihrer ehemaligen WG-Mitbewohnerin Lena? Welcher Sex macht ihr eigentlich Spaß? Als »Frau Fünf« lotet Mirjam nach und nach ihre Grenzen neu aus und gerät dabei in einen Strudel aus Slapstick und Grauen. Juliane Baldy spielt in ihrem zweiten Roman gekonnt mit Klischees und Rollenbildern und erschafft eine Erzählerin, die mit zahlreichen Tabubrüchen noch lange im Gedächtnis bleibt.

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Seitenzahl: 244

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Mirjam und Martin Mustermann waren seit einer Ewigkeit, seit Jahren, fast einem ganzen Jahrzehnt!, ein Paar. Vertraute. Zugewandte. Liebende. Bis, natürlich musste das so kommen, logisch ist das, im Nachhinein, bis er geht. Zu einer anderen, gähn, natürlich, das passiert, das ist nichts Besonderes. Weltweit kommt es wahrscheinlich jede Sekunde vor, dass da ein Mann seine Sachen packt und geht. Es mag auch relativ häufig sein, dass diese Frau, die zurückgelassen wird, diesen Mann, dem es so unendlich leid tut, jaja, mit Freuden verabschiedet – doch Mirjam wird Martin nicht gehen lassen. Da kann er noch so viele Kisten aus ihrem warmen, freundlichen Zuhause (imposante Flügeltüren, hohe von Stuckleisten umrandete Decken, eleganter Dielenboden) tragen.

Mirjam wird nicht zuschauen, wie Martin und seine kurzweilige Bekannte sich annähern, sich angrapschen, wie sie rammeln poppen knacken ficken; Liebe machen wird man das nicht nennen können. Gelegentlich, Zeitmanagement ist alles, wird Mirjam sich als »Frau Fünf« eine Pause gönnen. Schließlich soll Martin bei seiner Rückkehr eine entspannte, ausgeglichene und selbstsichere Frau vorfinden.

Juliane Baldy wurde in Neuss geboren und lebt heute in Berlin. Sie veröffentlichte Theaterstücke, die in Deutschland und Italien uraufgeführt wurden. 2019 erhielt sie das Stipendium der Käthe-Dorsch- und Agnes-Straub-Stiftung für ihr Romandebüt und zudem die Autorenförderung des Bezirksamts Pankow für die Aufführung von »Sieben Lagen Knoblauch scharf« im Theater unterm Dach Berlin. Ihr Debütroman »Paul« erschien 2020 in der Frankfurter Verlagsanstalt und wurde mit dem White Raven der Internationalen Jugendbibliothek ausgezeichnet.

JULIANE BALDY

FRAU FÜNF

ROMAN

verbrecherverlag

Die Autorin đankt đer Käthe-Dorschunđ Agnes-Straub-Stiftung.

Erste Auflage

Verbrecher Verlag Berlin 2025

Gneisenaustr.2a, 10961 Berlin

info@verbrecherei.đe

www.verbrecherei.đe

© Verbrecher Verlag GmbH 2025

Druck unđ Binđung: CPI Clausen & Bosse, Leck

Satz: Christian Walter

ISBN 978-3-95732-626-3

Printeđ in Germany

INHALT

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Quellennachweis

1

»Machs gut, Mirjam.«

Martin steht mit seiner Aktentasche im Flur.

»Hast du alles?«

»Lass das. Bitte.«

»Was denn? Ich will nur sichergehen, dass du nicht wiederkommst.«

»Trennungen sind nicht logisch.«

»Du gehst, ich bleibe. Was daran ist nicht logisch?«

»Es war eine schöne Zeit. Mit dir.«

»Arschloch. Eine schönere wirst du mit deiner Bumse nicht haben.«

»Wir wollen uns doch zivilisiert verabschieden.«

»Arschloch. Du kriegst sowieso keinen hoch. Hau ab.«

»Mirjam.«

»Schlappschwanz.«

»Mirjam. Bitte.«

»Das wollte ich dir schon immer sagen. Du kannst es einfach nicht. Mit deinem Knick da. Du kannst einfach nicht bumsen.«

»Mirjam. Ich gehe. Jetzt.«

»Mit deinem kleinen Pimmel. Hau ab. Hau ab! Mach das Brett zu!«

Sie schmeißt ihm die Tür hinterher. In den Rahmen. Ins Schloss halt. Jetzt brüllt sie. Die Mirjam. Es knallt. Der scheiß Hirsch1 ist von der Wand gefallen.

Sie rennt (so schnell man eben mit einem Hirschgeweih rennen kann) die Treppen runter. Martin fährt gerade los. Sie brüllt: »Nimm deinen scheiß Hirsch mit, du Pimmelversager! Ich bin noch nie, NIE, gekommen!«

Mit quietschenden Reifen biegt das Auto um das Polizeirevier. Ein Polizist schnippt seine Kippe weg.

»Knickpimmel! Hau ab! Ich will dich nie wieder sehen! NIE WIEDER! HAU AB!«

Mirjam schließt die Wohnungstür, ohne sich zu versichern2, dass sie geschlossen ist. In nur zwei Stunden hat der Martin seine Möbel, Kästen und Kartons aus der Wohnung tragen lassen. Mirjam hatte die meiste Zeit im Weg gestanden und Martin immer wieder gefragt, ob es hackt, ob es sein Ernst, ob das alles ein schlechter Scherz sei.

Jetzt kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie zittert so sehr, dass sie sich auf den Boden legen muss. Eduard schaut sie mürrisch an. Arschloch. Dieses Vieh wiegt bestimmt zehn Kilo. Die Alleingelassene schreit ihn an, als wären sie zwei Kinder im Sandkasten und als hätte er ihr gerade die Schaufel geklaut oder sie vom Klettergerüst gestoßen. Ihre Oberarme krampfen.

Sie robbt ins Wohnzimmer. Der Boden ist kalt. Martin hat das flauschige Heidschnuckenfell mitgenommen. Vor sieben Monaten hatte er den ganzen Boden abschleifen lassen. Seither glitzern die Dielen so schön im Sonnenschein. Mirjam streichelt das Sofa. Sie wünscht sich nichts mehr, als dass ihr jemand grob die Schnute putzt oder ihr wenigstens ein Taschentuch reicht. Oder eine Rasierklinge. Oder Schlaftabletten. Am besten beides. Er wird sehen, was er angerichtet hat.

Fast ein Jahrzehnt geopfert, die Jugend, das Leben, die Zukunft, immer nur du du du. Aber zum Eier kraueln war die Dumme gut genug. Mutter Mutter Mutter. Zu seiner Mutter. Für so dumm hält er sie. Nie im Leben würde er seinen faulen breitgesessenen Arsch freiwillig aus dieser Bude bewegen, wenn nicht eine andere auf ihn warten würde. Der wird sich noch umgucken, was passiert, wenn die ihn beim Pornoglotzen erwischt, elender Bock! Er wird sich noch zurücksehnen. Arschloch.

Mirjam hievt sich hoch, bevor die Rotze auf den schönen Dielenboden tropfen kann, und schleicht durch die Wohnung, als wäre sie ein Gespenst – ganz leise (bis auf das Dielenknarren), ganz langsam, ganz allein.

Die Wohnung sieht aus wie ein Möbelhaus. Wo noch so viel Platz ist in all den Schränken. Die Wände sind bis auf das auf Leinwand gezogene Foto vom Gardasee-Urlaub3 im Schlafzimmer leer. Ein Quantum Trost könnte die Mirjam jetzt auch gebrauchen. Großflächige rechteckige Schatten erinnern an die Bilder, die Martin hat wegtragen lassen. Sogar seine in der letzten Ecke des Flurschranks verstaute Fußball-Bilder-Sammlung4 hat er mitgenommen.

Er muss den Auszug länger geplant haben, als er vorgegeben hat. Die Sau. Er hat all die Kästen und Kartons heute Morgen schneller gepackt, als ein normaler Mensch eine Tasche für einen Ausflug zum See5 packen könnte. Mirjam konnte gar nicht so schnell mitzählen, wie er die Möbelpacker anleitete, ein Möbelstück nach dem anderen aus ihrer Wohnung zu tragen. Arschloch.

Der Toaster steht noch auf der Anrichte in der Küche. Er liebt diesen Toaster. Vielleicht hat er vergessen, dass er ihn bezahlt hat. Hinter den Konservendosen findet Mirjam eine Schachtel Zigaretten. Findet stimmt nicht. Sie hat die Schachtel selbst dort versteckt. Das Rauchen aufgeben – für Ihre Lieben weiterleben. Sie starrt die Schachtel an. Es wird keine Lieben mehr geben in ihrem Leben. Um sie herum ist nichts, was Trost spenden könnte. Der Tisch – ein toter Baum. Wie gnädig, dass er ihr wenigstens den samt Freischwingern gelassen hat. Die Fruchtfliegenfalle – der Inbegriff von Vergänglichkeit. Die verkümmerte Basilikumpflanze – ein Musterbeispiel für Martins Desinteresse.

Mirjam zündet sich eine Zigarette an. Plötzlich funkelt es in ihrem Kopf. Sie darf das. Sie muss nicht mehr heimlich rauchen, auch nicht mehr lüften. Sie darf machen, was sie will. Sie ascht in die Kaffeetasse, aus der er heute Morgen noch getrunken hat.

Ein hässlich helles Rechteck auf der Arbeitsplatte blendet die versonnene Raucherin. Da hat der Brotkasten6 gestanden. Vielen Dank. Für gar nichts. Arschloch.

Den Brotkasten hatte Martins Mutter ihnen beiden vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt. Was bitte will er mit einem Brotkasten, wenn er den Toaster nicht mitnimmt? Er muss sehr durcheinander gewesen sein. Er hat sich nichts anmerken lassen. Das konnte er schon immer gut – so tun, als ob er alles unter Kontrolle hätte.

Der Zigarettenrauch brennt in Mirjams Augen. Sie zieht noch einmal an der Zigarette, will sich beweisen, dass sie rauchen KANN, wenn sie denn rauchen WILL, und muss husten.

Fucking NICHTS ist, wie sie will. Sie zieht wie verrückt an dieser Scheiß-Filter-Zigarette, bis sie nicht mehr husten muss, dann drückt sie sie aus. Ihre Unterlippe zittert immer noch. Sie schaukelt vor und zurück und versucht zu denken, zu verstehen. Doch da passiert nichts. In ihrem Kopf. Sie starrt das helle Rechteck auf der Arbeitsplatte an, hält sich die Hände vors Gesicht, öffnet die Augen, lugt durch die Finger, immer noch weg. Der Brotkasten. Der Martin. Einfach weg.

  1Eduard. Einst von Martins Urgroßonkel in Kup, Polen (ehemals Schlesien), geschossen und von seinem Großcousin präpariert. Großcousin Eduard Friedrich Josef Mozigemba (1895–1987). Präparator in Brynica. Nebenberuflich Blaskapelle.

  2Rütteln, drücken, ziehen, drücken.

  3Der Panoramablick von ihrer Hotelterrasse. Drei Jahre her. Ein Sommer am Gardasee. Eine schöne Reise auf den Spuren von Craig. Daniel Craig.

  4Panini EM 1992. Jürgen Kohler, der beinharte Hund.

  5Wechselsachen, Sonnencreme, Mückenspray, Wasser, Taschentücher, Desinfektionsspray, Taucherbrille, Schwimmnudel, Handtuch, Ohrstöpsel, Leinentuch, Water-Bag.

  6Walnussholz.

2

Drei Tage bleibt Mirjam im Bett und ordnet ihre Gedanken. Im Liegen kann sie am besten denken. Sie schläft kaum und versucht, jeden noch so schmerzhaften Grund für seinen Abgang in Erwägung zu ziehen, sich möglichen Ursachen zu stellen und für den Fall, dass sie richtig liegt, eine Strategie zu entwickeln, die Auslöser und Auszug vergessen macht, ihr Leben wieder in Ordnung und Martin zurückbringt. Der das nicht ernst gemeint haben kann, dass sie sich schon lange nicht mehr verstanden haben. So ein Quatsch.

Was heißt verstanden haben.

Vielleicht hätte sie beim letzten Abendessen mit den Hohenhochhausens von und zu Schlechtberg Altertum, deren Vorfahren vormalig, 12. Jhdt. nach Christi Geburt, über ganze ACHT Jahre Besitzer einer mittlerweile abgebrannten Trutzburg im Burgundischen gewesen waren, kurz: Tim und Struppi1, nicht so energisch werden sollen – auch wenn Mirjam nicht weiß, was, wenn nicht ein Rotweinfleck auf einer fliederfarbenen SEIDENbluse, ein guter Grund für einen hysterischen Anfall wäre. Vielleicht hätte sie es sich sparen sollen, halbnackt zum Auto zu laufen, und die Panik, dass der Fleckenteufel zu spät zum Zuge kommen könnte, nicht so deutlich zeigen sollen. Vielleicht hätte sie letzten Mittwoch das Es reicht, Mirjam ernst nehmen sollen, als sie sich wieder über seine viel zu volle Kaffeetasse lustig gemacht hatte. Vielleicht hätte sie nicht SO schreien dürfen. Vielleicht hätte sie das mit dem Knickpimmel besser für sich behalten sollen. Vielleicht vielleicht vielleicht. Wie leicht lässt sich das jetzt im Nachhinein sagen. Es funktioniert einfach nicht mit uns. Arschloch.

Was, wenn er wirklich nicht wiederkommt.

Nie wieder in ihr kommt.

Das war doch schön gewesen. Das weiß er doch. VIELLEICHT denkt er wirklich, dass seine Partnerin, seine Vertraute, seine Liebe nicht mehr glücklich war, dass sie keine Freude mehr hatte an seinem Knickpimmel. Das stimmt aber nicht. Ja, sie hätte ihm mehr, öfter, deutlicher zeigen müssen, dass das schon seine Richtigkeit hatte mit ihm, dem Martin, und der Mirjam.

Das Handy liegt jetzt da, wo Martin (genauer: sein Kopf) noch die Nacht vor seinem Auszug gelegen hatte. Mirjam hatte damit gerechnet, dass er auf dem Sofa schlafen würde. Doch er hatte sich so selbstverständlich neben sie gelegt, dass sie zu der Überzeugung gekommen war, dass der nächste Tag ein guter, seine Entschuldigung eine sehr emotionale und ihre Vergebung der Anfang einer ganz neuen Phase von Zweisamkeit werden würde. Selbstverständlich hatte sie ihn nicht berührt. Zu so später Stunde waren ihm Zärtlichkeiten zuwider. Jetzt schwant ihr, dass er wohl nur Angst um seinen Rücken gehabt haben wird.

Sie kontrolliert alle paar Minuten, dass das Handy wirklich griffbereit, geladen und laut gestellt neben ihr liegt. Natürlich nimmt sie ihr mobiles Telefon unter normalen Umständen nicht mit ins Bett. Das ist ungesund. Und macht dumm. Aber unter normalen Umständen würde der Martin neben ihr liegen und sie müsste nicht auf eine Nachricht, einen Anruf oder eine E-Mail von ihm warten.

Martin ruft nicht an. Kein Zeichen von ihm. Also hat die Zurückgelassene keine Wahl, als selbst eins zu setzen. Ich kann nicht weiterleben. Ohne dich.

  1Die Martin regelmäßig treffen wollte, der felsenfesten Überzeugung, dass sein Weg noch weit nach oben hinaus gehen würde, wenn er nur die richtigen Kontakte pflegte.

3

Es klingelt an der Tür. Sie weiß nicht, was sie jetzt tun soll. Allein zu Haus. Und es klingelt an der Tür. Die man doch nicht einfach so aufmachen kann. Wenn man nicht mehr am Leben ist.

Noch ein KLIRR. Die Türklingel müsste Türklirre heißen, so wie es scheppert und klirrt und einem das Herz in die Hose rutscht. Mirjam hatte sich nicht daran gewöhnen können und den Martin so oft gebeten, etwas dagegen zu tun. Gegen dieses KLIRR. Er hatte es oft versprochen. Und nichts unternommen.

Und schon wieder.

KLIRR.

Mirjam setzt sich auf. Sie ist schweißgebadet. Ihr Herz pocht. Was ja erstmal gut ist. Sie lebt. Noch. Doch, es pocht so schnell und so laut, dass die Lunge schmerzt. Sie kann in diesem Zustand nicht klar denken. Sie versucht es. Denkt an Martin. Sie denkt an die Großmutter. An seine. Und die Kommode im Flur. Die mal ihr gehörte. Und auf der jetzt der Schlüssel vom Martin liegt. Sein Schlüssel. Natürlich! Wer soll denn sonst EINFACH SO unangemeldet, zu ihr, vor der Tür, das muss DER MARTIN sein. Um sie zu retten. Sicherlich. Wer sonst.

Damit hat Mirjam nicht gerechnet.

Sie steht auf. Soll er doch sehen, was er angerichtet hat. Soll er sich das doch ganz genau anschauen. Den Rücken (krumm gelegen), die Augen (geschwollen geweint), die Nase (blutig geputzt), sein letztes Hemd (zugrunde geschwitzt). Sie kann nicht so schnell laufen, wie sie mittlerweile möchte. Wer rastet, der rostet. Zum Glück klirrt es noch einmal. Und da klopft es sogar.

»Wenn ich die Tür jetzt aufmache, dann nur, wenn du vorhast, dich zu entschuldigen.«

Mirjam reißt die Tür auf.

Lena.

Da steht die Lena.

»WENN DA EINER NICHT AN SEIN MOBILES TELEFON GEHT, WENN DA EINER NICHT REAGIERT AUF HERZCHEN-EMOJI-BOMBARDEMENTS, DANN WILL DA WER MIT AN SICHERHEIT GRENZENDER WAHRSCHEINLICHKEIT NICHT REDEN!«

»Mirihi. Och. Süße. Du. Komm. Ach. Komm mal her.«

Und schon kann sich Mirjam nicht mehr bewegen. Lena war (wieder mal) schneller und hat sie gepackt, die Arme um sie geschlungen, als wäre sie ein prall gestopfter Teddybär, in den man seine Klauen hacken kann, ohne dass er weint. Doch Mirjam weint. Lena irritiert das nicht. Sie lässt weder los noch locker.

»Lass es raus. Mirihi. Ist gut. Alles ist gut.«

Nichts ist gut. Vater unser im Himmel. Schuldigern. Himmel. Erde. Mirjam erinnert sich nicht an den genauen Wortlaut. Sie weiß nur, und das weiß sie von Martin ganz genau, dass, wenn einer einen anderen über die Dauer eines Vaterunsers festhält und dieser andere das nicht will, es Freiheitsberaubung ist.

Jetzt fängt Lena auch noch an zu tatschen und zu patschen.

»Sch. Sch. Sch.«

»Ich bin kein Teddybär. Lass das.«

Lena hört beleidigt auf mit der Freiheitsberaubung, dreht sich um, tritt ins Treppenhaus. Doch bevor Mirjam die Tür hinter ihr zuknallen kann, steht Lena wieder vor ihr. Einen Jutebeutel in der Hand.

»Ja, was hat die Lena heute in den Beutel gepackt? Guck guck.«

Sie legt den Jutebeutel in ihre Arme, als wäre ein Säugling darin, schunkelt ihn hin und her, »Sch Sch, ja guck, wir kriegen die Mirihi wieder hin. Nicht wahr, ja schau, ja schau«, und huscht mit dem Beutelkind in die Küche.

»Ich habe vorgekocht. Spitzkohl und Walnüsse. Eieiei, was ist denn hier passiert? Hat der wirklich seine Sachen gepackt.«

Mirjam bleibt im Flur stehen. Da ist ein Riesenratscher auf dem Boden. Eduard. Hätte Martin ihn mitgenommen, wäre er nicht von der Wand gefallen und sie hätte ihn nicht hinterhertragen, -wuchten, -hieven müssen und hätte ihn anschließend nicht fallengelassen vor Erschöpfung. Hätte hätte hätte. Sie hätte ihn auf dem Gehweg verrotten lassen sollen.

Mirjam hört, wie Lena das Fenster in der Küche kippt und Flaschen in den Kühlschrank räumt. Hallo? Dann hört sie Geschirr klappern.

»MIR IST NICHT NACH GEMÜSEPFANNE.«

Doch Lena hört sie nicht. Oder sie ist so frech, Mirjam in IHRER EIGENEN WOHNUNG zu ignorieren. Lena konnte das noch nie. Sich benehmen. Wie oft hatte Mirjam mit hochrotem Kopf in Restaurants gesessen, entschuldigend und leidend den armen Kellner angeblickt, dass er doch bitte bitte verstand, dass sie nichts dafür konnte, sie die Frau gar nicht kannte, wenn der Lena das Fleisch zu durch, die Pizza zu undurch, die Milch zu kalt, die Suppe zu heiß, der Gin Tonic zu stark, der Espresso zu schwach war. Lena fand immer irgendetwas oder irgendwen, an dem sie was aussetzen konnte.

»Mirihi, wir warten auf dich«, sagt der Topflappenhandschuh, der seine Schnute aus der Küchentür steckt. Doch sie ist ja nicht blöd. So leicht lässt sie sich nicht um den Finger wickeln. Da kann die Lena die Früchte ihres Spielen-ohne-Spielzeug-leicht-gemacht-Workshops an den Nagel hängen. Mit ihr nicht.

»Mirihi. Schau dich an. Du willst das nicht. Ich weiß das. Pscht. Ich kenne dich, Mirihi. Du brauchst jetzt ein heißes Bad. Dann gibt es Happa Happa. Und dann sieht die Welt schon ganz anders aus. Keine Widerrede. Abmarsch.«

Mirjam will sagen, NEIN, will nein SCHREIEN, sie will LENA anschreien, dass das ihre Wohnung ist, ihr Leben, dass sie verschwinden soll, und nie wiederkommen. Doch Mirjam hört schon Wasser laufen. Und ist angewidert, dass Lena sicher davor die Wanne nicht abgespült hat.

Lena hatte schon immer eklige, widerliche Anwandlungen, die bei jedem Menschen Brechreiz hervorrufen würden. Sie trinkt ungefiltertes Leitungswasser, setzt sich auf nicht desinfizierte Klobrillen oder noch schlimmer: auf Rasenflächen ohne Sitzkissen oder Picknickdecke, sie leert ihre Handtaschen nie aus, um sie zu reinigen, sie lässt andere Menschen ihre Haarbürste benutzen, geht im Sommer ins Freibad und hält sich an U-Bahn-Stangen fest.

Mirjam fasst einen Entschluss.

Sie wird sich nicht mehr, nie wieder, sagen lassen, was sie tun oder nicht tun soll. Nie wieder stumpf parieren. Sie schleicht zum Bad. Ich kann das, ich kann das. Doch als sie sieht, wie die Kommandeuse fürsorglich die Temperatur des Badewassers kontrolliert, verlässt sie der Mut.

Plötzlich packt sie ein schlechtes Gewissen. Sie runzelt die Stirn, um sich zu strafen für die bösen Gedanken. Schließlich sind Lena und sie seit dem Studium Freundinnen. Mirihi und Lenin. Gemeinsam durch dick und dünn. Zwei gegen den Rest der Welt. Vom Stirnrunzeln bekommt man Falten. Denk an die Falten, sagt der Martin immer. Knautscht sein Gesicht. Kussmund. Kuss. Und die Welt war wieder in Ordnung.

»Jetzt ab in die Wanne.«

Lena spritzt der Mirjam Schaum ins Gesicht. Und lässt sie allein.

Mirjam atmet tief ein, zählt einundzwanzig zweiundzwanzig dreiundzwanzig, tief aus, einundzwanzig zweiundzwanzig, und beschließt wütend, dass ein sauberer Körper und fettfreies Haupthaar die besten Voraussetzungen für den dringend notwendigen Nurnoch-wie-ich-will-Plan liefern. So ein Plan muss gut durchdacht sein. Sonst ist das Dilemma vorprogrammiert.

Wie wenn man ohne Einkaufszettel einkaufen geht.

Oder betrunken Nachrichten verschickt.

Oder in einem Anfall von kindlicher Unbesonnenheit eine HERUMSTREUNENDE Katze streichelt.

Sie ist selbst schuld. Sie hätte sich ihre Keine-Zeit-Martin-istausgezogen-Nachricht an Lena sparen sollen. Das Bad tut gut. Und bestärkt Mirjam, bloß nichts zu überstürzen. Als Lena mit zwei klirrenden Weingläsern, klirrend, weil Eiswürfel darin, und Weißweinschörlchen, das Bad betritt, sich auf den Wannenrand setzt und grinst, als hätte sie gerade eine Wellness-Jahreskarte1 gewonnen, wehrt sich Mirjam nicht mehr. Natürlich weiß sie, wie das wirkt.

Schwach.

Inkonsequent.

Bemitleidenswert.

Aber die werden sich alle noch umgucken. Wenn der Plan steht. Doch so ein Plan, siehe oben, braucht eben seine Zeit.

»Endlich ist dieser Spießer weg. Und der Sessel. Und diese Büro-Sideboards erst. Die im Wohnzimmer.«

Mirjam stößt tapfer mit Lena an, auf uns Mädels, wie in der guten alten Zeit, wir schaffen das.

Die alten guten Zeiten. In denen man nichts wissen musste. Weil es niemanden interessierte. Was man denn später mit seinem Leben anfangen und mit wem vor allem man dieses Leben beenden wollen würde. Herrje, Kinder waren sie damals gewesen. Glaubten, dass man sich irgendwann alles würde kaufen können. Und der Richtige vom Himmel. Sicherlich, sie hatten viel gelacht, gefeiert, sich gefeiert, schamlos.

Doch kann man die Zeit nicht zurückdrehen.

Jetzt, wo der Richtige aus heiterem Himmel einfach seine Sachen gepackt hat. Der Verlassenen kommen schon wieder die Tränen.

Zum Glück huscht Lena gerade in die Küche.

Mirjam kippt das Schörlchen, ex und hopp, stellt sich schnell hin und die Duschbrause an. Bevor die Lena noch weiter bechern will, am Wannenrand oder schlimmer noch auf die Idee kommt, ihr den Rücken zu schrubben, UNGEFRAGT, oder wie früher auch noch mit in die Wanne steigt, UNGEFRAGT.

Als Lena das letzte Mal verlassen wurde, obwohl verlassen nicht stimmt, das waren Affären, Affären gehen nun mal zu Ende, irgendwann, das kann man nicht vergleichen mit dem, was Mirjam passiert, jedenfalls, als dann wieder eine dieser Liebschaften vorbei war, hatte Lena fünf Kilo, FÜNF, zugenommen.

Hätte Mirjam doch damals schon erkannt, dass sie sich einfach nicht mehr verstehen. Vielleicht nie verstanden haben. Hätte hätte. Das führt nirgendwohin. Mirjam schüttelt heftig den Kopf und konzentriert sich auf das Wesentliche.

Shampoo.

Spülung.

Bimsstein.

Fertig.

Schließlich kann kein Mensch von ihr verlangen, dass sie sich in so einer Lage2 auch noch das Bein-, Scham- und Achselhaar entfernt.

Es riecht nach Knoblauch. Martin hat es gehasst, wenn man Knoblauch aß. Also hatte sie es sich abgewöhnt. Mirjam ignoriert Lenas Mein-rechter-rechter-Platz-ist-frei-Getue und setzt sich auf den gegenüberliegenden Platz.

»Und wer hats gemacht? Die Lena.«

Und wäre der Bissen nicht im Magen gelandet, wäre er Mirjam im Hals stecken geblieben.

»Schmeckt es dir?«

Dass sie mal so etwas wie Freundinnen waren. Gute. Beste. Beste Freundinnen. Die sich gegenseitig die Augenbrauen zupften. Und die Haare hielten beim Erbrechen. Die neidlos alles teilten, was nicht männlich war. Im Notfall sogar die Spitzenwäsche. Unfassbar.

»Mirihi. Du stopfst viel zu viel Müll in dich hinein. Das ist meine Meinung.«

Mirjam schließt die Augen, atmet langsam ein, langsam aus, einundzwanzig, zweiundzwanzig, sie hat viele böse Worte in ihrem Kopf, Schimpfwörter, doch sie kann sich nicht entscheiden, in welcher Reihenfolge sie sie Lena an den Latz knallen soll.

»Mirihi. Jetzt sag. Was hast du angestellt?«

»Ich? Ernsthaft? Ich?! Er! Er ist weg. Ohne Erklärung. Kisten gepackt und Adios. Das war alles.«

»Mirihi. Und wo ist er hin?«

»Sagt, zu seiner Mutter. Glaub ich ihm nicht.«

»Und hat er gesagt, dass er nicht wiederkommt?«

»Nein! Und du hast das Mirihi vergessen. Er hat nur gesagt, dass wir uns in letzter Zeit nicht mehr verstanden hätten.«

»Tippitoppi. So viel Einsicht hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Mirihihi.«

»Wie bitte?«

»Mirihi. Hi. Hi. Martin war dein Aidan3. Und Mr. Big4 wartet da draußen. Komm. Wir gehen was trinken.«

»Lenin. Wir trinken doch schon. Außerdem wollten wir heiraten. Martin und ich.«

»Das war noch nicht mal ein richtiger Antrag! Kein Kniefall. Keine Blumen. Kein RING.«

Ein Schlag ins Gesicht. Und die Magengrube. Und die Nieren. Und eine Kopfnuss. Ein Haken unters Kinn. Und nochmal ein Tritt in den Bauch. Kawumm.

Irgendwann sollten wir auch mal heiraten. Wegen der Steuer. Und so. Trotzdem hatte Mirjam JA geschrien. Und. Und wie es sich gehört, geweint. Lena ahnt nichts von Mirjams Schmerzen oder ignoriert sie gekonnt, frei nach dem Motto, was ich nicht sehe, gibt es nicht.

»Okidoki. Wir sind in der Phase. Und die Wohnung?«

»Was soll damit sein?«

»Du kannst dir das doch nicht leisten.«

»Weiß ich nicht! Lass es einfach.«

Mirjam schnappt sich eine Zigarette.

»Mirihi. Ist das dein Ernst? Mirihi, willst du, dass ich gehe?«

»Du hast doch auch geraucht.«

»Ja. Früher. Komm. Du schaffst das. RaucherInnen sind unsexy. Komm.«

Mirjam unterdrückt den Huster und freut sich, dass sie Fortschritte macht.

»Lass uns doch wenigstens auf den Balkon gehen. Bitte.«

»Geht nicht.«

»Warum?«

»Keine Stühle.«

Lena steht auf und trägt einen Freischwinger raus. Als Mirjam nicht folgt, holt Lena den nächsten, greift sich Aschenbecher und Weinflasche.

»Ich hasse es, da draußen zu sitzen. Die Nachbarn haben solche Ohren.«

»Das ist von Martin. Das kommt doch von ihm. Weil er denkt, dass alles so unfassbar spannend ist, was er von sich gibt. Du hast es geliebt. Schaffell. Solarlämpchen. Vogeltränke. Kräuterkasten. Dann dieses Thermometer. Weißt du noch? Das auf dem hässlichen Holzfrosch. Schau dich doch um. Hier ist Platz für eine Liege und einen Tisch, ein Planschbecken und von mir aus auch einen Grill. Und dann auch noch Sonnenseite. Martin ist ein Arschloch. Immer schon gewesen.«

Sie hat Recht. Es könnte wirklich ganz hübsch sein. Hier draußen. Mirjam drückt nickend die Zigarette aus. Und zündet sich gleich die nächste an.

»Fast ein Jahrzehnt.«

»I know, I know. Ich war live dabei. Und jetzt Schluss damit. Je schöner der Anlass, umso voller die Gläser.«

Mirjam lässt Lena den Hocker aus dem Bad hinaustragen und wehrt sich nicht, als Lena ein Tablett mit der nächsten Weißweinflasche, einem Glas Eiswürfel und getrockneten Pflaumen (igitt) darauf abstellt.

»Gieß mal nach. Ich bezieh schnell das Bett.«

Lena macht was?

»Puh. Mirihihi. Das riecht nach Pumakäfig.«

Mirjam dreht sich langsam um, zu langsam, sieht durch das Fenster, dass Lena die Kissenbezüge abgezogen hat, dass sie gerade mir nichts dir nichts, UNGEFRAGT, dabei ist, die letzten Spuren von Martin zu vernichten. Martins Geruch. Eine Wimper. Ein Schamhaar vielleicht. Alles auf dem Weg in die Waschmaschine. Weil es der gnädigen Frau zu sehr müffelt.

»Hast du auch einen Zoowärter im Bett gehabt?«

Mirjam ist nicht in der Lage, Stopp zu schreien und Lena aus der Wohnung zu schmeißen. Wie gern wäre sie jetzt ALLEIN. Auf ihrem Balkon.

»Ich bezieh die Blaue, ja?«

»Nein!«

Geht doch.

»Mirihi. Lass. Ich mach. Nichts zu danken. Nicht dafür. Nicht dafür. Dafür sind doch beste Freundinnen da.«

  1Für einen Wellness-Komplex, von dem Lena unentwegt schwärmt, obwohl der Mann, der sie einst dahin einlud, ein Ehemann, auch nach ihrem Aufenthalt ein solcher blieb, und Lena, nicht zum ersten Mal, die ehrvolle Bezeichnung eines Ausrutschers, diesmal allerdings samt Wellness-Komplex-Bademantel.

  2Trauer, Wut, Schock.

  3Protagonisten einer Serie aus den 90ern, Sex and the City, die Lena in ihrer Partnersuche zutiefst beeindruckt und beeinflusst hat.

  4Protagonisten einer Serie aus den 90ern, Sex and the City, die Lena in ihrer Partnersuche zutiefst beeindruckt und beeinflusst hat.

4

Mirjam hört, dass Martin duscht. Er hat die Vorhänge im Schlafzimmer nicht zugezogen. Die Sonne blendet. Er kann das doch nicht leiden. Sie hört ihn aus der Dusche steigen. Die Tür muss offen stehen. Irgendetwas stimmt hier nicht.

»Fuck fuck fuck!«

Das ist Lenas Stimme. Dann wird das wohl auch die Lena sein, die da gerade was hat fallen lassen. Und zack, von einer Sekunde auf die andere ist alles wieder da. Mit der Erinnerung kommt der Kopfschmerz. Und die Scham darüber, dass sie sich hat behandeln lassen wie ein unmündiges, pflegebedürftiges Ding.

»Aufstehen, du Trüffelschweinchen.«

Mirjam stellt sich panisch schlafend. Das geht. Man muss nur so tun, als würde man gerade schlecht träumen, ein wenig grummeln dabei, die Augen ein Mü weit öffnen, den Mund auch, dazu ein leichtes Zucken in einem der Mundwickel, ein leises Spuckeschlürfen, darauf ein erneutes leises Grummeln, ein Stöhnen, fertig.

»Wir kommen zu spät.«

Lena reißt Mirjam die Decke vom Leib.

»Lass das!«

»Wir müssen noch beim Bäcker halten. Husch husch.«

»Ich meld mich nochmal krank.«

»Du hast gestern selbst gesagt, dass du heute hin musst.«

»Ich bin krank.«

»Im Kopf. Ich weiß. Schau nicht so. Ich werd dich hier nicht liegen lassen.«

Verkatert, überrumpelt und überfordert, wie sie ist, steht Mirjam auf und beschließt, dass alle Vorsätze vorerst solche bleiben müssen – Ideen, die reifen müssen, lange reifen, bevor sie in die Tat umgesetzt werden und ein Leben verändern können. Wenn die Halsschmerzen und dieses grässliche Puckern im Kopf weg sind, wird sie dieses leidige Thema1 beenden – abschließend und unwiderruflich beenden.

Jetzt behält sie ihre Wut (wie vorgenommen) erstmal für sich und stellt überrascht fest, dass die schwarze Hose nicht mehr spannt. Vor dem. Vor seinem. Diesem Weggang war das anders. Das kann es nicht gewesen sein. Dieses Kilo. Diese zwei vielleicht. Maximal. Mirjam schüttelt den Kopf. Das tut weh. Sie schüttelt ihn trotzdem weiter. Sie will jetzt nicht weinen und nimmt die erstbeste Seidenbluse aus ihrer Schrankhälfte, lugt um die Ecke, das Bad ist frei. Sie huscht hinein und schließt die Tür ab. Der Spiegel ist beschlagen. Sie lässt ihre Wut an ihm aus und wischt und drückt und reibt. Doch er zerspringt nicht. Sie schaut hinein. Bei Menschen in Filmen löst das was aus. Mirjam wartet. Es passiert nichts. Sie sieht ein Gesicht und wundert sich nur, dass das ihres sein soll. Sie muss an ihre Mutter denken. Das ist nicht gut. Sie putzt sich schnell die Zähne (das Zwinkermännchen auf der Uhr lacht nicht) und versucht, die Spuren der letzten Tage zu verwischen.

CC-Cream, Wimperntusche, Lippenstift und weiter im Programm. Achseldeo, Fußdeo, Parfum, Toilette2 und warten, bis kein Wasser mehr in den Spülkasten nachläuft. So ein Spülkasten ist tückisch. Wenn darin was klemmt, hört das Wasser unter Umständen nicht auf nachzulaufen, läuft über – und ein Badezimmer unter Wasser, das braucht kein Mensch.

Lena scharrt im Flur mit den Hufen. Da steht ein Pferd auf dem Flur. Mirjam atmet noch einmal TIEF ein, einundzwanzig, zweiundzwanzig, LANGSAM aus, einundzwanzig, öffnet die Tür und reagiert nicht, als Lena versucht, ihr weiszumachen, dass sie gut aussieht. Taschencheck (Handy, Schlüssel, Portemonnaie), nochmal in die Küche (Herd, Wasserkocher, Kerzen aus und Kühlschrank zu) und ab dafür.

Die Sonne scheint. Lenas Rostlaube steht vor der Tür, wo meist Martins Goldflitzer parkte. SEIN Auto. Mirjam geht auf, dass sie autolos ist.

Lena, sensibel wie ein Toastbrot, bemerkt Mirjams Schnappatmung nicht, dreht das Radio laut und fährt einfach los. Sie grölt einen Song nach dem anderen mit, als wären sie auf dem Weg zum Kirchentag. Ihr Schau-mich-an-hör-mich-an-in-meiner-Welt-ist-allesbunt-Gehabe ist nicht zu ertragen. Sie hält vor dem Bäcker, bei dem Martin wochenends gerne Brot holt.

»Springst du kurz raus?«

Was, wenn er seine Gewohnheiten geändert hat, doch nicht mehr zu Hause frühstückt, sich gerade heute für einen Halt bei dem Bäcker, der noch selbst backt, entschieden hat, was dann?

»Nein!«